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Für Wolfgang Dörfler

Januar 1991

Nartum Di I. Januar 1991, Neujahr, Sonne, kein knirschender Schnee

Nationalfeiertag der Republik Kuba
Flüchtlinge aus Moçambique landen in Finnland! Wann tauchen wohl die ersten Finnen in Moçambique auf? – Moçambique: der Schauplatz von Massenmorden an Indern, war das 1962? Damals jagten sie die Inder raus, wenn sie sie nicht gar totschlugen. Alles schon vergessen? Es gibt Fotos davon, wie die Inder, die sich wohl sehr breitgemacht hatten in dem Land, mit flatternden Burnussen vor dem schwarzen, säbelschwingenden Mob fliehen. Wenn sie die tüchtigen Inder dagelassen hätten, hätten die Moçambiquer jetzt wahrscheinlich nicht Asyl suchen müssen in Finnland.
Die ganze Weltgeschichte dreht sich um den Satz: Wenn meine Tante Räder hätte …
Wie die Eskimos sich wohl über die ersten europäischen Schiffbrüchigen gewundert haben! Im 19. Jahrhundert. Mit Zylinder und Uhrkette? Jetzt sind es womöglich die Eskimos, die mit Zylinderhut herumlaufen, und die weißen Pipelineforscher wie die alten Eskimos, die sich übrigens selbst ganz anders nennen. – Hübsche Schnitzereien fertigen sie an, doch meistens sollen sie betrunken sein. Aber ich will nichts gesagt haben. Ob’s da auch ein Goethe-Institut gibt?
Das Mozartjahr wird eingeläutet. Wie beim Pferderennen, da läuten sie doch auch? Oder ist es die letzte Runde, die mit einer Glocke angezeigt wird? Für unsereinen wird jedenfalls hinterher geläutet, mit einer hellen Totenglocke.
Es gibt wohl keinen größeren Gegensatz als Moçambique und Mozart. Mit Entwicklungshilfe wird in Moçambique bereits ein philharmonisches Orchester entstanden sein. Elfenbein für Taktstöcke haben sie selbst.
Moçambique: hab’ nachgesehen, schwärzere Menschen gibt’s nicht auf der Welt. Mit Tellern in der Lippe und Messingringen um den Hals. Was machen sie mit den Flöhen, die daruntergeraten? Wenn ein Finne mit seiner bunten Zipfelmütze so ein Kind des Urwalds heiratet, das muß lustig sein. Da kommen sie beim Tanzen sicher durcheinander.
Die Finnen schliffen sich Dolche, mit denen sie nächtens Russen die Gurgel durchschnitten. Sie reden finnisch-ugrisch. Gibt es Ugrier? Ungarn sind damit gemeint. Ob die einander verstehen? Wohl nur beim Saufen. – Früher waren die Finnen mal sehr deutschfreundlich. Mannerheim trug sogar das Ritterkreuz.
Der Winterkrieg gegen die Russen. Daß die Russen ihn verloren, hat Hitler ermutigt, 1941 gegen die Sowjets loszuschlagen. Diese altertümlichen Tanks. Aber die Russen haben auch gelernt aus der blamablen Niederlage. Später haben die Finnen uns dann«verraten», wofür wir ihnen die Dörfer niedergebrannt haben.
 
Gestern nachmittag kam Hochhuth, ein Hamburger Buchhändler, der bei der Wieser-Affäre trotzig seine Schaufenster voll Kempowskis gestellt hatte. Er wollte mir jetzt ein häßliches Gemälde mit einer Weintraube drauf verkaufen, irgendwie ein Samariter-Akt zugunsten eines Jungfilmers namens Karol Schneeweiß, den er mitbrachte, blond wie sein Name. Wir aßen Fondue und redeten bis weit nach Mitternacht über seine Filmversion der«Hundstage». Sahen auch seinen Film (Rohschnitt) über Burkhard Driest, mit dem ich zweierlei gemeinsam habe: Erstens, er hat gesessen, und zweitens, er ist aus Göttingen. Die Frauen stehen auf ihn, wegen seiner Akne, von welcher ich keine Spuren aufweise. Soll ich«leider»sagen?
Heute früh ließ ich’s ruhig angehen. Schrieb etwas und nachmittags langer Spaziergang mit Hildegard, dann wieder geschrieben und Klavier. Die Schumannsche«Träumerei»soll man jetzt rasend schnell spielen, mit einem Affenzahn. Ich spielte sie weder langsam noch schnell, ich spielte sie gar nicht.«Glückes genug»neulich im Radio, so schnell, daß ich’s nicht erkannte. Ich dachte: Was spielen die denn da? Und dabei hat meine Mutter es früher doch jeden Tag vom Stapel gelassen und immer mit so viel Gefühl.
Gegen Abend kam Tanja. Gespräch über bessere«Vermarktung»meiner Bücher. Will sie’s in die Hand nehmen? Dann zwei Seminarteilnehmer, vorzeitig. Sie beteiligten sich an dem Gespräch über Vermarktung, obwohl Diplomingenieur und Volksschullehrerin.
Müde, abgespannt.
Ach, wieviel Leute wollten mich schon vermarkten!
 
Das vorige Jahr begann mit der«Stern»-Affäre, die mich zwar sehr mitnahm, die letzten Endes aber gut ausging. Wer hat ein Interesse daran, mich in die Pfanne zu hauen? Eine Frau aus ROSTOCK soll es gewesen sein! Und ich kenne sie! Ging ein und aus bei uns.«Es ist mir so rausgerutscht», sagte sie. So was kann in anderen Fällen viel schlimmere Folgen haben. Danach dann gleich mein erster Besuch in Rostock mit Robert und Lesung in der dortigen Kunsthalle. Die gehässige Gastgeberin sei nicht vergessen.
Dann hatte ich die Koliken, die zu einem Umbau meines oberen Zimmers führten, und nun geht es mir besser. Die giftverseuchten Wandplatten wurden rausgeschmissen. Das ganze Jahr’90 dann kaum noch Leibschneiden.
Dann wurde mit Duyns der Bautzen-Film gedreht und von den Kölner Damen der Film über Rostock.
Sommertage in Graal. Menschenleerer Strand, kleine schwappende Wellen. Erinnerungen an den Sommer 1937, als ich dort mit meiner Mutter allein drei Wochen verbrachte. (Robert:«Das muß für dich sehr schön gewesen sein.») Sie sollte sich von einer Operation erholen. Erinnerungen an ein«kleines Helles», das sie sich bestellte. Und einem Herrn am Nachbartisch küßte ich im verwirrten Zustand seine Glatze. Daß er kinderlos war, konnte ich nicht ahnen.
Weimar zweimal, Greiz und Vortragstour im Allgäu mit Denk.«Sirius»und das beschissene Rostock-Buch zur TV-Sendung.
Nochmals Rostock (Universität, Doberan-Lesung im Haus von dem Kollegen Ehm Welk). Ich saß an seinem Schreibtisch. In seinen Schränken viel Unveröffentlichtes. Nach der Lesung wurde ich von zwei ehemaligen Internierten angesprochen, die meinten, weil ich in Bautzen gesessen habe, sei ich einer der Ihren. Ehm Welk jedenfalls war Mitglied der KPD. Der hatte sich, weil er dachte, daß er schlau sei, vor dem Krieg ein Stück Land in der Uckermark gekauft. Hat ihm nichts genützt! Er wurde ratzeputz enteignet. Aber sein schönes Haus jetzt? Wenn auch die Kleinbahn alle Viertelstunde vorbeirasselt. Eine ganz hübsche Existenz.
Aufträge für«Hörzu»und Hagen. Gegenströmungen ausgehalten. Viel Widerwärtiges in diesem Zusammenhang. Neuordnung der Archive, Scheidung in Grün und Blau und Gelb.
 
2007: Hat sich als sehr praktisch erwiesen. Gelb = Fotoarchiv, Grün = meine Manuskripte und Blau = die Einsendungen, das«Fremdarchiv». Ohne diese Einteilung hätte ich schon sehr bald die Übersicht verloren. Sie wurde auch vom Archiv der Akademie in Berlin übernommen.
 
Feste Anstellung von Simone.
Beginn mit«Alkor»und Vorantreiben des«Echolot».
Finanzielle Befreiung durch Verlag.
Antrag auf Pensionierung (um ein Haar vergessen!).
Seminarbetrieb wurde reduziert. Die Grenze des Lächerlichen war überschritten. Aber schöne Erinnerungen in meinem Herzen. Und den Haß meiner Kollegen auf mich geladen. Sie fahren jedes Jahr zweimal nach Italien, und ich wohne in einem 15-Zimmer-Haus. Das macht sie rasend. Sie hätten gern beides. Raddatz:«Kempowski hat ja’ne Villa!»
 
TV: Ein stürzender Skispringer, er habe eine schwere Gehirnerschütterung«davongetragen», sagte der Sprecher, und einen Unterarmbruch. Es müßte Verletzungsweltrekorde geben. Es gibt ja Leute, die wie nach einer Räderfolterung ins Krankenhaus eingeliefert werden. Diese Skiabfilmerei dauert jedes Jahr Monate. Tag für Tag Abfahrtsläufe. Daß sich das Leute überhaupt angucken? Berge um die Wette raufkraxeln, das gehört nicht zu den Winterdisziplinen, aber es müßte doch dazugehören? Fußball besteht doch auch nicht nur aus Elfmeterschießen. Wer am schnellsten oben ist, und dann meinetwegen runterrasen. Wie das so ist, hochkraxeln und runterrasen. Das Stürzen ist die einzige Abwechslung für die Zuschauer. Merkwürdig, daß es keinen Schanzensprung für Frauen gibt, sonst drängen sie sich doch überall rein. Boxen tun sie doch schon? Skisprung führt wohl zu Unterleibsverletzungen, da senkt sich die Gebärmutter irgendwie. Bei der Schießerei machen sie schon mit, ohne daß feministische Friedensvereine bisher Einspruch erhoben haben.«Biathlon»heißt das. – Wenn sie gewonnen haben, waschen sie den Trainer mit Schnee ab. Die Gewehre sind Spezialinstrumente, mit denen kann man gar nicht vorbeischießen. Anti-Kriegsplakate im Zuschauerhaufen wurden nicht gesehen.

Nartum Mi 2. Januar 1991, Vollmond hinter nachtdunkler Wolkenwand

Nun ist der Winter gar so hart,
bringt mir groß Leid und Kummer.
Gar sehnlich ich schon lang erwart
den schön und edlen Summer …
(Jobst von Brant, 1606)
Heute beginnt das 34. Seminar. Diesmal in kleiner Besetzung. Guntram Vesper, Paul Kersten und Gabriel Laub. Die Rostocker Schüler, die ich eingeladen habe, sind bereits eingetroffen und gucken sich alles an.
 
Ulla Hahn las dieselben Gedichte wie schon vor/seit sechs Jahren mit akkurat derselben Betonung. Sie brachte einen Herrn mit, der sich mir nicht vorstellte. Dann kriegte ich mit, daß es sich um den Hans-Henny-Jahnn-Biographen handelt, Freeman, dessen Buch ich grade lese, was er mir zuerst nicht glaubte. Ist ja auch unwahrscheinlich, so ein Zufall. Ungläubig, wie ich gegen mich selbst bin, raste ich in die Bibliothek und hielt ihm das Buch unter die Nase. Er zeichnete ein buntes Arrangement in mein Poesiealbum, wurde leider unterbrochen von Ulla Hahn, die zum Aufbruch mahnte.
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Albumeintrag Ulla Hahn
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Albumeintrag Thomas Freeman

Nartum Do 3. Januar 1991, klar, dann Regen

1876: Wilhelm Pieck geboren, I. Präsident der DDR
Seminar: Eine Frau fragte mich:«Was sind das für Schafe?»- Sie wollte auch wissen – solche Leute gibt’s jedes Mal -, ob ich die Bücher alle gelesen hätte, die in der Bibliothek stehen? Ich sagte:«Manche zweimal.»
Morgens ich, mit meiner Prosaformel, seit 1980 bewährt, das leiert man so raus, das macht denen Spaß, und die Interpretation des Anfangs von«Tadellöser & Wolff». Nachmittags die Kurse, von denen wir Dierks ausfallen lassen mußten, weil sich nur zwei Teilnehmer für ihn gemeldet hatten. Peinlich! Aber ist mir auch schon passiert. Am Abend kam Vesper, sehr schön.
Angenehm. Auch er las sehr Altbekanntes. Ob er nichts anderes hat?
Ein Rostocker Schüler fragte mich, ob Kempowski mein richtiger Name sei?
Der Sohn wieder da, die Mädchen waren ziemlich hinter ihm her. – Erzählt von den staubigen Straßen Thailands, die er mit seiner BMW befahren. Auch traurige Erlebnisse mit eingesperrten Affen. Diese Menschen! Extra enge Käfige, damit sie das Mitleid der Käufer erregen.
 
Ein Herr, der sich als Schulleiter vorstellte, bereicherte meine Wiedervereinigungssammlung:
Ich hab’ oft am Ufer gestanden und der Fähre nachgeguckt, wenn sie nach Gedser fuhr … Und dann bin ich nach dem Mauerfall hinübergefahren: Als ich 500 Meter weg vom Ufer war, das hat mich sehr bewegt: Jetzt stehst du selbst auf der Fähre! Daß man fahren durfte … Das war ein großes Erlebnis.
Heute ist die Fährverbindung eingestellt wegen mangelnden Zuspruchs.

Nartum Fr 4. Januar 1991, klar, nicht kalt

Seminar: Meine Laune verdarb mir heute eine Rostocker Schülerin, die mich unbedingt nach der«Stern»-Affäre befragen wollte. Kann sie sich doch denken, daß mir das nicht angenehm ist. Mangel an Erziehung. Gerade bei Mädchen mag man solche Grobheiten am wenigsten.
Mit Vesper herzlich. Ich zeichnete ihm sein«BLOCK»-Exemplar voll. Das schien ihm nicht recht zu sein.
Nachmittags wieder schwere Niederlage, weil niemand kapierte, was ich mit«Eidetik»meine, und auch nicht kapieren wollte.
Tanja brachte hübsche Werbefilme mit. Werbung: auch eine Art Kunst. Müßte man sammeln. Fehlgeleitete Künstler. Ich meine nicht nur die lustigen Einfälle.
Eine Frau aus Remscheid sagte, die Schüler aus Rostock sähen alle so russisch aus. Irgendwie härter als die Westdeutschen. – Was die Rostocker wohl von uns sagen, wie wir aussehen. Wie Vanillepuddings?
 
Lit.: Herder, Italienreise, langweilig.«Verona ist groß.»
Seine Frau über Kindererziehung:
Die Kinder sind alle wohl; ich hoffe und wünsche, daß sie an Seele und Körper gewachsen sein mögen, wenn Du sie wiedersiehst. Ich tue nicht viel dabei; ich fürchte mich immer, daß ich etwas Schlimmes tue, und da mögen denn die Bäumchen so wachsen. (Karoline Herder an ihren Mann in Rom, 25.11.1788)
Ach ja, Italien! So gerne möchte ich mal da hin. Aber die dortigen Goethe-Menschen sitzen wie Fleischerhunde vor ihren Instituten:«Kempowski kommt uns hier nicht rein.»
Villa Massimo? Pustekuchen! Und wer war nicht alles schon da!

Nartum Sa 5. Januar 1991, windig

I959: Gründung der Militärakademie«Ernst Thälmann»
der NVA
Seminar: Es wurde viel über Dürrenmatt geredet, den ich nicht ausstehen kann. Flattern bei dem nicht weiße Vögel in der Veranda herum? Aber lieber als Frisch ist er mir allemal. Haben sie nicht beide einen Sprachfehler? Oder ist das Schweizer Eigenart?
Gestern hätte ich zu Raddatz kommen sollen, brachte es nicht übers Herz.«Konnte einfach nicht.»
Vesper sagt, zu oft dürfe er das jetzt nicht mehr machen, nach Frohburg fahren und dort lesen, Raddatz habe in Leipzig einen einzigen Zuhörer gehabt. Hotel, Reise, alles selbst bezahlt. Ist mir auch schon passiert.
 
Eben komme ich drauf, daß ich für«Sirius»auch noch KFs Tagebücher hätte verwenden können. Schade!
 
Heute früh Schneeweiß über seine Arbeit. Seine Erzählungen von Afrika. Erlebnisse mit«Negern». Einer habe ihm seine Kamera wegnehmen wollen, da habe er nur leise und drohend gesagt: Ich bin Deutscher … Der dann vor Angst ausgerückt. – Ob das stimmt?
Er hat einen Meisterjodler aus Hamburg nach Afrika verfrachtet, die Neger haben sich totgelacht, als der da loslegte. Dieses herzliche Lachen, von dem man sagt, daß man es ausschüttet. – Lustiger Film.
 
Nachmittags frei. Langes Interview mit Hamer von der«Norddeutschen Zeitung»aus Rostock.
Abends ließ uns dann Gabriel Laub im Stich, ist wohl beleidigt wegen«Sirius». So las ich dann selbst aus den«Hundstagen», was mir Spaß machte.
Am Abend gab’s dann noch Ärger. Die Rostocker Schüler kündigten an, daß sie statt übermorgen schon morgen früh fahren. Obwohl ich doch alles bezahle.«So hatten wir nicht gewettet.»Enttäuschung. Wurde wütend. So ist es, wenn man Menschen was Gutes tun will. Wie sagt mein Bruder:«Tue nichts Gutes, so widerfährt dir nichts Böses.»
Ich arbeitete dann noch etwas in meinem Zimmer, war ganz verbockt.
 
Die rothaarige Klavierspielerin Eltje:«Morgen sind wir schon fast eine ganze Woche zusammen.»Da muß man sehr vorsichtig sein. Die Mädchen bilden sich immer alles mögliche ein. Die Männer natürlich auch. – Ich hab’ was übrig für Rothaarige. Je roter, desto besser. Wie sich das wohl zwischen schwarz und blond hindurchgemendelt hat? Irgendwie in Schlangenlinien. Darf man so was heute überhaupt noch sagen?«Der Sowieso ist rothaarig»? Oder fällt das unter p. c.?
Mit einer Pianistin verheiratet zu sein, ist gewiß auch nicht so einfach. Aber eine Sängerin ist schwerer auszuhalten.
Renate als Kind, als sie mich mal üben hörte:«Hat Vater denn viele Hände?»
 
TV: Im Abfahrtslauf der Skiläufer siegt ein Mensch mit zwei Hundertstelsekunden Vorsprung, das wird uns bekanntgegeben in den Abendnachrichten. Das ist so ähnlich wie bei den Schwimmern, da macht die Dicke der Kacheln schon 1/100 sec. aus.
 
2007: Jetzt gibt es bald keinen Schnee mehr, sogenannte Schneekanonen schaffen Abhilfe. Wenn’s irgendwo mal schneit, geben sie Sondermeldungen durch. In diesem Fall ist Schadenfreude wohl unangebracht. – Dieses«Zünftige», was bei jeder Sportart herumhängt, kotzt mich an.

Nartum So 6. Januar 1991

Die Albaner lassen endlich ihre politischen Gefangenen frei. Darunter sind Leute, die 20 Jahre gesessen haben. Priester. Richtig in der Zelle. Alles im Zeichen des Sozialismus. Absolutistische Systeme neigen zu so was. In Jammersminde, Dänemark, diese Frau, die jahrzehntelang auf ihrer eignen Scheiße hocken mußte. Aber sie überlebte.
Die sieben Chinesen, die mich hier besuchten, 1985? Drei von ihnen hatten über 20 Jahre gesessen, einer bloß fünf, der hatte gewiß Minderwertigkeitsgefühle. – Die Dolmetscherin war wenig hilfreich, denn sie war halb taub.
Was die wohl sagen, wenn sie einen Rothaarigen sehen? In Indien gibt’s viele, dort ist das irgendeine Krankheit. Chinesen darf man ruhig anglotzen, die haben nichts dagegen.

Nartum Mo 7. Januar 1991

«Der aufgeklärte Big-Band-Klang der 70er und 80er Jahre», sagt Michael Naura im NDR. Sehr große Ähnlichkeit mit Militärmusik. Dies Zackige. Adorno hat darüber Zutreffendes geäußert. («Bach gegen seine Liebhaber verteidigt.») Ich kann es nicht mehr hören, Stan Kenton vielleicht ausgenommen. – Das Dauerhafte der alten Melodien («Cherokee»,«Night and Day»,«My funny Valentine»,«Georgia»). Ohne sie ist unsere Kultur nicht mehr vorstellbar. Mit«Techno»können sie mir nicht imponieren.
Das schreckliche Schicksal von Cole Porter, der uns so schöne Melodien geschenkt hat. Truman Capote schildert einen Besuch bei dem durch einen Reitunfall völlig gelähmten genialen Komponisten.
Aber das militärische Gehabe des gleichzeitigen Aufstehens der Trompeten bei den Show-Kapellen zum Beispiel: nein. Saxophone alle nach links, Posaunen alle nach rechts. – Aber Vorsicht! Solche Anweisungen gibt’s für Symphonieorchester auch. Der An- und Aufstrich der Geigenbögen ist genau reglementiert. Nur der Dirigent mit seinen mehr oder minder eleganten Wedeleien da vorne kann machen, was er will.
 
Oldenburg: Jena-Plan.
Habe ich mal gemacht, ein Stadtspiel, alle Unterrichtsinhalte in dem Spiel bündeln, das dauerte Wochen. Ich habe die Protokolle aufbewahrt. Kinder waren begeistert, aber ob viel mehr dabei herausgekommen ist als eine schöne Erinnerung? Ich bin vor Arbeit fast wahnsinnig geworden, und die Eltern wurden schon mißtrauisch.
«De späl’n ja bloß», sagte ein Bauer.

Nartum Di 8. Januar 1991

Wieder eine schwere Niederlage. Rechnung vom Anwalt über 16 000 Mark!
Habe schon mal 22 000 bezahlt.
Hinzu kommt das unnötige Hausgutachten: 15 000 Mark = 53 000 DM in den Sand gesetzt! Alles umsonst.
Nun, wir werden sehen, ob wenigstens aus der Hannover-Sache etwas wird, die müßten doch hüpfen vor Glück, daß sie mein Archiv kriegen, aber sie rühren sich eigentlich nicht. Seminar war etwas dünn. Wenig Teilnehmer, von denen auch noch mehrere vorzeitig gingen. Ich war sehr nervös. Ausgelaugt. Die Schüler stumpf. Zwei Nervensägen im Publikum. Ost-West-Begegnungen problemlos.
Genug. Irgendwie läuft die Sache aus.
 
Irak: Der Wüstensturm im Nahen Osten braut sich zusammen. Das häßliche Wort«Krieg»hat Bush gebraucht, plötzlich«stand es im Raum»- man sieht GIs durch den Sandsturm stapfen. Aziz, der Irak-Außenminister, lacht unziemlich, wenn er gefragt wird, ob er keine Sorgen hat? Ob er sich im Klaren darüber ist, was da auf ihn zukommt?
Den Litauern scheint es an den Kragen zu gehen. Schaurig. Ich denke, daß die Einheit jetzt nicht mehr zu haben wäre. Das dumme Wort«zu spät»bleibt uns erspart.
Man möchte den Balten von ganzem Herzen wünschen, daß sie sich von der SU lösen, aber die Russen können den Kanal nicht voll kriegen. Ich meine, ihr Land ist doch eigentlich groß genug?
Die Balten wollen übrigens nicht«Balten»genannt werden, gleich ins p.c.-Notizbuch schreiben.
Da gibt’s unterschiedliche Freundschaften: Die Esten machen mit den Schweden gemeinsame Sache und die Litauer mit den Polen. Die Letten schweigen einstweilen still, da hat’s wohl ziemlich viele SS-Leute gegeben. Verstehen kann man sie alle nicht. Dagegen ist finno-ugrisch noch ein Waisenknabe.
Ich versuchte, einiges Plankton zu zapfen. Eine Frau:
Weit vor der Wende war ich im Westen. Als arme Bettlerin. Ohne Mittel im Goldenen Westen, 15 Mark umtauschen. – Mein Erschrecken, daß Leute, die aus unserem Freundeskreis rübergegangen waren, sich in ihrer Einstellung völlig geändert hatten. Das war’87, und ein Cousin hat gesagt:«Also, jetzt kann ich dich von der Steuer absetzen, weil du aus der DDR kommst.»
Moral von der Geschicht’: Umstände formen den Menschen. -«Radieschen? Das ist doch nichts Besonderes, die gibt es doch das ganze Jahr.»-«Aber nicht bei uns.»-«Das meiste, was es gibt, braucht man nicht, weißt du.»

Nartum Mi 9. Januar 1991, klar

9. 1. 91 (= komisches Datum)
 
Ein Techniker der Zeitschrift«Hörzu»rief an, an welcher Stelle sie bei uns die Satellitenschüssel anbringen sollen, die ich für die geplanten Fernsehkritiken brauchen werde. Von Hamburg aus wollen sie das wissen! Ich sage, einen Nazi-Ausdruck benutzend:«Soll ich Ihnen mein Haus fernmündlich beschreiben?»Endlose Redereien über die Brüssel-Tour, zu der mich die EG eingeladen hat. Eigentlich wollte ich nur Hildegard die zwei Tage dabeihaben, nun wird eine Riesensache daraus.
Im Radio eine blöde Lesung, eine Frau, die glaubt, den inneren Monolog entdeckt zu haben. – Eben merke ich, daß es ein Text von Joyce ist, den sie vorträgt, tatsächlich, aber schlecht gelesen. In Rostock benennen sie nun die Straßen wieder um, oder zurück um. Es ist nicht zu fassen. Ich erinnere mich noch, wie aus der Friedrich-Franz-Straße die August-Bebel-Straße wurde. – Sogar die SED habe zugestimmt. (In Rostock schändliche 23%!) Manchen kostete das viel Geld für neues Briefpapier, denn einige Straßen -«Adolf-Hitler-Platz»- mußten sich dreimal umbenennen lassen.
 
2007: In Berlin werden Straßennamen jetzt instrumentalisiert. Die«Springerstraße»nach Rudi Dutschke umzubenennen, das ist doch gegen die Natur. Auch haben manche Bezirke Feministisches festgelegt. Da dürfen Frauen- und Männernamen nur paritätisch vergeben werden. Und jetzt haben sie Schwierigkeiten, genügend Frauennamen zu finden.
 
Der 1945 von den Amerikanern in Quedlinburg gestohlene mittelalterliche Domschatz wird zurückkehren. Das sind so Geschichten. Was da wohl noch so alles auftaucht. Peinlich den Ost-Leuten gegenüber. Daß die Russen stahlen, war selbstverständlich. Aber die Amerikaner? Die Franzosen allerdings sowieso, das wunderte einen nicht. Das ist bei denen Tradition. Napoleon hat ja sogar die Quadriga vom Brandenburger Tor abmontiert. Deutsche Beamte haben damals den Franzosen dabei geholfen, die schönsten Sachen zu finden. Was für ein Volk. Sonderbare Geschichten von amerikanischen Farmern, die Gewissensbisse kriegen, 1945 als Soldat was mitgehen ließen und dann Gewissensbisse, und plötzlich kommt in Nürnberg irgendwo ein Paket an, ein intarsienverziertes Schachspiel aus dem 17. Jahrhundert.
 
2007: Ich wollte ein Buch unter dem Titel«Plündern»herausbringen, das sollte wohl zur Chronik gehören. Einzelne ehemalige Soldaten befragt, ob sie was mitgehen ließen. – Da kam nicht viel zusammen. Ich seh’ noch die deutschen Frauen in französischen Pelzmänteln rumlaufen. Jaja. Geplündert haben sie alle. Es gab auch Todesurteile. – Mein Vater brachte mal französische Butterkekse mit. War das auch plündern? – Die endlose Reihe lateinischer Bezeichnungen für diesen barbarischen Akt.

Nartum Do 10. Januar 1991, warm

Osnabrück, Jury-Sitzung für den Remarque-Preis.
Wie lange eine Goebbels-Manipulation nachwirkt! Ich war der festen Überzeugung – vielleicht wollte ich es sein -, daß Remarque eigentlich«Kramer»geheißen und seinen Namen der besseren Wirkung halber ins Französisch-Hugenottische transponiert habe. Das eben war von Goebbels in die Welt gesetzt worden, um den Verfasser des pazifistischen Romans«Im Westen nichts Neues»lächerlich zu machen. (Immerhin: Er hat sich ein«que»statt des«k»genehmigt. Weshalb ich mir kein Ypsilon an den Namen genäht habe, ist mir unverständlich. Das hätte den Absatz meiner Bücher vervielfacht. Ein Ypsilon ist unbezahlbar. Aber dann hätte ich als ein Russe gegolten, und mit dem i bin ich sozusagen Pole.)
Goebbels hat sich mehrere solcher Verschiebungen geleistet, manche ganz ohne Folgen, so wenn er behauptete, im Kino müßten Angreifer von links nach rechts laufen und Verteidiger von rechts nach links (oder umgekehrt? Wie war das noch? Und was bezweckte er damit?). – Eine bekannte Dame in Rostock, die«Vick»hieß, nannte sich«Wieck». Der einzige Stasi-Spitzel, der einen Bericht über mich geschrieben hat, war auch Träger dieses unangenehmen Namens. Siehe Grimms Wörterbuch Band 3.
 
Allerhand Literatur über das Wohlleben des von den Linken gehätschelten Autors Remarque. Aber warum soll er nicht? – Er floh rechtzeitig ins Ausland, kaufte sich die Villa Böcklins. Nach dem Krieg hatte er sein Pulver verschossen.
Seine Schwester wurde übrigens von den Nazis hingerichtet.
 
2005: Inzwischen hat sich Osnabrück seines berühmten Sohnes erheblich erinnert. Sogar ein Steigenberger-Hotel heißt jetzt«Remarque-Hotel», und das Foyer ist mit häßlichen, wie von Laien gemalten Porträts des Autors vollgehängt. Man kennt die Fotos, von denen sie abgemalt wurden. Aber auf den Fotos erkennt man ihn nicht.
 
In der Jury war ich völlig isoliert. Ich hatte Raddatz vorgeschlagen, und das war natürlich absolut verkehrt. Es war grotesk, wie sich die Jurymitglieder auch räumlich von mir distanzierten. Als ich mit ihnen zum Bahnhof ging, ließen sie mich vorauslaufen. Man müßte diese Leute einfach mal fragen:«Sagen Sie mal, was liegt eigentlich gegen mich vor? Gibt’s Akten?»
 
Beim Frühstück im Hotel konnte ich mein Wiedervereinigungsplankton vermehren. Eine Dame erzählte mir:
Ein Erlebnis von Entgrenzung und Ekstase. Ich hab meinen Chef fast entführt. Was später eine längere Beziehung wurde, fing dort an in der geballten Menge. Wir drängten uns aneinander unter Unterstützung von ganz vielen anderen Leibern. Bevor das passierte, war ich auf der Kundgebung von Kohl, und danach bin ich auf einer Fete gewesen, und da hab’ ich getanzt wie ein Derwisch, und ich hatte ein Gefühl von Vitalität, als ob auch ich wie eine Mauer gefallen war.

Nartum Fr 11. Januar 1991

Tag der Schüler und Studenten in der Sozialistischen
Republik Vietnam
Neujahrsempfang des«Hamburger Abendblattes»im Atlantik-Hotel. Ein unbeschreibliches Gedränge. Ich kannte buchstäblich niemanden, und mich kannte auch keiner. Es heißt, daß jedes Jahr ein wildes Gerangel um die Einladungskarten einsetzt, jeder möchte dabeisein. Warum bloß? Bei solchen Gelegenheiten krachen Fußböden durch.

Nartum So 13. Januar 1991

Morgens sehr schön, blauer Himmel, warm, oder besser: nicht kalt.
Im TV die traurigen Nachrichten, daß in dem sich jetzt anbahnenden Konflikt wahrscheinlich 30 000 amerikanische Soldaten ihr Leben lassen werden, dazu wer weiß wie viele Iraker, darunter Frauen und Kinder. Und das alles wegen des verrückten Saddam Hussein, der plötzlich größenwahnsinnig geworden ist.
1939 fragten die Franzosen sich:«Mourir pour Dantzig?»Der alte Streit, ob Menschen Geschichte machen oder umgekehrt, ist nun wohl entschieden. Ein Verrückter, ein Amok-Mann, hat sich hier als politischer Analphabet betätigt. Und die Deutschen? Schon rennen sie auf den Straßen herum und schreien:«Kein Blut für Öl!»Als ob es hier um Öl ginge. Es ist schrecklich, einem fanatischen Volk anzugehören, fanatisch und verlogen. Verkitscht. Und doch eigentlich so liebenswert.
Und dann Litauen, das Panzerkanonenrohr, das die armen Leute dort unter der Nase kitzelt. In Moskau stehen die Idioten immer noch am Lenin-Denkmal an, und auf der anderen Seite demonstrieren Russen für die Litauer, mit hochgehaltenem Abgeordnetenausweis, damit man sie nicht verprügelt.
In Talk-Show-Runden wird das alles ausführlich bekakelt. Domröse hat’s auf den Punkt gebracht, die dick gewordene Kelly kreischte in die Gegend, Ulla Hahn lächelte weise. Und einer sagte es:«Ein Herz für Litauen sollten wir haben.»
Mal sehen, ob morgen einer für Litauen demonstriert.
Der Sportreporter Uli Voigt, bevor er über Eishockey reportierte, hat’s gesagt: Bevor er anfängt, möchte er doch auf Litauen und Nahost hinweisen. Ehrenwert.
 
Arafat im Vorzimmer Husseins, wie ein Geier, der auch was abhaben möchte. Der häßliche Arafat, unrasiert wie immer.
Lit.: Kunze hat ein Buch -«Deckname Lyrik»- veröffentlicht über seine Stasi-Bespitzelung. Vor lauter Pünktchen nicht lesbar.
Er hat das zitierte Amtsdeutsch der Staatssicherheitsbeamten verbessert, weil er deren schlechtes Deutsch den Lesern nicht zumuten will, schreibt er.
Wenn schon enthüllen, dann aber bitte auch Namen nennen.

Nartum Mo 14. Januar 1991, Sonne

Oldenburg: Über die Aufsichtspflicht und über Lob und Tadel. In meinem pädagogischen Lexikon befinden sich 20 Seiten über Strafen und nur eine Seite über das Lob.
Groteske Gerichtsurteile las ich aus dem Schulverwaltungsblatt vor. Der Lehrer ist praktisch überall und immer«dran». Ich übernahm in der Quabben-Schule sämtliche Außenaufsichten für alle Lehrer, um das Gequatsche im Lehrerzimmer nicht mit anhören zu müssen. Außerdem wollte ich mich der feindseligen Stimmung, die von einer intriganten Lehrerin ausging, nicht aussetzen. Draußen die frische Luft, und immer Kinder um mich rum. Am Fenster manchmal der Rektor, was ich da eigentlich mache: läuft da immer hin und her? Meine Vorschläge, den Hof etwas abenteuerlicher zu gestalten, wurden nicht diskutiert.
 
2005: Es hakten sich immer und meist dieselben Kinder bei mir ein, wenn ich da meine Runden drehte. Besonders ein Mädchen, 11 Jahre alt, das gar keinen Unterricht bei mir hatte. Voriges Jahr erschien sie hier, und ich fragte sie, warum sie sich immer bei mir eingehakt hätte?«Sie hatten so einen schönen weichen Pullover an», sagte sie.
 
Die eine Lehrerin behauptete, sie schläft nie. Nie schläft sie, da konnte man sagen, was man wollte. Nie schlafen, das geht doch überhaupt nicht. – Die Kollegen redeten über mich, wenn ich auf dem Hof kreiste.
 
«Bild-Zeitung»: Wann geht’s los?
Ich zu«Bild»: In dieser Woche noch!
«Welt»: Was ich zum Baltikum meine?
Ich zur«Welt»: Aufruf der Schriftsteller an Gorbatschow. Ihn fragen, ob er mit seinen Maßnahmen gegen das Baltikum alles aufs Spiel setzen will? Nobelpreis, Ruf, Demokratisierung? Und die Letten, Esten und Litauer wurden unter Stalin nach Sibirien transportiert und kamen nie wieder?
 
Gestern kam ein Ehepaar. Ich ging spazieren im Garten und sah sie draußen herumstreichen. Es waren«Sirius»-Leser. Ich zeigte ihnen das Haus, und sie repetierten ihr«Sirius»-Wissen.
 
Heute machte ich mir Kaffee. Da sagt Frau Meyer:«Das können Sie? Dann sind Sie ja gar nicht so verwöhnt!»
 
Das Radio ist voll von Meldungen über Nahost und Litauen. Letzteres geht mir näher. Hat sich jetzt etwas beruhigt. Gorbi hat von nichts gewußt, sagt er. Truppen haben sich zurückgezogen.
Die amerikanischen Soldaten tragen jetzt Helme, die den alten deutschen ähnlich sehen. Warum nicht gleich so?
Renate war da, erzählte von der französischen Buchhandlung in Berlin, in der sie beschäftigt ist. Einer ihrer Freunde besuchte uns und führte einen sauren Film aus seiner Produktion vor. Längere Geldgespräche mit Bank. Wir wollen doch lieber festes Sparen, als diese halsbrecherischen Kurssachen zu machen. Einen Teil halten wir zurück, um für Rostock oder für ein Appartement in Berlin was zur Hand zu haben. Wir erwägen auch, unseren Landbesitz zu arrondieren. Hier wird was angeboten in der Nähe, vier Morgen. Da sollte man zugreifen.
 
Ich hörte zum Tee César Franck, Klavier und Violine.
Lit.: Kunze, wirklich unerträglich. – Daß der Denunziant Böhme noch frei herumläuft, ist allerdings nicht zu verstehen.
 
Einladung nach Wismar, von der«Tele-Illustrierten», die mich allmählich als Hausautor verwendet, leider ohne entsprechendes Honorar. Ich soll dort für den Denkmalschutz sprechen, angesichts der St.-Jürgen-Ruine. Macht mir Spaß, freu’ ich mich darauf. Nichts lieber als das!
 
Klaus Stiller. Ich hatte ihm geschrieben, ob er mit mir nicht eine Lesung im SFB machen kann, aus«Sirius». Er belehrte mich, daß ich das schon getan hätte. – Er äußerte sich ziemlich abfällig über die Ostleute. Die kämen und forderten nur. Ein Trabi = 34 Westautos, soviel Qualm. Traurig, aber vermutlich wahr.
 
Noch zum Seminar: Ein Feinmechaniker kam in«ewigen Schuhen», riesigen Skistiefeln. Eines der Rostocker Mädchen machte Knicks beim Guten-Tag-Sagen. Der Ostberliner meinte, er komme sich hier vor wie im Paradies. Daß die Hunde zwischen uns herumgelaufen sind, hat ihm besonders gefallen.
Daß zwei der Rostocker Schüler vor der Zeit abreisten, hat mich beleidigt. Kriegen alles umsonst und verschwinden einfach, ohne sich zu verabschieden.
 
Ein Huhn vorne nackt im Stall gefunden. Hildegard meint, Simones Hund Hacky habe das verbrochen. Simone bestreitet das. Hildegard sagt, die Schlapphut-Else (um sie handelt es sich) habe ihr das erzählen wollen. Sie steht mit ihren Hühnern auf du und du.
 
Viel Post auf«Sirius». Täglich mehrere Briefe.
 
Ich dachte heute, man müßte Mutterboden kaufen und auf unser Land streuen. Aber bei der Gelegenheit handelt man sich dann Franzosenkraut und Quecken ein. -«Franzosenkraut»? Ist das politically correct?
Der Kölner Antiquar beschwerte sich, ich hätte ihm nur ein kleines Ms. für sein Poesiealbum geschickt, das doch 800,- wert sei. Nun, ich hatte ihm das Ms. meiner Rostocker Rede geschickt, Januar’90, fünf Blätter handschriftlich. – Ein Blatt Rühmkorf wurde bei Stargard für 320,- versteigert. – Ich hab’ ihm das erklärt. Nichts geht verloren. Alles kommt wieder.
 
Oldenburg: Ein Student hatte heute sein Referat auf Band genommen, mit Musik, und spielte das ab. Mal was anderes. Meine Wirtsleute, die Ali-Baba-Türken in Oldenburg, sind verbittert über Hussein. Es wär’ doch alles so schön gewesen? Der Mann sei verrückt. – Sie erzählten mir, daß ihre Verwandten weit vom Schuß leben.
 
Zur Wiedervereinigung bei Ali Baba ein Student:
Ich hatte das seltsame Gefühl, Zeuge eines geschichtlichen Ereignisses gewesen zu sein, wie Kennedys Ermordung. Ein historischer Augenblick. Meine Schwester an der Grenze hat mehr mitgekriegt. Am Anfang war sie begeistert, und das hat sich dann gelegt.

Nartum Di 15. Januar 1991, Sonne, kühl

I9I9: Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg ermordet
Sehr (zu) langer Besuch von der«Neuen Berliner Illustrirten». Von 11 bis 16 Uhr! Ich wurde u. a. gefragt, was ich gegen die PDS habe. Von Bautzen wollten sie nichts wissen, das tat nichts zur Sache.
 
Nachmittags geschrieben. Dann sehr lange TV geguckt, die Entwicklung des Golf-Konflikts. Irgendwie hat man das Gefühl, daß die Amis da dummes Zeug machen. 79% seien dagegen (in Germany). Ich bin auch dagegen, aber ich stimme zu.
Brief von Raddatz. Er schreibt immer mit dünnem Filzstift auf gelblichem Papier und extra fahrig. Ich soll wohl denken, er hat viel zu tun. Es gibt immer Menschen, die haben viel zu tun. Gott segne sie.
 
Gore Vidal, auf die Frage:«Welche geschichtliche Gestalt verachten Sie am meisten?», antwortet: Jesus Christus (FAZ-MAGAZIN). Am liebsten möchte er das Universum sein. – Das ist nicht originell, das ist albern.

Nartum Mi 16. Januar 1991

TV: Merkwürdige Mitteilungen: daß die amerikanischen Soldaten Stiefel für den Urwaldkrieg trügen, mit Löchern, damit das Wasser, was eingedrungen ist, ablaufen kann. Und in diese Löcher rieselt nun der Sand. Typische Militärbeschaffungssachen: So wie die MPs der deutschen Soldaten wegen des langen Magazins nicht auf den Grabenrand aufgesetzt werden konnten.
War es nicht Neckermann, der gegen Ende des Krieges den deutschen Soldaten endlich brauchbare Oberbekleidung schneiderte?
 
Heute früh Dr. Dittrich von der Bibliothek in Hannover. Er nahm allerhand mit und brachte Material.
Das Gespräch zog sich hin, ich saß ein bißchen auf Kohlen, denn ich erwartete den Techniker von Hamelberg, der mir den neuen Drucker erklären und vorführen wollte. Er kam zunächst nicht, ich machte einen Spaziergang und schlief im Sessel ein.
Dann kam der Mann und scheiterte irgendwie an seiner eigenen Klugheit.
Ich hatte also einen sehr konfusen Tag, von«Klausur»keine Rede.
Für«Hörzu»die neue Lieferung fertiggemacht. Sie kommt den Herrschaften«zu hoch»vor, wollen’s gern primitiver haben.
 
In Oldenburg und im TV wieder kitschige Schweigeminuten und Demonstrationen wegen dem Wüstenkrieg.
 
Aufnahmen aus der Hagia Sophia. Möchte ich mir wohl gerne mal ansehen. Im Mittelalter ist sie irgendwann mal zusammengebrochen. Ein Buch über Kuppeln. Sie ist in diesem Falle hauchdünn, zusammengehalten wird sie durch enorme Stützpfeiler von außen. Deshalb gibt es innen einen riesigen freien Raum, der leider mit arabischen Schriftzeichen vollgehängt ist. – Ich habe noch keinen Türken in einer deutschen Kirche gesehen. Man müßte mal fragen, was sie sich bei dem Gekreuzigten vorstellen.

Nartum Do 17. Januar 1991

Die«Mutter aller Schlachten»habe begonnen.
Hussein will den Amerikanern«eine Lektion erteilen», wie in der Schule der Lehrer nach altem Modus?
Es wird gesagt, die geflüchteten Kuwaitis säßen hier im Westen in teuren Restaurants und fräßen. Im Kampfanzug.
Vogel:«Maßloses Entsetzen.»
TV:«Ich danke Ihnen nach Stockholm.»
«Wüstensturm». Sprecherin:«Wüstenfeld.»
Die Sprecherinnen haben so einen sauren Ernst in der Stimme. So was kriegt ein Mann gar nicht hin. So was Vorwurfsvolles, als ob wir schuld sind. Fehlte noch, daß sie uns mit dem Finger drohten.
Schöne Eigenschaft der Geduld, die noch nicht gewürdigt worden sei, hat eine Dichterin bei den Irakern konstatiert.
Bremen, Zahnarzt. Er erzählte, daß die Lehrer in Bremen ihre Schüler zu den Anti-USA-Demonstrationen getrieben hätten, die Grundschüler in Reih und Glied antreten lassen und durch die Straßen geführt. Auch Kindergärten! Ob das der Schulrat genehmigt hat? Bremen …
Plakate an Schulen. Sie wollen uns Bescheid sagen, aber wir wissen doch schon alles.
An der Deutschen Bank die Fenster eingeworfen. So was bringt uns ja auch nicht weiter. Argumentatives Scheibeneinwerfen. Daß das überhaupt geht, ist das nicht Panzerglas?

Nartum Fr 18. Januar 1991

1956: Gründung der NVA
7 Uhr
Der Presserummel der Medien entsprach dem Trommelbombardement der alliierten Flugzeuge und Raketen. Frevelhaft die Scherze mit den Gasmasken in Israel, ein Kabarett hat sich mit Sketchen darüber lustig gemacht. – Heute früh wurde ein alter, stoppelbärtiger Israeli beschrieben, der ins Leere geguckt habe. Er sei dem Nazi-Giftgas entronnen und werde nun womöglich doch noch von deutschem Giftgas getötet. Nun, das Giftgas haben nicht Deutsche geliefert, sondern Verbrecher. Die Raketen, mit denen es verschossen wird, stammen von den Russen, die sie von Staats wegen geliefert haben. Die irakischen Panzer und Flugzeuge stammen aus Frankreich. – Ob das auch immer alles bezahlt wird?
 
Gestern ein Besuch beim Schreibmaschinen-Onkel, der mir eine neue Olivetti-Maschine anschnacken wollte. Er fand sich selbst nicht mit dem Ding zurecht. Die Weiterentwicklung meines braven Olivetti-Gerätes ist derartig kompliziert, daß man Wochen brauche, um es zu beherrschen, sagt er. Andere
Firmen vereinfachen ihre Produkte, die Italiener machen das Gegenteil. Das Verrückteste ist, daß man den Drucker vor der Nase hat, den Bildschirm jedoch seitlich. Da kann man sich ja ausrechnen, wann man einen Bandscheibenschaden kriegt! Im Laden wollte man mir Disketten für 140,- die Packung andrehen! Der ganze Laden ist absolut überstylt, bis hin zur Teekanne des Personals. Alles in Grau, allerlei Bühnen für Käufer, die beraten werden sollen. Aber keine Käufer sind da. Einzelne alte und uralte Schreibmaschinen unter Glas auf grauen Holzsäulen. Ich denke, diese Firma wird Pleite machen. Wenn sie Pleite macht, wo soll ich dann meine Geräte warten lassen?
 
2001: Hat sie bis heute nicht.
2005: Immer noch nicht.
2007: Blüht und gedeiht.
 
Der Chef saß vor einem Telefon, und er hatte noch ein anderes in der Hand, ein drahtloses, auf dem er von seiner offenbar hysterischen Frau angerufen wurde, ob er die Kinder nicht abholt aus dem Kindergarten? – Er demonstrierte mir, wie er es hinkriegt, daß er die Ruhe bewahrt, wenn ihn seine Frau anruft. An der Außenwand des nagelneuen Gebäudes allerlei Kuben und Pyramiden in poliertem Granit, die aus dem Mauerwerk brechen. Das ist Kunst. Was das wohl gekostet hat! Tragisch! Wahrscheinlich ist der Architekt, der das Gebäude errichtet hat, äußerst beredt.
 
Die Friedensleute haben in Berlin Schaufenster eingeworfen. Wie nennt man das?«Kontraproduktiv»?
Sie haben nicht nur Angst. Dies kumpelhafte Rummarschieren ist auch ein Ausdruck von schlechtem Gewissen.
 
Mitternacht.
Die kretinhaften Gebärden jubelnder Friedensmarschierer. Alle sind für den Irak, für den Diktator also. Und wie sie kneifen, wenn es ernst wird: Husch! verschwinden sie hinter der nächsten Hausecke.
Und immer dieses Grinsen bei ernsten Anlässen.
Dies sind die historischen Tage, da geht’s um die Wurst. Die Araber sind mir unheimlich, die Amerikaner kann ich besser verstehen, das sind schließlich unsere Leute. Im übrigen gibt’s doch einen Aggressor, der in Kinderkliniken den Stecker aus der Brutmaschine gezogen hat.
Die Israelis hocken unterdessen im Keller und lauschen, ob sie die ersten Gasraketen hören. Galinski bittet sich Respekt und Mitgefühl für die Juden aus.
 
«Hörzu»erschien, mit meinem etwas kümmerlichen Beitrag.
Ich habe die zweite Sendung auf den Weg gebracht. Das gibt später mal ein interessantes Buch: Das Jahr 1991. Eventuell auch Gerüst für ein vollständiges Jahrbuch.
 
Aus Litauen Schlimmes. Denen geht es jetzt an den Kragen. Die französische Ausgabe von«Aus großer Zeit»ist erschienen. Sieht gut aus.«Les temps héroïques».
Wollen die ganze Chronik bringen.
 
2001: Taten sie nicht. Nach dem ersten Band war Schluß. Den«Böckelmann»haben sie rausgebracht:«Notre Prof», und bei Encre erschien 1980 das KZ-Buch:«Allemands le saviez-vous? (Des témoins d’hier parlent enfin)».
 
Ein sehr schönes, nie gehörtes Concerto grosso von Händel, eine Violinsonate von Haydn, Hornkonzert von Mozart (schrecklicher Ohrwurm).
«Echolot»: Bittel kam, wir sprachen die ganze Latte durch, auch Simone, die ihm zeigte, wie weit wir sind.
Anfrage der FAZ: Die Deutschen und die Angst. Erledigte ich telefonisch. – Per Post ein altes Fotoalbum – ach Gott! – und eine Mappe mit Liebigs Fleischextrakt-Etiketten, ein Album und ein Tagebuch.
Bricht der Krieg aus gegen Saddam. Raketen auf Israel. Große Sorge aller Leute, ob die Israelis eingreifen.
Saddam nennt den Krieg«die Mutter aller Schlachten». Er sitzt am Tisch mit seinen Getreuen wie Jesus und die Jünger auf Leonardos«Abendmahl». Wie ruhig er ist, sie sollen sehen, er hat alles im Griff. Die Bluse schön gebügelt.
Massen von Soldaten stehen einander gegenüber. Sogar der Senegal schickt 500 Mann gegen den Irak.
Surreale Bilder von grünen Explosionen auf braunem Hintergrund. Immer dieselben.
Wir haben Soldaten nach Kurdistan geschickt.

Nartum Sa 19. Januar 1991

Das deutsche Verteidigungsministerium hat bekanntgegeben, die deutschen Soldaten in der Türkei fühlten sich angesichts der alliierten Erfolge nun«entspannter». Die haben also vorher Angst gehabt.
40 Karnevalsvereine haben ihre diesjährigen Festivitäten wegen des Krieges abgesagt. Auch idiotisch. Was haben die Karnevalsumzüge mit den Arabern zu tun?
In der SU Wirtschaftsminister zurückgetreten. Demonstrationen hier bei uns, aber keinesfalls für den Konflikt in Litauen.
 
Paule hat sich wieder ein Huhn gegriffen, die Federn stoben. Ich bemerkte es oben und schrie um Hilfe.
 
«Daß Saddam 12 Resolutionen der Vereinten Nationen in den Wind geschlagen hat, ist (für die Deutschen) Anlaß, nach einer 13. oder 14. zu rufen», sagt ein K. A. in der FAZ. Fabelhaft, Wort für Wort zu unterschreiben.
Die Deutschen sind in gewisser Weise infantil, ja debil.
Wo bleiben die Proteste des PEN gegen Saddam? Man muß schon dankbar sein, daß der Verein nicht gegen die Amerikaner protestiert. Die Raketen auf Israel setzen manchen hier in Verlegenheit.
 
18 Uhr: Umsturz in Lettland, die Kommunisten wollen wieder an die Macht.
In den Golf-Nachrichten wimmelt es von Zahlen. Soundsoviel Raketen, Tote, Flugzeuge. Ägypten und Syrien scheinen einen Israel-Gegenschlag tolerieren zu wollen.
Viermal soviel Bomben wie bei der Invasion im Juni 1944 haben die Amerikaner bisher auf den Irak abgeworfen. Kann ich nicht glauben. Außerdem ist Bombe nicht gleich Bombe. Solche Rechnungen wurden damals im Vietnamkrieg auch aufgemacht. Es gibt ja große und kleine, und es gibt Riesendinger.
Lese gerade im Kursbuch von 1968 über die Anti-Schah-Demo. Wenn die Linke nur einen Bruchteil dieser Entrüstung aufgebracht hätte gegen Saddam Hussein, dann wäre es vielleicht gar nicht zum Golfkrieg gekommen.
Bittel: Ein Mann habe in München auf sein eigenes Auto eingeschlagen mit einem Hammer:«Warum tun Sie das?»-«Wegen des Krieges am Golf.»
Angehöriger eines verwirrten Volkes zu sein. Aber vielleicht ist die gesamte Menschheit ja wahnsinnig geworden. Ich hab’ auch schon’n ganz schönen Zacken.
 
Früher war’s der Balkan, jetzt ist es der Golf. Aber den Balkan haben wir noch zusätzlich am Hals.
«Wer hätte das gedacht!»
Die Sache wird für unsere Anti-Amerikaner dadurch kompliziert, daß Saddam geradezu selbstmörderisch auch Israel angreift. Er muß doch wissen, daß mit den Leuten nicht zu spaßen ist. Einen Zweifrontenkrieg«vom Zaun zu brechen», nur so aus Gesinnung? – Gasmasken werden an die Israelis ausgegeben. Kinder. – Das sind Aktivitäten, um die Israelis davon abzuhalten, Gegenschläge zu starten. – Ein ziemliches Durcheinander.
Das Hätschelkind der Linken, der Palästinenserführer, biedert sich an bei Saddam.
Am Ende werden sicherlich die Deutschen an allem schuld sein.

Nartum So 20. Januar 1991, Regen

Jede Stunde Nachrichten hören.
Wüste Tage. Ich schrieb sozusagen seelenruhig immer weiter.
 
Riga: Lettlands Innenministerium gestürmt. 100 sowjetische Soldaten. Tote, Verletzte. Die Russen wissen natürlich von nichts.
Irak /Raketen.
 
Landtagswahl in Hessen: Die Roten sind wieder dran. Abends sehr interessanter«Talk im Turm». Seit langem die interessanteste Sendung dieser Art. Unglaublich, wie rabulistisch die Araber ihre Sache verteidigen. Gegen diese Leute kommt man nur an, wenn man sich trainieren läßt. Am besten Geldhahn zudrehen.
Ist das Lügen im Koran erlaubt?

Nartum Mo 21. Januar 1991

I924: Wladimir Iljitsch Lenin gestorben
Wüster Tag. Morgens Rotenburg. Auslegeware,«naturverbunden»für mein Schlafzimmer ausgewählt, sonst kriege ich womöglich wieder Leibschneiden. Nachmittags nur wenig tun können. – Gegen Abend nach Oldenburg, Pseudo-Idioten-Streik, wie die Studenten eben so sind. Sie wollten mich nicht reinlassen in die Universität. Warum? Ich ging einfach an der Barrikade vorbei. Hinterher wollten sie mich nicht wieder rauslassen. Ich öffnete ein Fenster und sprang hinaus. Soweit kommt das noch, daß sie einen alten Knastrologen einsperren! Transparent an einem Balkon:«Kein Blut für Öl!»
Trotz des Streiks kamen 20 Studenten und diskutierten mit mir. Ich sagte, daß die Streikerei doch sinnlos ist, Kindergärten zum Demonstrieren zu führen, das sei widerwärtig. Das erinnere mich an die Nazi-Zeit, wo wir auch mit Wimpel im Gleichschritt marschieren mußten.
Ich sprach über Sachunterricht, meine Demonstration: der Bleistift, weshalb er sechseckig ist, und wie lang wohl ein Strich ist, den man mit einem Bleistift ziehen kann usw. Wetten wurden abgeschlossen, aber keiner hat’s ausprobiert. Dabei hätte man das statistisch ganz schnell rausgekriegt. – Schließlich die Erkenntnis, daß man anhand der Meditation über einen Bleistift unserer Kultur beikommen kann. Der in der Pädagogik so oft beschriene«Bildende Wert». Dasselbe läßt sich auch mit einem Glas Wasser demonstrieren.
Copei, der große Pädagoge,«Der fruchtbare Moment im Bildungsprozeß», die Sache mit der Kondensmilchbüchse, weshalb man zwei Löcher benötigt, um an die Milch zu kommen. So eine Art Paradebeispiel, wie die Vogelkästen von Kerschensteiner. Die Chinesen kamen damals von weit her angereist, wie er das macht, diesen modernen Unterricht. Und sie wollten eine Schule besichtigen, wo sein Unterricht praktiziert wird: Es gab keine. – Na, Vogelkästen brauchten sie in China später ja auch nicht mehr. Mao hat, unter dem Beifall unserer Linken, alle Vögel totschlagen lassen. Unnütze Fresser. Inzwischen gibt’s wahrscheinlich wieder welche. Die Natur denkt sich das Ihre.
 
Nun im Bett, die VI. von Tschaikowski: Jahre des Lebens. – Keine Regung mehr. Alles tot.
Morgens Streitereien wegen Brüssel. Einen viel zu frühen Flug haben sie mir verordnet, ich hätte um halb 6 aufstehen müssen!

Nartum Di 22. Januar 1991

I904: Arkadi Gaidar («Timur und sein Trupp») geboren
Geburtstag Großvater Collasius (1863).
 
Fernsehnächte in Dunkelgrün und Braun, sprühende Feuerwerke. Alle Nachrichten doppelt und dreifach, und immer dieselben Bilder. Wer was Genaueres wissen will, muß CNN einschalten. Unsere Leute kommen auf gar nix.
Saddam setzt Ölquellen in Brand. Da können sich die Heizölsparer in Deutschland nur wundern.