Rolf Krenzer
Sollte der Fuchs einmal wiederkommen ...
Roman



Neuausgabe als eBook
© 2018 Rolf Krenzer und Verlag Stephen Janetzko,
  www.stephenjanetzko.de
http://www.kinderliederhits.de
 
(in Kooperation mit Rolf Krenzer Erben).
Alle Rechte vorbehalten.

eBook-Aufbereitung: Elke Bräunling & Paul G. Walter.

eISBN: 9783957220219
Hinweis: Die frühere Printausgabe erschien zuerst 1986 im Spectrum Verlag Stuttgart GmbH, hier konvertiert nach der 2. Auflage 1987, ehemalige ISBN 3-7976-1426-8

Das sollte also nun sein letzter Tag in der Goethe-Schule sein.

Abiturfeier. Abschluss einer Schulzeit, die Boris in den letzten Jahren immer widerwärtiger geworden war. Am letzten Mittwoch hatte er sich mit seinen Klassenkameraden spät abends noch einmal getroffen. Sie waren heimlich in das Schulgebäude eingestiegen und hatten mit dem jährlich üblichen ‚Abiturientenstreich’ endgültig Abschied von dieser Anstalt genommen, aber auch Rache an denjenigen geübt, die ihnen als Lehrer so wenig Entgegenkommen und Menschlichkeit gezeigt hatten.

Es war üblich, dass ein Jahrgang den Streich des Vorjahrs möglichst übertreffen wollte. So waren diese Abiturientenstreiche inzwischen zum Alptraum der Lehrer und auch der Schulbehörde geworden, die möglicherweise entstandene Schäden wieder reparieren mussten. Da in den letzten Jahren die Aufwendungen hierfür immer höher gestiegen waren und auch die heimische Presse darüber berichtete, waren besonders im letzten Jahr viele Leserbriefe veröffentlicht worden, in denen keinerlei Verständnis mehr für dieses kostspielige und nicht immer geschmackvolle Abschiednehmen der Abiturienten gezeigt wurde. Aber die jüngeren Jahrgänge warteten und hofften auf neue, alles bisher Dagewesene übertreffende Taten.

Im letzten Jahr hatten Kreisverwaltung und Schulleitung darüber beraten, ob in der fraglichen Woche vielleicht Wachen aufgestellt werden sollten. Aber man hatte diesen Plan doch wieder fallen gelassen.

Und dann war es schlimmer geworden, als Schulleitung und Kreisverwaltung befürchtet hatten. Es war so schlimm geworden, weil der Hass der Schüler gegen die Reglements der Lehrer gewachsen war. Eine Friedensdemonstration der Schüler war an den Verboten der Schulleitung und des Elternbeirates gescheitert. Eine Mitschülerin hatte die Schule verlassen. Sie war schon als Schulsprecherin vorgeschlagen gewesen und hatte, als sie die Rechte der Schüler verteidigte, erfahren müssen, wie brutal, aber auch gefährlich für ihre Benotungen eine Auseinandersetzung mit einigen Lehrkräften und der Schulleitung werden konnte.

In der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag hatten die Abiturienten sämtliche Treppen und Gänge mit Schulmobiliar so zugestellt, dass kein Durchkommen mehr möglich war. Die Klassen waren ausgeräumt, Tische, Stühle und Schränke übereinander gestapelt und zudem mit Farbe bemalt worden. Spritzfarben hatten auch dazu gedient, auf den Flurwänden zum Lehrerzimmer letzte Parolen zu verewigen: Scheißschule! Mich kotzt das alles hier an! Frustanstalt ohne Haftung und so weiter. Einige hatten in dem Rausch, endlich Rache nehmen zu können, über dem Portal ein Schild montiert: Kraft durch Freude. Die Parole hatte in der Nacht bereits zu harten Auseinandersetzungen unter den Schülern geführt und war in den nächsten Tagen in der Presse Hauptthema. Hinzu kam, dass ein Schaden von mindestens fünftausend Mark angegeben wurde. Die Parolen ließen sich kaum beseitigen.

Dann hatte man neben dem Portal noch ein Loch gegraben, drei Meter breit und eineinhalb Meter tief. Es sollte ein kleiner Teich werden. Doch bereits beim Einfüllen des Wassers wurde deutlich, dass die Abdeckplanen im Innern dieses Teiches nicht fachmännisch ausgelegt waren. Er war gleich undicht und hielt kein Wasser.

Und es gab noch die Sache mit dem Spinnennetz in der Eingangshalle. Die Abiturienten hatten eigenhändig vier schwere Balken fachgerecht aufgestellt und zwischen ihnen Seile und Taue verspannt, so dass es mit einigen sportlichen Aufwendungen verbunden war, in die dahinter liegenden Flure zu gelangen. Weniger fachmännisch war der schwergewichtige Dr. Bärlein vorgegangen. Er hatte Anlauf genommen und war voller Wut gegen einen dieser Holzbalken gesprungen und hatte ihn tatsächlich zu Fall gebracht. Unglücklicherweise stand Frau Studienrätin Kleinlich in dem Augenblick hinter diesem Balken und wurde so verletzt, dass sie ambulant behandelt werden musste.

Hätten die Abiturienten die Balken nicht in der Eingangshalle aufgebaut, hätte Dr. Bärlein nicht dagegen springen müssen, und so wäre Frau Kleinlich auch nicht verletzt worden. Übrigens wurden die drei restlichen Balken von den Abiturienten auch wieder fachmännisch abgebaut. Dass zudem noch eine Backsteinmauer seit dieser Nacht die bunt ausgemalten Handabdrücke sämtlicher Abiturienten trug, war eine Fortsetzung dessen, was in den vergangenen Abiturientengenerationen der Schule in ähnlicher Form bereits zur Tradition gehörte. Aber alles auf einmal war zuviel gewesen.

Man suchte nach den Schuldigen. Sie sollten für den entstandenen Schaden haften. Doch wie sollte man die Täter aus der Masse der Abiturienten herausfinden, zumal sie gar nicht mehr in der Schule waren. Es war ja bereits alles abgeschlossen. Nun würden sie alle noch einmal zur Abiturfeier, zur Entlassung und zur Überreichung ihrer Zeugnisse kommen.

Boris war Schulsprecher und hatte seine kleine Rede schon vor Tagen aufgeschrieben. Wenig Dank, dafür massive Kritik an dieser Schule, der es nicht gelungen war, pädagogische Konzeptionen so zu verwirklichen, dass es zu einem guten Zusammenarbeiten und Zusammenleben von Schülern und Lehrern kommen konnte.

Er hatte die zahlreichen Pressemeldungen und Leserbriefe über den jüngsten Streich verfolgt. So war es ihm immer unangenehmer geworden, jetzt am letzten Tag noch vor den Eltern und Lehrern zu sprechen und das, was eigentlich wirklich gesagt werden musste, auch auszudrücken. Dieser Streich belastete alle.

Boris wollte seine Eltern davon abhalten, mitzukommen. Sie verstanden ihn nicht. Er war der einzige aus der Familie, der es bis zum Abitur gebracht hatte. Obwohl seine Eltern kaum etwas von dem verstanden, was in den letzten Jahren in der Schule passierte - sie fragten Boris auch nicht danach -, hatten sie sich auf diesen Tag gefreut und wollten dabei sein, wenn der Schulleiter ihrem Sohn das Zeugnis überreichte. Das Zeugnis, das sein Abitur bescheinigte.

Es waren an diesem Morgen viele Eltern gekommen. Manche hatten sich zur Feier des Tages besonders angezogen. Boris sah Männer in dunklen Anzügen und Frauen in Gesellschaftskleidern. Sie stachen seltsam von den Abiturienten ab, die wie immer Jeans anhatten und sich offensichtlich gegen die Vorstellungen ihrer Eltern durchgesetzt hatten. Kuku, der nach vielen Extrarunden jetzt auch sein Abitur in der Tasche hatte, trug wie immer seine knallrote Hose und ein grünes, weit offenes Hemd. Sein Vater war nicht mitgekommen. Er war Beamter der Stadtverwaltung und stets äußerst korrekt gekleidet. Jeder wusste, dass Kuku schon seit Jahren kaum noch zu Hause lebte. Er war der Scheidungsgrund eines Studienrates geworden, der mit einer wesentlich jüngeren Frau verheiratet war.

Boris zeigte seinen Eltern den Weg zum Festsaal der Schule und schaute sich dann nach seinen Klassenkameraden um. Mattes und Sebastian winkten und bedeuteten ihm, ihnen zu folgen. Sie trafen sich vor der Toilette.

“Hast du die Rede?” fragte Mattes.

Boris zuckte mit den Schultern. “Ich möchte eigentlich nicht ... “

“Zeig her!” Sebastian streckte ihm die Hand hin.

Boris holte umständlich ein Blatt aus seiner Brieftasche und entfaltete es langsam.

“Es passt alles nicht mehr”, sagte er und schaute sich um, ob niemand ihnen zusah.

“Nicht übel!”, meinte Sebastian, als er das Blatt überflogen hatte und es an Mattes weiterreichte. “Nicht übel! Aber ... “

“So kannst du das jetzt nicht sagen.” Mattes gab ihm das Blatt zurück. “Du weißt ja, was hier los ist!”

“Klar”, sagte Boris und biss sich auf die Lippen.

Mattes wippte auf den Zehenspitzen. “Sie beraten, ob sie die Polizei einschalten.”

“Massenverhöre!”, bestätigte Sebastian.

“Wegen des Schadens!”

“Die übertreiben doch!”

“Vielleicht!”

“Die kriegen nichts raus.”

“Jedenfalls kannst du die Rede so nicht halten.”

Boris steckte das Blatt wieder zurück in seine Brieftasche. “Ich will überhaupt nicht sprechen”, sagte er dann. “Ich will diese Rede nicht halten. Ich will überhaupt keine Rede halten. Warum soll ich ausgerechnet als einziger?”

“Du bist der Schulsprecher!”

“Aber das passt doch alles jetzt nicht mehr so.” “Das hätte denen auch sonst nicht gepasst!”

Mattes rückte noch näher an Boris heran. “Du musst sprechen!”, sagte er. “Nein, nicht deine Rede. Aber du musst sagen, dass es einer der üblichen Streiche war, und dass leider vieles durch die Presse hochgespielt wurde. Du musst die ganze Sache einfach herunterspielen. Diese Feier ist unsere einzige Möglichkeit.”

Sebastian nickte. “Die Presse ist auch da. Und dir können sie nichts nachsagen. Die wissen ja nicht, ob du überhaupt dabei warst. Von uns kann keiner etwas sagen, weil wir gar nicht zum Reden kommen. Aber du bist eingeplant. Es wird erwartet, dass der Schulsprecher etwas sagt.”

“Wir erwarten was von dir!”, bekräftigte Mattes. “Wir alle!”

“So aus dem Stegreif?”

“Dir fällt doch sonst immer etwas ein. Also los!”

Die Türen zum Festsaal wurden bereits geschlossen, als Boris kam. Er erblickte seine Eltern in der dritten Reihe. Sie hatten ihm vorsorglich einen Platz zwischen sich reserviert. Aber Boris zog es vor, sich in die letzte Reihe zu drücken und bemühte sich, seinen Vater zu übersehen, der aufgestanden war und ihm zuwinkte. Der Saal, in dem heute gefeiert werden sollte, trug seinen Namen zu Unrecht. Es war nichts Festliches zu entdecken. Keine Blumen, die sonst bei besonderen Anlässen den Raum schmückten. Eine Darbietung des Schülerorchesters war kurzfristig abgesagt worden. Vor der schweigenden Versammlung stand nur das leere Rednerpult, von dem aus der Schulleiter gleich sprechen sollte.

Im letzten Jahr war da noch ein Tisch mit Stühlen gewesen. Dort hatten Vertreter der Lehrerschaft gesessen. Sie hatten die Zeugnisse vor sich liegen und sie bei der Übergabe dem Schulleiter zugereicht.

Auch den Schulleiter konnte Boris nicht entdecken. War er etwa nicht da? Es hatte noch nie eine Entlassungsfeier ohne ihn gegeben.

Jetzt trat Herr Stumm hinter das Rednerpult. Er räusperte sich, hielt sich mit bei den Händen fest und hatte offensichtlich Schwierigkeiten, den Anfang zu finden.

“Sehr geehrte Damen und Herren!”, sagte er endlich und räusperte sich erneut. “Ich bedaure, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Herr Oberstudiendirektor Nachlass erkrankt ist.”

Er schwieg. Im Saal entstand leichte Unruhe.

“Und ich muss Sie um Entschuldigung bitten, dass es mir nicht möglich war, eine Entlassungsrede auszuarbeiten, da ich erst gestern Abend informiert wurde.” Er räusperte sich erneut. “Sie werden verstehen, dass ich deshalb leider nicht zu Ihnen sprechen kann.”

“Und die Überreichung der Zeugnisse?”, rief jemand aus dem Saal.

Herr Stumm räusperte sich wieder. “Dazu später”, sagte er dann. Er blickte sich suchend um und fragte schließlich: “Möchte sonst noch jemand sprechen?”

Boris fühlte, wie alle Blicke seiner Mitschüler auf ihn gerichtet waren. Sie hatten ihn in der letzten Reihe entdeckt. Nickten ihm zu, deuteten auf ihn, winkten.

Kuku stand auf. “Unser Schulsprecher!”, rief er und wies auf Boris.

Da stand Boris auf und ging mit langsamen Schritten nach vorn. Er stellte sich seitlich vor das Rednerpult, verzichtete auf seine vorbereitete Rede, stammelte etwas von Entlassung und davon, dass es üblich sei, am Ende der Schulzeit irgendeinen Streich zu machen. Vielleicht sei das in diesem Jahr nicht so richtig verstanden worden, nicht so aufgenommen, wie es eigentlich gemeint war. Jedenfalls wäre es schon immer so gewesen. Und wer das nicht verstehen könne oder wolle, solle sich doch einmal an seine eigene Schülerzeit erinnern.

Etwas Beifall. Gemurmel im Saal. Anscheinend waren fast alle hier über diesen “Streich” informiert. Die beiden Heimatzeitungen hatten mit ganz unterschiedlicher Tendenz darüber berichtet. Boris ging mit schnellen Schritten zurück zu seinem Platz. Er spürte, dass er schwitzte.

Lähmende Stille. Jemand druckste schließlich herum, fühlte sich genötigt, noch etwas zu sagen, stand auf, ging aber nicht nach vorn, sondern sprach vom Platz aus ein paar Worte zu der miserablen Situation in der Ausbildung und auf dem Arbeitsmarkt, über die elende Zukunftsprognose schlechthin, wünschte trotzdem den Abiturienten alles Gute für die Zukunft und setzte sich dann wieder. Spärlicher Beifall.

Dann ging Herr Stumm noch einmal zum Pult. “Bevor wir die Feierstunde beenden, muss ich Ihnen noch mitteilen...“ Er räusperte sich und fuhr dann laut und bestimmt fort: “dass es leider nicht möglich war, die Zeugnisse bis zum heutigen Termin fertig zu stellen. Die Abiturienten werden gebeten, diese im Laufe der nächsten Woche persönlich im Sekretariat abzuholen.”

Ein Sturm der Entrüstung brandete auf. Doch Herr Stumm eilte bereits zur Tür und verließ den Saal. Ein paar seiner Kollegen, die an dieser seltsamen Feierstunde teilgenommen hatten, folgten ihm.

Schüler und Eltern blieben eine Weile wie benommen auf ihren Stühlen sitzen, erhoben sich schließlich, standen noch in Gruppen zusammen und gingen endlich auch.

“Weißt du was Nähere!?”, wollte eine Journalistin von Boris wissen. Doch der zuckte nur mit den Schultern und ging zu seinen Eltern.

“Eine seltsame Feier!”, sagte sein Vater, als sie die Treppe hinunter gingen.

Boris nickte und überlegte, was sie wohl mit dieser Zeugnisverweigerung bezwecken wollten.

“Er ist doch Lehrer. Sogar Oberstudienrat!”, sagte eine Frau zu ihrem Mann. “Da sollte man meinen, er wäre fähig, eine kurze Rede zu halten. Zu einem solchen Anlass! Er hat es doch schon gestern erfahren, dass sein Chef krank ist.”

“Es ist alles so anders als früher”, wurde ihr geantwortet.

Boris blickte sich kurz um und meinte: „Vielleicht wollte er keine Rede halten.”

Alles Absicht!, dachte er. Sie wollen uns einzeln haben. Dafür muss jeder noch mal antreten. Aber die Zeugnisse können sie uns nicht verweigern!

Als er mit seinen Eltern zum Ausgang ging, spürte er zum erstenmal so etwas wie Glück, dass nun alles vorbei war. Er war frei.

Wie es weitergehen sollte, wusste er nicht. Aber das hatte Zeit. Noch viel Zeit! Erst einmal Ferien. Und dann würde er seine Stelle als Zivildienstleistender antreten. Das hatte alles geklappt. Er war anerkannt worden und hatte sich bei einer Einrichtung für Geistigbehinderte beworben. Er hatte sich umgehört, und viele hatten ihm dazu geraten.

Seine Einberufung war schon gekommen. Am 1. August sollte es losgehen. Mit Behinderten arbeiten. Boris konnte sich nicht viel darunter vorstellen. Jedenfalls würde es anders sein als das, was er jetzt abgeschlossen hatte. Ganz anders.

Und jetzt waren zunächst einmal Ferien. Die geplante Radtour würde er etwas verschieben müssen, um sein Zeugnis abzuholen. Was machten die anderen, die schon feste Pläne hatten und nichts mehr verschieben konnten?

Schikane war das! Rauskriegen würden die sowieso nichts! Als er in das strahlende Sonnenlicht hinaustrat, versuchte er, alles von sich abzuschütteln.

“Eine Überraschung!”, sagte seine Mutter und hakte sich bei ihm ein. “Wir haben einen Tisch im Waldhof bestellt. So einen Tag muss man doch feiern.”

Vierzehn Tage nur blieben für die geplante Radtour. Vorher war er noch einmal im Sekretariat der Schule gewesen und hatte sein Zeugnis abgeholt. Es hatte keine Komplikationen gegeben. Als er sich von dem Schulleiter verabschieden wollte, wenigstens der Form halber, war der nicht zu sprechen. Aber man hatte auch keine weiteren Schritte mehr unternommen.

Sang- und klanglos schied ein Abiturientenjahrgang von der Schule. Zurück blieben Erinnerungen, die die Ferien beschwerten, wenn auch Boris immer wieder versuchte, sie abzuschütteln.

Ebenso unsicher fühlte er sich, wenn er daran dachte, was ihm nach den Ferien bevorstand. Wieder Schule. Diesmal eine Schule für Geistigbehinderte. Diesmal nicht als Schüler, sondern als Zivildienstleistender, als ZDL. Aber auch dort gab es Lehrer. Und vor allem einen Schulleiter, der sein ‚Dienststellenleiter’ sein würde. So stand es jedenfalls auf dem amtlichen Einberufungsbescheid.

“Glaub ja nicht, dass das so einfach ist!”, hatte Kai gesagt, der im September zur Bundeswehr gehen würde. “Nur Blöde! Den ganzen Tag nur Blöde um dich herum. Epileppi, aber happy!”

“Eine schwere Aufgabe”, hatte Dennis gemeint. “Eine verdammt schwere. Ich könnte das nicht!”

“Man braucht aber samstags und sonntags nicht zu arbeiten. Und kein Nachtdienst”, meinte Boris.

Gewiss, das waren auch Gründe gewesen, warum er sich für diesen ZiviJob beworben hatte. Und die Zeit von acht bis vier würde er überstehen. So schlimm konnte es gar nicht werden. Schließlich hielten es die Lehrer ja auch dort aus. Und Norbert, der vor einiger Zeit dort im Zivildienst gewesen war, hatte ihm einige witzige Episoden erzählt. Aber vielleicht tickte Norbert auch nicht mehr richtig. Der hatte eine abgeschlossene Lehre als Steinmetz hinter sich und wäre sofort nach seinem Zivildienst eingestellt worden. Und was tat er? Er wechselte seinen Beruf, ging einfach nicht zu diesem Steinmetzbetrieb, sondern fing noch einmal von vorn an. Heilerziehungspfleger oder so etwas Ähnliches wollte er werden. Jedenfalls wieder mit Behinderten arbeiten. Jetzt war er irgendwo in Süddeutschland in einem Heim. Fertig mit seiner neuen Ausbildung war er noch lange nicht. Und dafür hatte er nun seine Stelle aufgegeben.

“Jedenfalls bin ich früher fertig als du.” Das war wieder Kai gewesen.

“Und was hast du davon?”, hatte Boris gekontert. “Mit deinem Durchschnitt kriegst du sowieso keinen Studienplatz!”

“Und du?” Kai hatte sich richtig erregt. “Als Zivi nimmt dich später keiner mehr. Markus wollte doch unbedingt zur Zeitung. Und der kann wirklich was. Was war? Als die Zeitungsfritzen hörten, dass er nicht beim Bund war, sondern verweigert hat, haben sie ihn nicht genommen.”

Aber das lag jetzt alles weit zurück. Der Sommer war so verregnet gewesen, dass Dennis und er die Tour schon nach neun Tagen abgebrochen hatten.

Und dann kam noch die Sache mit Steffi. Er war schon recht verwundert gewesen, dass ihre Eltern so komisch waren, als er gleich am ersten Tag nach der Tour bei ihr zu Hause angerufen hatte. Nein, Steffi war nicht da. Sie war kurzfristig mit Bekannten noch einmal in Urlaub gefahren. Boris wollte mehr wissen, aber sie redeten irgendwie herum. So als ob ihnen das Gespräch peinlich wäre.

Dann entdeckte er unter der Post auf seinem Schreibtisch Steffis Brief. Zuerst konnte er einfach nicht glauben, was sie geschrieben hatte:

“Du hast doch sicher auch bemerkt, dass es in der letzten Zeit mit uns nicht mehr klappte ...“

Nein, das hatte er nicht bemerkt. Sie hatten sich nicht mehr so oft gesehen wie früher. Aber das lag nur daran, dass er mitten im Abi steckte und Steffi schrecklich pauken musste, wenn sie nicht mit Pauken und Trompeten von der Schule fliegen wollte. Sie war schon einmal hängen geblieben. Diesmal hatte es ganz besonders schlimm ausgesehen, aber sie hatte es doch geschafft. Und sie hatte sich über die drei gelben Nelken gefreut, die Boris ihr geschenkt hatte.

Und jetzt kündete der Brief in wenigen Zeilen, dass Steffi nicht mehr zu ihm gehörte. Sie hatte ihn einfach abgelegt. So wie man ein Kleid, das einem nicht mehr gefällt, einfach ablegt und nicht wieder anzieht.

“Ich wünsche Dir alles Liebe ... und versteh mich.”

Eine ganze Nacht lang hatte Boris gegrübelt. Er wollte es nicht wahrhaben. Schließlich hatten sie doch beide an diese Liebe geglaubt, nicht nur er, Boris. Er fühlte, wie ihm der Boden unter den Füßen schwand, und wusste nicht, was er dagegen tun sollte. Und er weinte und konnte nichts gegen die Tränen tun.

Am nächsten Tag kam Dennis. Ganz nebenbei fragte er Boris, ob er was von Steffi gehört hätte.

Zuerst versuchte Boris, die Frage einfach zu überhören und das Thema zu wechseln. Aber das gelang ihm nur schlecht.

Dennis räusperte sich und fragte: “Nimmst du es mir übel, wenn ich dir etwas sage, was ich eben erfahren habe?”

“Nein.”

“Steffi ist mit einem Typen nach Spanien. Sie wollen dort zelten.”

“Mit wem?”

“Mit unserem künftigen Raketenverteidiger!”

“Kai! Das Schwein!”

“Komm, reg dich ab. Es gibt noch genug Mädchen auf der Welt. Mehr, als du vernaschen kannst.”

“Lass mich!” Boris schob Dennis von sich, der ihn tröstend am Arm nehmen wollte.

Dennis stand noch eine Zeitlang unschlüssig herum und ging dann.

Boris rannte in sein Zimmer, riss die vielen Briefe von Steffi aus seiner Schreibtischschublade und schleuderte sie in den Papierkorb. Aber das genügte ihm nicht. Er nahm den Papierkorb und kippte ihn in den Müllcontainer. Dann schüttete er den vollen Abfalleimer aus der Küche über die Briefe. Es machte ihn richtig froh, als er zusah, wie sich der schwarze Satz aus dem Kaffeefilter mit dem übrigen Abfall vermischte, wie er die Briefe besudelte und unter sich begrub. Briefe, die einmal sein wertvollster Besitz gewesen waren. Briefe, die er immer wieder gelesen hatte. Briefe, die eine zweijährige Liebe in sich bargen. Ein dunkler Brei hatte sie jetzt unansehnlich, unappetitlich gemacht. Er hätte vor Trauer und Wut schreien können.

Als er den leeren Abfalleimer in die Küche brachte, begegnete er seiner Mutter. Sie konnte es kaum fassen, dass er, ausgerechnet er, der sonst solche Arbeiten geflissentlich übersah, plötzlich unaufgefordert in der Küche geholfen hatte. Er stürmte an ihr vorbei und verkroch sich in seinem Zimmer. Dort entdeckte er den letzten Brief, der noch immer auf der Schreibtischplatte lag. Irgendwie war Boris richtig zufrieden, als er ihn in winzige Schnipsel gerissen hatte. Die Schnipsel schichtete er sorgfältig im Aschenbecher auf und zündete sie mit dem Feuerzeug an. Gebannt sah er zu, wie auch das letzte Zeichen dieser verratenen Liebe verbrannte.

“Das war's denn!”, sagte er. Dann warf er sich auf sein Bett und vergrub den Kopf im Kissen.

So fand ihn seine Mutter.

Seltsam war das. Boris hatte immer geglaubt, dass seine Mutter nichts von dem mitbekäme, was mit ihm geschah. Dass sie kaum wahrnahm, was ihn interessierte. Sie konnte überhaupt nicht wissen, was geschehen war.

Und doch! Sie strich ihm leicht über den Kopf, blieb eine Weile neben ihm stehen und ging dann aus dem Zimmer. In der Tür wandte sie sich um und sagte einfach in das Zimmer hinein: “Um zwölf gibt es Mittagessen. Ich habe extra für dich dicke weiße Bohnen gekocht!” Dann schloss sie die Tür.

Und Boris wusste, dass er zum Mittagessen kommen würde. Schon seiner Mutter zuliebe. Und wegen der Bohnen, die sie extra für ihn gekocht hatte, obwohl sein Vater immer schimpfte, wenn es sie gab.

Am 31. Juli hatte Boris in der Behindertenschule angerufen. Die Sekretärin war am Apparat.

“Boris Brandenberger.”

Sie wusste gleich Bescheid. “Kommen Sie bitte Montag früh um acht. Ihre Unterlagen sind schon hier. Sie können dann selbst mit dem Chef sprechen. Sie müssen auch verschiedene Formulare unterschreiben und erhalten einen Dienstausweis.”

“Ja, um acht. An der Schule.”

“Kommen Sie gleich ins Sekretariat. Übrigens, ich habe Sie bereits für Dienstagmorgen um acht Uhr beim Gesundheitsamt angemeldet. Das wird Ihnen doch sicher passen.”

“Wozu denn das?”

“Das gehört immer zum Dienstantritt. Eine amtsärztliche Untersuchung. Sie bekommen vom Chef einen Schein für den Amtsarzt. Den müssen wir dann umgehend weiter schicken.”

Boris wollte noch etwas fragen, aber sie hatte sich schon verabschiedet und aufgelegt.

Also Montag früh um acht. Wieder eine Schule. Wieder Lehrer und wieder einen Schulleiter. ‚Chef’ nannte ihn die Sekretärin.

Mit Unbehagen erinnerte sich Boris an den Chef des ‚Unternehmens’, das er gerade hinter sich gelassen hatte. Ebenso unangenehm waren die Erinnerungen an die Lehrer, überhaupt an alles, was mit Schule zusammenhing. Ob sein neuer Chef schon etwas wusste? Zumindest war ihm bekannt, dass Boris in diesem Jahr sein Abitur an der Goethe-Schule abgelegt hatte. Und von dem Abiturientenstreich hatte er bestimmt erfahren. Ob er sich näher erkundigt hatte? Außerdem hatte sein Name ja dick und fett in der Zeitung gestanden: Boris Brandenberger, der Sprecher des Abiturientenjahrgangs ... Und dann war auch nicht viel Gutes über seine Rede geschrieben worden.   Aber das war vorbei. Und es lagen die Ferien dazwischen. Das hier war ein ganz neuer Anfang: Zivildienst. Fast zwei Jahre. Die sollten froh sein, dass sie eine so billige Arbeitskraft bekamen! Und dann sollte es doch noch mehr ZDLs an dieser Schule geben. Um acht Uhr also. Genau wie früher.

Und Dienstag gleich zum Arzt. Das war doch alles Schikane!

“Hast du dich in der Schule erkundigt?”, fragte ihn später sein Vater.

Er war von Anfang an dagegen gewesen, dass Boris den Wehrdienst verweigerte. Die älteren Brüder waren alle beim Bund gewesen. Aber damals war das alles noch anders. Boris hatte eben zu viele Freunde, die auch verweigerten. So hatte sich der Vater, der einer der ersten gewesen war, die nach dem Krieg gedient hatten, damit abgefunden, dass sein Sohn eben nicht das Vaterland verteidigen wollte. Schließlich war Boris auch der einzige in der Familie, der das Abitur gemacht hatte. Das war doch auch etwas. Sollte er eben in Gottes Namen mit den Behinderten arbeiten. Es war sein eigener Wunsch. Und bestraft würde er noch zusätzlich. Er würde länger dienen müssen als beim Bund.

“Sei ja pünktlich morgen!”, meinte der Vater noch. “Das ist da wie bei der Bundeswehr. Die müssen sofort melden, wenn jemand nicht pünktlich ist oder sich was im Dienst zuschulden kommen lässt.”

Boris nickte nur.

Um acht Uhr sollte sich Boris in der Schule melden. Schon zehn Minuten vorher stand er vor dem Gebäude. Eine kleine Schule ganz am Ende der Kleinstadt. Ein paar Privathäuser, dann der Wald. Und gerade dort, wo der Wald anfing, stand auch die Sonderschule. Nicht wie die anderen Schulen mitten in der Stadt, sondern am Rand, wie abgeschoben. Ob das etwas mit den behinderten Schülern zu tun hatte, die ja auch immer als Randgruppe bezeichnet wurden? Eine Schule im Abseits. Weit abgelegen von dem, was eigentlich das Leben ausmachte. Aber dafür gab es den Wald ganz in der Nähe. Keine gefährlichen Straßen und kaum Nachbarn.

Eine neue Schule. Sie musste wohl in den siebziger Jahren gebaut worden sein. Damals, als man alles aus Beton machte. Sie sah fast aus wie ein mittelalterliches Bollwerk. Sogar einen runden Turm neben dem Eingang entdeckte Boris. Das musste ein Fahrstuhlschacht sein. Na klar! Schließlich gab es eine ganze Reihe körperbehinderter Kinder hier, die mit Rollstühlen befördert werden mussten. Über dem Eingang stand in großen Buchstaben der Name: ‚Wilhelm-Busch-Schule’. Der Name klang schon etwas freundlicher, Humor versprechender als der Name der Schule, die er hinter sich gelassen hatte.

Was das wohl für ein Mensch war, der jetzt sein Dienststellenleiter sein würde? Als Boris sich damals nach seiner Anerkennung vorgestellt hatte, war er ihm kurz begegnet. Er hatte einen recht freundlichen Eindruck gemacht. Aber das war anfangs immer so. Auch bei den Lehrern, die neu in die Klasse kamen, und viel zu oft war dieser erste Eindruck verblasst. Was dann folgte, war meistens enttäuschend gewesen. Nein, auf den ersten Eindruck wollte sich Boris nicht verlassen. Als er die Glastür öffnen wollte, stellte er fest, dass sie noch verschlossen war. Er blieb unschlüssig stehen, versuchte es noch einmal und ging dann zu seinem Fahrrad, das er an den Zaun neben dem großen Parkplatz gelehnt hatte. Der Parkplatz war noch leer. Kein einziges Auto weit und breit. Boris drehte sich eine Zigarette, steckte sie an und wartete. Immer wieder blickte er auf seine Armbanduhr.

Kurz vor acht traf die Sekretärin ein. Sie kam zu Fuß durch den Wald. Dann fuhren auch zwei Wagen auf den Parkplatz. Boris schlenderte wieder zum Eingang. Die Zigarette hatte er unauffällig ausgedrückt und weggeworfen.

Jetzt stand die Eingangstür weit offen. Boris sah die Sekretärin mit eiligen Schritten auf die Verwaltungsräume zulaufen. Er folgte ihr.

“Ach, der Neue”, sagte sie freundlich, als sie ihn erblickte. Dann schloss sie den Raum auf und bedeutete Boris, einzutreten. “Gehen Sie gleich weiter zum Zimmer des Chefs!”, meinte sie. “Er wird jeden Augenblick kommen.”

Boris stand unschlüssig herum, aber da kam auch schon sein Dienststellenleiter herein. Er musste so um die Fünfzig sein, trug weder Jacke noch Schlips, sondern einen recht weiten Kittel und Jeans.

“Grüß dich!”, sagte er, reichte Boris die Hand und zeigte auf eine kleine Sitzgruppe vor dem Schreibtisch.

Als Boris mit seinen Klassenkameraden in die Oberstufe gekommen war, hatten alle größten Wert darauf gelegt, dass sie von den Lehrern mit ‚Sie’ angesprochen wurden. Besonders die Lehrer, die verhasst waren, mussten sich an diese Spielregel halten. Obwohl das ‚Du’ sonst gang und gäbe war, in diesem Fall hatten sie nicht nachgegeben. Die Hemdsärmeligkeit seines neuen Chefs verblüffte Boris so sehr, dass er wirklich gleich auf einen Stuhl sank und kein Wort zu dieser plumpen Vertraulichkeit verlor.