Peter Strutynski: Umkämpfte Drohnen
Ein im Juli 2013 vorgelegter Report der UN-Mission in Afghanistan, UNAMA, hat die bei Luftangriffen der Alliierten ums Leben gekommenen Zivilpersonen in Afghanistan im ersten Halbjahr 2013 zu erfassen versucht und kommt zum Ergebnis, dass 49 Menschen getötet und 41 verletzt worden seien. 15 Tote und sieben Verletzte unter ihnen gingen dabei auf das Konto unbemannter bewaffneter Drohnen (Unmanned Aerial Vehicles/ UAVs). Im Vergleichszeitraum des Vorjahres konnten laut dieser Quelle keine Drohnenopfer nachgewiesen werden.1
Diese Angaben klingen nicht gerade spektakulär – vor allem angesichts der hohen Gesamtzahl von 1319 der im selben Zeitraum getöteten Zivilpersonen. Sie dürften die Realität aber auch nicht zuverlässig abbilden. Die Datenlage über das Kriegsgeschehen in Afghanistan war schon immer höchst unbefriedigend. Über Drohneneinsätze schweigt sich nicht nur die US-Administration, sondern auch das britische Verteidigungsministerium aus. Großbritannien dürfte in Afghanistan den Großteil des Drohnenkrieges übernommen haben – die Rede ist von ca. 300 Angriffen seit 2008 –, die Regierung in London weigert sich aber beharrlich, Auskunft über die Lokalitäten und die Zahl der Opfer zu geben.2 Auch das Regime in Kabul hat wenig Interesse, über Angriffsziele und »Erfolge« der Drohnenattacken seiner Verbündeten zu berichten; möglicherweise werden ihm aber auch die dafür notwendigen Informationen vorenthalten.
Über ungleich bessere Berichte verfügen wir hinsichtlich des Drohnengeschehens im angrenzenden Pakistan. Nach Recherchen des unabhängigen »Bureau of Investigative Journalism« in London hat der US-Geheimdienst CIA seit 2004 mindestens 371 verdeckte Drohnenangriffe durchgeführt und dabei zwischen 2.514 und 3.584 Menschen getötet.3 Da sich die Verhältnisse in den pakistanischen Stammesgebieten Waziristans, wo die meisten Drohnenangriffe stattfinden, wenig von denen in den umkämpften Gebieten Afghanistans unterscheiden, muss auch für Afghanistan eine ähnlich hohe Zahl an Drohnenopfern angenommen werden.
Möglicherweise aber eine noch viel höhere. Ende 2012 berichtete die Internet-Plattform »wired.com«, dass von Januar bis November 2012 nach einer Statistik der Luftwaffe 447 US-Drohnenangriffe in Afghanistan stattgefunden hätten. Afghanistan sei damit das »Epizentrum« des US-Drohnenkriegs, nicht Pakistan (wo 2012 nach derselben Quelle »nur« 48 Drohnenangriffe verbucht wurden), Jemen oder Somalia.4 Von 2009 bis 2012 seien es insgesamt 1.273 Angriffe gewesen – ein Mehrfaches der Großbritannien zugeschriebenen Drohnenattacken. Im Zuge der Truppenreduzierung haben die Angriffe mit bemannten Flugzeugen ab- und die Angriffe mit unbemannten Drohnen zugenommen. 2011 gingen fünf Prozent aller Luftangriffe auf das Konto von Kampfdrohnen, 2012 waren es bereits elf Prozent. Dieser Trend werde sich fortsetzen und nach 2014 – dem offiziellen Ende des Kampfeinsatzes der NATO-Truppen in Afghanistan – werden wohl ferngesteuerte Kampfdrohnen den Hauptanteil übernehmen. »Während die Soldaten abziehen, springen die Roboter in die Bresche.«
Mittlerweile ist es auch kein Geheimnis mehr, dass Kampfdrohnen zunehmend im weltumspannenden »War on Terror« der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten eingesetzt werden. Alle paar Tage kommen Meldungen wie die folgende über die Ticker der Nachrichtenagenturen und finden sogar den Weg in die großen deutschen Zeitungen: »Von einer amerikanischen Drohne abgefeuerte Raketen haben im südlichen Jemen nach Medienberichten vier mutmaßliche Kämpfer des Terrornetzwerks al-Qaida getötet. Die Extremisten seien in der Provinz Abijan unterwegs gewesen, als ihr Fahrzeug von zwei Raketen getroffen wurde, berichteten das Nachrichtenportal Barakish.net und die staatliche Nachrichtenagentur Saba am Sonntag unter Berufung auf die Provinzbehörden.« (Süddeutsche Zeitung, 29.07.2013) Solche Berichte geben Anlass zu kritischen Fragen und Beunruhigung, zu Protest und Widerstand – nicht nur in den betroffenen Ländern, sondern auch in den Metropolen der Krieg führenden Staaten.
Dies bekommt auch US-Präsident Barack Obama zu spüren, der mit seinem Amtsantritt den Drohnenkrieg immens ausgeweitet hat, was ihm sehr schnell den Titel »Drohnenpräsident« einbrachte. Cornel West, ein prominenter afroamerikanischer liberaler Aktivist und Professor für Theologie an der Universität Princeton und am Union Theological Seminary in New York, verglich in einem Interview den amtierenden US-Präsidenten mit seinem Vorgänger und fällte das nicht eben schmeichelhafte Urteil: »Bush war der Haft- und Folter-Präsident. Nun haben wir den Präsidenten des gezielten Tötens, den Drohnenpräsident. Das ist kein Fortschritt.« Er fügte hinzu: »Das ist nicht das Erbe von Martin Luther King.« Dieser große Bürgerrechtskämpfer wäre nicht zu den offiziellen Feierlichkeiten anlässlich des 50. Jahrestages seiner berühmten »I Have a Dream«-Rede am 28. August 2013 eingeladen worden, weil er dort selbstverständlich über Drohnen und die »Kriminalität der Wall Street« gesprochen hätte.5
Über Drohnen spricht Obama wenigstens. Er tut das nicht aus freien Stücken, sondern erst auf Grund der wachsenden Kritik im In- und Ausland an der von ihm zu verantwortenden Politik des »targeted killing«. In einer denkwürdigen Rede vor der »National Defense University Fort McNair« in Washington am 23. Mai 20136 erläuterte der US-Präsident Ziele und Vorgehensweise seiner Administration im Kampf gegen den Terrorismus. So plädiert er u. a. dafür, den seinerzeit von Bush als »endlos« konzipierten Krieg gegen den Terror zu beenden. Nicht sofort, aber in absehbarer Zeit, wenn Al-Kaida besiegt sei. Deren zentrale Schaltstellen in Afghanistan und Pakistan seien bereits entscheidend geschwächt und stellten keine besondere Gefahr mehr für die USA dar. Bedeutsamer seien stattdessen die Aktivitäten, die vom Al-Kaida-Ableger auf der Arabischen Halbinsel7 ausgingen und den Jemen, Irak, Somalia und Nordafrika bedrohten. Hier oder in Libyen, Syrien, Algerien operierten meist lokale Milizen oder Netzwerke – vielleicht in loser Verbindung mit Al-Kaida –, teils aber auch von Staaten unterstützte »Terrororganisationen« wie die Hisbollah im Libanon. Sie bildeten mitunter eine grenzüberschreitende Bedrohung; die meisten von ihnen operierten aber nur in den Ländern oder Regionen, in denen sie ihren Stützpunkt haben. Eine weitere Gefahr stellten »radikalisierte Einzelpersonen« in den USA selbst dar, vor allem dann, wenn sie vom gewalttätigen »Dschihad« inspiriert wären wie z. B. die Attentäter beim Boston-Marathon.
All diesen neuen Bedrohungen, die mit dem Terroranschlag von 9/11 nicht mehr zu vergleichen seien, müsse mit einer umfassenden Strategie begegnet werden. Die dürfe sich weder nur auf militärische noch nur auf juristische Mittel stützen, sondern müsse alle Elemente umfassen, die nötig sind, um eine »Schlacht des Willens und der Ideen zu gewinnen«. In dem Zusammenhang denkt Obama auch laut darüber nach, die Praxis der weltweiten Einsätze von Killerdrohnen zu überprüfen und sie transparenter und rechtlich unangreifbarer zu machen. So lässt er erstens keinen Zweifel daran, dass die Drohnenangriffe »effektiv« seien. Dutzende führender Al-Kaida-Kommandanten, Ausbilder, Bomben-Produzenten und Kämpfer seien erfolgreich dem »Schlachtfeld entzogen« worden. Drohnen hätten auch Anschläge in europäischen Städten oder auf die internationale Luftfahrt vereitelt und somit »Leben gerettet«. Drohnenangriffe seien zweitens »legal«. Nach dem Anschlag von 9/11 habe der US-Kongress den Gebrauch von Gewalt gebilligt. Die USA befänden sich seither nach heimischer Rechtsauffassung und nach internationalem Recht in einem regulären »Krieg gegen Al-Kaida, Taliban und deren Verbündete«. Es handle sich also um einen »gerechten Krieg«, der die Verhältnismäßigkeit der Mittel einhält, als »letztes Mittel« und zur »Selbstverteidigung« geführt werde. Dennoch dürfe dies nicht das Ende der Diskussion sein. Eine militärische Taktik mag legal und effektiv sein, eine andere Frage ist, ob sie auch klug und in jeder Hinsicht moralisch sei. Um die Lücke zwischen Legalität und Moral zu schließen, hat Obama einen Tag vor seiner Rede eine Präsidenten-Richtlinie unterschrieben, in der Einsatzregeln für Kampfdrohnen verbindlich festgelegt sind.8 Darin wird der Gefangennahme von vermeintlichen Terroristen Vorrang eingeräumt, sollte dies nicht möglich sein, kann »tödliche Gewalt« angewendet werden. Und hierfür gelten dann bestimmte »Standards«, die einzuhalten sind, die aber so vage formuliert sind, dass auch künftig munter weiter getötet werden kann.9
Obamas Rede und die von ihm seit Jahren forcierte Drohnen-Kriegführung passen nicht so recht zusammen. Eine für effektiv gehaltene militärische Praxis moralisch zu hinterfragen, sie aber nicht zu stoppen, gehört in dieselbe Kategorie wie die wiederholten Ankündigungen des US-Präsidenten, das völkerrechtswidrige Gefangenenlager auf Guantanamo zu schließen, oder sein Versprechen, die Welt von Atomwaffen zu befreien (»Global Zero«). Doch auch den Friedensnobelpreis 2009 hat Obama nicht für irgendwelche praktischen Schritte auf dem Weg zu mehr Frieden und Abrüstung in der Welt erhalten, sondern für seine wohl klingende Rhetorik.
Mögen manche Reden des 44. US-Präsidenten als Beispiele für beherzte und ethisch begründete Eloquenz in die Geschichtsbücher eingehen, der Lauf der Realgeschichte bleibt davon weitgehend unberührt. Eher hat der auf Drohnen gestützte Antiterror-Krieg der Welt in den vergangenen Jahren seinen Stempel aufgedrückt und zahlreiche Staaten zur Nachahmung veranlasst. Drohnensysteme, d. h. unbemannte Fluggeräte (oder auch »unbemannte Luftfahrzeuge«, englisch: »Unmanned Aerial Vehicle«-UAV) gehören heute zum Arsenal von ca. 80 Staaten.10 Die meisten dieser Drohnen sind mit Sensoren ausgestattet und werden vom Militär zu Aufklärungszwecken verwendet. Nur eine Handvoll Staaten verfügt dagegen über bewaffnete UAVs oder auch »Kampfdrohnen«, von denen in diesem Buch vor allem die Rede sein wird. Diese Drohnen sind teils aus Spionagedrohnen hervorgegangen, indem man sie mit Waffen ausrüstete (z.B. Predator, Reaper), teils werden sie speziell als bewaffnete Drohnen entwickelt (Unmanned Combat Aerial Vehicle-UCAV) und mit speziellen Raketen (z. B. Hellfire) versehen.
Kampfdrohnen werden bislang nur von den USA, Israel und Großbritannien produziert und eingesetzt. In Ländern wie China, Frankreich, Indien, der Türkei, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Südafrika existieren offenbar staatliche Programme zur Entwicklung bewaffneter Drohnen.
Deutschland hat die feste Absicht, Kampfdrohnen für die Bundeswehr zu beschaffen und eventuell später allein oder in einem europäischen Gemeinschaftsprojekt auch herzustellen.11 Dass es darüber im Frühjahr 2013 zu erbitterten innenpolitischen Auseinandersetzungen kam, hatte aber weniger mit den Kampfdrohnen, sondern mehr mit der missglückten Bestellung von Aufklärungsdrohnen vom Typ Euro-Hawk beim US-amerikanischen Rüstungskonzern Northrop Grumman zu tun. Hatte sich doch herausgestellt, dass diese Drohnen für den deutschen Luftraum nicht zugelassen werden können. Über eine halbe Milliarde Euro waren in das Beschaffungsprojekt geflossen, obwohl das Verteidigungsministerium – angeblich aber nicht der Minister persönlich – frühzeitig über die Probleme Bescheid wusste. Das Drohnen-Desaster wuchs sich zu einem handfesten politischen Skandal aus, sodass im Sommer 2013 sogar ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss eingesetzt wurde. Dessen Ausgang dürfte indessen wenig neue Erkenntnisse zu Tage fördern: Wie so oft in der Geschichte militärischer Beschaffungen wurde sinnlos viel Geld auf Kosten der Steuerzahler ausgegeben.
Immerhin hatte die Drohnen-Beschaffungspleite einen Kollateralnutzen: Erstmals in der Bundesrepublik Deutschland wurde nun auch über Kampfdrohnen debattiert. Der Plan der Bundesregierung, »mit Raketen bestückte Drohnen zu beschaffen, hat einen Sturm der Empörung entfesselt, vom ehrbaren katholischen Militärbischof bis zu den üblichen Aufgeregten im Netz«, wie die Süddeutsche Zeitung zu berichten wusste (11.05.2013). Der Artikel aus der Feder von Joachim Käppner brach gleich auch eine Lanze für Kampfdrohnen, die einzig und allein »dem Schutz der Soldaten auf dem Gefechtsfeld« dienen würden. Drohnen-Kritiker wie der schon zitierte Militärbischof oder die »plakativ« formulierenden Ostermarschierer oder eine »außenpolitisch naive« Vertreterin von Pax Christi wollten einfach nicht begreifen, dass Kampfdrohnen Waffen wie alle anderen seien. Und: »Soldaten müssen ihre Waffen notfalls einsetzen, und sie sollten bessere Waffen haben und nicht schlechtere.«
Mit den Argumenten der Ostermarschierer und anderer Drohnen-Gegner setzt sich der SZ-Autor nicht auseinander. Sie sind aber zahlreich und können folgendermaßen zusammengefasst werden:
Erstens: Der Einsatz von Kampfdrohnen dient ausschließlich der »gezielten Tötung« von Menschen innerhalb und außerhalb von Kriegen. Die USA (in Pakistan und Jemen), Großbritannien (in Afghanistan) oder Israel (im Gazastreifen) wenden diese Waffen bereits gegen »mutmaßliche Terroristen« an – mit einer verheerenden Bilanz, was insbesondere die dabei getöteten Zivilpersonen betrifft. Dies haben Untersuchungen über die Drohneneinsätze in Pakistan und zuletzt ein UN-Bericht über den israelischen Militäreinsatz in Gaza hinreichend belegt. Eine im Sommer 2013 vorgelegte Studie eines US-Militärberaters hat sogar herausgefunden, dass bei Drohnenangriffen in Afghanistan zehn Mal mehr Zivilisten getötet wurden als bei »konventionellen« Luftangriffen. Larry Lewis, der die Studie für das Center for Naval Analyses, einem dem US-Militär nahestehenden Institut, durchführte, untersuchte Luftangriffe in Afghanistan von Mitte 2010 bis Mitte 2011 und konnte sich dabei auf geheime Daten der Streitkräfte stützen. Die Studie selbst ist unter Verschluss, ihr Autor gab aber der britischen Zeitung The Guardian (02.07.2013) bereitwillig Auskunft über wichtige Ergebnisse, auch wenn er keine konkreten Daten preisgab. Gründlich widerlegt wurde die immer wiederkehrende Behauptung – die auch Obama in seiner oben zitierten Rede vertrat –, Drohnenangriffe seien präziser als Angriffe von bemannten Kampfflugzeugen. Das genaue Gegenteil sei der Fall. Dies habe damit zu tun, dass Piloten genauere Anweisungen bekämen, wie Zivilpersonen zu schützen seien.
Zweitens: Die ferngesteuerte Tötung »Verdächtiger« ist nichts anderes als eine Aushebelung der Gewaltenteilung und eine Aufweichung rechtsstaatlicher Grundsätze und Verfahren: Politiker, die solche Einsätze anordnen, sind Ankläger, Ermittler, Richter und Henker in einer Person! Sie bestimmen, wer als Terrorist zu gelten hat und interpretieren dessen Verfolgung und gegebenenfalls physische Beseitigung als Teil eines von der UN-Charta gedeckten Verteidigungskrieges. Vollends absurd wird die Situation dann, wenn Drohnenangriffe unter der Regie der Geheimdienste stattfinden, wie das zum Teil beim US-Drohnenkrieg der Fall ist.
Drittens: Der Einsatz von Kampfdrohnen senkt die Schwelle für künftige Kriege. Der Kampfeinsatz erfolgt aus einer sicheren Distanz (z. B. in einem US-Hauptquartier in der Wüste Nevada), die unbemannte Drohne tötet in einer Entfernung von 6000 oder 8000 Kilometern vom »Piloten«. Die Angreifer tun dies ohne jedes persönliche Risiko – es genügt ein Knopfdruck bzw. ein Mausklick am Computer. Sie könnten auch von deutschem Boden, oder, sollte Österreich dem Drohnenwahn ebenfalls verfallen12, von österreichischem Boden aus gelenkt werden. Wenn die Theorie von den asymmetrischen Kriegen zutreffend ist, dann hier.
Viertens: In Regionen zu leben, in denen die selbsternannten Anti-Terror-Krieger »Terroristen« vermuten, bedeutet für die dort lebenden Menschen eine unerträgliche psychische Belastung. Die permanente Bedrohung durch ferngesteuerte Kampfdrohnen verängstigt und terrorisiert die Bevölkerung, insbesondere Kinder. Dies hat eine Studie von Wissenschaftlern der Stanford University und der New York University belegt.13 Sie hatten im Auftrag der britischen Menschenrechtsorganisation Reprieve die Auswirkungen von Luftschlägen gegen Aufständische im Nordwesten Pakistans untersucht. Konkreter Anlass war der Tod von 50 Einwohnern einer Ortschaft bei einer einzigen Drohnen-Attacke im März 2011. Reprieve-Direktor Clive Stafford Smith schilderte die Situation in der betroffenen Region: »Der Alltag bricht zusammen: Kinder sind zu verängstigt, um zur Schule zu gehen, Erwachsene meiden aus Angst Hochzeiten, Beerdigungen, Geschäftstreffen und alle Gelegenheiten, bei denen sich Menschen in Gruppen zusammenfinden. Noch immer ist kein Ende in Sicht, nirgends können sich die gewöhnlichen Männer, Frauen und Kinder in Nordwest-Pakistan sicher fühlen.«14 Besonders verheerend sei die Praxis der doppelten Angriffe. Dabei werden auch die Helfer getötet, die den Verletzten nach einem ersten Drohnenangriff zu Hilfe eilen. (Der Tagesspiegel, 25.09.2012) Wegen des weltumspannenden »Krieges gegen den Terror« gibt es grundsätzlich keinen Landstrich auf dieser Erde, der nicht in das Visier der »Anti-Terror-Krieger« geraten könnte.
Fünftens: Kampfdrohnen entziehen sich bislang bestehenden Rüstungskontroll- oder Abrüstungsvereinbarungen.15 Die Ausrüstung der Streitkräfte mit Kampfdrohnen bedeutet zugleich eine neuerliche Anheizung des Rüstungswettlaufs. Die Hersteller verfügen zudem über eine gut aufgestellte Lobby mit Verbindungen in höchste Regierungskreise; dies ist zumindest für die Vereinigten Staaten gut belegt.16 Und die Rüstungsspirale wird sich drehen. Denn erstens wollen immer mehr Staaten in den Besitz dieser Killerwaffen kommen, und zweitens wird selbstverständlich an technischen Gegenmaßnahmen (Abwehrsysteme, Raketen, neue Ortungsverfahren usw.) gearbeitet. Und schon wird im Blätterwald an der Schreckensvision gearbeitet, Kampfdrohnen könnten ja auch in die Hände von »Terroristen« geraten. In einer breit gefächerten Drohnen-Analyse17 zählt Gerhard Piper eine Reihe von terroristischen Aktionen oder versuchten Anschlägen mittels Fernlenkungsmechanismen auf. Von einer gewissen Relevanz scheinen sie allerdings nur zu sein, wenn sie von Milizen wie der des Terrorismus beschuldigten Hisbollah (Libanon) eingesetzt werden. Aber auch sie dienten offenbar hauptsächlich der Aufklärung. Drohnen mit tödlichen Waffen zu bestücken, ist eine aufwändige technische und finanzielle Operation. Ganz unabhängig davon bleibt aber richtig: Solche Waffen gehören in niemandes Hand!
Sechstens: Nicht von der Hand zu weisen ist schließlich die Gefahr der weiteren Automatisierung des Krieges. Schon heute sind Wissenschaftler im Regierungsauftrag damit beschäftigt, vollautomatische Robotersysteme zu entwickeln, die autonom, d. h. letztlich unabhängig von menschlichen Entscheidungen, ihre Zielsuche und das Abfeuern ihrer tödlichen Fracht erledigen. Anders als Menschen sind Killer-Roboter nicht leidensfähig und schrecken somit vor nichts zurück. Eine derart entfesselte Kriegsmaschinerie führt zu noch schrecklicheren Kriegen; denn die Opfer bleiben Menschen.18
Je mehr der vor zwölf Jahren von US-Präsident George W. Bush ausgerufene »War on Terror« zum weltumspannenden Drohnenkrieg mutiert und damit selbst Angst und Schrecken verbreitet, desto mehr regt sich Zorn und Widerstand dagegen. Zorn bei den Menschen, die in den von Drohnenangriffen heimgesuchten Ländern leben, und politischer Widerstand in den Ländern, die für diesen Krieg verantwortlich sind. Mittlerweile gibt es eine – auch international vernetzte – Anti-Drohnen-Bewegung in den USA und in vielen europäischen Ländern.19 Dabei ist es längst nicht mehr nur die Friedensbewegung, die gegen Drohnen mobil macht; vielfach werden Anti-Drohnen-Kampagnen auch von Menschenrechtsorganisationen unterstützt. In den USA beispielsweise spielen Amnesty International, Human Rights Watch oder die American Civil Liberties Union eine prominente Rolle. In Deutschland reicht die erst im März 2013 gegründete Kampagne mittlerweile in Kreise der Gewerkschaften und der Oppositionsparteien hinein. Neben der Partei Die Linke hat einen entsprechenden Appell auch der Bundesvorstand von Bündnis 90/Die Grünen unterschrieben. Die Forderungen der Anti-Drohnen-Kampagnen, deren jüngste nun auch in Österreich initiiert wurde, richten sich vor allem gegen Herstellung, Weitergabe und Gebrauch von Kampfdrohnen, gegen die Weiterentwicklung der Drohnentechnik hin zur vollautomatischen Kriegführung (Roboterisierung) sowie gegen die militärische, geheimdienstliche und polizeiliche Verwendung20 der Drohnen zur massenhaften Ausspähung der eigenen oder fremder Bevölkerungen. Unterstützung erfährt die Anti-Drohnen-Bewegung schließlich auch von Seiten der Friedensforschung. Im Friedensgutachten 2013 der großen deutschen Friedensforschungsinstitute wird in einem eigenen Beitrag auf die »Gefahren der Beschaffung bewaffneter Drohnen« hingewiesen und vorgeschlagen, deren »Entwicklung zum aktuellen Zeitpunkt zu stoppen und bewaffnete Drohnen international zu ächten, bevor das Streben nach bewaffneten Drohnen seine volle Dynamik entfalten kann«.21 Falls diese optimale Lösung nicht möglich ist, wird als »second best« eine Reihe von Konditionen für den Einsatz von Kampfdrohnen formuliert. So seien völkerrechtlich umstrittene Einsätze »kategorisch« auszuschließen und sicherzustellen, »dass bewaffnete Drohnen keine verwundbaren zivilen Komponenten enthalten und für alle verbauten Komponenten höchste Sicherheitsmaßstäbe gegen informationstechnologische Fremdeinwirkung angelegt werden«.22
Dieser Protestbewegung, die noch in den Anfängen steckt, werden von interessierter Seite jegliche Erfolgsaussichten abgesprochen. Denn einmal, so wird gern argumentiert, ließe sich der Fortschritt in der Waffen- und Kriegführungstechnologie schon aus Konkurrenz- und Überlebensgründen nicht verhindern. Zum zweiten seien Drohnen in ihrer unbewaffneten und bewaffneten Form ganz »normale« Waffen, die ethisch nicht anders zu bewerten seien als jede andere tödliche Waffe. Drittens seien Drohnen »bemannten Flugzeugen überlegen, weil sie lange fliegen können, weniger personellen und logistischen Aufwand verlangen und dazu noch zielgenauer sind«, wie der frühere hochdekorierte Bundeswehr- und NATO-General Klaus Naumann in einem Namensartikel in der Süddeutschen Zeitung (28.06.2013) notierte. Ein letztes Argument lautet, die Drohnen könnten gar nicht mehr verhindert werden, weil sie bereits in der Welt sind. Als hätten nicht die internationalen Kampagnen gegen die Anti-Personenminen oder der Kampf gegen Streubomben gezeigt, dass bereits vorhandene und eingesetzte Waffenkategorien durch völkerrechtliche Vereinbarungen geächtet werden können!
Über einen anderen Weg gegen Drohnen jeglicher Art vorzugehen, berichtete unlängst die österreichische Kronen Zeitung (online, 19.07.2013). Die 550-Seelen-Gemeinde Deer Trail im US-Bundesstaat Colorado will im August 2013 einen Antrag verabschieden, wonach Männer mit Jagdlizenz und Schrotflinte Jagd auf unbemannte Flugobjekte machen dürfen. Potenzielle Drohnenjäger müssten mindestens 21 Jahre alt sein und lediglich 25 Dollar für eine entsprechende Lizenz auf den Tisch legen. Im Gespräch ist auch die Auslobung einer Abschussquote: 100 Dollar sollen dem Schützen versprochen werden, der den Abschuss einer Drohne nachweisen kann.
Ob diese Strategie im Anti-Drohnen-Kampf erfolgversprechend sein kann, bleibt dahingestellt. Der Friedensbewegung ist dieser Weg wohl verschlossen, weil sie bekanntlich unbewaffnet agiert. Sie wird den mühsamen Weg der Aufklärung und des politischen Kampfes gehen müssen, um die Drohnen weltweit vom Himmel zu holen. Möge das vorliegende Buch einen Beitrag dazu leisten.
Peter Strutynski,
Kassel, im August 2013
1. Siehe UNAMA: Afghanistan Mid-Year Report on Protection of Civilians in Armed Conflict 2013, S. 40f
2. Siehe hierzu den Beitrag von Chris Cole in diesem Band.
3. The Bureau of Investigative Journalism. Im Internet: http://www.thebureauinvestigates.com (zuletzt abgefragt am 2.08.2013). Weitere Daten und Informationen bereitet Knut Mellenthin in diesem Band auf.
4. 2012 was the Year of the Drone in Afghanistan. By Spencer Ackerman, in: WIRED, 12.06.12 (06.12.2012); http://www.wired.com/dangerroom/2012/12/2012-drones-afghanistan/ (abgerufen am 01.08.2013)
5. Cornel West im Interview mit Amy Goodman in »Democracy Now!«, 22.07.2013; http://www.democracynow.org/2013/7/22/cornel_west_obamas_response_to_trayvon
6. Remarks by the President at the National Defense University, Fort McNair, Washington, D.C. – May 23, 2013. Im Internet: http://www.ag-friedensforschung.de/regionen/USA/obama-terror.html
7. Obama nennt sie AQAP: Al Qaeda’s affiliates in the Arabian Peninsula.
8. U.S. Policy Standards and Procedures for the Use of Force in Counterterrorism Operations Outside the United States and Areas of Active Hostilities. In: www.whitehouse.gov/sites/default/files/uploads/2013.05.23_fact_sheet_on_ppg.pdf
9. Siehe hierzu den Beitrag von Norman Paech in diesem Buch.
10. Siehe hierzu und zum Folgenden: Christian Alwardt, Michael Brzoska, Hans-Georg Ehrhart, Martin Kahl, Götz Neuneck, Johann Schmid, Patricia Schneider, Braucht Deutschland Kampfdrohnen? In: Hamburger Informationen zur Friedensforschung und Sicherheitspolitik, 50/2013, Hamburg, Juli 2013, S. 3f.
11. Lühr Henken argumentiert in seinem Beitrag in diesem Buch, dass die Kampfdrohnen ein wesentliches Moment der »Neuausrichtung der Bundeswehr«, d. h. ihrer Transformation in eine Interventionsarmee darstellt.
12. Über den Stand der Überlegungen, auch in Österreich Drohnen einzuführen, informiert der Beitrag von Franz Sölkner in diesem Band.
13. Stanford International Human Rights and Conflict Resolution Clinic and Global Justice Clinic at NYU School of Law: Living Under Drones: Death, Injury and Trauma to Civilians from US Drone Practices in Pakistan, 2012; http://www.livingunderdrones.org/report/
14. Zit. nach: US-Studie: Drohnen-Angriffe terrorisieren Bevölkerung, in: Hintergrund, 26.09.2012
15. Dies ist u.a. Thema von Jürgen Altmann im vorliegenden Band. Siehe auch Wolfgang Richter, Rüstungskontrolle für Kampfdrohnen. In: SWP-Aktuell, 29. Mai 2013 [Die SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik ist der Think Tank des deutschen Außenministeriums.]
16. Siehe den Beitrag von Tom Barry in diesem Band.
17. Gerhard Piper: Kampfdrohnen in der Hand von Militärs, Agenten, Terroristen und Familienvätern, in: TELEPOLIS, 27.07.2013; http://www.heise.de/tp/artikel/39/39579/1.html
18. Vgl. hierzu die Beiträge von Hans-Arthur Marsiske, Noel Sharkey und Nick Turse in diesem Band.
19. Siehe hierzu den Beitrag von Elsa Rassbach in diesem Band.
20. Siehe hierzu den Beitrag von Matthias Monroy und Andrej Hunko in diesem Band.
21. Niklas Schörning: »Aber wehe, wehe, wehe! Wenn ich auf das Ende sehe!« Gefahren der Beschaffung bewaffneter Drohnen. In: Friedensgutachten 2013, hrsg. Von Marc von Boemcken, Ines-Jacqueline Werkner, Margret Johannsen, Bruno Schoch. Berlin, Münster 2013, S. 46-57, hier S. 55.
22. Ebd. Viele Drohnensysteme greifen aus Kostengründen auf kommerzielle elektronische Komponenten zurück. Die Verwendung solcher »zivilen« Software bietet Angriffsflächen für Hacker oder Einfallstore für fremdbestimmte Manipulationen. (Ebd. S. 54.)