Dr. Jim B. Tucker ist Professor für Psychiatrie und Neuro-Verhaltenswissenschaften an der Universität von Virginia. Er setzt das Werk des Begründers der Reinkarnationstheorie Ian Stevenson fort, der erstmals wissenschaftlich das Phänomen von Kindern erforscht hat, die sich an frühere Leben erinnern. Tuckers erstes Buch »Life before Life. A Scientific Investigation of Children's Memories of Previous Lives« wurde in zehn Sprachen übersetzt.
Allegria im Ullstein Taschenbuch
Titel der Originalausgabe: RETURN TO LIFE
Erschienen 2013 im Verlag St. Martin’s Press, New York, USA
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ISBN 978-3-8437-0917-0
Deutsche Erstausgabe im Ullstein Taschenbuch
1. Auflage September 2014
© der deutschsprachigen Ausgabe 2014 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
© der Originalausgabe 2013 by Jim B. Tucker
Übersetzung: Gabriel Stein
Lektorat: Barbara Krause
Umschlaggestaltung: X-Design, München, unter Verwendung eines Motivs von shutterstock
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Es ist nicht erstaunlicher, zweimal geboren zu werden als einmal.
Alles in der Natur ist Auferstehung.
Voltaire
Patrick, ein niedlicher kleiner Junge mit langem dunklem Haar und verschmitztem Lächeln, war mein erster Fall. Er war gerade fünf geworden, als ich ihm und seiner Familie in deren Haus in einem kleinen Vorort des Mittleren Westens begegnete. Ich begleitete Dr. Ian Stevenson, der – vormals ein »junger rastloser Mann« – mit Ende dreißig Leiter der Psychiatrischen Abteilung an der University of Virginia in Charlottesville wurde, dann aber die akademische Karriere aufgab, um sich vierzig Jahre lang beharrlich seinem eigentlichen Interesse zu widmen: Kindern, die über Erinnerungen an frühere Leben berichten. Fast achtzig Jahre alt, doch mit ungebrochener Neugier suchte er diese Familie auf, weil Patricks Mutter zu der Überzeugung gelangt war, ihr Sohn sei die Reinkarnation seines verstorbenen Halbbruders.
Ian stufte Patricks Fall als potenziell bedeutsam ein. Obwohl er viele Bücher und Artikel über Kinder und ihre zahlreichen Aussagen veröffentlicht hatte, die zu den Eigenheiten verstorbener Personen passten, stammten seine besten Fälle allesamt aus anderen Ländern, meist aus Asien, wo der Glaube an die Wiedergeburt weitverbreitet ist. Seine amerikanischen Fälle hingegen waren weniger stichhaltig. Sie umfassten zwei wesentliche Typen: Kinder, die sich aufgrund ihrer Erinnerung offenbar für ein verstorbenes Familienmitglied hielten, und Kinder, die über ein früheres Leben sprachen, aber nicht genügend Details nannten, um eine damals lebende Person zu identifizieren. Jene Fälle, die innerhalb ein und derselben Familie angesiedelt waren, wiesen eine charakteristische Schwäche auf: Das Kind mochte zufällig mitgehört haben, wie andere über den Verstorbenen redeten. Obwohl Patricks Fall dieser Kategorie angehörte, unterschied er sich doch durch eine entscheidende Besonderheit: Der Junge hatte am Körper drei ungewöhnliche Male, die äußeren Verletzungen beziehungsweise Symptomen seines verstorbenen Halbbruders zu entsprechen schienen und also nicht damit erklärt werden konnten, was ihm vielleicht durch andere Familienmitglieder zu Ohren gekommen war.
Ian organisierte eine dreitägige Reise, deren Ablauf genau geplant war und ein gründliches Vorgehen ermöglichte. Am ersten Tag würden wir ein langes Gespräch mit der Familie führen, es am nächsten Tag fortsetzen, um Gesichtspunkte zu behandeln, die wir übersehen hatten oder klären mussten, und an diesem wie auch am dritten Tag andere Personen interviewen, die in Patricks Leben eine Rolle spielten. Wir hofften, dass der Junge sich dank unserer intensiven Beschäftigung hinreichend wohlfühlen und uns von seinen Erinnerungen berichten würde.
Wir kamen im Haus der Familie an und setzten uns mit Lisa, Patricks Mutter, ins Wohnzimmer. Ian holte ein Klemmbrett und ein Aufnahmegerät aus seiner durch etliche Reisen um die Welt abgenützten Aktenmappe. Er testete das Aufnahmegerät und stellte es auf den Couchtisch. Zuerst befragte er Lisa über ihren verstorbenen Sohn, an dessen Leben sich Patrick zu erinnern schien: »Ist es für Sie nicht schwierig, über dieses Thema zu sprechen?« Lisa erwiderte: »Nein. Es könnte mir Mühe machen, aber dem ist nicht so. Wo soll ich anfangen?« Ian bat sie, an der Stelle einzusetzen, wo ihr Sohn zum ersten Mal krank wurde, und mit gleichmäßiger Stimme begann sie nun ihre Erzählung.
Kevin war vor zwanzig Jahren zur Welt gekommen. Lisa, eine junge Mutter, und Kevin, ihr erstes Kind, waren wohlauf, ungeachtet der Trennung von seinem Vater. Doch im Alter von sechzehn Monaten begann Kevin zu hinken. Das geschah zunächst nur zeitweise; dann, nach ungefähr drei Wochen, hinkte er ständig. Lisa ging mit ihm zum Arzt, der den Jungen für drei Tage ins Krankenhaus einwies, wo er gründlich untersucht wurde. Ein Knochenscan blieb ohne Befund, aber Röntgenaufnahmen zeigten außergewöhnlich viel Flüssigkeit im linken Hüftgelenk. Der Arzt ging von einer Entzündung aus.
Als Kevin entlassen wurde, hinkte er immer noch. Zwei Tage später fiel er hin, und die Ärzte in einem anderen Krankenhaus stellten fest, dass ein Bein gebrochen war. Sie legten einen Gipsverband an, der dem Jungen jedoch so starke Schmerzen bereitete, dass sie ihn nach drei Tagen entfernten. In diesem Zustand konnte Kevin das Bein nicht belasten und weigerte sich zu gehen. Daraufhin brachte Lisa ihn zu einem orthopädischen Chirurgen. Er ordnete weitere Röntgenaufnahmen an, die erkennen ließen, dass in zwei Knochen des linken Beines die Substanz teilweise zerstört war. Erneut wurde Kevin ins Krankenhaus eingeliefert. Der behandelnde Arzt teilte Lisa mit, ihr Sohn habe einen Tumor im Bein. Diese ohnehin schon schwierige Phase wurde durch die wechselnden Diagnosen immer noch schlimmer. Wie Lisa sagte, machten sie etwa zwei Wochen durch, in denen es einmal hieß, Kevin sei an Leukämie erkrankt, dann wieder, er sei nicht an Leukämie erkrankt. »So ging es ständig hin und her.« Doch die nächste Nachricht sollte noch schrecklicher sein.
Um genauere Untersuchungen durchzuführen, wurde Kevin in eine spezielle Kinderklinik verlegt. Neben dem geschwollenen Bein bemerkten die dortigen Ärzte, dass sein linkes Auge blau unterlaufen war und hervorquoll und dass sich über seinem rechten Ohr ein Knoten befand, möglicherweise ein Tumor. Sie vermuteten ein Neuroblastom – eine Krebserkrankung, die irgendwo im Nervengewebe beginnt, oft in der Nebenniere, und sich dann ausbreitet. Ein Röntgenbild von Kevins Nieren offenbarte einen Klumpen oberhalb der linken Niere. Mittels Skelettaufnahmen wurden verschiedene Läsionen und ein dunkler Bereich über dem hervortretenden linken Auge entdeckt. Am vierten Tag seines Krankenhausaufenthaltes kam Kevin in den Operationssaal. Die Ärzte entnahmen dem Knoten über dem rechten Ohr eine Gewebeprobe und führten einen langen Zentralvenenkatheter in die rechte Seite des Halses ein.
Die Biopsie bestätigte, dass es sich um ein metastatisches Neuroblastom handelte. Zumindest stand die Diagnose endlich fest, selbst wenn sie äußerst ungünstig ausfiel. Damit begann Kevins Behandlung, eine Chemotherapie, die über den Zentralvenenkatheter verabreicht wurde. Die Stelle, an der die Infusion in seinen Hals tröpfelte, entzündete sich des Öfteren, aber insgesamt vertrug er diese Eingriffe ziemlich gut. Außerdem unterzog man ihn einer Strahlentherapie – auch am linken Auge und am linken Bein –, die nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus fortgesetzt wurde. Er konnte zehn Tage später nach Hause zurückkehren.
Eine Weile schien Kevin ganz munter zu sein. Lisa präsentierte uns Fotos von ihm. Das erste wurde vor dem Ausbruch der Krankheit gemacht. Man sieht ein rundliches lachendes Baby mit vielen hellen Locken. Die zwei anderen Fotos stammen aus der Zeit danach. Sie zeigen einen dünneren und kahlen kleinen Jungen mit blau unterlaufenem linkem Auge, das stark hervortritt. Kevin war zu jung, um zu verstehen, dass er sterben würde, und so wirkt er auf beiden Fotos glücklich – strahlend auf dem einen, mit einer Spielzeug-Feuerwache beschäftigt auf dem anderen. Sie sind einfach herzzerreißend.
Sechs Monate nach seiner ersten Einlieferung musste Kevin wieder ins Krankenhaus. Er blutete aus dem Zahnfleisch, weil der Krebs in sein Knochenmark eingedrungen war, das nicht mehr genügend Blutplättchen bilden konnte. Mittlerweile war auch das rechte Auge blau unterlaufen, während die Färbung um das linke verblasste. Lisa zufolge konnte er nun auf dem linken Auge nichts mehr sehen. Die Krankheit war offenbar im Endstadium, doch ungeachtet dessen bekam Kevin eine Blutplättchentransfusion, außerdem abwechselnd Chemotherapie und Strahlentherapie an der rechten Augenhöhle. Schließlich wurde er entlassen und starb zwei Tage später.
Lisa sprach über all dies in ruhigem, sachlichem Ton – vielleicht deshalb, weil Ian und ich eher auf Fakten als auf Emotionen bedacht waren. Ian äußerte zwar, dass Kevins Tod sie sicherlich stark mitgenommen hatte, aber als sie darauf kaum etwas erwiderte, gingen wir zu anderen Themen über. Wir erwarteten nicht, dass sie uns ihr Herz ausschüttete, und stellten zahlreiche Fragen, damit sie einfach nur die Umstände seiner Krankheit und seines Todes schilderte.
Nach diesem tiefen Einschnitt setzte Lisa ihr Leben fort. Schon lange vom Vater ihres Sohnes getrennt, hatte sie noch vor dessen Krankheit eine Beziehung mit einem anderen Mann begonnen. Die beiden heirateten nach Kevins Tod, und bald brachte Lisa ihre Tochter Sarah zur Welt. Vier Jahre später wurde das Paar geschieden, und Lisa heiratete erneut. Sie bekam einen zweiten Sohn namens Jason und dann, zwölf Jahre nach Kevins Tod, Patrick, durch Kaiserschnitt entbunden. Als die Hebamme ihr Patrick überreichte, habe sie instinktiv gewusst, dass er auf irgendeine Weise mit Kevin verbunden war. Dieser Gedanke sei ihr bei der Geburt der anderen Kinder nicht in den Sinn gekommen.
Nach Kevins Tod habe sie sich leer gefühlt, ständig getrieben von dem Wunsch, ihn zurückzubekommen. Mit Patrick im Arm hatte sie das Gefühl, dass ein schweres Gewicht von ihr genommen wurde, da nun die Trauer um Kevin ein Ende hatte. Obwohl Lisa eine physische Ähnlichkeit zwischen den beiden Jungen feststellte, gab es eine Verbindung, die darüber hinausging.
Bald bemerkte sie eine weißliche Trübung in Patricks linkem Auge, und die Ärzte diagnostizierten ein Hornhautleukom. Anschließend wurde Patrick regelmäßig von einem Augenarzt untersucht. Nach mehreren Wochen ließ die Trübung nach, verschwand jedoch nicht vollständig. Zwar konnte man die Sehkraft des Kleinkindes nur schwer einschätzen, aber im Grunde war Patrick auf dem linken Auge genauso blind, wie Kevin es auf dem gleichen Auge gegen Ende seines Lebens gewesen war.
Außerdem spürte Lisa eine Schwellung oberhalb von Patricks rechtem Ohr – genau dort, wo Kevins Tumor einer Biopsie unterzogen worden war. Als wir Patrick untersuchten, stießen wir tatsächlich an der besagten Stelle auf einen Knoten. Dieser war inzwischen ein Stück weit hinter das Ohr gewandert, aber Lisa erklärte, dass er sich bei der Geburt direkt über dem Ohr befunden habe. Der Knoten war hart, erhaben, mehr oder weniger rund, mit einem Durchmesser von etwa einem Zentimeter – und überhaupt nicht schmerzempfindlich. Patrick ließ uns so oft darauf drücken, wie wir wollten.
Überdies war Patrick mit einem ungewöhnlichen Mal am Hals zur Welt gekommen: eine dunkle, schräge, ungefähr vier Millimeter lange Linie, die bei unserer Begegnung wie eine kleine Schnittwunde aussah. Sie zeichnete sich auf der rechten Vorderseite des Halses ab – in dem Bereich also, wo bei Kevin der Zentralvenenkatheter eingeführt worden war. Allerdings hatten wir Mühe herauszufinden, auf welcher Halsseite das geschehen war.
Wir sahen Kevins Krankenakten auf der Suche nach entsprechenden Hinweisen auf die exakte Stelle durch und entdeckten schließlich die handschriftliche Notiz eines Chirurgen, die zum Glück lesbarer war als viele andere. Sie listete die angewandten Verfahren auf, zum Beispiel das folgende: »Einführung des Zentralvenenkatheters (jugularis ext.), Spitze in VCS oder VS rechts.« In Normalsprache ausgedrückt hieß das: Der Zentralvenenkatheter war in die vena jugularis externa (äußere Drosselvene) gelegt worden, die an den beiden vorderen Seiten des Halses verläuft. Die Spitze des Katheters ragte demnach entweder in die rechte vena subclavia (VS, Schlüsselbeinvene), in welche die äußere Drosselvene mündet, oder in die vena cava superior (VCS, obere Hohlvene), die das Blut aus diesen Venen ins Herz befördert. Als entscheidende Anhaltspunkte bei unserer Suche erwiesen sich die äußere Drosselvene, die keinen Zweifel daran ließ, dass der Katheter in den Hals eingeführt worden war, und die rechte Schlüsselbeinvene, derzufolge es sich um die rechte Halsseite handelte, wo sich nun Patricks Mal abzeichnete.
Einer der unerklärlichsten Aspekte des Falles bestand darin, dass Patrick hinkte, sobald er gehen konnte. Er hatte einen seltsamen Gang, da sein linkes Bein nach außen schwang. Dies entsprach dem Gang Kevins, als er nach seinem Beinbruch eine Gehschiene tragen musste. Wir baten Patrick, mehrmals das Zimmer zu durchqueren; noch im Alter von fünf Jahren hinkte er leicht, obwohl es dafür keinen medizinischen Grund zu geben schien.
Mit vier Jahren begann Patrick über Kevins Leben zu sprechen. Als Erstes bekundete er seinen Wunsch, zum »anderen Haus« zu gehen. Darüber redete er eine ganze Weile, bisweilen offenbar verzweifelt, dass ihm dies verwehrt blieb. Lisa fragte ihn, warum er dorthin zurückkehren müsse. War an jenem Ort ein Spielzeug oder ein Kleidungsstück, das er haben wollte? Er antwortete: »Erinnerst du dich nicht, ich hab dich dort zurückgelassen.« Darauf erwiderte sie: »Ja, aber jetzt hast du mich hier.« Lisa fragte weiter, wie ihr Zuhause ausgesehen habe, und er sagte, es sei »schokoladenbraun und orange« gewesen. Tatsächlich hatte sich Lisas und Kevins Zuhause – eigentlich kein Haus, sondern eine Wohnung – in einem braunen und orangefarbenen Gebäude befunden.
Patrick ließ immer wieder und völlig unerwartet Bemerkungen über Ereignisse in Kevins Leben fallen. Wenn Lisa versuchte, ihm solche Aussagen zu entlocken, reagierte er meist nicht. Kurze Zeit später wiederum konnte es passieren, dass er seinen Halbbruder aus heiterem Himmel erwähnte.
Eines Tages, als Lisa sich gerade für die Arbeit fertig machte, fragte Patrick, ob sie sich an seine Operation erinnere. Auf ihren Einwurf, er sei nie operiert worden, entgegnete er: »Doch, direkt hier am Ohr«, und zeigte auf die Stelle über dem rechten Ohr, wo man Kevins Tumor eine Gewebeprobe entnommen hatte. Lisa bat ihn, die Operation zu beschreiben, aber er erklärte, sich nicht daran zu erinnern, weil er eingeschlafen war.
Ein anderes Mal war Patrick ganz aufgeregt, als er ein Foto von Kevin sah. Er hatte es noch nie zu Gesicht bekommen, weil Lisa keine Fotos von Kevin im Haus aufbewahrte. Mit zitternden Händen sagte er: »Das ist mein Foto. Ich hab danach gesucht.« Im Brustton der Überzeugung rief er: »Das bin ich.« Außerdem sprach er über jenen braunen Welpen, der damals bei der Familie war. Lisa und Kevin hatten wirklich einen solchen Hund besessen, den Lisas Mutter ihnen überließ, als sie in eine Wohnanlage umzog, in der keine Haustiere erlaubt waren.
In der Woche vor unserem Besuch hatte sich Patrick auf der Couch zurückgelehnt und gefragt: »Weißt du noch, als wir schwimmen waren?« Patrick war nie geschwommen, schilderte aber einen Tag, an dem Kevin im Swimmingpool der Wohnanlage seiner Großmutter herumplanschte. Er sagte, Oma sei zusammen mit dem Vater seiner Schwester da gewesen. Er entsann sich, wie sie im Spiel den Kopf des Mannes unter Wasser getaucht und das Geräusch nachgemacht hatten, das zu hören war, als er nach Luft schnappend wieder hochkam.
Lisa erzählte uns auch, dass Patrick mit seinem Bruder Jason über den Himmel gesprochen habe. Als wir Jason danach fragten, berichtete er uns von mehreren Situationen, in denen Patrick gesagt hatte, er wolle die Familie – insbesondere seine Mutter – in den Himmel mitnehmen.
Am nächsten Morgen unterhielten wir uns mit Lisas Schwester. Sie erwähnte ebenfalls einiges, was Patrick über den Himmel bemerkt hatte, und beschrieb Ähnlichkeiten zwischen ihm und Kevin sowie beider Neigung zum leisen Sprechen, ihre schüchterne, manchmal ängstliche Art.
Danach erwies sich eine in unseren Augen besonders günstige Gelegenheit leider als Reinfall. Wir fuhren mit Lisa und Patrick zu dem Gebäude, wo sie mit Kevin gelebt hatte. Seit einiger Zeit sprach Patrick zwar nicht mehr über dieses Zuhause, aber wir hofften, dessen Anblick würde sein Gedächtnis anregen. Ihre damalige Wohnung war nicht zugänglich, und Patrick zeigte keinerlei Anzeichen, das Gebäude wiederzuerkennen. Er sagte etwas über eine Spielzeug-Rennstrecke, die Lisa für jene von Kevin hielt, doch da er hierbei auf sein Spiel mit Jason Bezug nahm, hatte ich meine Zweifel. Immerhin konnten wir bestätigen, dass das Gebäude braun und orange war.
Hinterher trafen wir den Vater von Patrick an seinem Arbeitsplatz. Er bestätigte, dass dessen Symptome – die Trübung des Auges, der Knoten über dem Ohr und die Narbe am Hals – eindeutig schon bei der Geburt vorhanden waren. Ihm gegenüber habe Patrick nicht über Kevins Leben gesprochen, wohl aber gegenüber Lisa, das sei ihm zufällig zu Ohren gekommen. Er erachtete solche Ausführungen als eher seltsam, hatte jedoch mittlerweile akzeptiert, dass Patrick sich an Kevins Leben erinnerte.
Darüber hinaus trafen wir Lisas Exmann, den Vater von Patricks Schwester. Er entsann sich der schwierigen Zeit, als er und Lisa Kevin zu den verschiedenen Kliniken brachten und von dort abholten. Allerdings konnte er sich nicht erinnern, mit Kevin schwimmen gegangen zu sein, wie Patrick es geschildert hatte. Diese Gedächtnislücke war nicht überraschend, lag die Begebenheit doch mindestens siebzehn Jahre zurück. Jedenfalls war ihm noch gegenwärtig, wie er einmal mit Kevin durch den Park spaziert war. Von Patrick hatte er nur wenig mitbekommen, und die Möglichkeit früherer Leben erschien ihm eher vage; aber er war überzeugt, dass Patrick dazu beigetragen hatte, Lisas Kummer zu lindern. Sie sei Kevin äußerst nah gewesen und habe unter seinem Tod schrecklich gelitten. Er sei zu dem Gespräch mit uns bereit gewesen, weil er hoffte, die Studie über Erinnerungen an frühere Leben könne ihr helfen.
Am dritten Tag fühlte sich Patrick wohl genug, um mit uns zu plaudern. Oft redete er leise und undeutlich, sodass man ihn manchmal kaum verstand. Die Verwirrung wurde noch größer, weil er ab und zu von Kevin in der dritten Person sprach. Ich fragte mich, ob diese wechselnden Perspektiven so zu erklären waren, dass er als fünfjähriger Junge zwar Erinnerungen an Kevins Leben hatte, zugleich aber keinen Sinn darin finden konnte, eine andere Person zu sein.
Unter anderem erzählte er uns, mit Kevin und ihrem Cousin den Zoo besucht zu haben. Patrick war zwei Jahre zuvor einmal im Zoo gewesen, aber nicht mit dem Cousin, während Kevin mehrmals dort war. Dann redete er über Kevins Kinderzimmer und die zwei Schränke darin. In Wirklichkeit gab es nur einen Schrank, der aber zwei Schiebetüren hatte. Außerdem beschrieb Patrick einen apfelförmigen »Wasserball«, und Lisa zufolge besaß Kevin tatsächlich ein derartiges Spielzeug in der Badewanne. Schließlich beteuerte er, in Begleitung von Kevin auf einer Farm mit Stieren gewesen zu sein. Patrick kannte keine solche, doch Kevin hatte sich tatsächlich auf einer Viehfarm aufgehalten, die seiner Tante gehörte.
Unsere Reise war trotz mancher Unwägbarkeiten ein Erfolg. Wir hatten Lisas Geschichte erfahren, Kevins Krankenakten studiert und sogar Patrick dazu gebracht, uns einige seiner Erinnerungen mitzuteilen. Durch die sehr angenehme Begegnung mit Lisa und ihrer Familie empfand ich umso mehr Achtung vor den Personen, die sich mit dem Phänomen der Wiedergeburt auseinandersetzen. Sie waren nicht nur Figuren auf den Seiten von Ians Bericht, sondern Menschen aus Fleisch und Blut, von denen manche jene Tragödie durchgemacht hatten, die schließlich zum Ende eines Lebens führte, an das ein Kind sich später zu erinnern schien.
Nach unserer Rückkehr wollten wir berechnen, wie hoch die Wahrscheinlichkeit war, dass zwischen Patricks und Kevins Symptomen eine Verbindung bestand. Selbst wenn wir das Hinken außer Acht ließen: Wie wahrscheinlich war es, dass ein Kind mit drei Malen geboren wurde, die den Wunden eines seiner Geschwister entsprachen? Ian hatte zuvor ermittelt, dass die Wahrscheinlichkeit, zwei ähnliche Male auf einem anderen Körper anzutreffen, bei 1 zu 25 600 lag.1
Gemäß seiner Grundannahme umfasste der Oberflächenbereich der Haut eines durchschnittlichen Erwachsenen 160 Zentimeter. Wenn man sich diesen Bereich als Quadrat auf einer flachen Ebene vorstellte, hätte es ungefähr die Maße 127 x 127 Zentimeter. Da Ian die Entsprechung zwischen dem Mal auf dem einen Körper und der Wunde auf dem anderen dann als gegeben ansah, wenn beide sich innerhalb eines Radius von 10 Zentimetern an der gleichen Stelle befanden, kalkulierte er, wie viele 10-Zentimeter-Quadrate in jenen Oberflächenbereich des Körpers passen würden – nämlich 160. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein einzelnes Mal hier einer Wunde dort entsprach, lag also bei 1 zu 160; bei zwei Malen und zwei Wunden betrug sie folglich 1 zu 160 im Quadrat oder 1 zu 25 600.
Da diese Zahl von Kritikern angezweifelt wurde, beschlossen wir, für Patricks Fall weitere Experten zurate zu ziehen. Ich suchte zwei Statistiker der medizinischen Fakultät auf und erklärte ihnen die Ausgangslage. Obwohl sie zunächst interessiert schienen, teilte mir der eine bald mit, dass er es ablehne, die Wahrscheinlichkeit abzuschätzen. Seiner Ansicht nach würde jede Berechnung das komplexe System allzu grob vereinfachen. Und er fügte hinzu: »Begriffe wie ›höchst unwahrscheinlich‹ und ›extrem selten‹ kommen einem in den Sinn, wenn man den vorliegenden Sachverhalt zu beschreiben versucht.«
Ian war seit Langem von Fällen fasziniert, in denen es um derartige Male ging. Sie hingen zusammen mit seinem Interesse an der Wechselbeziehung zwischen Geist und Körper, das noch aus seiner »klassischen« Phase in der psychosomatischen Medizin stammte. In dem Jahr vor unserer Begegnung mit Patrick hatte Ian Reincarnation and Biology2
veröffentlicht, ein zweitausendseitiges Werk, entstanden in mehrjähriger intensiver Arbeit. Es behandelte über 200 Fälle von Kindern mit Malen oder Geburtsfehlern, die den – meistens tödlichen – Wunden einer inzwischen verstorbenen Person entsprachen.
Ungeachtet Ians Faszination für diese Fälle stand ich ihnen anfangs eher skeptisch gegenüber. Mir war schleierhaft, wie die Wunde auf dem einen Körper sich als Mal auf dem anderen zeigen konnte, selbst wenn man die Vorstellung von Verbindungen zu früheren Leben akzeptierte. Nach einem meiner Vorträge stellte ein Student die gleiche Frage, die Ian mit folgendem Zitat von Charles Robert Richet beantwortete, einem Physiologen und Mediziner, der 1913 den Nobelpreis erhielt und außerdem über Spiritismus und Parapsychologie forschte: »Ich habe nie gesagt, dass es möglich ist, sondern nur, dass es stimmt.«
Diese Erklärung überzeugte mich kaum. Doch Ian schrieb in Reincarnation and Biology auch über wissenschaftliche Studien, die zeigten, dass mentale Bilder auf unterschiedliche Weise bestimmte Wirkungen auf den Körper haben können. Ein Beispiel war der Fall eines Mannes, der sich lebhaft an ein traumatisches Erlebnis neun Jahre zuvor erinnerte, als ihm die Arme auf den Rücken gebunden waren. Dabei erschienen auf seinen Unterarmen Abdrücke wie die von Seilen.3
Wenn also Bilder im Kopf solche Spuren auf dem Körper hervorrufen und der Geist nach dem Tod weiterexistiert, etwa in einem sich entwickelnden Fötus, dann konnte ich begreifen, dass dieser durch solche geistigen Bilder beeinflusst wird. Es wären nicht die Wunden auf dem früheren Körper an sich, die das Mal oder den Geburtsfehler verursachten, sondern die Bilder der Wunde im Kopf des verstorbenen Individuums. Demnach schienen im Fall Patricks seine Male genau den Verletzungen zu entsprechen, die auf Kevin einen starken Eindruck gemacht hatten: der Blindheit auf dem linken Auge, dem Knoten über dem Ohr, wo eine Gewebeprobe entnommen worden war, sowie jener Stelle, an der man den Zentralvenenkatheter für die Chemotherapie eingeführt hatte.
Zwei Jahre später statteten wir Lisa und Patrick erneut einen Besuch ab. Er hatte weiterhin ungewöhnliche Bemerkungen gemacht, sogar über ein Leben vor Kevin gesprochen, diesmal auf Hawaii. Patrick erzählte über seine dort ansässige Familie und einen verstorbenen Sohn. Zudem erwähnte er eine Statue, die bei einem Vulkanausbruch geschmolzen war, und wie die Bewohner sie dann neu errichteten. Aufgrund dieser Schilderungen glaubten seine Eltern, er erinnere sich an Ereignisse aus den 1940er-Jahren.
Mehrere Monate vor unserem Treffen fragte Patrick eines Abends seine Mutter, die gerade das Essen zubereitete: »Weißt du eigentlich, dass du einen Verwandten hast, über den niemand redet?« Diesem Verwandten sei er vor seiner eigenen Geburt im Himmel begegnet – einem großen dünnen Mann mit braunem Haar und braunen Augen, der zu Patrick sagte, er heiße Billy und werde »Billy der Pirat« genannt. Er sei von seinem Stiefvater umgebracht worden, aus nächster Nähe erschossen oben in den Bergen, und ebenso traurig wie bestürzt darüber, dass nach seinem Tod niemand ein Wort über ihn verliere.
Lisa wusste nichts von irgendeinem Verwandten namens Billy. Sie rief ihre Mutter an, um sich zu erkundigen, und erfuhr, dass deren älteste Schwester einen Sohn namens Billy zur Welt gebracht hatte. Die von Patrick genannten Details stimmten also. Drei Jahre vor Lisas Geburt war Billy von seinem Stiefvater erschossen worden. Über den Mord sprach man in der Familie nie. Als Lisa dann den Spitznamen »Billy der Pirat« erwähnte, musste ihre Mutter lachen, denn der ging auf sein ungestümes Wesen zurück. Seit Billys Tod hatte sie ihn nicht mehr gehört. Es schien ausgeschlossen, dass Patrick je zuvor etwas über Billy oder dessen Spitznamen erfahren hatte.
Patricks Geschichte mag vertraut klingen, denn ich hatte sie in meinem ersten Buch Life Before Life kurz zusammengefasst, und Carol Bowman, Autorin zweier Bücher über die Erinnerungen von Kindern an frühere Leben4
, die uns zugunsten Ians einzigartiger Forschungsmethode auf den Fall aufmerksam machte, schrieb darüber in einem der ihren. Ian hatte schon seit Langem solche Geschichten gehört. Er war eine außergewöhnliche Persönlichkeit, einerseits der Inbegriff eines seriösen Wissenschaftlers – manchmal formell und stets präzis in seiner Sprache –, andererseits aber den seltsamsten Dingen auf der Spur. Sie zu erforschen bedeutete nicht unbedingt, sie zu akzeptieren, weshalb er bei keinem der Fälle, die ihm begegneten, seine analytische Vorgehensweise aufgab.
Lisa sagte, Ian erinnere sie an den Schauspieler James Stewart – ein Vergleich, der abgesehen von dessen Geselligkeit ziemlich zutraf. Beide waren große, schlaksige und kultivierte ältere Herren mit freundlichem Lächeln. Außerdem war Ian liebenswürdig und hilfsbereit – zumal als ich die ersten Schritte auf seinem Gebiet unternahm –, mit einem Sinn für trockenen Humor, den er bei seltenen Anlässen mit verheerender Wirkung einsetzte. So lautete etwa sein Kommentar über ein Buch, das dem Autor zufolge aus dem Geist von William James »gechannelt« worden war: »Wenn dieser banale Text tatsächlich von ihm stammt, kann ich nur sagen, dass dies eine schreckliche posthume Reduktion persönlicher Fähigkeiten bedeutet. (Den Tod zu überleben mit einem solch entsetzlichen Verfall der Persönlichkeit, ist – zumindest für mich – eine eher trostlose Aussicht.)«5
Ian hatte bereits eine glänzende akademische Karriere mit Dutzenden Publikationen hinter sich, als er 1957 Leiter der Psychiatrischen Abteilung an der University of Virginia wurde. Außerdem interessierte er sich seit langer Zeit für Parapsychologie und die Frage, ob irgendein Teil unseres Bewusstseins nach dem Tod weiterlebt. Diesen Interessen widmete er immer mehr Zeit und gab dann nach zehn Jahren die Leitung des Instituts ab, um sich ganz auf sein bevorzugtes Forschungsgebiet zu konzentrieren, hauptsächlich auf die Berichte von Kindern über Erinnerungen an frühere Leben. Als er über diese Fälle zu schreiben begann, kannten ihn die Herausgeber von Fachzeitschriften aufgrund seiner Erfolge und seines Ansehens in der Psychiatrie. Dadurch wurden seine Bücher zumindest wahrgenommen und immer wieder mit respektvollen Rezensionen bedacht. In einer davon, erschienen 1975 im Journal of the American Medical Association (JAMA), hieß es zum Beispiel: »Hinsichtlich der Wiedergeburt hat er ebenso sorgfältig wie unvoreingenommen eine ausführliche Reihe von Fällen aus Indien gesammelt, deren Beweise anderswo auf der Welt schwer nachzuvollziehen sind … Er hat eine große Menge von Daten dokumentiert, die nicht ignoriert werden können.«6
Zwei Jahre später befasste sich eine Ausgabe des Journal of Nervous and Mental Disease fast ausschließlich mit Ians Arbeit.
Als wir Patrick begegneten, war jene Zeit für ihn schon in weite Ferne gerückt. Ian hatte immer die wissenschaftliche Gemeinde im Blick und schrieb seine detaillierten Fallstudien eher für ein akademisches Publikum als für die allgemeine Öffentlichkeit. Die Leserschaft, die offen genug war, sich mit seiner Arbeit auseinanderzusetzen, hatte im Laufe der Jahre zwar abgenommen, doch Ian setzte seine Bemühungen unermüdlich fort. Am Ende der ersten Reise zu Patricks Familie entwarf er während unseres Abendessens den Plan für einen Aufsatz über Patricks Fall. Er stellte sich folgenden Titel vor: »Unexpected Correspondence of 4 Physical Abnormalities between a Boy and his Deceased Brother« (Unerwartete Entsprechung von vier körperlichen Anomalien zwischen einem Jungen und seinem verstorbenen Bruder), und schlug vor, ihn der britischen Lancet anzubieten, einer der weltweit führenden medizinischen Zeitschriften. Das war jedoch allzu optimistisch von ihm gedacht.
Neun Tage nachdem wir das Manuskript an die Redaktion geschickt hatten, erhielten wir die Antwort: »Nach der Diskussion mit mehreren Redakteuren sind wir zu der Überzeugung gelangt, dass der Aufsatz besser an anderer Stelle veröffentlicht werden sollte.« Also sandten wir ihn an eine weitere Zeitschrift, dann an eine dritte, eine vierte ... Innerhalb eines Jahres wurde er von sechs renommierten Fachzeitschriften abgelehnt.
Schließlich integrierten wir Patricks Geschichte in einen Aufsatz über Fälle mit verschiedenen Malen und Geburtsfehlern, den wir im Journal of Scientific Exploration veröffentlichten.7
Die Zeitschrift wird herausgegeben von der Society for Scientific Exploration, gegründet von einer Gruppe akademischer Wissenschaftler, zu der auch Ian gehörte, deren besondere Interessen bei einschlägigen Zeitschriften auf Widerstand und Argwohn stießen – etwa wenn Astronomen UFO-Berichte untersuchten. Die publizierten Aufsätze spiegelten demnach das Ansinnen von Gelehrten wider, kontroverse Themen zu behandeln. Obwohl unser Aufsatz genau in die Zeitschrift passte, erreichte Patricks Fall nicht das breitere akademische Publikum, wie Ian es erhofft hatte.
Dennoch war sein Optimismus nicht völlig unangebracht. Ein Jahr nach der Ablehnung unseres Aufsatzes druckte The Lancet einen Brief von Ian über zweiundvierzig Fälle von Zwillingen, die er und seine Kollegen erforscht hatten und in denen zumindest einer des Paares behauptete, sich an ein früheres Leben zu erinnern.8
Der Brief war länger als eine Spalte, und die Redaktion gab ihm den Titel »Past Lives of Twins« (Frühere Leben von Zwillingen), der noch nicht einmal mit einem Fragezeichen versehen war.
Als Ian 2007 starb, widmete das Journal of Scientific Exploration eine Ausgabe den Besprechungen seiner Arbeiten und den Erinnerungen anderer Menschen an ihn. Einer davon war Tom Shroder, Redakteur bei der Washington Post, der Ian auf zwei Forschungsreisen begleitet und darüber ein Buch geschrieben hatte.9
Shroder beendete seine Hommage folgendermaßen: »Wie immer die Wahrheit lauten mag – Ians Arbeit, diese zahllosen Aktenordner, die randvoll sind mit der leidenschaftlichen Präzision seiner Forschung … nun, sie sind etwas. Sie sind wirklich etwas.«10
Die Ausgabe enthielt auch einen von Ians Texten aus dem Jahr 1958, der wohl schon auf seine künftige Ausrichtung hindeutete. Unter dem Titel »Scientists with Half-Closed Minds«11
(Wissenschaftler mit halb verschlossenem Geist) handelte es sich um einen Essay, den Ian für Harper's Magazine geschrieben hatte. Darin untersuchte er verschiedene Beispiele, wie die wissenschaftliche Gemeinde bahnbrechende Einsichten zunächst übersehen hatte, und warnte vor der besonders bei Wissenschaftlern gefährlichen Neigung, neue Ideen zurückzuweisen, die unserem bisherigen Verständnis widersprechen.
Obwohl Ian dieses Verhaltensmuster deutlich bewusst war, hielt es ihn nicht davon ab, die für ihn so wichtige Arbeit fortzusetzen. Einmal sagte er mir lächelnd, dass er als Versager sterben werde, weil er sein oberstes Ziel nicht erreicht habe, nämlich die gesamte etablierte Wissenschaft dazu zu bewegen, die Wiedergeburt als Möglichkeit ernsthaft in Betracht zu ziehen. Dieses Ziel war vielleicht unrealistisch, aber Ian zeigte keinerlei Bedauern über den Weg, den er gewählt hatte. Im Gegenteil, er hatte die Reise genossen, von genügend Glück und Einfallsreichtum begünstigt, um viele Jahre seines Lebens den Themen widmen zu können, die ihn in Bann schlugen. Auch wenn er nicht die ganze etablierte Wissenschaft überzeugt hat, öffnete er doch eine Menge Augen, auch die von zahlreichen Wissenschaftlern. Ian bewahrte stets jene Einstellung bezüglich unvoreingenommener Nachforschung, die er schon 1958 befürwortet hatte. Sein letzter Aufsatz war eine wunderbare Zusammenfassung der vergangenen vierzig Jahre unter dem Titel »Half a Career with the Paranormal« (Ein halbes Berufsleben mit dem Übernatürlichen). Der Text endete mit dem Satz: »Niemand soll denken, dass ich die Antwort gefunden habe. Die Suche geht weiter.«12
Ich hoffe, dass Sie den im vorliegenden Buch geschilderten Fällen mit der gleichen vorurteilsfreien Einstellung begegnen werden. Vielleicht halten Sie die Vorstellung, dass Menschen sich an frühere Leben erinnern, für allzu fantastisch. Das kann ich durchaus verstehen. Ich arbeite auf diesem Gebiet nicht deshalb, weil ich ein überzeugter Anhänger früherer Leben bin, und auch nicht, um für diese Vorstellung zu werben. Ich habe mich in der Sache engagiert, weil ich für mich selbst herausfinden wollte, ob ein Leben nach dem Tod möglich ist. Wiewohl ich zu der Auffassung gelangt bin, dass in manchen Fällen tatsächlich merkwürdige Dinge geschehen, lasse ich jeweils die anderen Perspektiven nicht außer Acht. Bei der Darstellung der Fälle werde ich Sie mit solchen Überlegungen nicht langweilen, möchte Sie zugleich aber ermuntern, für jeden davon offen zu sein, für den gewöhnlichen Fall ebenso wie für den außergewöhnlichen.
In meinem ersten Buch gab ich einen Überblick über die mittlerweile fünfzigjährige Forschung zur Wiedergeburt. In diesem Buch konzentriere ich mich auf einige bemerkenswerte Fälle, die ich in den letzten Jahren untersucht habe und die – abgesehen von Patricks Fall – nicht ins erste Buch aufgenommen wurden. Doch ich möchte Ihnen das Phänomen nicht nur vor Augen führen, sondern es auch sinnvoll deuten. Sollten Sie ein Problem damit haben, diese Art von Arbeit ernst zu nehmen, so mag das daran liegen, dass die Fälle von der Wissenschaft und der realen Welt sehr weit entfernt scheinen. Gerade deshalb haben wohl viele Menschen die große Menge gesammelter Daten lange Zeit ignoriert.
Am Ende des Buches werde ich mich mit diesem Aspekt auseinandersetzen und zeigen, wie Erinnerungen an frühere Leben mit dem gegenwärtigen wissenschaftlichen Verständnis in Einklang gebracht werden können. Wenn Sie skeptisch sind, fordere ich Sie auf, die endgültige Entscheidung über das Thema erst zu treffen, nachdem Sie sämtliche Tatsachen zur Kenntnis genommen haben. Außerdem werde ich untersuchen, wie dieses Phänomen sogar zu neuen Einsichten über die wahre Natur der Wirklichkeit führen kann – über unser Dasein in dieser Welt als auch über die Möglichkeit eines Lebens nach dem Tod.
Ich hoffe, dass wir alle den Versuch unternehmen, es Ian gleichzutun und sowohl ein kritisches Auge als auch einen offenen Geist zu bewahren. Auf diese Weise können Sie die erstaunlichen Erfahrungen der genannten Familien schätzen lernen und in den Geschichten von Kindern wie Patrick einen wesentlichen Sinn finden – dem kleinen Jungen, der mit den Malen seines geliebten verstorbenen Halbbruders in dieses Leben gekommen sein mag, um sich derart nachdrücklich an ihn zu erinnern, als lebte der andere im eigenen Innern fort.
Obwohl Ian nach jahrzehntelanger Forschung schrieb, dass er weiterhin auf der Suche sei, begann meine Suche gerade mit Patricks Fall. Fast nichts in meiner Lebenskurve hatte darauf hingedeutet, dass ich eines Tages Berichte über Erinnerungen an frühere Leben untersuchen würde. Ich wuchs in North Carolina auf, wo ich mit meiner Familie jeden Sonntag den Gottesdienst in einer Baptistenkirche besuchte und als gehorsamer Sohn glaubte, was ich dort hörte. Die Kirchgänge wurden seltener, als ich auf dem College der University of North Carolina war, und endeten ganz, als ich Chapel Hill verließ und nach Charlottesville umzog, um an der University of Virginia meine Ausbildung in Psychiatrie zu beginnen. Viele Dogmen, die mir während der Kindheit und Jugend nahegebracht worden waren, blieben zurück. Ich hatte zwar keine endgültige Entscheidung gegen die Spiritualität getroffen, aber meine Neigungen in diese Richtung machten sich kaum noch bemerkbar.
Zum ersten Mal hörte ich von Ian während meiner Ausbildung. Ich war fasziniert, dass jemand das tun würde, was er getan hatte – eine prestigeträchtige akademische Stelle aufgeben, um über ein Gebiet wie das der Wiedergeburt zu forschen –, aber nicht fasziniert genug, um ihn zu kontaktieren. Tatsächlich bin ich ihm während meiner fünf Jahre in der Psychiatrischen Abteilung nie begegnet.
Nach der Ausbildung blieb ich in Charlottesville und eröffnete eine Praxis in einer nahe gelegenen Gemeinde. Als ich zum zweiten Mal heiratete, interessierte ich mich erneut für geistige Aspekte, da meine Frau Chris zwar nicht religiös war, aber offen für Themen, denen ich nur wenig Beachtung geschenkt hatte, wie etwa Telepathie, Geister, ja sogar frühere Leben. Ich fing an, einschlägige Bücher zu lesen, darunter auch eines von Ian Stevenson mit dem Titel Children Who Remember Previous Lives (Kinder, die sich an frühere Leben erinnern), worin er seine Arbeit mit kleinen Kindern beschrieb, die über Erinnerungen an frühere Leben berichteten. Obwohl mich damals die Möglichkeit einer solchen Präexistenz nicht sonderlich anzog, war ich doch beeindruckt, dass der Autor im Lauf der Jahre Hunderte von Fällen untersucht und sich dabei einer sorgfältigen analytischen Methode bedient hatte, die mir zusagte.
Während meiner Lektüre erfuhren Chris und ich aus der örtlichen Tageszeitung, dass Ian Stevensons Forschungsabteilung (damals bekannt unter dem Namen Division of Personality Studies oder DOPS) ein Stipendium zuerkannt worden war, um die Wirkungen von Nahtoderfahrungen auf das Leben der Menschen zu untersuchen, die sie gemacht haben. Oft erzählen sie, ihren Körper zu verlassen, ihn von oben zu betrachten, auf sämtliche Ereignisse in ihrem Leben zurückzublicken und einen tunnelartigen Raum in Richtung einer anderen Welt zu durchqueren, wo sie auf verstorbene Verwandte und ein gleißendes Licht oder Lichtwesen treffen. Da mich die Arbeit in meiner Praxis nicht ausfüllte, schlug Chris mir vor, das Büro der Abteilung anzurufen und nachzufragen, ob die Forscher für ihre Studie Unterstützung bräuchten bei den Gesprächen mit Patienten. Während des Telefonats wurde ich dann eingeladen, am nächsten wöchentlichen Arbeitsessen teilzunehmen.
Als ich mich darauf vorbereitete, überlegte ich, wie Leute sich wohl kleideten, die mit einer derartigen Aufgabe beschäftigt waren. Trugen die Männer zum Beispiel Krawatten? Ich beschloss, äußerst lässige Arbeitskleidung anzulegen – Hemd und Krawatte, aber keine, die elegant wirkte. Am Ende stellte sich heraus, dass Ian in dreiteiligem Anzug erschien.
Von da an besuchte ich die Treffen jede Woche. Nach einer Weile begann ich an einer Studie über die Krankengeschichten jener Personen zu arbeiten, die von ihren Nahtoderfahrungen berichteten, und zu beurteilen, wie nah sie dem Tod tatsächlich gewesen waren. Schnell wurde klar, dass wir damit auch die Qualität der Krankenakten einschätzten, da einige davon, zumal die älteren, überraschenderweise nur wenige Details über jenes Ereignis enthielten. Jedenfalls bereitete es mir Freude, mit den anderen an diesem Projekt zu arbeiten. Auch wenn der zeitliche Aufwand dafür gering war, schien es doch ein lohnenswertes, unbezahltes Hobby zu sein.
Nachdem ich fast zwei Jahre in der Forschungsabteilung verbracht hatte, fragte mich Ian, ob ich gerne nach Thailand und Burma fahren würde, um gemeinsam mit unserem Kollegen Jürgen Keil einige Fälle zu untersuchen, in denen es um frühere Leben ging. Ich ergriff die Gelegenheit beim Schopf, schmiedete Reisepläne und flog drei Wochen nach unserem ersten Besuch bei Patrick für einen Monat nach Asien. In Bangkok traf ich mich mit Jürgen, der bereits solche Fälle in Thailand erforscht hatte. Er war deutscher Herkunft und als junger Mann während der Nachkriegsjahre nach Australien ausgewandert. Ursprünglich Maschinenschlosser und Dreher, wurde er dann Psychologe, der zu der Zeit unserer Begegnung Professor emeritus an der Universität von Tasmanien war. Wir kamen mit unserem Übersetzer zusammen und brachen auf, um einige Fälle aus der Nähe zu betrachten.
Einer unserer ersten Fälle bezog sich auf ein Mädchen namens Ampan und stammte aus früheren Tagen – Ampan war inzwischen neunzehn Jahre alt –, aber die Menschen, mit denen wir uns unterhielten, konnten sich noch genau an die Einzelheiten erinnern. Ihren Eltern zufolge hatte sie erstmals im Alter von fünf Jahren – also später als viele andere Kinder – über ein früheres Leben gesprochen. Eines Tages weinte sie und sagte, sie wolle nach Hause zurückkehren. Ihre Mutter erwiderte: »Dein Zuhause ist doch hier. Wo ist das Zuhause, das du meinst?« Und Ampan antwortete: »In Buhom.« Das ist ein Dorf in der Umgebung, etwa fünf Kilometer entfernt von dem der Familie. Eine gepflasterte Straße verband die zwei Orte, als wir da waren, aber Zeugen versicherten, damals habe es nur einen unbefestigten Weg gegeben, auf dem selten Busse verkehrten. Und obwohl Ampans Vater einen fernen Verwandten in Buhom hatte, waren er und seine Familie nie dort gewesen, und sie kannten auch niemanden, der von Buhom in ihr Dorf gekommen war, um Geschäfte zu machen.
Daraufhin erzählte Ampan die Geschichte eines früheren Lebens. Sie sei an Denguefieber erkrankt und im Bezirkskrankenhaus gestorben. Hierbei handelt es sich um eine durch Mücken übertragene, in tropischen und subtropischen Zonen verbreitete Viruserkrankung. Normalerweise ist sie nicht tödlich, aber eine Variante, das hämorrhagische Denguefieber, kann es durchaus sein.
Die Eltern fragten Ampan, wie ihr Name gelautet habe, und sie sagte: »Wong« oder »Somwong«. Beide berichteten, dass sie zudem einen Familiennamen erwähnt habe, der ihnen jedoch entfallen war. Als ihre Mutter fragte, wie sie zu ihnen gelangt sei, entgegnete Ampan, dass sie im Bezirkskrankenhaus gestorben sei und ein Lieferwagen den Leichnam abtransportiert habe. Sie rannte ihm hinterher, konnte ihn aber nicht einholen. Dann ging sie zu Fuß weiter und erreichte nach ungefähr acht Kilometern die Straße vor dem Haus ihrer Eltern. Während ein kühler Wind wehte, habe sie nach Trinkwasser gesucht und dabei ihre künftige Mutter erblickt. Anstatt ihren Marsch fortzusetzen, legte sie sich hin, um auszuruhen. Anschließend wurde sie durch den Leib ihrer Mutter zur Welt gebracht.
Als Ampan ihre Geschichte zum ersten Mal erzählte, weinte sie und wollte nach Hause. Auch in der Folgezeit brach sie immer wieder in Tränen aus, manchmal täglich, und zwar drei Jahre lang. Als sie schließlich acht war, mieteten dreißig Bewohner ihres Dorfes einen Bus, um ein buddhistisches Segnungsfest zu besuchen, das in Buhom veranstaltet wurde. In der Gruppe befand sich auch Ampan zusammen mit ihrer Mutter und einem Freund der Familie. Als der Bus in Buhom eintraf, führte sie die beiden in ein Haus, lief los und schloss eine Frau in die Arme, die sie »Mami« nannte.
Diese Frau hatte eine Tochter namens Somwong gehabt, die gestorben war – auf genau die Weise, wie Ampan es geschildert hatte. Wir sprachen mit den Eltern von Somwong, ihrer Schwester und ihren Brüdern. Bei diesem ersten Besuch ließ Ampans Mutter ihre Tochter einige Zeit mit der Familie in deren Haus verbringen. Ampan wünschte sich Somwongs Buddha-Amulett; ein solches wird oft als Anhänger getragen und soll den Besitzer vor Gefahren schützen. Gemäß der Auskunft von Somwongs Familie teilte Ampan ihnen mit, wo sich dieses Amulett befand, und entdeckte es tatsächlich an der bezeichneten Stelle. Außerdem suchte sie nach Kleidungsstücken von Somwong, die aber nicht mehr im Haus waren.
Nach ungefähr einer Stunde drängte Ampans Mutter zum Aufbruch, obwohl Ampan sich dagegen sträubte. Hinterher setzte sie ihre Besuche fort, oft zwei oder drei Mal im Monat, und blieb manchmal für zehn Tage. Ihre Eltern, froh darüber, dass sie endlich glücklich war, hatten nichts dagegen. Sie erklärten uns, Ampan habe weiterhin, selbst im Alter von neunzehn Jahren, noch Erinnerungen an ihr früheres Leben. Gewöhnlich enden solche Berichte bei Kindern schon viel früher. Leider konnten wir die junge Frau nicht persönlich treffen, weil sie gerade zu Besuch bei Freunden war. Wir versuchten es erneut auf einer späteren Reise, doch auch dann war sie unterwegs.