Inhalt

A. Einleitung

Der heutige Tag ist wie jeder andere zuvor. Und der morgige Tag wird genauso sein. Da ist Han sich sicher. Der Mann im mittleren Alter liegt in einem Käfig so groß wie eine Matratze. Doch anstelle einer solchen, in der sich Bettkäfer einnisten und ihn beißen könnten, befindet sich unter seinem Rücken eine dünne Pappe, welche die gesamte umzäunte Fläche abdeckt.

Han begibt sich zum geöffneten Fenster und schaut hinaus. Die grell erleuchteten Neonlichter schimmern im dunklen Himmel und in den Raum, den er sich mit zwanzig anderen Personen teilen muss. Han ist kein Gefängnisinsasse, sondern ein Cage Man. Cage People (dt. Käfigmenschen) gehören zu den ärmsten der Ärmsten. Meist alleinstehende Männer, die nicht nur mit mehreren anderen in einem Raum leben, sondern sich auch eine einzige auf dem Flur befindliche Dusche teilen. Ebenso das WC. Eine Küche gibt es selten. Privatsphäre kaum. Der einzige „Privatraum“ für Han ist seine Fläche im vergitterten Hochbett. Darin kann er all sein persönliches Hab und Gut verstauen und abschließen, wenn er nicht daheim ist.

Im Raum wie auch auf der Straße ist es schwül und stickig. Was wie ein vermeintlich warmer Abend in Hongkongs Kowloon erscheint, ist in Wahrheit eine Illusion und architektonisch bedingt. Denn es ist gerade einmal Mittag. Früher war Han es gewohnt, aus dem Fenster zu schauen, in den Himmel zu blicken und die Sonnenstrahlen in seinem Gesicht zu spüren. Jetzt blickt er auf eine riesige Betonplatte, 200 Meter über dem Erdboden, getragen von etlichen Pfählen und Hochhäusern. Darunter dunkel und grau. Als ob man unter Tage wohnen würde. Die Luft ist dünn und stickig. Und von einer grünen Natur keine Sicht.

Die zuvor geringe Lebensqualität hat sich noch weiter verschlechtert. Noch weiter kann man gesellschaftlich nicht sinken, denkt sich Han. Aber er weiß nicht, wo er alternativ leben könnte. Für den berufsunfähigen Empfänger von Sozialleistungen ist der Käfig der einzige Ort, den er sich finanziell leisten kann, und an dem er akzeptiert wird.

Die Betondecke über Kowloons Wolkenkratzer ist der „Boden“ für den neuen Stadtteil von Hongkong. Künstlich errichtet, um mehr Wohnraum und Lebensraum zu erhalten. Denn jeden Tag strömen etliche neue heimatsuchende Menschen in die Stadt ein, beträgt die Bevölkerung derzeit mehr als 7 Millionen Menschen. Und der geographische Raum zum Leben ist knapp.

Wenn ich mir vorstelle, von Victoria Peak aus auf das Nordufer von Hong Kong Island und das gegenüberliegende Kowloon zu blicken, und dabei das in 200 Metern Höhe „schwebende“ Konstrukt zu bestaunen, frage ich mich, inwieweit diese Art von Konstruktion mit der Feng Shui Ideologie vereinbar ist. Die Hongkonger glauben, dass in den Bergen Drachen wohnen. Daher ist es nicht verwunderlich, dass an den baufähigen Steilhängen kaum Gebäude errichtet werden. Sogar inmitten einer Appartementanlage am Repulse Bay wurde architektonisch ein siebenstöckiges Loch eingelassen, damit der Atem der Wesen - und die Wesen selbst - ungehindert zum Meer gelangen können. Für die Einhaltung der Feng Shui Ideologie verzichten Investoren der Appartementanlage auf mehrere Hunderttausend HK-Dollar an Einnahmen im Monat.

Inwieweit wäre diese Plattform ein Störfaktor für die Drachen? Han hofft, dass der Drache mit der Lösung zufrieden ist, den die verantwortlichen Akteure der Stadt beim Versuch einer Feng-Shui-konformen Plattform arrangiert hatten. Wenn nicht, wird das Wesen seinen Zorn spüren lassen. Das wäre wiederum nicht gut für die Stadt.

Was wie Science-Fiction klingt, ist tatsächlich die Idee einiger kreativer, internationaler Architekten. Ich versuche mit einer Mischung aus wissenschaftlich-philosophischer Sicht als auch aus der Perspektive eines Touristen die Vorund Nachteile einer solchen Planung zu analysieren.

Anfangs versuche ich die Stadt Hongkong kennen zu lernen (Kapitel B). Für was steht die Stadt? Wie wurde sie zu dem gesellschaftlichen Geflecht, wie wir sie heute kennen?

Anschließend befasse ich mich mit der Platznot in der Stadt (Kapitel C). Aufgrund des geographisch begrenzten Raumes und dem täglichen Anstieg der Bevölkerungszahl, wird nach Lösungen gesucht, um neuen Lebensraum zum Wohnen und Arbeiten zu gewinnen. Dabei fokussiere ich die armen Bevölkerungsgruppen, die unter diesen Umständen versuchen, eine Heimat/Bleibe zu finden und zu behalten.

Danach mache ich einen Ausflug in die Welt der Wolkenkratzer und Hochhäuser (Kapitel D). Wie beeinflussen sie das Stadtbild und welche Funktionen haben diese inne? Hongkong gehört zu den Städten mit den meisten Hochhäusern, darunter auch diejenigen, die im globalen Ranking der höchsten Wolkenkratzer auftauchen. Wie ist der Typ Hochhaus/Wolkenkratzer entstanden und wie sieht deren Zukunft aus? Was ist bei deren Errichtung - von der Planung bis zur Umsetzung - und Wartung (Kapitel E) zu beachten?

In den beiden darauf folgenden Kapiteln F und G schaue ich auf die alltäglichen Anforderungen, denen die Plattform ausgesetzt sein könnte. Dazu mache ich einen kurzen Ausflug in die Welt des Zusammenspiels von Architektur, Physik und Naturphänomen. Welchen alltäglichen physischen Anforderungen muss solch eine Plattform standhalten können? Wie könnte man die Konstruktion entlasten?

In Kapitel H versuche ich mir den Alltag oberhalb und unterhalb der Plattform vorzustellen, sowie die positiven und negativen Erscheinungen, die dabei auftreten können.

Mir ist es wichtig zu betonen, dass es sich hier um kein wissenschaftliches Buch handelt, sondern eher als ein Gedankenpapier mit Prognosen und Vermutungen verstanden werden soll. Erst wenn solch eine Plattform real umgesetzt wird, lässt sich genau beobachten und messen, ob gewisse Befürchtungen eintreten werden oder nicht.

B. Hongkong

Hongkong: Eine einzigartige Welt für sich. Wirtschaftlich florierend, bei Touristen begehrt und auf der Suche nach einer eigenen Identität. Eine Stadt mit limitierten Boden als Lebensraum bei einem zeitgleich unaufhörlichen Populationswachstum.

B.1 Politik: Hongkong und VR China

1841, zu Zeiten der Opiumkriege, wurde Hongkong von der britischen Krone besetzt und kolonisiert. 156 Jahre später, am 01. Juli 1997, wurde die Stadt wieder an China übergeben. Zumindest beinahe. Denn Festlandchina und Großbritannien beschlossen, die Stadt von 1997 an für 50 Jahre in eine Sonderverwaltungszone zu verwandeln. Bereits 1985 wurde dies in einer Sino-British Joint Declaration zwischen China und Großbritannien beschlossen.

Eine hundertprozentige Eingliederung in das System Chinas wäre aufgrund der unterschiedlichen, nebeneinander verlaufenden Entwicklungsprozesse nicht ohne Reibung von Seiten der Bevölkerung Hongkongs möglich gewesen. Zwar schlug Großbritanniens Versuch, eine Demokratie im zukünftigen Stadtstaat zu etablieren fehl, doch genießen die Hongkonger gegenüber den Festlandchinesen gewisse Freiheiten, wie beispielsweise die Presse- und die eingeschränkte Meinungsfreiheit, das politisches Mehrparteiensystem, die Rechtsstaatlichkeit oder etwa die Unantastbarkeit der eigenen Wohnung.

Die Kommunistische Partei Chinas (KPCh), die seit 1949 ununterbrochen als alleinige Partei die Volksrepublik China auf dem Festland regiert, übt seit 1997 einen Balanceakt aus. Mit der politischen Strategie „Ein Land, zwei Systeme“ versucht die KPCh die Bewohner Hongkongs einerseits bei Laune zu halten, andererseits an der Leine zu führen. Denn die Erfahrung mit Taiwan (Republik China) steckt der Partei noch in den Knochen. Obwohl formell nur für ganze zehn Jahre zu China gehörend (1885–1895), sieht Festlandchina Taiwan bis heute als abtrünnige, chinesische Provinz an. Die Taiwanesen hingegen, sehen sich als selbstständiges Volk mit chinesischen Wurzeln, einer eigenen Kulturidentität und einer (mittlerweile) demokratischen Politikstruktur.

Dies soll mit Hongkong nicht geschehen. In der Sonderwirtschaftszone sind sich die Bewohner ihrer chinesischen Wurzeln bewusst und gibt es ein kulturelles Chinesentum. Jedoch sehen sie sich zuallererst als „Hongkonger“ beziehungsweise als „Hongkong-Chinesen“ und danach erst als „Chinesen“.

Politisch hingegen feilen sie noch an ihrer eigenen Identität. Dies ist kein einfaches Unterfangen für die VR China als auch für die Politiker Hongkongs selbst. Wenn es Letzteren, egal ob pekingfreundliches oder pekingfeindliches Lager, nicht gelingt, einen eigenen Weg der Etablierung einer Demokratie zu finden (basic law) und es ihnen nicht gelingt, die Sympathien der Wählerschaft für sich zu gewinnen, so könnte ähnliches wie in Taiwan geschehen. Hongkong könnte sich von China abgrenzen und distanzieren. In diesem Fall würde die VR China nicht nur Hongkong verlieren, sondern wäre das Modell „Ein Land, zwei Systeme“ gescheitert. Zudem wäre dies der Grundstein für Liberalisierungsversuche anderer wirtschaftlich mächtigen Zonen und Städte Chinas, wie etwa Shanghai. Während VR China seine eigene Bevölkerung politisch bindet, indem es globale Unternehmen ins Land holt und der Bevölkerung zunehmend eine gewisse Konsumfreiheit und dementsprechenden Wohlstand zuspricht, reicht dies für die Hongkonger nicht mehr aus. Die meisten von ihnen sind materiell und monetär gesättigt. Die nächste Stufe, die sie anstreben, ist die politische Partizipation und Mitgestaltung. Inwieweit die Hongkonger sich der alleinregierenden Kommunistischen Partei Chinas beugen, ist zu fragen.

B.2 Wirtschaft

Am Nordufer von Hong Kong Island stehen die imposanten Gebäude der Banken. Wie der 369-Meter hohe Tower der Bank of China, der aus vier dreieckigen, unterschiedlich hohen Türmen besteht und der sich durch diese markante, zeitlose Form aus der Skyline hervorhebt. Nur wenige Meter daneben steht das 180-Meter hohe Gebäude der Hongkong und Shanghai Banking Corporation (HSBC), dessen Tragstruktur nach außen hin offen zur Schau gestellt wird. Nach Feng-Shui-Prinzipien gestaltet, zeigt es einerseits ein selbstbewusstes Auftreten und fügt sich andererseits sensibel in sein Umfeld ein.