Die Menschheit hat das Sonnensystem kolonisiert und betreibt auf Mond, Mars, dem Asteroidengürtel und vielen weiteren Planeten Raubbau. Jeder versucht, den größtmöglichen Profit aus dem Geschäft mit den Rohstoffen herauszuschlagen, der Frieden im All ist mehr als fragil und die kleinste Provokation würde ausreichen, um die Kolonien in einen schrecklichen Krieg zu verwickeln.
Jim Holden ist Kapitän des Versorgungsschiffes Canterbury , das Wasser von den Saturnringen zu den Millionen Siedlern im Asteroidengürtel transportiert. Eines Tages erhält die Canterbury ein Notsignal vom leichten Marsfrachter Scopuli , doch gerade als Holden und seine Crew das verlassene Schiffswrack inspizieren wollen, wird die Canterbury von einem unbekannten Schiff angegriffen. Alles deutet auf einen Anschlag mit marsianischer Beteiligung hin, doch um die ohnehin politisch heikle Situation zwischen Mars und dem Asteroidengürtel nicht noch weiter zu verschärfen, erhält Holden von der Firmenzentrale den Befehl, mit seiner Crew das marsianische Schlachtschiff Donnager bei der Untersuchung des Verbrechens zu unterstützen. Im Laufe der Ermittlungen trifft Holden auf Detective Miller, der den Auftrag hat, Julie Mao zu finden – Angehörige einer Friedensorganisation und Kapitänin der Scopuli . Doch die Suche nimmt ein böses Ende: Im Wrack wird die grauenhaft verstümmelte Leiche Julie Maos gefunden. Aus ihren Tagebuchaufzeichnungen geht hervor, dass sie sich mit dem Phoebe-Virus, einer geheimen und hochgefährlichen Biowaffe, infiziert hat. Holden und Miller finden heraus, dass hinter der Entwicklung des tödlichen Virus der Weltraumkonzern Protogen steckt. Und ehe die beiden sich’s versehen, sind sie in einen Kampf mit mächtigen politischen Fraktionen und noch mächtigeren Wirtschaftsbossen verstrickt, die alles daransetzen, das Phoebe-Virus in die Hände zu bekommen – und damit die Macht über die gesamte Galaxis …
JAMES COREY
LEVIATHAN
ERWACHT
Roman
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
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Titel der amerikanischen Originalausgabe
LEVIATHAN WAKES
Deutsche Übersetzung von Jürgen Langowski
Redaktion: Ralf Dürr
Copyright © 2011 by James S. A. Corey
Copyright © 2012 der deutschen Ausgabe und der Übersetzung
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: animagic
Umschlagmotive: © Daniel Dociu
Satz: C. Schaber Datentechnik, Wels
ISBN 978-3-641-07631-3
V005
www.heyne.de
Für Jayné und Kat, die mich ermutigt haben,
meinen Tagträumen über Raumschiffe nachzugehen.
PROLOG Julie
Die Scopuli war vor acht Tagen geentert worden, und jetzt war Julie Mao bereit, sich erschießen zu lassen.
Sie hatte acht Tage in einem Spind hocken müssen, bis dieser Entschluss gereift war. Während der ersten beiden Tage hatte sie regungslos ausgeharrt, denn sie war sich sicher gewesen, dass die gepanzerten Männer, die sie hineingesteckt hatten, es ernst meinten. In den ersten Stunden hatte das Schiff, auf das man sie verfrachtet hatte, nicht beschleunigt. Deshalb war sie in dem kleinen Abteil umhergeschwebt und hatte mit leichten Berührungen die Zusammenstöße mit den Wänden oder dem Raumanzug, mit dem sie sich den Platz teilte, abgefedert. Als das Schiff dann beschleunigte und der Schub ihr wieder ein Gewicht verlieh, stand sie stumm in dem engen Raum, bis die Krämpfe in den Beinmuskeln unerträglich wurden. Irgendwann rollte sie sich wie ein Embryo zusammen, hockte sich hin und pinkelte in ihren Overall. Die warme, juckende Nässe war ihr ebenso egal wie der Geruch. Sie hatte nur Angst, sie könne in der Pfütze auf dem Boden ausrutschen und stürzen. Lärm durfte sie nicht machen, denn dann hätten die Angreifer sie erschossen.
Am dritten Tag zwang sie der Durst zum Handeln. Der Lärm des Schiffs war allgegenwärtig, das unterschwellige Grollen des Reaktors und des Antriebs. Das ewige Zischen und Klappern der Hydraulik und der Stahlbolzen, wenn sich die Drucktüren zwischen den Decks öffneten und schlossen. Das Poltern schwerer Stiefel, die auf dem Metallboden vorbeiliefen. Sie wartete, bis sie den Lärm nur noch aus der Ferne hören konnte, hob den Druckanzug vom Haken und legte ihn auf den Boden des Abteils. Noch einmal lauschte sie aufmerksam, dann nahm sie den Anzug auseinander, um an den Wasservorrat zu gelangen. Es schmeckte alt und abgestanden, der Anzug war offenbar seit Urzeiten weder gewartet noch benutzt worden. Doch sie hatte seit Tagen nichts mehr getrunken, und das warme, schale Wasser aus dem Vorratstank des Anzugs war das Beste, was sie je gekostet hatte. Sie musste sich überwinden, um es nicht auf einmal hinunterzustürzen, denn dann hätte sie es doch nur erbrochen.
Als der Drang zu urinieren wieder erwachte, zog sie den Katheterbeutel aus dem Anzug und erleichterte sich mit dessen Hilfe. Auf dem Polster des dicken Anzugs saß sie schließlich auf dem Boden und hatte es fast bequem. Sie fragte sich, wer sie gefangen genommen hatte – die Koalitionsmarine, Piraten, noch schlimmere Leute. Manchmal konnte sie sogar schlafen.
Am vierten Tag zwangen sie die Einsamkeit, der Hunger, die Langeweile und die schwindende Zahl von Möglichkeiten, ihren Urin zu lagern, schließlich dazu, mit den Angreifern Kontakt aufzunehmen. Sie hatte gedämpfte Schmerzensschreie gehört, irgendwo in der Nähe wurden anscheinend ihre Schiffskameraden geschlagen oder gefoltert. Wenn sie die Aufmerksamkeit der Entführer erregte, würde man sie vielleicht einfach zu den anderen bringen. Das war in Ordnung. Schläge konnte sie ertragen. Ein geringer Preis, wenn sie dafür wieder Menschen zu sehen bekam.
Der Spind befand sich neben der inneren Luftschleuse. Während des Fluges kam hier gewöhnlich kaum jemand vorbei, aber sie kannte natürlich nicht den Bauplan dieses Schiffs. Sie überlegte sich, was sie sagen und wie sie sich verhalten sollte. Als sie endlich jemanden hörte, der sich ihr näherte, wollte sie schreien, damit man sie herausließ. Das heisere Krächzen, das aus ihrer Kehle drang, überraschte sie selbst. Sie schluckte und bewegte die Zunge, um ein wenig Speichel zu produzieren, und versuchte es noch einmal. Wieder nur ein kaum wahrnehmbares Röcheln.
Direkt vor dem Spind waren Leute. Jemand redete leise. Julie hatte schon ausgeholt, um mit der Faust gegen die Tür zu trommeln, als sie hörte, was gesprochen wurde.
Nein, bitte nicht. Bitte tun Sie das nicht.
Dave. Der Mechaniker ihres Schiffs. Dave, der alte Zeichentrickfilme sammelte und eine Million Witze kannte, flehte mit leiser, gebrochener Stimme jemanden an.
Nein, bitte nicht. Bitte tun Sie das nicht, sagte er.
Die Hydraulik und die Verschlussriegel klickten, als die innere Tür der Luftschleuse aufging. Dann ein sattes Klatschen, als etwas hineingeworfen wurde. Wieder ein Klicken, die Luftschleuse schloss sich. Das Zischen entweichender Luft.
Sobald die Luftschleuse wieder im alten Zustand war, entfernten sich die Leute von ihrer Spindtür. Julie klopfte nicht, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen.
Sie hatten das Schiff blitzblank geputzt. Eine Verhaftung durch die Marine der inneren Planeten war immer eine üble Sache, aber sie hatten alle den Umgang mit solchen Situationen geübt. Heikle AAP-Daten wurden gelöscht und mit unschuldigen Logdaten überschrieben, die zudem falsche Zeitstempel bekamen. Der Kapitän zerstörte alles, was zu gefährlich war, um es einem Computer anzuvertrauen. Als die Angreifer an Bord kamen, konnte die Besatzung unschuldig tun.
Es hatte keine Rolle gespielt.
Es hatte gar keine Fragen bezüglich der Fracht oder der Genehmigungen gegeben. Die Eindringlinge waren aufgetreten, als gehörte ihnen das Schiff, und Kapitän Darren hatte sich auf den Rücken geworfen wie ein unterwürfiger Hund. Alle anderen – Mike, Dave, Wan Li – hatten die Hände gehoben und waren seinem Beispiel gefolgt. Die Piraten oder Sklavenhändler, oder was sie auch waren, hatten sie von dem kleinen Transportschiff verschleppt, das ihre Heimat gewesen war, und mit notdürftigen Schutzanzügen versehen durch einen Andockschlauch bugsiert. Die dünne Polyesterfolie des Schlauchs war alles gewesen, was sie vor dem großen Nichts geschützt hatte. Hoffentlich riss sie nicht; und wenn doch, würden die Lungen platzen.
Julie war mitgekommen, ohne Widerstand zu leisten, doch dann hatten die Dreckskerle sie betatscht und versucht, ihr die Sachen auszuziehen.
Fünf Jahre Jiu-Jitsu-Training bei niedriger Schwerkraft hatten sich ausgezahlt. Sie hatte eine Menge Schaden angerichtet und schon angenommen, sie könnte sogar gewinnen, bis aus dem Nichts eine Faust in einem Panzerhandschuh herabgesaust war. Die daran anschließenden Eindrücke waren etwas wirr, und schließlich hatte sie im Spind gehockt: Erschießt sie, wenn sie auch nur einen Mucks von sich gibt. Vier stumme Tage, während die anderen ihre Freunde verprügelt und einen von ihnen durch die Luftschleuse ins All geworfen hatten.
Nach sechs Tagen wurde es ruhig.
Sie pendelte zwischen bewussten Phasen und zersplitterten Träumen und bemerkte nur am Rande die Schritte und Gespräche der Leute, das Einrasten der Druckschotts und das unterschwellige Grollen des Reaktors. Einmal verstummte der Antrieb ganz und gar. Gleichzeitig setzte auch die Schwerkraft aus, und Julie erwachte aus einem Traum, in dem sie mit ihrer alten Rennpinasse dahingerast war. Auf einmal war sie gewichtslos, und ihr taten alle Muskeln weh. Es dauerte eine Weile, bis sie sich wieder entspannte.
Sie schwebte näher an die Tür und presste das Ohr an das kalte Metall. Zuerst geriet sie in Panik, dann vernahm sie das leise Geräusch der Luftaufbereiter. Das Schiff hatte Energie und Luft, nur der Antrieb arbeitete nicht, und niemand öffnete eine Tür, ging vorbei oder redete. Vielleicht eine Mannschaftssitzung. Oder eine Party auf einem anderen Deck. Oder sie waren alle im Maschinenraum und führten eine wichtige Reparatur durch.
Julie verbrachte den ganzen Tag damit, zu lauschen und zu warten.
Am siebten Tag war der letzte Wassertropfen verbraucht. Seit vierundzwanzig Stunden war niemand mehr in Hörweite gekommen. Sie saugte an einem Plastikschild, das sie vom Schutzanzug abgerissen hatte, bis sich etwas Speichel entwickelte, dann schrie sie. Sie schrie, bis sie heiser war.
Niemand kam.
Am achten Tag war sie bereit, sich erschießen zu lassen. Sie hatte seit zwei Tagen nichts getrunken, und ihr Abfallbeutel lief über. Sie stemmte sich mit den Schultern gegen die Rückwand des Spinds und drückte mit den Händen gegen die Seitenwände. Dann trat sie mit beiden Beinen so fest wie möglich zu. Die Krämpfe, die nach dem ersten Tritt einsetzten, ließen sie fast ohnmächtig werden. Sie kreischte.
Dummes Mädchen, sagte sie sich selbst. Sie war dehydriert. Acht Tage ohne jede Bewegung, das war mehr als genug, um eine Muskelatrophie zu entwickeln. Wenigstens hätte sie sich mal strecken können.
Sie massierte die steifen Muskeln, bis die Knoten verschwanden, streckte sich und konzentrierte sich, als wäre sie wieder im Dojo. Sobald sie ihren Körper unter Kontrolle hatte, trat sie zu. Und noch einmal. Wieder und wieder, bis durch einige Spalten Licht hereinfiel. Und weiter, bis die Tür so verbeult war, dass die drei Scharniere und der Riegel die einzigen Punkte waren, die das Türblatt noch am Rahmen festhielten.
Ein letztes Mal, und der Riegel rutschte aus der Klammer. Die Tür schwang auf.
Julie schoss aus dem Spind heraus, die Hände halb erhoben und bereit, entweder gefährlich oder verschreckt zu wirken, je nachdem, was aussichtsreicher schien.
Auf dem ganzen Deck war kein Mensch. Die Luftschleuse, das Lager für den Druckanzug, wo sie die letzten acht Tage verbracht hatte, ein halbes Dutzend weiterer Räume. Alle leer. Sie schnappte sich eine große magnetisierte Rohrzange, die gut geeignet war, um sogar in Raumanzügen steckende Schädel zu zertrümmern, und stieg die Leiter zum nächsten Deck hinab.
Dann eines tiefer und schließlich noch weiter hinunter. Sie fand Kabinen, die perfekt und beinahe militärisch in Ordnung gehalten waren. Die Messe, in der es keine Kampfspuren gab. Die Sanitätsstation, ebenfalls verlassen. Der Torpedoraum. Niemand da. Die Funkstation war nicht besetzt, abgeschaltet und verschlossen. Die paar Sensoren, die noch Daten lieferten, zeigten keine Spur von der Scopuli. Eine neue Furcht lag ihr wie ein Stein im Bauch. Deck um Deck und Raum auf Raum waren bar jeden Lebens. Irgendetwas war passiert. Vielleicht ein Strahlungsleck oder Gift in der Luft. Irgendetwas, das eine Evakuierung erzwungen hatte. Sie fragte sich, ob sie das Schiff allein fliegen konnte.
Aber wenn die anderen das Schiff aufgegeben hatten, dann hätte sie doch hören müssen, wie sie es durch die Luftschleuse verlassen hatten.
Sie erreichte das Schott des letzten Decks, auf dem sich der Maschinenraum befand. Als sich die Luke nicht automatisch öffnete, hielt sie inne. Ein rotes Licht auf der Schalttafel verriet ihr, dass der Raum von innen versiegelt worden war. Wieder dachte sie über Strahlung und größere Störungen nach. Doch welchen Sinn hätte es gehabt, in einem solchen Fall den Maschinenraum von innen zu verschließen? Außerdem war sie an zahlreichen Anzeigetafeln vorbeigekommen und hatte auf keiner einzigen blinkende Warnlichter entdeckt. Nein, Strahlung schied aus. Es musste etwas anderes sein.
Hier herrschte mehr Unordnung. Blut. Werkzeug und Behälter waren wild durcheinandergeworfen. Was auch passiert war, es hatte sich hier ereignet. Nein, es hatte hier begonnen und hinter jener verschlossenen Tür geendet.
Sie brauchte zwei Stunden mit Schweißbrenner und Brechstange, um den Zugang zum Maschinenraum zu knacken. Da sie dabei zwangsläufig die Hydraulik zerstörte, musste sie anschließend das Schott von Hand aufschieben. Ein Schwall warmer Luft wehte ihr entgegen, der nach Krankenhaus roch, aber ohne Desinfektionsmittel. Ein kupferner, Übelkeit erregender Geruch. Eine Folterkammer also. Ihre Freunde waren sicher dort drinnen, zusammengeschlagen oder in Stücke geschnitten. Julie hob die Zange und bereitete sich darauf vor, wenigstens noch einen Schädel zu zertrümmern, ehe die anderen sie töteten. Sie schwebte hinüber.
Der Maschinenraum war riesig und hatte eine gewölbte Decke wie eine Kathedrale. Der Fusionsreaktor nahm das Zentrum ein. Dort stimmte etwas nicht. Wo sie erwartet hatte, Anzeigen, Abschirmungen und Monitore zu sehen, floss etwas über den Reaktorkern, das ihr vorkam wie eine Schicht Schlamm. Langsam schwebte Julie hinüber, hielt sich aber noch mit einer Hand an der Leiter fest. Der seltsame Geruch wurde stärker.
So etwas wie den Schlamm, der um den Reaktor festgebacken war, hatte sie noch nie gesehen. Durch die Masse zogen sich Schläuche, die an Adern oder Luftröhren erinnerten. Einige Teile pulsierten. Also war es kein Schlamm.
Es lebte.
Ein Auswuchs des Dings drehte sich zu ihr herum. Verglichen mit den Ausmaßen der Masse war es nicht größer als eine Zehe oder ein kleiner Finger. Es war Kapitän Darrens Kopf.
»Hilf mir«, sagte er.
1 Holden
Hundertfünfzig Jahre früher, als der engstirnige Konflikt zwischen Erde und Mars fast zu einem Krieg ausgeartet wäre, hatte sich der Asteroidengürtel weit entfernt am Horizont befunden. Er hatte einen ungeheuren Schatz an Mineralien geborgen, der allerdings nicht wirtschaftlich zu heben gewesen war, und die äußeren Planeten waren nicht einmal in den Träumen der genialsten Strategen der großen Firmen vorgekommen. Dann hatte Solomon Epstein einen leicht veränderten Fusionsantrieb konstruiert, auf seine Dreimannjacht gepflanzt und ihn eingeschaltet. Mit einem guten Teleskop konnte man sein Schiff immer noch mit einem Bruchteil der Lichtgeschwindigkeit in die große Leere fliegen sehen. Die beste und längste Beerdigung in der Geschichte der Menschheit. Glücklicherweise hatte er die Pläne daheim in seinem Computer hinterlassen. Der Epsteinantrieb hatte der Menschheit zwar nicht die Sterne geschenkt, ihr jedoch die Planeten ausgeliefert.
Die Canterbury war einen Dreiviertelkilometer lang, in etwa wie ein Feuerwehrhydrant geformt und bestand innen überwiegend aus einem riesigen Hohlraum. Sie war ein umgebauter Kolonietransporter. Früher war sie mit Menschen, Vorräten, Schaltplänen, Maschinen, Schutzzelten und Hoffnung vollgestopft gewesen. Inzwischen lebten auf den Saturnmonden knapp zwanzig Millionen Menschen. Die Canterbury hatte fast eine Million ihrer Vorfahren dorthin befördert. Vierundfünfzig Millionen wohnten auf den Jupitermonden, auf einem Uranusmond gab es fünftausend Siedler. Dies sollte der letzte Vorposten der menschlichen Zivilisation bleiben, bis die Mormonen ihr Generationenschiff fertigstellten und zu den Sternen und in die Freiheit aufbrachen, um den restriktiven Fortpflanzungsbestimmungen der Erde zu entfliehen.
Außerdem war da noch der Gürtel.
Befragte man die AAP-Werber, wenn sie betrunken genug waren und redselig wurden, dann behaupteten sie vielleicht, im Gürtel lebten hundert Millionen. Nach den Angaben der Bevölkerungsstatistiker auf den inneren Planeten waren es eher fünfzig Millionen. Wie man es auch betrachtete, es war eine riesige Bevölkerung, die eine Menge Wasser brauchte.
Deshalb flogen die Canterbury und ein Dutzend Schwesterschiffe des Versorgungsunternehmens Pur’n’Kleen zwischen den ergiebigen Saturnringen und dem Gürtel hin und her, schafften Gletscher heran und würden damit fortfahren, bis sie zu alt waren und abgewrackt werden mussten.
Jim Holden fand diese Vorstellung sogar ein wenig poetisch.
»Holden?«
Er drehte sich zum Hangardeck um. Chefingenieurin Naomi Nagata ragte vor ihm auf. Sie war mindestens zwei Meter groß, das widerspenstige Lockenhaar hatte sie zu einem schwarzen Pferdeschwanz gebunden, und ihre Miene war eine Mischung aus Belustigung und Gereiztheit. Wie alle Gürtler hatte sie die Angewohnheit, zum Achselzucken nicht die Schultern, sondern beide Hände zu bewegen.
»Holden, hören Sie jetzt zu, oder starren Sie nur Löcher in die Luft?«
»Wir haben ein Problem«, erklärte Holden. »Und weil Sie wirklich sehr, sehr gut sind, können Sie es in Ordnung bringen, obwohl Sie weder genügend Geld noch Ressourcen haben.«
Naomi lachte.
»Sie haben tatsächlich nicht zugehört.«
»Leider nicht, nein.«
»Tja, im Grunde haben Sie es aber korrekt wiedergegeben. Die Landestützen der Knight sind in der Atmosphäre unbrauchbar, solange ich nicht die Dichtungen ausgetauscht habe. Ist das ein Problem?«
»Ich frage mal den Alten«, erwiderte Holden. »Aber wann haben wir das Shuttle zum letzten Mal in der Atmosphäre benutzt?«
»Noch nie. Allerdings besagen die Vorschriften, dass wir mindestens ein atmosphärentaugliches Shuttle haben müssen.«
»Hallo, Boss!« Amos Burton, Naomis auf der Erde geborener Assistent, rief ihr quer durch den Hangar etwas zu und winkte ihnen mit einem Arm. Er meinte Naomi. Amos mochte sich auf Kapitän McDowells Schiff befinden, Holden mochte der Executive Officer sein, doch in Amos Burtons Welt war nur Naomi der Boss.
»Was gibt es?«, rief Naomi zurück.
»Ein kaputtes Kabel. Kannst du das verdammte Ding an Ort und Stelle halten, während ich das Ersatzteil hole?«
Naomi blickte Holden fragend an. Sind wir hier fertig?, sagten die Augen. Er salutierte ironisch, worauf sie schnaubte und sich kopfschüttelnd entfernte. In dem verschmierten Overall wirkte ihr Körper besonders lang und schmal.
Sieben Jahre bei der Marine der Erde, fünf Jahre Arbeit im Weltraum mit Zivilisten, und er hatte sich immer noch nicht an den unglaublich dürren, großen Körperbau der Gürtler gewöhnt. Wenn man die Kindheit in normaler Schwerkraft verbrachte, konnte man gar nicht anders, als die Dinge auf eine ganz bestimmte Weise zu betrachten.
Am Zentralaufzug tippte Holden auf den Knopf für das Navigationsdeck und freute sich schon darauf, Ade Tukunbo zu begegnen – dieses Lächeln, die Stimme, die nach Patschuli und Vanille duftenden Haare –, doch stattdessen drückte er auf den Knopf der Krankenstation. Erst die Arbeit, dann das Vergnügen.
Shed Garvey, der Medizintechniker, hatte sich über den Behandlungstisch gebeugt und säuberte Cameron Pajs Armstumpf, als Holden hereinkam. Einen Monat zuvor hatte ein dreißig Tonnen schwerer Eisklotz, der sich mit einer Geschwindigkeit von fünf Millimetern pro Sekunde bewegt hatte, Pajs linken Arm eingequetscht. Unter den Menschen, die sich der gefährlichen Aufgabe widmeten, in der Schwerelosigkeit Eisberge zu zerschneiden und zu befördern, war dies eine recht häufige Verletzung. Paj nahm die Sache mit dem Fatalismus eines Profis hin. Holden beugte sich über Sheds Schulter, als der Techniker eine medizinische Made aus dem abgestorbenen Gewebe zog.
»Wie sieht’s aus?«, fragte Holden.
»Ziemlich gut, Sir«, erwiderte Paj. »Ein paar Nerven funktionieren noch, und Shed hat mir erklärt, wie die Prothese mit ihnen verbunden wird.«
»Vorausgesetzt, wir halten die Nekrose unter Kontrolle«, wandte der Sanitäter ein, »und vorausgesetzt, wir können dafür sorgen, dass die Wunde nicht zu weit abheilt, ehe wir Ceres erreichen. Ich habe die Akte durchgesehen. Paj ist lange genug dabei, um Anspruch auf eine Prothese mit Muskelfeedback, Druck- und Temperatursensoren und feinmotorischer Software zu haben. Das volle Paket. Der neue Arm wird fast so gut wie der alte sein. Die inneren Planeten haben sogar ein neues Biogel entwickelt, das den verlorenen Körperteil nachwachsen lässt, aber das wird von unserer Police nicht abgedeckt.«
»Zur Hölle mit den Inneren, zur Hölle mit ihrer Zaubergrütze. Ich hab lieber eine gute Nachbildung aus dem Gürtel als irgendetwas, das die Schweinehunde im Labor züchten. Wahrscheinlich wird man zum Arschloch, sobald man nur einen hübschen Arm von ihnen mit sich herumträgt«, sagte Paj. Dann fügte er eilig hinzu: »Oh, äh, war nicht persönlich gemeint, XO.«
»Schon gut. Ich bin nur froh, dass wir Sie wieder zusammenflicken können«, sagte Holden.
»Erzähl ihm auch den Rest«, sagte Paj mit einem bösen Grinsen. Shed errötete.
»Na ja, ich, äh, ich habe da mal was von Leuten gehört, die so eine Prothese haben.« Der Sanitäter wich Holdens Blick aus. »Anscheinend gibt es eine Phase, wenn man sich noch nicht völlig mit der Prothese identifiziert hat, in der es sich beim Wichsen so anfühlt, als würde es einem jemand anders machen.«
Holden ließ die Bemerkung einen Moment in der Luft hängen, während Shed bis über beide Ohren rot anlief.
»Gut zu wissen«, meinte Holden schließlich. »Und die Nekrose?«
»Er hat eine Infektion«, erklärte Shed. »Die Maden halten das unter Kontrolle, daher ist die Entzündung eigentlich eine gute Sache, also bekämpfen wir sie nicht zu energisch, solange sie sich nicht ausbreitet.«
»Wird er für die nächste Tour wieder fit sein?«, fragte Holden.
Pajs Miene verfinsterte sich.
»Verdammt, ja, ich werde bereit sein. Ich bin immer bereit. Das gehört doch zu meinem Job, Sir.«
»Wahrscheinlich«, ergänzte Shed. »Es kommt darauf an, wie gut die Prothese sich mit dem Körper verbindet. Wenn nicht die nächste Tour, dann spätestens die danach.«
»Verdammt auch«, protestierte Paj. »Ich kann einhändig das Eis immer noch besser steuern, als es die meisten anderen Ärsche auf diesem Kahn mit beiden Händen können.«
»Wie ich schon sagte, das ist gut zu wissen. Nur weiter so.« Holden unterdrückte ein Grinsen.
Paj schnaubte. Shed pulte eine weitere Made aus der Wunde. Holden kehrte zum Lift zurück, und dieses Mal zögerte er nicht, als er das Ziel wählte.
Die Navigation der Canterbury machte nicht sonderlich viel her. Die wandhohen Anzeigen, die Holden sich bei seiner freiwilligen Meldung für die Raummarine noch vorgestellt hatte, gab es nur auf Großkampfschiffen, und selbst dort waren sie viel eher Beiträge zum Design als nützliche Gegenstände. Ade saß vor zwei Bildschirmen, die kaum größer waren als normale Terminals, und beobachtete Kurven, die Aufschluss über Wirkungsgrad und Leistung des Reaktors der Canterbury gaben, während rechts die Protokolldaten verschiedener Systeme aufgelistet wurden. Sie trug dicke Kopfhörer, aus denen gerade noch das schwache Pochen der Bässe herausdrang. Hätte die Canterbury eine Anomalie aufgespürt, dann hätte ein Alarm sie darauf aufmerksam gemacht. Wenn ein System Fehler produzierte, schlug ein anderer Alarm an. Wenn Kapitän McDowell die Brücke verließ, sagte er ihr Bescheid, damit sie die Musik abstellen und beschäftigt tun konnte, bevor er überhaupt eintraf. Ihre heimlichen Laster waren nur eines von tausend Dingen, die Holden an Ade so anziehend fand. Er trat hinter sie und zog ihr sanft die Kopfhörer ab. »Hallo.«
Ade lächelte, tippte auf ihren Bildschirm und legte sich die Kopfhörer um den langen schlanken Hals wie ein großes technisches Schmuckstück.
»Executive Officer James Holden«, sagte sie übertrieben förmlich, was dank ihres starken nigerianischen Akzents besonders reizend klang. »Was kann ich für Sie tun?«
»Ist schon komisch, dass du mich das fragst«, erwiderte er. »Ich habe mir gerade vorgestellt, wie schön es wäre, wenn jemand in meine Kabine kommt, sobald die dritte Schicht uns ablöst. Ein kleines romantisches Dinner mit dem Zeug, das sie auch in der Kantine servieren. Etwas Musik hören.«
»Ein Glas Wein trinken«, ergänzte sie. »Ein bisschen gegen die Vorschriften verstoßen. Ein hübscher Gedanke, aber mir ist heute nicht nach Sex.«
»Ich rede nicht von Sex, nur vom Essen und einer Plauderei.«
»Ich habe von Sex geredet«, gab sie zurück.
Holden kniete neben ihrem Stuhl nieder. Bei einem Drittel G, mehr gab der gegenwärtige Schub nicht her, war das durchaus bequem. Ades Lächeln wurde breiter. Dann zirpte der Bildschirm mit den Logs, sie warf einen Blick darauf, drückte zur Bestätigung auf einen Knopf und wandte sich wieder ihm zu.
»Ade, ich mag dich. Ich meine, ich genieße deine Gesellschaft«, sagte er. »Ich verstehe nicht, warum wir nicht etwas Zeit zusammen verbringen können. Angezogen.«
»Holden, Süßer, hör auf damit, ja?«
»Womit soll ich aufhören?«
»Hör auf, mich in deine Freundin zu verwandeln. Du bist ein netter Kerl, du hast einen hübschen Arsch und bist nicht schlecht im Bett. Das heißt aber nicht, dass wir verlobt sind.«
Holden wiegte sich auf den Hacken hin und her und runzelte die Stirn.
»Ade, damit es für mich funktioniert, muss es mehr sein als nur das.«
»Ist es aber nicht.« Sie nahm seine Hand. »Es ist gut, dass es nicht mehr ist. Du bist hier der XO, und ich habe nur für kurze Zeit angeheuert. Noch ein oder zwei Touren vielleicht, dann bin ich weg.«
»Ich bin auch nicht für immer an dieses Schiff gekettet.«
Ihr Lachen war zugleich freundlich und ungläubig.
»Wie lange bist du jetzt auf der Canterbury?«
»Fünf Jahre.«
»Du gehst nirgendwohin«, sagte sie. »Du fühlst dich hier wohl.«
»Wohlfühlen?«, antwortete er. »Die Canterbury ist ein hundert Jahre alter Eisfrachter. Es gibt sicher üblere Schiffe, auf denen man anheuern kann, aber dazu müsste man lange suchen. Alle hier an Bord sind entweder krass unterqualifiziert oder haben bei ihrem letzten Einsatz großen Mist gebaut.«
»Und du fühlst dich hier wohl.« Ihr Blick war nicht mehr ganz so freundlich. Sie biss sich auf die Unterlippe, blickte auf den Bildschirm und sah ihn wieder an.
»Das habe ich nicht verdient«, beklagte er sich.
»Nein, hast du nicht«, stimmte sie zu. »Hör mal, ich sagte dir doch, ich bin heute nicht in Stimmung. Ich bin launisch und muss ausschlafen. Morgen bin ich bestimmt besser drauf.«
»Versprochen?«
»Ich mach dir sogar das Abendessen. Entschuldigung akzeptiert?«
Er beugte sich vor und küsste sie auf die Lippen. Sie erwiderte den Kuss, höflich zuerst, dann leidenschaftlicher. Sie legte ihm die Finger an den Hals, dann schob sie ihn fort.
»Darin bist du wirklich viel zu gut. Du solltest jetzt gehen«, sagte sie. »Die Pflicht ruft … und so weiter.«
»Okay.« Er machte jedoch keinerlei Anstalten, sich zurückzuziehen.
»Jim«, sagte sie. Ein Knacken im Schiffscom unterbrach sie.
»Holden auf die Brücke«, befahl Kapitän McDowell. Seine Stimme klang gepresst und hallte. Holden reagierte mit einer unflätigen Bemerkung, worauf Ade lachte. Er beugte sich noch einmal vor, küsste sie auf die Wange und kehrte zum Zentralaufzug zurück. Insgeheim wünschte er McDowell Eiterbeulen und öffentliche Demütigung, weil der Kapitän ausgerechnet in diesem heiklen Moment gestört hatte.
Die Brücke war geringfügig größer als Holdens Quartier und nicht einmal halb so groß wie die Messe. Abgesehen von dem etwas größeren Display des Kapitäns, der Grund dafür waren allerdings nur die sich verschlechternde Sehkraft des Besitzers und dessen Misstrauen gegenüber der Augenchirurgie, hätte es sich auch um das Hinterzimmer eines Steuerberaters handeln können. Die Luft roch nach scharfen Reinigungsmitteln und dem übermäßig starken Matetee, den sich jemand aufgebrüht hatte. McDowell drehte sich auf seinem Sitz um, als Holden kam. Dann lehnte sich der Kapitän wieder an und deutete über die Schulter zur Comstation.
»Becca!«, befahl McDowell. »Zeigen Sie es ihm.«
Rebecca Byers, die als Kommunikationsoffizier Dienst tat, hätte die Tochter eines Hais und eines Beilfischs sein können. Schwarze Augen, scharfe Gesichtszüge, schmale Lippen, die man fast nicht sah. Es hieß, sie hätte den Job auf dem Schiff nur angenommen, um nach dem Mord an ihrem Ehemann der Strafverfolgung zu entgehen. Holden mochte sie.
»Ein Notsignal«, berichtete sie jetzt. »Wir haben es vor zwei Stunden aufgefangen. Von Callisto ist gerade die Verifizierung des Transpondersignals eingegangen. Es ist echt.«
»Ah«, machte Holden. Und dann: »Verdammt. Sind wir am nächsten dran?«
»Wir sind in einem Umkreis von einer Million Kilometern das einzige Schiff.«
»Das passt uns ja gerade sehr gut«, meinte Holden.
Becca wandte sich an den Kapitän. McDowell knackte mit den Fingerknöcheln und starrte das Display an. Der grüne Widerschein gab ihm etwas Gespenstisches.
»Es ist in der Nähe eines bekannten Asteroiden, der nicht zum Gürtel gehört.«
»Wirklich?«, fragte Holden ungläubig. »Haben sie ihn etwa gerammt? Da draußen ist doch im Umkreis von Millionen Kilometern rein gar nichts.«
»Vielleicht haben sie angehalten, weil jemand aufs Töpfchen musste. Bisher wissen wir nur, dass da draußen irgendein Idiot sitzt und ein Notsignal sendet und dass wir das nächste Schiff sind. Angenommen …«
Das Gesetz galt im ganzen Sonnensystem. In einer so lebensfeindlichen Umgebung wie dem Weltraum waren die Hilfe und Unterstützung anderer Menschen kein großzügiges Entgegenkommen. Das Notsignal verpflichtete das nächste Schiff, anzuhalten und Hilfe zu leisten – was allerdings nicht bedeutete, dass sich tatsächlich alle an das Gesetz hielten.
Die Canterbury war voll beladen. Weit mehr als eine Million Tonnen Eis waren im Laufe des letzten Monats sanft beschleunigt worden. Genau wie der kleine Gletscher, der Pajs Arm zerquetscht hatte, war auch das Schiff nur schwer zu bremsen. Die Versuchung, ein unerklärliches Versagen der Funkanlage vorzuschieben, die Logdateien zu löschen und dem großen Gott Darwin alles Weitere zu überlassen, stand immer im Raum.
Doch wenn McDowell dies wirklich vorgehabt hätte, dann hätte er Holden nicht erst auf die Brücke gerufen, und erst recht nicht über den Schiffscom. Holden verstand sein Dilemma. Der Kapitän hätte die Sache vielleicht einfach vergessen, wäre Holden nicht gewesen. Die Besatzung hätte den Kapitän dafür respektiert, dass er den Profit des Schiffs nicht schmälern wollte. Ein paar würden andererseits Holden dafür respektieren, dass er darauf bestand, die Regeln zu befolgen. So oder so, einer von ihnen würde gehasst werden, was immer sie auch entschieden.
»Wir müssen bremsen«, sagte Holden und fügte mutig hinzu: »Vielleicht gibt es ja Bergegut.«
McDowell tippte auf den Bildschirm. Sofort meldete sich Ade. Ihre Stimme klang so weich und warm, als stünde sie im Raum.
»Kapitän?«
»Ich brauche Daten, wie wir diese Kiste anhalten können«, sagte er.
»Sir?«
»Wie schwierig ist es, uns neben CA-2216862 zu manövrieren?«
»Wollen wir an einem Asteroiden anhalten?«
»Das sage ich Ihnen, wenn Sie meinen Befehl ausgeführt haben, Navigator Tukunbo.«
»Ja, Sir.« Holden hörte es klicken. »Wenn wir das Schiff sofort wenden und bis zum Anschlag aufdrehen, kommen wir bis auf fünfzigtausend Kilometer heran, Sir.«
»Können Sie ›bis zum Anschlag‹ näher definieren?«, fragte McDowell.
»Wir müssen alle auf die Druckliegen.«
»Ja, natürlich.« McDowell kratzte sich seufzend am zotteligen Bart. »Und das rutschende Eis wird an der Hülle höchstens einen Schaden von ein paar Millionen anrichten, wenn wir Glück haben. Ich werde zu alt für diesen Mist, Holden. Ehrlich.«
»Ja, Sir, das stimmt. Ich bin schon lange scharf auf Ihren Posten.« McDowell starrte ihn finster an und machte eine obszöne Geste. Rebecca wieherte vor Lachen. Der Kapitän drehte sich zu ihr herum.
»Schicken Sie eine Nachricht an den Sender, dass wir unterwegs sind, und geben Sie auf Ceres Bescheid, dass wir uns verspäten. Holden, wie steht es um die Knight?«
»Ohne Ersatzteile ist sie in der Atmosphäre nicht flugtauglich, aber im Vakuum wird sie die fünfzigtausend Kilometer leicht schaffen.«
»Sind Sie sicher?«
»Naomi hat es mir gesagt. Also ist es wahr.«
McDowell stand auf und entfaltete sich zu seiner vollen Länge von fast zweieinviertel Metern. Dabei war er dünner als ein Teenager auf der Erde. Da er nicht mehr der Jüngste war und nie unter voller Schwerkraft gelebt hatte, würde die bevorstehende Bremsphase dem alten Mann sehr zusetzen. Holden empfand starkes Mitgefühl, war jedoch fest entschlossen, McDowell nicht dadurch in Verlegenheit zu bringen, dass er es erwähnte.
»Es sieht folgendermaßen aus, Jim.« McDowell sprach leise, damit nur Holden es hören konnte. »Wir sind verpflichtet, anzuhalten und es zu versuchen, aber wir müssen uns dabei kein Bein ausreißen, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
»Uns bleibt ja sowieso nichts anderes übrig«, sagte Holden, und McDowell wedelte mit den großen schmalen Händen herum. Auch dies war eine der vielen Gürtler-Gesten, die sich entwickelt hatten, weil die normale Gestik im Raumanzug nicht zu erkennen war.
»Es lässt sich eben nicht vermeiden«, fuhr der Kapitän fort. »Aber wenn Sie da draußen etwas Komisches bemerken, dann spielen Sie bloß nicht den Helden. Sammeln Sie einfach nur alles ein und kommen Sie zurück.«
»Und um den Rest kann sich dann das nächste Schiff kümmern?«
»Sie sollen auf die eigene Sicherheit achten«, sagte McDowell. »Das ist ein Befehl. Verstanden?«
»Verstanden«, bestätigte Holden.
Als der Schiffscom klickte und McDowell dem Rest der Mannschaft die Lage schilderte, stellte Holden sich vor, wie er auf den Decks einen stöhnenden Chor hörte. Er ging zu Rebecca.
»Also«, sagte er, »was wissen wir über das havarierte Schiff?«
»Ein leichter Frachter, auf dem Mars registriert. Eros ist der Heimathafen. Es heißt Scopuli …«