Das Buch

Gewalt zieht sich wie ein roter Faden durch Sascha Bisleys Leben. Schon als kleiner Junge begeistert er sich für Waffen, als Jugendlicher glaubt er sich nur beim Prügeln stark und lebendig, Alkohol- und Drogenexzesse inklusive. 17 Verfahren wegen Körperverletzung und Nötigung sind das Vorspiel zu jener folgenreichen Tat, die alles ändert.

Im Jugendknast beginnt Sascha sich mit seinem vermurksten Leben auseinanderzusetzen. Wie hatte aus dem Nesthäkchen, aufgewachsen in einer idyllischen Waldrandsiedlung im Sauerland, ein solcher Gewalttäter werden können?

Auf seinen Selbsthass folgt Reue, auf Ausweglosigkeit der Wille, ein anderer Mensch zu werden. Als er nach einem Jahr U-Haft auf Bewährung freigelassen wird, ist noch lange nicht alles gut. Aber er beginnt seinen Weg in ein neues, besseres Leben.

In diesem Buch erzählt Sascha Bisley seine Geschichte: ehrlich, temporeich und mit einem ganz eigenen Sound.

Der Autor

Sascha Bisley, *1973, wuchs als jüngstes von sieben Kindern im Sauerland auf. Heute lebt er als Referent für Jugendämter und das Innenministerium von NRW, Filmemacher, Autor und Piercer in Dortmund. Er bloggt unter »dortmund-diary.de« und ist ein gefragter Lesebühnenautor.

SASCHA BISLEY

Zurück aus der Hölle

Vom Gewalttäter zum Sozialarbeiter

Econ

Einige Namen wurden gezielt verändert. Diese Änderungen dienen dem Schutz und der Sicherheit der jeweiligen Personen.

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ISBN: 978-3-8437-1044-2

© der deutschsprachigen Ausgabe
Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2015
Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Autorenfoto: Daniel Koch, Chokografie

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Für J. K.

INHALT

Über das Buch und den Autor

Titelseite

Impressum

Widmung

Wie immer. Alles scheiße

Ungebetener Besuch

Hineingesprungen in alle Versuchungen

Ab in den Knast

Hang zur Gewalt

Mit gebrochenen Rippen auf dem Boden

Kurze Karriere als Bombenleger

Ohnmachtsspiele

Familienersatz in falschen Kreisen

Eine Nase nach der anderen

Heroin, Hagebuttentee und ein versauter Selbstmord

Der Vater verstummt

Ein Brief an Jonathan

Countdown in der Einzelzelle

Tage in der Klapse

Angst, Angst, Angst

»Junge, mach das nie wieder!«

Gute Aussichten

Die wiederkehrenden Dämonen

Therapie gegen Gewalt

Schuld – und Dinge, die sich gut anfühlen

Dank

Feedback an den Verlag

Empfehlungen

WIE IMMER. ALLES SCHEISSE

Meine Erinnerung hat sich von den 3,3 Promille Blutalkohol befreit und steht breitbeinig in meinem Kopf. Mit den Händen in den Taschen lacht sie mich aus und nimmt mir jegliche Illusion, die Sache zu einem guten Ende zu führen. Fragmente setzen sich in meinem angeschlagenen Kopf zusammen, ich sehe den gestrigen Abend bruchstückhaft vor mir.

Getrunken, gekifft, das Übliche. Auch die Stimmung war wie immer, laut, schnell, aggressiv. Das war in den letzten Tagen nicht so gewesen. Mein Freund Phillip und ich hatten seit zwei Wochen ein altes Fachwerkhaus renoviert, weit draußen im Wald eines Vororts meiner Heimatstadt. Eigentlich bin ich handwerklich nicht so begabt, obwohl ich Schlosser gelernt und wenige Monate zuvor meine Gesellenprüfung zum Verfahrensmechaniker bestanden habe. Aber die Arbeiten an dem Haus machten uns Spaß, und wir konnten uns unsere Zeiten selbst einteilen. Einen Chef oder etwas Ähnliches gab es nicht vor Ort, somit stand unserer freien Entfaltung auch nicht wie sonst die Ablehnung jeglicher Autoritätspersonen im Weg. Irgendwie konnten wir uns nie daran gewöhnen, dass uns jemand sagte, was wir zu tun und zu lassen haben. Uns beiden hatte das schon in der Schule eine Menge Ärger eingebracht. Phillip zeigte mir alles, an das er sich selbst noch erinnern konnte. Den Rest improvisierten wir. Darin war er spitze. Ich bewunderte seine weltmännische Leichtigkeit, die viele als Naivität missverstanden. Er war ein Kauz, vielleicht. Für mich war er ein Mentor, ein Freund und, ja, auch eine Art Vaterfigur.

Das Fachwerkhaus war 1265 erbaut worden und schloss direkt an eine noch intakte Mühle an, deren Wasserrad durch den kleinen Bach angetrieben wurde, an dem sie errichtet worden war. Die ganze Hütte sah von innen so aus, als wäre seit der Fertigstellung niemand mehr darin gewesen, alles war voller Spinnweben. Die Sonne schien durch die muffig riechenden Holzplanken im oberen Stockwerk und ließ die von uns aufgewirbelten Staubkörner in ihren Strahlen auf und ab tanzen.

George hatte die Mühle gekauft. Er war ein Tätowierer aus England und lebte in der schrecklichen Stadt Hagen, in der auch sein Tattoo-Studio war. Die Betonbauten Hagens mit dem Charme eines Industriegebiets in Bitterfeld kurz nach dem Mauerfall veranlassten ihn zum Kauf der Mühle. Bezahlen wollte uns George mit Tattoos anstelle von Bargeld. Für Phillip und mich der perfekte Deal.

George war so um die fünfzig und wirkte sehr verlebt. Tiefe Furchen waren in sein Gesicht gegraben, und die langen Haare und die dürre Gestalt verstärkten den Eindruck, er wäre ein alter Indianer. Das kam ihm gelegen, denn er trug manchmal indianischen Schmuck, und auch bei den Tattoos hatte er sich auf diese Richtung spezialisiert. In seinem Laden waren indianische Armbänder mit Conchos und Federn daran der absolute Renner und somit der frühzeitliche Vorläufer der Arschgeweihe und Chinazeichen von heute.

George hatte uns einen kleinen Wohnwagen besorgt, den er auf dem Rasen vor der Mühle abstellen ließ. Darin hausten wir nun. In der Mühle konnte man ja noch nicht schlafen, und der tägliche Weg von zu Hause wäre viel zu weit und durch unsere täglichen Alkoholexzesse auch nahezu unmöglich gewesen.

Der Wohnwagen war ein beige-brauner Kasten mit nicht allzu viel Komfort. Phillip und ich verbrachten bei dem Scheißwetter viel Zeit auf der Sitzgruppe aus Eichenfurnier und spielten Karten. Er musste mir das Kartenspielen erst beibringen, weil ich es nie gelernt hatte. Meine Mutter sagte immer, Kartenspiele seien »Judenspiele« und dass es so was bei uns zu Hause nicht gäbe. Basta. Ich hatte das nie hinterfragt. Das hätte ich mal besser, denn jetzt jagt mir das Wort eine Gänsehaut über den Körper, wenn ich daran denke.

Ein- bis zweimal pro Woche kam George zur Mühle und füllte unseren Kühlschrank auf oder brachte uns Geld für Einkäufe vorbei. Er tauchte unangemeldet auf, weswegen wir Werkzeug vor die Mühle stellten, so dass es aussah, als hätten wir gerade noch gearbeitet. Unsere ausgedehnte Pause, die wir seit Stunden mit Zocken verbracht hatten, wurde so kommentarlos abgesegnet.

An diesem Freitag machen wir nur ein paar Kleinigkeiten am Haus, danach bereiten wir uns auf die Heimfahrt vor. Phillip und ich wollen zu mir, uns von meiner Mutter bekochen lassen, doch vorher wollen wir noch zu George, weil wir vor dem üblichen Saufgelage am Wochenende auf etwas frische Farbe in unserer Haut spekulieren.

Björn, ein Freund aus der Gegend, rollt mit seinem hellgrünen Strich-Achter-Mercedes auf den Rasen der Mühle und winkt uns zu. Wir steigen mit unseren gepackten Sachen in den Wagen und fahren los. Während mein Blick an den mit Stahlnetzen bespannten Steilhängen der bergigen Umgebung vorbeifliegt, unterhalten sich Phillip und Björn über den Ablauf der vergangenen Tage. Ich komme mir wie ein Eremit vor, der aus seinem Loch gekrabbelt ist. Ein paar Tage Abwesenheit reichen also aus, um den Anschluss an die anderen Jungs zu verlieren. Es gibt allerdings nicht viel Neues. Sauerland eben. Alles wie immer. Alles Scheiße.

Die Fahrt erscheint mir unendlich lang. Seit zwei Tagen habe ich Durchfall, und die zwei Biere, die ich im Benz getrunken habe, machen es nicht besser. Ich fühle mich etwas fiebrig, aber die Lust auf ein Tattoo und ein maßloses Wochenende überwiegt.

Das Studio hat aber schon geschlossen, als wir in Hagen ankommen. George muss wohl wegen etwas Wichtigem den Laden früher zugemacht haben. Das ist sonst nicht seine Art. Wir sind ziemlich verärgert und holen uns an der Pommes-Bude gegenüber für jeden von uns vier Kümmerlinge und ein Bier. Mein Magen zieht sich bei dieser Kombi zusammen und presst die Säfte nach unten; mir ist kalt, dann wieder heiß. Auf der Rückfahrt im Auto versuche ich nicht daran zu denken, es funktioniert nicht besonders gut.

Zu Hause begrüßt uns meine Mutter mit etwas übertriebener Freude. Sie hat Essen gemacht und einen Brief für mich, den ich schnell öffnen soll.

Auf dem Absender steht: »Kreiswehrersatzamt Hagen«.

Ich atme kurz durch, sehe Phillip an und nicke bedeutungsvoll mit dem Kopf. Wir müssen beide grinsen. Nachdem ich den Brief kurz überflogen habe, teile ich meiner Mutter und Phillip mit, dass ich in knapp zwei Wochen meiner Verpflichtung zum Soldaten auf Zeit nachkommen und für unser Vaterland in die Armee einrücken soll. Nach Paderborn. Zu den Panzerjägern. In Phillips Gesicht entdecke ich verwunderte Freude, im Gesicht meiner Mutter taucht Hoffnung auf. Sie stellt sich vor, dass man durch militärische Strenge und einen geregelten Tagesablauf so etwas wie ein funktionierendes Mitglied der Gesellschaft aus mir machen könnte. Vielleicht ist die Bundeswehr wirklich das Beste für mich. Ein Arschtritt. Für meine Zukunft. Das sollte gefeiert werden.

Phillip und ich fahren nach dem Essen mit dem Bus in die Stadt, suchen mehrere Kneipen auf, bestellen Bier und Schnaps, erst hintereinander, dann zusammen. Ich weiß nicht, wie viel ich gesoffen habe, aber ich bin ziemlich voll.

Den Kneipen folgen Diskotheken und weitere Getränke. Freunde tauchen auf, reden mit uns über die Renovierung, die letzten Tage, die Bundeswehr, verabschieden sich. Ich nehme alles wie durch einen Schleier wahr, leicht gedämpft. Getaucht in das Licht, das mir am besten gefällt. Ich bin fertig. Ich fühle mich nicht wie ein Neunzehnjähriger, ich fühle mich alt. Alt und versoffen. Alt, versoffen und dringend reparaturbedürftig. Ich will ins Bett. Phillip bestellt uns noch ein Bier, dazu ordert er Tequila. Aufgeben gibt’s nicht. Hart angeschlagen verlassen wir die Barfrau Susi, ihren Tresen und den Laden.

Vor dem Parkplatz treffen wir ein paar Bekannte. Punks aus der Nachbarschaft und ein paar Mädels, die sie im Schlepptau haben. Die bunten Jungs erzählen von einem Penner und seiner weiblichen Begleitung, die sie gerade in einem nahegelegenen Park getroffen haben. Die Frau sei extrem besoffen und habe ständig ihren Rock hochgezogen und darum gebettelt, von irgendwem gefickt zu werden. Wahrscheinlich, um ihrem Typen eins auszuwischen. Egal warum, es reicht, um unser Interesse in einen Wunsch nach einer persönlichen Einschätzung der Lage umzuwandeln. Phillip und ich sagen den Punks, dass wir uns das jetzt mal genauer ansehen werden, und verabschieden uns.

Auf dem Weg zum Park holt Phillip seine kleine Pfeife aus der Hosentasche und füllt den Kopf mit geübten Handgriffen mit etwas Haschisch, das wir noch aus dem Wohnwagen mitgenommen haben. Er raucht das Teil an und hält es mir hin; ich nehme ein paar tiefe, feste Züge. Der warme Rauch verteilt sich brennend in meiner Lunge, die nach dem ganzen Alkohol nicht mehr so empfindlich ist wie sonst, wenn ich kiffe.

Der Park liegt direkt vor uns, am Eingang steht ein kleiner, aus Stein gehauener Berliner Bär, auf dessen Sockel die Entfernung von 483 Kilometern zur Hauptstadt eingemeißelt ist.

Von der begattungswilligen Frau fehlt jede Spur. Wir gehen den Park langsam ab, dann treffen wir auf ihn, den besagten Penner. Ohne Frau, dafür ähnlich besoffen, ähnlich geladen wie wir. Das Interesse an der Alten weicht sofort einem Zustand, den ich gut kenne. Die Situation erinnert mich an ein Duell in einem Westernfilm, bis auf den Umstand, dass es hier nicht sehr ausgeglichen wirkt. Er ist allein, wir sind zu zweit. Er ist betrunken, wir sind betrunken und verrückt. Kurzer Blickkontakt, genaues Taxieren der Möglichkeiten. Die Einschränkung durch den Alkohol scheint immer wie weggewischt, sobald ich das Gefühl habe, jemand tritt in meinen persönlichen Bereich. Ich kann es förmlich riechen, dass der Typ mir gleich im Weg stehen wird. Fehlt eigentlich nur noch der Pianist, der aufhört zu spielen, weil er Angst hat, getroffen zu werden.

Den Umweg durch den Park werden wir noch bereuen. Er auch.

»Wichser!«, zischt er uns zu, als wir auf seiner Höhe sind.

Im Halbdunkel sehe ich sein Gesicht nicht, muss ich auch nicht, seine Umrisse reichen aus, um mein Ziel zu erkennen. Was dann passiert, fühlt sich mittlerweile an wie einstudiert, wie eine Choreographie. Der erste Schlag trifft ihn am Kopf und lässt ihn in sich zusammensacken. Alkohol und Adrenalin streiten sich in mir um den Thron, Adrenalin liegt vorne.

»Was jetzt, du Stück Scheiße? Wer ist jetzt der Wichser?«

Wir stürzen uns auf ihn, ich packe ihn an den Haaren und ziehe seinen Kopf hoch, mit der rechten Faust schlage ich ein paarmal in sein Gesicht, bis mir die Hand weh tut. Er wimmert und will aufstehen. Ich gehe zwei Schritte zurück, meine Hand schmerzt. Er brüllt mich an, unverständlich, versucht uns mit seinem blutigen Mund anzuspucken. Ich nehme Anlauf und trete ihm ins Gesicht, seine Nase bricht unter dem Druck meiner schweren Schuhe.

Er fällt nach hinten auf den Rücken und ist da, wo ich ihn haben will. Kein Entkommen. Ich springe hoch und bearbeite jetzt von oben sein Gesicht, immer und immer wieder. Phillip kniet neben ihm und schlägt mit der Faust auf seinen Körper und die Beine ein. Als sein Kopf zur Seite sackt, stelle ich mich neben ihn und stütze mich mit den Händen auf meine Knie. Ich bin außer Atem, mein Herz rast, ich kriege kaum Luft. Nach ein paar Atemzügen wird es besser. Ich versuche im Dunkeln zu erkennen, wo sein Kopf liegt, man kann ein Blubbern und Röcheln hören.

Mit voller Wucht stoße ich in die Richtung, aus der das Röcheln zu kommen scheint. Das Geräusch der Tritte verändert sich von Mal zu Mal, es wird lauter, irgendwie feuchter. Ich merke, wie mein Schuh tiefer in sein Gesicht eindringt. Bei jedem Tritt. Ich trete weiter zu. Immer und immer wieder. Bis ich mir zwei Zehen meines rechten Fußes breche. Das Röcheln hat aufgehört.

Ich muss lachen. Mein Atem ist schnell und wild, ich fühle mich gut. Ich fühle mich besser als der da unten. Obwohl ich ihn in der Dunkelheit nicht richtig sehe, weiß ich, dass er dabei ist, über den Abgrund zu sehen. Der Abgrund, der die Gewinner von den Verlierern trennt. Ich bin heute Gewinner, so viel ist sicher. Mein Mund ist klebrig und stumpf vom durchgeatmeten Speichel, der sich im Laufe der Anstrengung in meinen Mundwinkeln festgesetzt hat. Die Zehen klopfen schwellend an die Innenseiten meiner Stahlkappen, deren Kälte in meine Füße zu kriechen beginnt.

»Lass uns hier abhauen«, schreie ich Phillip unter angestrengtem Hecheln zu. Wir wenden uns von dem Penner am Boden ab und rennen los.

Die Seitenstraße neben dem Park ist hell erleuchtet, alle zwanzig Meter steht eine hohe, gelb scheinende Straßenlaterne, die unsere Schatten beim Rennen gegeneinander antreten lässt. Nach etwa hundert Metern müssen wir allerdings stoppen, ich bekomme keine Luft mehr. Wir bleiben stehen, sehen uns an und lachen. Wir geben uns High Five und rennen weiter.

Auf der Hauptstraße wechseln wir in ein normales Tempo, um nicht zu sehr aufzufallen, obwohl zu dieser späten Zeit nicht mal die Polizei unterwegs ist. Aber sicher ist sicher. Wir torkeln, uns in den Armen liegend, durch die laue Septembernacht, auf dem Weg zur Wohnung meiner Mutter.

Der Alkohol kommt langsam zurück, seine Wirkung vertreibt das Adrenalin, das mich bis gerade eben noch spüren ließ, ich wäre ein unbesiegbarer Krieger. Trotzdem fühle ich mich gut, besoffen oder nicht. Ich bin lebendig und stark, ein unbeschreibliches Empfinden. Da kann der Schwanzlutscher sich morgen mal fragen, ob es die richtige Entscheidung war, uns blöd zu kommen, denke ich. Schlauer fürs nächste Mal.

»Wer ist jetzt der Wichser?«, schreie ich nochmals über meine Schulter zurück.

Humpelnd wanke ich nach Hause, Phillip lallt dazu Rockabilly-Songs durch die Nacht.

In der Küche mache ich mir ein Brot mit Leberwurst und gehe ins Bett. Phillip klappt die Schlafcouch aus und legt sich wortlos und gähnend hin. Ich bin müde, es war ein harter Tag. Ich schlafe sofort ein.

UNGEBETENER BESUCH

Das Sondereinsatzkommando klingelt um 11.43 Uhr an der Tür. Meine Mutter ist mit einer Freundin auf einer Kaffeefahrt in Holland, Heizdecken kaufen. Der Restalkohol hat mich so im Griff, dass ich erst nach dem dritten Klingeln reagiere. Phillip schläft wie ein müder Hund in seinem Körbchen. Mit verklebten Augen, in Boxershorts, öffne ich die Tür.

Ein Faustschlag trifft mich mitten ins Gesicht, lässt mich in den Flur taumeln und zu Boden gehen. Ich bekomme das Bein eines Stuhls zu fassen und versuche damit auf die Eindringlinge einzuschlagen, vergebens. Breitbeinig steht eine Gestalt in grünem Overall über mir, entreißt mir den Stuhl und schreit mich an. Jetzt erst erkenne ich die Aufschrift »POLIZEI« auf seinem Helm und dass er eine Maschinenpistole auf mich gerichtet hat.

Schöne Waffe, Heckler & Koch MP5, hab ich auch schon mit geballert, geht es mir durch den Kopf. Ich muss lachen. Die Situation ist so skurril, dass ich nur an heute Abend denken kann. Das wird mir keiner glauben, ich hab auf jeden Fall die beste Story auf der Party heute Abend, die anderen werden Augen machen.

Blut läuft aus meiner Nase. Geschätzte acht Leute in Uniform stehen um mich herum und brüllen gegen mein Grinsen an. Ich habe keine Angst. Es ist nicht das erste Mal, dass mir jemand eine Waffe an den Kopf hält, und die hier ist nicht einmal vollautomatisch. Außerdem bin ich mir sicher, dass der Typ nicht abdrücken wird, das war damals anders gewesen.

Ich muss mir keine Sorgen machen, ich hab nichts getan. Die scheiß Bullen sind auf jeden Fall in der falschen Wohnung. Es gibt keinen akuten Grund, warum das SEK meine Bude stürmen sollte, jedenfalls fällt mir keiner ein. Mir fällt aber auch nicht ein, wie ich gestern nach Hause gekommen bin … verdammt.

Die Wohnung wird immer voller, das Gebrüll etwas weniger. Irgendwer soll irgendwelche Hunde reinholen und sich den Keller vornehmen, zwei Bullen helfen mir unsanft auf die Beine, drücken mich an den Makramee-Teppich, der neben der Tür an der Wand hängt und von meiner Mutter eigenhändig geknotet wurde. Meine Arme werden auf dem Rücken von den beiden Jungs fixiert, und die Kabelbinder an meinen Handgelenken flüstern mir jetzt schon ins Ohr, dass die Blutzufuhr für meine Hände nun in ihrem Ermessen liegt.

Als ich den Kopf zur Seite drehe, sehe ich Phillip, wie er mit erhobenen Händen auf der Couch steht. Um ihn herum sind drei Beamte mit gezogenen Waffen und zielen auf seinen Kopf. Er wurde wohl aus einem guten Traum gerissen, denn seine Erektion ist in seiner Boxershorts deutlich zu sehen. Eine weibliche Beamtin kann sich das Grinsen nicht verkneifen.

Die Situation wird ernster, ich fühle Kälte und Ohnmacht, werde geschubst und festgehalten, getreten und vornübergebeugt. Das Grinsen ist weg. Jetzt geht es durch das Treppenhaus nach unten, schnell und ruppig. Ich erwische nur jede dritte Stufe, das Tempo geben Toto und Harry vor oder wie immer die beiden auch heißen mögen, die sich unter meinen Achseln eingehakt haben. Vor der Tür des Mietshauses werden sie etwas langsamer und bugsieren mich ins Freie. Obwohl sie meinen Kopf fest nach unten drücken, kann ich sehen, was vor unserem Haus los ist.

Entlang der Straße stehen etliche Polizeiwagen und grüne Minnas, Einsatzwagen und Feuerwehr. Aus den Kanaldeckeln ragen Beamtenoberkörper mit Scharfschützengewehren hervor. Das gesamte Haus ist umstellt von maskierten Typen mit Maschinenpistolen. Auf der anderen Straßenseite steht die komplette Nachbarschaft im Halbkreis und schüttelt kollektiv den Kopf, einige applaudieren, als wir zum Streifenwagen geführt werden.

Sie sind sichtlich erleichtert, mich endlich loszuwerden. Ich würde ihnen gern zurufen, dass ich morgen wieder da bin und ihnen für den Applaus die Schädel einschlagen werde, aber dessen bin ich mir jetzt gar nicht mehr so sicher.

Die Tür des grün-weißen VW Passat schließt sich hinter mir, und die Szenerie der Heimatentwurzelung verpisst sich durch die Heckscheibe, bis sie nicht mehr sichtbar ist. Ich habe tausend Fragen im Kopf, die ich den beiden Bullen auf den Sitzen vor mir stellen möchte. Ich tue es nicht.

Meine Hände schwellen durch den Blutstau an, und ich bemerke dieses eigenartige Gefühl, das sich langsam in meinen Bauch schleicht, mir sagt, dass es zu Recht dort ist und bleiben wird, bis mir eingefallen ist, warum ich es verdient habe, mich gerade jetzt genau so zu fühlen. Es dämmert mir. Undeutlich, aber ich erinnere mich.

Der Kaffee auf der Wache schmeckt beschissen. Ich mag keinen Kaffee, bekomme aber trotzdem einen, als ich um ein Wasser bitte. Fragen zur Person beantworte ich schnell und ohne nachzudenken, Fragen zu gestern Abend nur zögernd.

Die Polizeiwache ist sehr alt, und ich kenne hier fast jeden Verhörraum. Den hier nicht. Er ist im hinteren Teil des Gebäudes, klein, ohne Fenster und mit uralten zerkratzten Eichenholzaktenschränken und einem Schreibtisch vollgestopft. Ich muss schmunzeln, als ich bemerke, wie das Spiel mit meinen beiden Verhörspezialisten beginnt.

Der eine sitzt vor mir am Tisch. Er hat ein jugendliches, schelmisches Gesicht, das er zum Ausgleich mit einem dicken Oberlippenbart dekoriert hat. Er redet mir mit seiner sonoren Märchenonkel-Stimme gut zu, während der andere nervös hinter mir auf und ab geht, Zwischenfragen brüllt und sich über meine Antworten lustig macht. Ich sehe ihn nur kurz, wenn er rechts und links in meinem Sichtfeld auftaucht. Nach ihm umdrehen will ich mich nicht, das hätte er gern. Ich bleib schön hier sitzen und versuche ganz ruhig zu bleiben.

Stundenlang die gleiche Scheiße, wie im Fernsehen, das sage ich auch öfter. Alles ist dennoch anders als sonst auf der Wache. Der Raum, die Bullen, der Ton, das alles fühlt sich ernst an. Ja, ernst. Das ist das Wort dafür. Ich bekomme Angst. Ich bin müde. Ich will nach Hause. Ich weiß, dass das heute nichts mehr wird. Morgen wohl auch nicht. So langsam ahne ich, dass ich gerade dabei bin, ein ganz neues Gebiet zu betreten, ein unbequemes Gebiet.

Ich hab Scheiße gebaut, richtig große Scheiße. Dass das hier mein Leben verändern wird, ist mir jetzt klar. In welchem Ausmaß und wie genau, weiß ich nicht, aber es wird sich verändern. Ab jetzt. Was hab ich getan? Was zum Teufel hab ich getan? Gestern Nacht, und eigentlich mein ganzes Leben. Was war das bis jetzt überhaupt für ein Leben?

HINEINGESPRUNGEN IN ALLE VERSUCHUNGEN

Manche Freunde erzählen mir von Erlebnissen aus ihren ersten Lebensjahren, teilweise sehr detailliert. Mir wäre das vollkommen unmöglich, ich erinnere mich an nichts. Bis zu meinem fünften oder sechsten Lebensjahr ist alles, was ich über mich weiß, auf Fotos in alten Fotoalben zu sehen. Selbst bei Erinnerungen bin ich mir manchmal nicht sicher, ob es sich um real Erlebtes handelt oder ob meine Vorstellungskraft die Fotos zu bewegten Filmen macht.

Oft hole ich die Alben nicht aus dem Schrank. In der untersten Schublade des kleinen, verlebten Schrankes im Flur liegen sie, fünf an der Zahl. Zwei davon sind sehr alt, das eine blau, das andere weiß. Die Seiten sind aus dickem Karton, und dazwischen sorgen Trennblätter aus halbdurchsichtigem Pergamentpapier mit Eisblumenmuster dafür, dass die Fotos nicht aneinanderkleben und Schaden nehmen.

Am Beginn einer neuen Beziehung habe ich sie manchmal hervorgekramt, da die ersten Seiten fast immer für ein glücklich beseeltes Frauengesicht sorgten. Sie zeigen die üblichen Bilder, die man in meiner Kindheit im Eingangsbereich jedes großen Supermarkts von seinen Zöglingen machen lassen konnte. Ich habe dicke Bäckchen auf diesen Fotos und trage einen Strampelanzug in dunkelblauem Strick, auf späteren Aufnahmen einen weißen Overall mit Kapuze aus flauschigem Nicki-Stoff. Irgendwie ist das alles auch demütigend, sieht man doch auf mindestens der Hälfte der Fotos ein von Weinkrämpfen verzerrtes Gesicht, das alles andere als kindliche Zufriedenheit verströmt.

Auf der ersten Seite des ältesten Albums befindet sich ein Bild, das kurz nach meiner Geburt aufgenommen wurde. Darunter hat meine Mutter mit ihrer Sonntagsschrift einige Anmerkungen notiert. Überhaupt stehen unter vielen Fotos kurze Kommentare mit schlimmen Rechtschreibfehlern.

Unter meinem Geburtsfoto stehen allerdings harte Fakten:

3569 Gramm

54 Zentimeter

9.42 Uhr

15. 02. 1973

Auch daran habe ich natürlich keine Erinnerung. Kein tunnelartiges Geburtserlebnis, keine Nestwärme, die ich noch spüre, oder sonst eine Emotion, die mir die Illusion einer normalen Kindheit vermittelt. Obwohl – eigentlich war sie schon normal. Wenn man davon ausgeht, dass der ganz normale Wahnsinn und andere Verfehlungen in eine Familie gehören, dann war alles ganz normal.

Ich frage mich oft, wann mein Leben einen Knick bekommen hat und ob ich an einem bestimmten Punkt eine falsche Abzweigung genommen habe.

Es waren sicher mehrere falsche Ausfahrten, denen ich gefolgt bin, und jede Menge mit Scheiße gefüllte Töpfe, in die ich mit Anlauf hineingesprungen bin. Ich habe nichts ausgelassen, habe mich freiwillig allen Versuchungen und Verfehlungen hingegeben. Ich. Ich selbst. Niemand anderes. Das, was ich jetzt mein Leben nenne, ist eigentlich das Ergebnis konsequenten Aufstehens und Weitermachens, eine Abstrafung meines alten Daseins, eine Mahnung an vergangene Zeiten.

Mein Nacken tut weh. Ich starre schon seit zehn Minuten nach oben auf das Fenster, zweiter Stock links. Meine dürren Beinchen stecken in einer kurzen braunen Cordhose, meine Füße in Ledersandalen, die ich immer trage, wenn das Wetter es zulässt, weil ich keine Schleife binden kann. Ich mag Schnürsenkel nicht. Sie machen mir irgendwie Angst. Auf meinem orangefarbenen T-Shirt prangt eine Motoröl-Werbung.

Endlich öffnet sich das Fenster, und Cornelia sieht zu mir herunter. Sie ist blond, ihr fehlen die beiden oberen Schneidezähne und sie ist sechs Jahre alt, wie ich. Sie grinst mich mit ihrer Zahnlücke an und ruft mir zu, dass sie gleich unten ist. Das Kettcar ist gelb und steht abfahrbereit neben mir, das Plastikschild mit der Nummer 1 vorne ist blitzblank geputzt. Cornelia kommt aus der Tür gesprungen und stellt sich direkt hinter das Kettcar. Wortlos steige ich auf, und sie schiebt mich die Auffahrt zur Straße hoch. Seit ein paar Jahren kenne ich sie, ihre Eltern sind kurz nach uns in das Haus gezogen, und weil wir im selben Alter sind, spielen wir zusammen im Sandkasten, wir gehen zusammen zur Schule und wir gehen zusammen auf Kindergeburtstage. So ist das im Sauerland.

Wir fahren auf dem Bürgersteig auf und ab. Nein, ich fahre, Cornelia schiebt. Wir wechseln uns nicht ab, Cornelia schiebt lieber, sagt sie. Ich glaube, sie ist in mich verknallt. Über so was reden wir aber nicht, wir sind Kinder. Manchmal umrunden wir unser Haus, um auf der Rückseite nachzusehen, ob unsere Eltern auf dem Balkon sitzen. Wir parken das Kettcar rückwärts an der Teppichstange, die wir trotz der Steinplatten darunter manchmal als Schaukelstange benutzen, und winken in Richtung der Balkone.

Im Erdgeschoss sitzt meine Mutter in einer ärmellosen blauen Kittelschürze auf dem Balkon an dem kleinen Tisch mit der Plastikdecke und winkt zurück.

»Lass Cornelia auch mal fahren«, ruft meine Mutter rüber.

Cornelia sieht nach unten.

»Nee, sie schiebt lieber«, rufe ich zurück.

Meiner Mutter gegenüber sitzt mein Vater und raucht. Er raucht Reval ohne Filter in einer schwarz-silbernen Zigarettenspitze, die er zwischen den Zügen mit dem Daumen rhythmisch hin und her bewegt. Das hat fast etwas Hypnotisches, es ist allerdings eher eine Art Zwang, denn er macht das auch ohne Zigarette, nur reibt er dann mit dem Daumen die Innenseiten der Finger rauf und runter.

Er ist alt. Meine Mutter ist auch alt, aber mein Vater sieht sehr alt aus. Wie ein Opa. Wie mein Opa aussah, weiß ich nicht, ich habe ihn nie kennengelernt. Genau wie meinen anderen Opa oder meine Omas. Sie sind schon tot. Meine Mutter ist von ihren Eltern verstoßen worden, und mein Vater war zum Zeitpunkt meiner Zeugung bereits sechsundsechzig. Das Alter meiner Großeltern muss biblisch sein. Ich kenne nicht einmal ihre Namen.

Irgendwie lustig, wie die beiden da sitzen unter dem fransengesäumten Sonnenschirm und nichts tun. Meine Eltern bräuchten eigentlich keinen Kleiderschrank, denke ich bei mir. Mama hat immer eine Kittelschürze an, mal blau, mal grün, mal mit Blumenmuster, aber immer eine Kittelschürze. Dazu fleischfarbene Nylonstrumpfhosen und Schlappen. Papa trägt ständig ein weißes Oberhemd mit Brusttasche, in der die Reval stecken, dazu Hosenträger. Für einen Gürtel ist er zu dick, deswegen müssen die Hosenträger die Anzughose halten.

Es sind ausschließlich Anzughosen, klassischer Schnitt, grau, blau oder schwarz. Sein linkes Bein wurde ihm nach einem Betriebsunfall bis kurz über dem Knie amputiert, deswegen ist das eine Hosenbein doppelt umgeschlagen und an der Seite mit einer Sicherheitsnadel am Hosenbund befestigt.

Beim Rangieren mit einem Elektrokarren hat er sich das Bein zwischen Wand und Fahrzeug zerquetscht. Trotz mehrerer Operationen konnte es nicht gerettet werden. Danach hat er sich verändert, habe ich Mama mal sagen hören. Gesoffen hat er schon immer, aber nach dem Unfall wurde er jähzornig und verbittert. Mein Vater war ein Lebemann, ein Frauenheld und Dandy, der mit seinen Kumpels auf Tour war, die Nacht zum Tag machte und seine Lohntüte am Fabriktor direkt an meine Mutter abgeben musste, damit er sie nicht auf dem Heimweg in seiner Stammkneipe versoff.

Bis heute weiß ich nicht viel über meinen Vater, obwohl er bis zu seinem Tod mit mir zusammenwohnte. Manchmal hat er mir Geschichten erzählt oder ich habe Anekdoten über ihn aufgeschnappt, die auf Familienfeiern vorgetragen wurden wie Erlebnisse auf einer Großwildjagd. Da war das In-sich-Gekehrte dann wie weggewischt. Papa wurde zum Märchenonkel und konnte die gesamte versammelte Verwandtschaft in einen Lachrausch versetzen, als hätte er seit Jahrzehnten eine eigene Fernsehsendung.

Ein durchgeknallter Bauer hat ihm einmal auf der Flucht mit einer Schrotflinte in den Arsch geschossen, nachdem mein Vater eine seiner Bekanntschaften am Hühnerstall gevögelt hat und dieser unter dem Gerammel zusammenbrach. Erzählte er solche Dinge, ging meine Mutter in die Küche oder hatte sonst etwas Wichtiges zu erledigen. Sie mochte diese Geschichten nicht, auch wenn sie lange vor ihrer Zeit mit meinem Vater passiert waren.

Eine andere Episode aus seiner Sturm-und-Drang-Zeit: Damals hieß die Kirmes noch Rummel, und mein Vater und seine Freunde haben nachts in den Schlagkopf eines Hau den Lukas geschissen, nur um am nächsten Tag aus sicherer Entfernung zu beobachten, wie der Erste herzhaft zuschlug und die Scheiße von fünf infantilen Männern über den ganzen Rummelplatz spritzte.

Der Verlust seines Beines muss für meinen Vater wie eine Entmannung gewesen sein. Er schämte sich für seine Behinderung und beschloss bald, das Haus nicht mehr zu verlassen. Bis zu seinem Tod saß mein Vater in unserer Wohnung in einem Fernsehsessel oder im Sommer auf dem Balkon. Sechzehn Jahre lang. Bei fünf oder sechs Gelegenheiten brach er seinen Schwur und rutschte auf dem Hintern die Treppen herunter, um mit Krücken von der Haustür bis zum Auto zu humpeln.

Er hatte ein Holzbein, das in der Abstellkammer im Flur aufbewahrt wurde. Ein Klassiker, um meine Freunde zu erschrecken, wenn sie zum Spielen zu Besuch kamen. Mein Vater hat es zwei- oder dreimal angelegt, wurde aber nicht warm damit. »Schlimmer als nur ein Bein zu haben ist es, ein Holzbein zu haben«, sagte er.

Ich konnte das nachvollziehen, selbst ich schämte mich manchmal. Für ihn. Für meinen alten Vater. An manchen Tagen habe ich andere Kinder nicht korrigiert, wenn sie ihn für meinen Opa hielten.

Und auch der Beinstumpf war kein schöner Anblick. Bei uns zu Hause hat man sich selten nackt gesehen. Eigentlich nie. Aber mein Vater cremte manchmal den Stumpf seines amputierten Beines mit einer Salbe ein, die zwar keine Wirkung hatte, aber sein Gewissen beruhigte. Wenn er sich in Sachen Gesundheit, Ernährung, Alkohol und Rauchen schon immer abseits des Empfehlenswerten bewegte, so wollte er wenigstens etwas tun, was mit Pflege zu tun hatte.

Er saß dann in seinem Sessel, die Hose bis zum Knie heruntergezogen, und schmierte sich dicke Salbenstreifen aus einer Riesentube auf den Stumpf, der in fast tänzerischen Bewegungen hin und her schwenkte. Der Anblick war widerlich, ich hasste es, nach Hause zu kommen und ihn bei seiner Leichenteil-Salbung zu überraschen. Er mochte es genauso wenig.

Meine Geschwister und ich hatten alle eine andere Art und Weise entwickelt, mit unseren Eltern umzugehen. Jeder für sich, jeder anders. Ich teilte mir das Kinderzimmer mit meinen beiden älteren Brüdern. Sie schliefen übereinander in einem Doppelbett, unten Christian, oben Stefan, ich gegenüber in einem Klappbett. Christian hatte ein Auto, eine Freundin und war Schalke-Fan. Stefan hatte ein Mofa, eine Freundin und war Dortmund-Fan. Ich machte mich unbeliebt, weil ich, wie kleine Geschwister nun mal sind, nichts von alldem verstand. Außerdem musste ständig jemand auf mich aufpassen. »Der Kurze kann das noch nicht, der Kurze braucht eure Hilfe.« Alles, wofür meine Brüder und meine beiden Schwestern Petra und Sonja hart gearbeitet hatten, wurde von mir im Vorbeigehen abgeerntet und als selbstverständlich angesehen.

Schnell wusste ich, welche Knöpfe ich bei meiner Mutter drücken musste, um zu bekommen, was ich wollte. Bei meinem Vater war ich mir manchmal nicht sicher, ob er überhaupt Knöpfe hatte, die ich drücken konnte.

Es war keine Gleichgültigkeit oder so etwas wie fehlende Liebe, es gab ja diese Momente, wo ich auf seinem halben Schoß saß und den kratzigen Dreitagebart bei Umarmungen fühlen konnte. Vielleicht war es eine Mischung aus Verbitterung und der Tatsache, dass er aus einer anderen, vergangenen Zeit stammte und immer noch in ihr lebte, vielleicht war das der Grund dafür, dass er mir so weit weg vorkam.

Christian gegenüber benahm er sich wie der Patriarch, der strenge, regelsetzende Vater, der den Ältesten in seinen Fußstapfen sehen möchte. Mein Bruder begann seine Lehre als Kaufmann in demselben Betrieb, in dem mein Vater sein Bein verloren hatte. Kein gutes Vorzeichen, rückblickend gesehen. Mein Vater drehte fast durch, als Christian beschuldigt wurde, in der Berufsschule Stühle und Tische aus dem Fenster im dritten Stock geworfen zu haben, und aus der Lehre geschmissen wurde. Ich glaube, das hat beide voneinander entfernt, um es vorsichtig auszudrücken.

  

Die kleine Christiane wurde sechs Jahre alt; sie wurde später Namenspatin für einen der Zwillinge. Meine Mutter freute sich über die Entscheidung meiner Schwester Petra, ihrem Kind den Namen ihrer verstorbenen Schwester zu geben. Sie ähneln sich auf Kinderfotos, das finde ich am seltsamsten.

Der Bruder, den ich nie kennengelernt habe, wurde nur dreizehn. Michael starb drei Jahre vor meiner Geburt. Ein neunjähriger Nachbarsjunge hatte meinen damals sechsjährigen Bruder nach der Schule in ein Waldstück gezwungen, ihn mit Stacheldraht gefesselt und mit einem Stein immer wieder auf den Kopf geschlagen. Nachdem er ihn stundenlang gequält und misshandelt hatte, verscharrte er Michael notdürftig in einer Grube. Stunden später wurde mein Bruder von einem Briefträger gefunden, der das Rascheln für einen in die Grube gefallenen Hund gehalten hatte. In Michaels Kopf bildete sich ein Blutgerinnsel, das sich zu einem Gehirntumor auswuchs, während der Nachbarsjunge in einem Erziehungsheim weiterleben musste. Michael starb zu Hause auf der Couch, als er sich ein Fußballspiel ansah. Mein Neffe heißt Michael mit Zweitnamen. Auch die beiden ähneln sich, vielleicht möchte man das auch nur.

Nie habe ich die ganze Geschichte über den Tod meines Bruders gehört, jeder erzählte eine andere Version oder man ignorierte meine Fragen dazu. Das Thema war einfach zu heikel. Meiner Mutter trieb es Jahrzehnte später immer noch Tränen in die Augen, wenn sie uns beim Mittagstisch darüber aufklärte, dass heute sein Todestag oder sein Geburtstag war. Dann wurde es für einen Moment still, und alle schauten irgendwohin, nickten stumm mit der ruhenden Gabel in der Hand und einem ernsten, bedeutungsvollen Blick. Michael war der kleine Held, ein Junge, den ich nicht kannte und doch gern gehabt habe. Auf Fotos sah er aus wie ein Junge aus einer Center-Parcs-Werbung. Er war immer adrett gekleidet, lächelte und sah so gut aus, wie ein kleiner Junge nur gut aussehen kann. Michael war unantastbar. Es gab keine schlechten Erinnerungen an ihn, und wenn es sie gegeben hätte, wären sie beim Erzählen der Familiengeschichte verlorengegangen. Ich hätte Michael gern kennengelernt. Vielleicht wäre ich auch einfach nur gerne er gewesen. Er konnte nichts mehr falsch machen.