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Eigenanzeige



Dieses Buch wäre nicht möglich gewesen ohne die Mithilfe einiger Menschen, denen ich an dieser Stelle herzlich danken möchte.

 

Mein Dank geht an Carsten Polzin und insbesondere an Friedel Wahren vom Piper Verlag für das entgegengebrachte Vertrauen; an Peter Thannisch für die großartige Zusammenarbeit beim Lektorat; an Daniel Ernle für das wunderbare Artwork der Landkarte.

 

Und schließlich natürlich an meine Familie, die mich auf diesem abenteuerlichen Ausflug nach Erdwelt begleitet und mich nach Kräften unterstützt hat.

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BUCH 1

imageKASLAR UR’SHAKARA

(DIE KARTE VON SHAKARA)

imagePROLOG

Die Welt hatte viele Namen.

Die Elfen hatten sie amber getauft, vor vielen Zeitaltern, als das Land noch jung und unberührt gewesen war und nicht getränkt vom Blut der Schlachten.

Die Zwerge nannten sie durumin, nach dem Riesen, der einst die Schätze der Welt bewacht hatte, ehe die Drachen in ihrem Neid sie in die Tiefen der Erde schleuderten und dort begruben.

Die Menschen, noch jung und arm sowohl an Mythen als auch an Vergangenheit, hatten ihr den Namen Erdwelt gegeben, wie es ihrer schlichten Art entsprach.

Die Orks schließlich nannten sie sochgal.

Von den Wildlanden im Westen bis zu den Reichen der Menschen, die sich im Osten jenseits des Scharfgebirges erhoben, erstreckte sich diese Welt, vom Eisland im Norden bis zur See, die fern im Süden gegen die Küste brandete und jenseits derer die Elfen die Fernen Gestade wussten.

Dies war die Welt, die sie sich teilten – und dies längst nicht immer friedlich. Nur in jenen goldenen Tagen, in denen die Elfen allein über Erdwelt geboten, herrschte Friede; dann jedoch verfinsterte sich das Licht der Zeit, und die Wolken eines düsteren Schicksals zogen sich über Erdwelt zusammen. Von den Elfen unbemerkt, war schändlicher Verrat verübt worden; die Orks traten auf, und mit ihnen kehrten Zwietracht und Krieg in Erdwelt ein.

Durch den Größenwahn und die Geltungssucht eines abtrünnigen Elfen kam es zum Ersten Krieg der Völker, den die Elfen nach langen Jahren verlustreicher Kämpfe für sich entschieden. Dies war die Zeit, in der die stolzen Festen Tirgas Dun und Tirgas Lan errichtet wurden, die sich als Wächter des neuen Friedens über die Wälder und Ebenen erhoben. Aber auch dieser Friede währte nicht ewig.

Neue Völker traten auf: Zwerge und Gnomen kamen aus den Tiefen, und mit den Menschen gesellte sich eine weitere Art hinzu, wie Erdwelt sie zuvor nicht gekannt hatte. Denn obwohl sie das Gute wollten, waren die Menschen in ihrem jugendlichen Ungestüm und ihrer Unbekümmertheit leicht zu verführen. Und so kam es, dass sich der Geist des Dunklen Elfen ihrer bemächtigte. Zusammen mit den Orks, mit denen sie sich verbrüdert hatten, fielen sie in die Zwergenlande und das Elfenreich ein, und erneut kam es zum Krieg.

Nur der Weisheit und Tapferkeit der Elfen war es zu verdanken, dass der Kampf nicht entschieden wurde zugunsten der Mächte des Chaos. Indem sie alles aufboten und alles wagten, gelang es Elfen und Zwergen, in einem entscheidenden Vorstoß das Heer der Orks und der Menschen auseinander zu treiben; die Orks wurden in das namenlose Land jenseits des Schwarzgebirges vertrieben, die Menschen in das östliche Hügelland, das sie seither bevölkerten.

Während die Orks uneinsichtig waren und keine Reue zeigten, änderten die Menschen ihren Sinn, und unter der Obhut der Elfenkönige wuchsen sie heran. Die Menschenreiche im Osten entstanden, und mit jeder Generation nahmen sie an Macht und Einfluss zu, während die Zeit der Elfen, die in zwei blutigen Kriegen um das Schicksal der Welt gefochten hatten, zu Ende ging. Sie begannen, sich nach den Fernen Gestaden zu sehnen, von denen sie einst nach Erdwelt kamen und wo immerwährendes Glück und Freude herrschten.

Aber je mehr sich die Elfen von der Welt entfernten, desto deutlicher wurde, dass die Menschen ihre Lektion nicht gelernt hatten. Noch immer herrschten unter ihnen Neid und Habgier, und statt das Erbe der Elfen anzutreten, gefielen sie sich darin, gegeneinander Kriege um die Macht zu führen. Die Völker des Chaos aber – Orks, Gnomen und Trolle – wussten dies für sich zu nutzen und verließen ihr Exil jenseits der Berge, um in blutigen Feldzügen die Lande zu durchstreifen.

Orks kämpften gegen Gnomen, Gnomen gegen Menschen, Menschen gegen Orks: Es war ein sinnloses Gemetzel jeder gegen jeden, und die Elfen, die dem blutigen Treiben als Einzige hätten Einhalt gebieten können, scherten sich nicht darum. Erdwelt drohte im Chaos zu versinken, und es war nur eine Frage der Zeit, bis der Schatten des Dunklen Elfen erneut erwachen würde, um die Macht an sich zu reißen.

Aber diesmal war sein Plan ein anderer …

1.

imageIOMASH NAMHAL …

»Sie kommen.«

»Wie viele sind es?«

Der Späher, den Girgas ausgesandt hatte, machte ein einfältiges Gesicht. Er legte die dunkle Stirn in Falten, rollte mit den gelben Augen und schien angestrengt zu überlegen. Dass er zu keinem Ergebnis kam, lag an dem Fausthieb, den Girgas ihm versetzte und der seine krumme Nase in einen formlosen blutigen Klumpen verwandelte.

»Dummkopf!«, wetterte Girgas. »Kannst du nicht zählen?«

»Nein«, näselte es zurück.

»Bei Torgas Eingeweiden! Warum nur hat man mich zum Anführer einer so dämlichen Meute gemacht? Kannst du mir verraten, du Made, wie ich die Taktik unseres Feindes herausfinden soll, wenn ich noch nicht einmal seine Stärke kenne?«

Der Späher zog es vor, darauf nicht zu antworten; Girgas war berüchtigt für seine Wutausbrüche und hatte Untergebene schon aus weit geringeren Gründen einen Kopf kürzer gemacht. Den letzten Rest an Würde bewahrend, zog sich der Ork zurück, und die wutblitzenden Augen seines Anführers blickten sich nach einem neuen Späher um.

»Verdammt noch mal, ist hier keiner, der zählen kann? Hat Graishak mich mit einer Meute hirnloser umbal’hai in den Kampf geschickt?«

»Ich kann zählen!«, tönte es – nicht ohne einen gewissen Stolz – aus der letzten Reihe.

Die Krieger, die sich um ihren Anführer geschart hatten, machten daraufhin staunend Platz, bildeten eine Gasse und gaben den Blick frei auf einen Ork, den Girgas noch nie zuvor gesehen hatte. Das heißt, gesehen vielleicht schon, aber nurbeiläufig, und wirklich wahrgenommen hatte er ihn nicht, denn der Meuteführer kümmerte sich wie alle Orks in erster Linie um seine eigenen Belange.

Der Kerl war auffallend blass um die schiefe Nase und für einen Ork ungewöhnlich groß und hager. Spärliches Haar hing in fettigen Strähnen unter seinem Helm hervor, und der Blick seiner großen Augen, mit denen er Girgas erwartungsvoll anstarrte, hatte etwas Einfältiges. Bekleidet war er mit einem rostigen Kettenhemd, das viel zu weit für ihn war und um seine dünnen Beine schlotterte, und sein saparak sah aus, als hätte er eine Weile auf dem Grund der Modersee gelegen.

»Du?«, fragte Girgas nicht wenig erstaunt. »Wie heißt du?«

»Balbok ist mein Name«, lautete die Antwort, und sie löste Gelächter unter den Kriegern aus; Orks pflegen nach ihren Eigenschaften benannt zu werden, und dieser Name besagte, dass sein Träger nicht der Allerschlauste war.

»Und du kannst zählen, Balbok?«

Der Hagere wollte antworten, als ihm sein Nebenmann einen so harten Rippenstoß versetzte, dass Balbok fast zu Boden ging.

»Hör nicht auf ihn, Girgas«, sagte der Ork, der Balbok in die Rippen gestoßen hatte und das genaue Gegenteil des Hageren war: klein und kräftig und beinahe so breit wie hoch, mit einem runden Kopf, der direkt auf seinem fetten Körper saß. Die Ringe seines Kettenhemds schienen sich über seinem enormen Wanst zu dehnen, während seine Beine so kurz und krumm waren wie die eines Schweins. »Glaub mir, er redet nichts als Unsinn.«

»So?«, fragte Girgas herausfordernd. »Und woher weißt du das, wenn ich fragen darf?«

»Weil er mein Bruder ist«, erklärte der Kurze schlicht und verbeugte sich beflissen, was bei seiner Statur ziemlich drollig wirkte. »Mein Name ist Rammar.«

»Warum nur will sich mir heute jeder vorstellen?«, murrte Girgas. »Es ist mir gleich, wie ihr heißt, wenn ihr ordentlich kämpft und das Maul haltet! Habt ihr verstanden?«

»Gewiss, großer Girgas.«

»Was ist nun? Kann der Lange zählen oder nicht?«

»Nein«, behauptete Rammar, während sein Bruder gleichzeitig ein deutliches »Ja« vernehmen ließ.

»Was soll der Blödsinn?«, brüllte Girgas aufgebracht. »Wollt ihr mich verscheißern?«

»Ich kann zählen!«, behauptete Balbok.

»Nein, kannst du nicht!«, hielt sein Bruder dagegen.

»Kann ich wohl!«

»Kannst du nicht!«

»Und ob!«

»Nein, verdammt noch mal!« Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, griff Rammar zum Speer, aber Balbok ließ sich davon nicht einschüchtern.

»Unsere Meute besteht aus achtundzwanzig Orks«, rechnete er vor, »einschließlich Anführer Girgas. Das macht zweiundfünfzig Füße und achtundvierzig Augen, berücksichtigt man die Amputierten und die Einäugigen.«

Darauf wusste selbst sein Bruder nichts mehr zu erwidern, und auch die übrigen Orks waren mehr als beeindruckt. Zählen war an sich schon eine Kunst – aber auch noch rechnen zu können war eine Fähigkeit, die den Alten und Weisen vorbehalten war (und die wenigsten Orks erreichten ein solch gesegnetes Alter).

Girgas zeigte sich versöhnlich. »Schön, du hast mich überzeugt. Du wirst gehen und die Stärke der Gnomen auskundschaften. Und du, Rammar, wirst ihn begleiten!«

»Ich – ich soll ihn begleiten?« Rammar schnappte nach Luft. »A-aber großer Girgas …«

»Kriok!« Mit diesem einen Wort erklärte der Anführer die Diskussion für beendet – jedem, der noch widersprach, musste klar sein, dass er damit seine Gliedmaßen riskierte.

Leise vor sich hinmaulend wandte sich Rammar ab, und unter den schadenfrohen Blicken ihrer Kameraden traten die beiden Brüder ihre Mission an.

 

Im Laufschritt brachten sie die Lichtung hinter sich, auf der sich die Orks versammelt hatten, und schlugen sich in die Büsehe. Bewaffnet waren sie jeder mit einem saparak, einem mit Widerhaken versehenen Speer, den die Orks am liebsten benutzen und der sich auch im Nahkampf einsetzen lässt. Balbok hatte außerdem Pfeil und Bogen dabei und eine handliche Kriegsaxt in seinem Gürtel stecken. Sie nahmen den Weg, den auch der andere Kundschafter genommen hatte und der zu beiden Seiten von dichtem Farn und schroffem Fels gesäumt war.

»Du dämlicher Sohn einer noch dämlicheren Mutter!«, wetterte Rammar, ungeachtet der Tatsache, dass er damit auch die eigene Mutter beleidigte. »Begreifst du nicht, was du mir eingebrockt hast? Jetzt haben wir beide diesen gefährlichen Auftrag am Hals!«

»Und?«, fragte Balbok lakonisch.

»Und? Ich habe keine Lust, deinetwegen von wütenden Gnomen in Stücke gehackt zu werden. Ich habe versucht, dich vor deiner eigenen Dummheit zu schützen, aber du musstest ja so tun, als wärst du der weise Anartum persönlich. Und nun sieh, was du damit erreicht hast – du reitest nicht nur dich selbst, sondern auch mich ins Verderben!«

»Wir reiten nicht, wir laufen! Und ich habe dich nicht gebeten, mich zu begleiten.«

»Als ob das nötig gewesen wäre, so wie du mich angeschaut hast! Du hast mich um Hilfe angefleht mit diesem Blick. Wenn ich nur wüsste, womit ich das verdient habe. Mein ganzes Leben lang geht das schon so. Und das nur, weil ich der Ältere von uns beiden bin und der Wille Kuruls mich vor dir nach sochgal gespien hat! Ich sollte dich aufschlitzen und deine Gedärme an die Sumpfkobolde verfüttern, damit du endlich lernst, wie …«

Er verstummte mitten im Satz, als plötzlich der dumpfe Schlag von Trommeln zu hören war, und er blieb so abrupt stehen, dass Balbok gegen seinen Rücken prallte und er noch zwei, drei Schritte vorwärts stolperte.

»Hörst du das?«, flüsterte Rammar und spitzte die ohnehin schon spitzen Ohren.

»Ja«, kam es einfältig zurück. »Das sind die Gnomen.«

»Blödmann!« Wieder ein harter Rippenstoß. »Ich weiß auch, dass das die Gnomen sind. Aber aus welcher Richtung kommt das Getrommel? Man kann es unmöglich feststellen …«

»Von da drüben«, behauptete Balbok kurzerhand und deutete in die entsprechende Richtung.

»Woher willst du das wissen?«

»Ich kann sie riechen«, erklärte der Hagere und wies auf seine lange Nase.

»Was soll das heißen, du kannst sie riechen? Niemand kann Gnomen auf solch eine Entfernung riechen!«

»Ich schon.«

»Und du sagst, sie sind dort drüben?«

Balbok nickte.

»Also schön«, knurrte Rammar widerwillig, »gehen wir also nachsehen. Aber wehe, wenn du mir einen Troll aufgebunden hast, dann wird meine Faust dafür sorgen, dass du nie wieder etwas riechst.«

Balbok wollte vorausgehen, aber sein Bruder hielt ihn zurück und übernahm selbst die Führung. Mit angespannten Sinnen schlichen sie durch das Dickicht, und mit jedem Schritt, den sie in die von Balbok gewiesene Richtung taten, wurde klarer, dass Balboks Nase ihn nicht getrogen hatte. Das Getrommel wurden lauter, und schließlich konnte auch Rammar die stinkende Gegenwart der Gnomen erschnuppern.

In Anbetracht der Nähe des Feindes unterließ er es, seinen Bruder mit weiteren Beschimpfungen zu malträtieren. Je näher sie dem Lager der Gnomen kamen, desto vorsichtiger bewegten sie sich. Balbok, dessen schlanke Gestalt zwischen den Farnen und Felsen hindurchglitt, gelang dies ungleich besser als seinem Bruder, der hier und dort hängen blieb und bisweilen eine halblaute Verwünschung vernehmen ließ. Dann aber lichtete sich vor ihnen das Dickicht.

Die Orkbrüder ließen sich auf alle viere nieder und pirschten weiter vorwärts bis an den äußersten Rand des Waldes, wo sich der Farn in hohem Gras verlor, das über eine steile Böschung abfiel. Vor ihnen öffnete sich ein Tal, das rings von dunklen Hängen und grauem Fels umgeben war. Im Osten, wo die Sonne ihre ersten Strahlen über den rauen Kamm des Westgebirges schickte, toste ein Wasserfall in einen See, um den sich die Gnomen versammelt hatten – kleinwüchsige Gestalten in schwarzen Rüstungen und mit grüner Haut. Und zumindest das ließ sich feststellen, auch wenn man nicht zählen konnte: Es waren viele!

Sehr viele …

Während Rammar leise Verwünschungen murmelte und sich fragte, ob achtundzwanzig Orks genügten, um mit einer Übermacht wie dieser fertig zu werden, hatte Balbok bereits zu zählen begonnen, was kein leichtes Unterfangen war, denn die Gnomen, die sich dort unten in der Talsohle versammelt hatten, rannten und wimmelten wild durcheinander, sodass der Ork nie sicher war, ob er diesen und jenen schon mitgezählt hatte oder nicht. Immer wieder musste er von vorn beginnen, während sein Bruder besorgt beobachtete, wie sich die Gnomen zum Abmarsch rüsteten.

»Bist du bald fertig?«, zischte Rammar. »Die sind bis an die Zähne bewaffnet, und sie sehen nicht aus, als wären sie gekommen, um einen Waldspaziergang zu unternehmen.«

» … zweiundvierzig, dreiundvierzig … fünfundvierzig … «, kam es flüsternd zurück.

»Sie haben Bogenschützen dabei und mehrere Warge. Wenn diese Viecher uns wittern, sind wir verloren. Also beeil dich gefälligst!«

» … siebenundsechzig, achtundsechzig, neunundsechzig …«

»Ich frage mich, was die grünen Kerle so weit im Süden wollen. Jeder weiß, dass die Modermark den Orks gehört. Aber wahrscheinlich sind ihre verlausten kleinen Gehirne einfach nicht groß genug, um das zu begreifen.«

» …fünfundachtzig, sechsundachtzig, siebenund …« Balbok brach plötzlich ab.

»Was ist?«, wollte sein Bruder wissen.

»Nichts. Bin fast fertig.«

»Worauf warten wir dann noch, Sohn eines elenden Madenfressers? Machen wir, dass wir von hier verschwinden!«

»Das geht nicht.«

»So?« Rammar konnte sich nur mühsam beherrschen. »Und warum nicht?«

»Weil ich die dort im Gras nicht sehen kann«, erklärte Balbok schlicht. »Und wenn ich sie nicht sehen kann, kann ich sie auch nicht zählen.«

»Was redest du für dummes Zeug? Von welchen Gnomen sprichst du?«

»Von denen da«, antwortete Balbok und deutete zur linken Seite des Hangs.

Auf den ersten Blick konnte Rammar dort nichts entdecken, und er wollte seinen Bruder schon zurechtweisen. Dann aber fiel ihm auf, dass sich das hohe Gras an einigen Stellen verdächtig bewegte, so als ob jemand auf allen vieren hindurchkroch.

»Bei Kuruls Flamme!«, entfuhr es ihm. »Gnomenkrieger! Sie pirschen sich an uns heran! Sie haben uns entdeckt!«

Wie um seine Worte zu bestätigen, war plötzlich ein hässliches Sirren zu hören – und unmittelbar vor Rammar, nur wenige Handbreit von seinem klobigen Schädel entfernt, bohrte sich ein Pfeil in den weichen Boden.

»Bei Torgas Eingeweiden …!«

Noch ehe einer der beiden Orks reagieren konnte, tauchten aus dem hohen Gras plötzlich vier hassverzerrte grüne Fratzen auf. Ihre Säbel und Bogen in den Fäusten, stürmten die Gnomen den Rest des Hangs herauf. Ihr wirres schwarzes Haar umwehte dabei ihre Häupter, ihre Augen blitzten vor Zorn und Kampfeswut, und ihre Münder waren weit aufgerissen, um wilde Kriegsrufe auszustoßen.

»Da siehst du, was du angerichtet hast!«, beschuldige Rammar seinen Bruder. Dann war schon der erste Gnom heran, und der Ork hieß ihn mit dem saparak willkommen.

Der Angreifer lief geradewegs in sein Verderben. Der Speer drang in seine Brust, durchbohrte seinen Leib, und die blutige Spitze mit den scheußlichen Widerhaken trat im Rücken wieder aus.

Der fluchende Rammar hatte seine liebe Mühe, den zappelnden Gnom von der Waffe zu schütteln, während sein Bruder kurzerhand nach dem Bogen griff und zwei der Angreifer mit Pfeilen niederstreckte. Dass Balbok so geschickt war im Umgang mit Pfeil und Bogen hatte Rammar immer mit Neid erfüllt und klammheimlich geärgert – nun jedoch war er froh darüber.

Der Letzte der Gnomen, die sich angeschlichen hatten, stürmte mit heiserem Geschrei heran, aber kaum hatte er die Orks erreicht, als ihm Balboks Axt auch schon das Haupt spaltete. In einem Schwall grünen Gnomenbluts ging der Angreifer nieder.

»Drei hab ich bereits erledigt!«, rief Balbok triumphierend aus.

»Bilde dir darauf nur nichts ein!«, fauchte Rammar seinen Bruder an. »Der bessere Krieger von uns beiden bin immer noch ich!«

Vom Grund des Tals drang aufgeregtes Geschrei herauf. Die Gnomenwächter hatten den Kampf natürlich bemerkt und schlugen Alarm – worauf sich sofort zwei Dutzend Krieger in Bewegung setzten und unter wütendem Gebrüll den Hang heraufstürmten.

»Und jetzt?«, fragte Balbok einfältig.

»Blöde Frage«, knurrte sein Bruder. »Lauf!«

Rammar fuhr herum und rannte davon, so schnell die kurzen Beine seine beträchtliche Leibesfülle tragen konnten. Balbok schob den Axtstiel hinter seinen breiten Gürtel, nahm seinen Bogen und jagte mehrere Pfeile den Hang hinab. Da die Gnomen ohne Deckung und in breiter Front den Hang heraufkamen, traf jedes der Geschosse, aber die Verfolger ließen sich davon nicht aufhalten. Im Gegenteil, mit jedem Artgenossen, der von einem Orkpfeil niedergestreckt wurde, vergrößerte sich ihre Raserei nur noch. Mit beängstigender Geschwindigkeit erklommen sie den Hang; im oberen Teil, wo es steil wurde, krabbelten sie auf allen vieren und sahen in ihren dunklen Rüstungen und mit den langen, dürren Gliedmaßen aus wie große Käfer.

Auf demselben Weg, den sie gekommen waren, traten Rammar und Balbok die Flucht an. Sie hetzten durch den Wald, wobei sich Rammar auf seinen kurzen Beinen ungleich schwerer tat, über Felsbrocken und Wurzeln zu springen, als sein schlanker, hagerer Bruder. Mehrmals blieb er mit den Füßenhängen, schlug der Länge nach hin und wand sich zappelnd wie ein Insekt am Boden, bis Balbok ihm wieder auf die Beine half. Dann setzten sie ihre wilde Flucht fort, das Kreischen und Heulen der Gnomen im Rücken.

»Rammar?«, stieß Balbok im Laufen hervor.

»Ja?«

»Ich muss dir was sagen.«

»Umbal!«, keuchte der andere. »Jetzt ist keine Zeit für Gefühlsduselei. Aber wenn du es unbedingt wissen willst – ich bin auch froh, dich zum Bruder gehabt zu haben.«

»Das meine ich nicht.«

»Nein?«

»Nein. Mir ist nur gerade eingefallen, dass wir unseren Auftrag nicht erfüllt haben. Wir wissen noch immer nicht, wie viele Gnomen es sind, und …«

»Glaubst du denn, das spielt jetzt noch eine Rolle?«

»Zuletzt habe ich siebenundachtzig gezählt. Die vier, die wir erschlagen haben, brauche ich nicht mitzuzählen, und abzüglich derer, die ich mit meinen Pfeilen erledigt habe, macht das …«

»Balbok?«

»Ja, Rammar?«

»Tu mir einen Gefallen«, stieß sein Bruder zwischen keuchenden Atemzügen hervor. »Halt verdammt noch mal die Klappe, verstanden?«

»Ja, Rammar. Aber die Anzahl der Gnomen …«

»Noch ein Wort über Zahlen, und du brauchst dir über die Gnomen keine Gedanken mehr zu machen – dann werde ich dich erschlagen, elender umbal! Das alles ist nur deine Schuld!«

So schnell Rammars Stummelbeine es zuließen, rannten sie durch den Wald und erreichten endlich die Lichtung, wo Girgas und der Rest der Meute auf sie warteten. Als der Anführer sie erblickte, erkannte er sofort, dass etwas nicht stimmte.

»Was ist los?«, rief er ihnen entgegen. »Ihr seht aus, als wärt ihr Kurul persönlich begegnet.«

»Die Gnomen …!« Das war alles, was Rammar hervorbrachte, während er heiser nach Luft schnappte.

»Was ist mit ihnen?«

»Sie … sie … haben uns entdeckt und …«

»Ihr wurdet entdeckt?« Girgas’ Augen weiteten sich.

»Ja, großer Girgas«, krächzte Rammar. »Wir haben ein paar von ihnen erschlagen, aber jetzt sind sie auf dem Weg hierher. Wir müssen rasch fliehen und …!«

In diesem Moment war das Geschrei ihrer Verfolger zu hören, und der Wald schien zu erzittern unter dem Getrampel zahlreicher Füße.

Die Orks tauschten entsetzte Blicke. Einige von ihnen wollten die Flucht ergreifen, wie Rammar es geraten hatte, aber Girgas stellte sich ihnen entgegen. Dabei hielt er sein Orkschwert in der Faust, an dessen schartiger Klinge Flecken von eingetrocknetem grünen Gnomen-, von rotem Menschen- und sogar von schwarzem Orkblut von siegreich überstandenen Kämpfen kündeten.

»Bleibt hier, ihr Maden!«, rief er. »Ihr Feiglinge, wo wollt ihr hin?«

»Weg, nur weg!«, rief einer der Krieger – woraufhin ihm Girgas kurzerhand den Kopf abschlug. Der Schädel plumpste auf den feuchten Waldboden, den entsetzten Ausdruck noch im Gesicht.

»Keiner verlässt diese Lichtung!«, brüllte Girgas gegen das Geschrei der Gnomen an, das lauter und lauter wurde. »Ihr elenden Hunde werdet bleiben und kämpfen. Wir werden diesen verdammten Gnomen zeigen, was es heißt, ein Ork zu sein, und wir werden unsere Klingen in ihrem stinkenden grünen Blut baden. Habt ihr mich verstanden?«

Die Antwort war heiseres Gebell – zu mehr waren die meisten Krieger nicht mehr fähig, nachdem sie das Blut ihres Artgenossen gerochen hatten. Ihre gelben Augen rollten wild in den Höhlen, nicht wenigen stand Schaum vor dem Maul. Ihre Schwerter und Speere umklammernd, wandten sie sich in die Richtung, aus der die Gnomen kommen würden, und Girgas drängte sich in die vorderste Reihe.

»Wie viele sind es nun?«, fragte er Balbok, der neben ihm stand.

»Genau weiß ich es nicht«, gab der Hagere verlegen zurück. »Etwas über achtzig, schätze ich.«

Girgas überlegte kurz. »Ist das mehr als ein Dutzend?«, fragte er dann.

»Ich denke schon.«

Ein verwegenes Grinsen huschte über Girgas’ narbenzerfurchte Züge. »Dann sind es wirklich viele …«

Plötzlich war aus dem Wald ein lang gezogenes, feindseliges Knurren zu vernehmen. Gebannt starrten die Orks auf das dunkle Grün. Wieder war das Knurren zu hören, dann das Knacken und Bersten von Zweigen und Ästen. Und einen Herzschlag später brach etwas Großes, Graues aus dem Buschwerk.

Girgas stieß einen lauten Kampfschrei aus, als er den massigen Warg heranstürzen sah. Warge waren keine gewöhnlichen Wölfe, sondern übergroße und mit mörderischen Fängen bewehrte Bestien. Dunkler Zauber hatte sie zur Zeit des Zweiten Krieges hervorgebracht, und einst hatten sie den Orks als Reittiere gedient. Im Lauf der Jahrhunderte hatten jedoch auch andere Rassen gelernt, sie sich zu unterwerfen; besonders die Gnomen hatten einiges Geschick darin, sie zu reiten. Der Krieger, der auf dem schmalen Rücken des Wargs saß, lachte und kreischte wie von Sinnen, während er die Bestie in Girgas’ Richtung trieb.

Der Orkführer handelte ohne Zögern.

Mit einer Schnelligkeit, die man einem Wesen seiner Statur kaum zutraute, schnellte er vor und rammte sein Schwert nach oben, genau in dem Augenblick, als der Warg ihn erreichte und sich vor ihm auf die Hinterläufe erhob. Girgas stieß der Bestie die Waffe bis zum Heft in die Brust, noch ehe deren mörderische Pranken ihn berühren konnten. Dass sie damit erledigt war, begriff die niedere Kreatur nicht gleich; sie stand weiterhin aufgerichtet und brüllend vor dem Ork. Das Gebrüll ging jedoch in ein Gurgeln über, als Girgas den Warg mit einem raschen Schwertstreich der Länge nach aufschlitzte.

Die Innereien des Tieres ergossen sich über Girgas, was diesen nur noch wilder machte. Als der Warg vor ihm zusammenbrach, enthauptete er den unglücklichen Reiter, noch ehe dieser ganz begriff, was geschehen war.

Die bluttriefende Klinge in der Hand, stieß Girgas einen triumphierenden Schrei aus, in den auch die anderen Krieger der Meute einfielen. Er scholl über die Lichtung, und wie eine Welle brandete er den Gnomen entgegen, die im nächsten Augenblick aus dem Dickicht brachen.

Girgas hatte Recht – es waren tatsächlich viele. Eine gepanzerte grüne Invasion ergoss sich aus dem Wald, und obwohl die Gnomen den Orks an Körpergröße unterlegen waren, boten sie einen Furcht einflößenden Anblick. Die Münder zu wildem Kriegsgeschrei weit aufgerissen, starrten sie den Orks aus hasslodernden Augen entgegen, während sich eine Phalanx mörderischer Waffen gegen sie richtete.

»Bogenschützen!«, konnte Girgas gerade noch rufen, aber längst nicht alle Orks kamen noch dazu, den gefiederten Tod von der Sehne schnellen zu lassen. Nur wenigen – unter ihnen der beherzte Balbok – gelang es, und die Gnomen in der vordersten Angriffsreihe schienen gegen eine unsichtbare Wand zu laufen. Doch schon war die nächste Welle der Angreifer heran, und die Orks wurden in einen heftigen Nahkampf verwickelt.

»Vorwärts, ihr Maden!«, hörte man Girgas mit lauter Stimme brüllen. »Wollt ihr denn ewig leben?«

Mit furchtbarer Wucht prallten die feindlichen Rotten aufeinander. Von einer geordneten Schlachtreihe konnte keine Rede sein – bei den Orks nicht, weil keine Zeit geblieben war, sich aufzustellen, bei den Gnomen nicht, weil sie in ihrer Raserei ohnehin keine Ordnung kannten. Unter wildem Kampfgeschrei drangen sie auf die Orks ein, aber für jene Angreifer, die sich unmittelbar gegen Girgas und Balbok wandten, nahm der Kampf ein jähes Ende.

Heisere Schreie ausstoßend, ließ Girgas seine Axt tanzen; sein Schwert hatte er im gespaltenen Schädel eines Feindes stecken lassen. Nun schwenkte er die Waffe im weiten Kreis, um die Angreifer von sich fern zu halten. Die Wunden, die das messerscharfe Axtblatt riss, waren verheerend. Fontänen von grünem Gnomenblut schienen den Anführer der Orkmeute zuumgeben, gischteten wie Geysire überall dort in die Höhe, wo Girgas’ Axt Nahrung fand. Balbok an seiner Seite hatte den Bogen weggeworfen und zu seinem saparak gegriffen, mit dem er reihenweise Angreifer erstach.

Auch die übrigen Orks schlugen sich wacker, aber die Masse der Gnomenkrieger, die auf die Lichtung drängte, setzte ihnen arg zu. Immer mehr Orkkämpfer sanken erschlagen zu Boden, in den blutbesudelten Morast, in den sich die Lichtung unter trampelnden Füßen verwandelt hatte. Anfangs war stets noch ein anderer Ork zur Stelle, um den Platz des gefallenen Kameraden einzunehmen, aber bald schon dünnten sich ihre Reihen, und obwohl auf jeden erschlagenen Ork zwei getötete Gnomen kamen, wurde die Übermacht der Angreifer immer erdrückender.

Es war ein gnadenloses Gemetzel. Der grüne Lebenssaft der Gnomen vermischte sich mit dem schwarzen Blut der Orks, tränkte den schlammigen Boden und würde dafür sorgen, dass in Jahrzehnten keine Pflanze auf dieser Lichtung mehr gediehe. Der Geruch von Schweiß und noch warmem Blut schwängerte die Morgenluft, während überall auf der Lichtung gekämpft, getötet und gemetzelt wurde.

Im Mittelpunkt der Schlacht stand Girgas. Er schlug einem Gnomenkrieger mit der Axt den rechten Arm ab und widmete sich sogleich zwei weiteren Angreifern, die er mit einem einzigen Hieb seiner mächtigen Waffe niedermachte. Auf den von ihm verstümmelten Gnom mit dem abgehackten Arm achtete er nicht mehr, doch dieser, obwohl schwer verletzt, kroch über die Leiber seiner erschlagenen Kameraden auf Girgas’ Beine zu, einen Dolch in der verbliebenen Hand. Und während Girgas einem weiteren Gnom den Schädel spaltete, stieß der Einarmige zu.

Der Anführer der Orkmeute grunzte ebenso überrascht wie unwillig auf, blickte nach unten und sah den Gnomendolch in seinem Stiefel stecken. Seine Axt sauste hinab und tötete den Verstümmelten, der diese hinterhältige Tat begangen hatte; eine fast beiläufige Bewegung, so als wolle er ein lästiges Insekt verscheuchen. Dennoch war Girgas für einen Augenblick abgelenkt – und diese kurze Ablenkung nutzten die anderen Gegner, die ihn umstanden.

Als Girgas das Zucken an seiner linken Schulter bemerkte, begriff er zunächst nicht mal, was geschehen war. Erst als er den Arm heben wollte und es ihm nicht gelang, bemerkte er den Gnomenpfeil, der zwischen Harnisch und Schulterschutz eingedrungen war. Es genügte den Gnomen nicht, die Spitzen ihrer Pfeile mit Widerhaken zu versehen – sie pflegten sie auch in Gift zu tränken. Schon spürte Girgas dessen Wirkung, und seine Bewegungen wurden schwer und fahrig. Aber er kämpfte weiter, wild entschlossen, so viele Angreifer wie möglich mit sich in Kuruls finstere Grube zu reißen.

»Kommt nur her!«, rief er ihnen grollend zu. »Ein Warg und ein paar Pfeile? Ist das alles, was ihr zu bieten habt?«

Die Gnomen wurden darüber nur noch zorniger und drangen umso entschlossener auf ihn ein. Von irgendwo zuckte ein Speer heran und bohrte sich in Girgas’ rechtes Bein, und noch während er in die Knie brach, sprang ihn ein weiterer Gnom an wie ein wildes Raubtier. Sich am Kopf des Orks festkrallend, sorgte der kleinwüchsige Krieger dafür, dass Girgas die Sicht genommen wurde und er nur noch blindlings um sich schlagen konnte.

»Helft mir!«, rief er seinen Kriegern zu. »Verdammt, ihr Maden, helft mir gefälligst!« Aber die anderen Orks, einschließlich Balbok, waren viel zu sehr damit beschäftigt, sich ihrer eigenen Haut zu erwehren.

Girgas gelang es schließlich, sich den Gnom, der ihm die Sicht nahm, vom Kopf zu reißen; dass dessen Krallen tiefe, blutige Kratzer in seinem Gesicht hinterließen, nahm er gar nicht wahr. Er schleuderte den kleinen grünen Kerl den Angreifern entgegen, doch als er erneut die Axt hob, um damit den Schädel eines Feindes zu spalten, durchtrennte ein Säbel seinen Arm unterhalb des Ellbogens, und samt der Klaue, die den Schaft noch immer krampfhaft umklammerte, landete die Axt im Morast.

Girgas besah sich den blutigen Stumpf und brüllte auf vor Verärgerung und Wut – da fielen die Gnomen auch schon wie ein Schwarm Heuschrecken über ihn her, und der Anführer der Orkmeute ging fluchend und zeternd inmitten eines Knäuels grüner Leiber nieder.

Rammar sah es aus einiger Entfernung und beschloss, dass die Schlacht für ihn damit geschlagen war. Solange Girgas stand, hatte es eine (wenn auch geringe) Hoffnung gegeben, dass die Orks die Schlacht noch gewannen. Diese Hoffnung war ihm nun genommen, aber Rammar fühlte sich noch zu jung zum Sterben.

Die ganze Zeit über hatte sich der untersetzte Ork am Rand der Schlacht aufgehalten; während die meisten Gnomen dorthin drängten, wo das wildeste Getümmel herrschte, waren die Flanken weniger heftigen Angriffen ausgesetzt. Dies kam Rammar nun zugute. Noch einmal stieß er mit dem saparak zu und durchbohrte damit einen Gnom, der schreiend auf ihn zugesprungen war. Er befreite den Speer, indem er einen Fuß gegen die Brust des Sterbenden stemmte und den saparak hin und her riss, dann wandte er sich zur Flucht.

Wie es seine vorausschauende Art war, hatte Rammar sich bereits ein Versteck ausgesucht. Am Rand der Lichtung, im von Moos überwucherten Fels, gab es eine Spalte, die breit genug war, ihn aufzunehmen – vorausgesetzt, er zog seinen Wanst ein und hielt die Luft an. Aber angesichts der mörderischen Gefahr, in der er schwebte, schien ihm das keine Herausforderung, der er nicht gewachsen war.

Natürlich wusste Rammar, was er seiner Sippe schuldig war. Suchend schaute er sich um und erblickte seinen Bruder Balbok inmitten eines geifernden Haufens von Gnomen, die von allen Seiten auf ihn eindrangen.

»Leb wohl, Bruder!«, raunte Rammar und deutete eine Verbeugung an – dann lief er auf die Felsspalte zu.

Bei dem Durcheinander, das auf dem Schlachtfeld herrschte, schenkte ihm niemand Beachtung, und indem er sich so dünn machte, wie er nur irgend konnte – wobei »dünn« allerdings der falsche Ausdruck war –, gelang es Rammar tatsächlich, sich in die dunkle Öffnung zu zwängen.

Dort wartete er.

Wartete.

Und wartete …

An einem weit entfernten Ort, in der kalten Düsternis eines uralten Gemäuers, blickten blutunterlaufene Augen in die verschwommene Tiefe des ocoulón.

Was darin zu sehen war, sorgte dafür, dass sich der schmale Schlitz, der sich unterhalb der starrenden Augen befand, zu einem zufriedenen Lächeln verzog.

Die Gnomen erledigten ihre Aufgabe gut. Alles entwickelte sich so, wie er es geplant hatte – nun brauchte er nur noch abzuwarten.

Schon bald würde ihm gehören, wonach er schon so lange trachtete …

»Tötet sie, meine tapferen Gnomenkrieger«, sprach er leise in das ocoulón. »Tötet sie bis auf den einen. Der Tapferste unter ihnen soll mein Werkzeug werden …«

2.

image EUGASH KOUM

Irgendwann war der Kampfeslärm verstummt.

Nur hier und da war vereinzelt noch ein Stöhnen zu vernehmen, und aus dem blauen Mittagshimmel drang bereits das Kreischen der Aasfresser, die sich bald auf ihre Beute stürzen würden.

Obwohl sein Versteck alles andere als bequem war, harrte Rammar darin noch einige Zeit länger aus, als es nötig gewesen wäre. Er wollte ganz sicher sein, dass sich keine Gnomen mehr auf der Lichtung befanden.

Irgendwann entschied er, dass er lange genug gewartet hatte, und indem er alle Luft aus seinen Lungen blies und sich erneut so dünn wie nur irgend möglich machte, gelang es ihm, sich aus dem schmalen Spalt zu zwängen. Vorsichtig steckte er den Kopf hinaus und vergewisserte sich, dass die Luft rein war. Dann schob er sich weiter vor, bis er sich nach draußen fallen lassen konnte. Unbeholfen landete er im niedergetrampelten Gras.

Der Anblick, der sich ihm bot, als er sich wieder auf die Beine rappelte, war wenig erbaulich. Überall auf der Lichtung lagen erschlagene Orks. Einigen waren Gliedmaße abgehackt worden, anderen der Wanst aufgeschlitzt, sodass die Eingeweide hervorgequollen waren, wieder andere waren mit Gnomenpfeilen gespickt. Allen gemein war der Ausdruck ungläubigen Schreckens in den Gesichtern, der sie, wie Rammar fand, ziemlich dämlich aussehen ließ.

Von den Gnomen jedoch fehlte jede Spur; sie waren abgezogen und hatten sogar ihre Gefallenen mitgenommen. Nur die toten Orks waren auf dem Schlachtfeld zurückgeblieben, und irgendwo unter den wild durcheinander liegenden blutigen

Leibern, über denen bereits Schwärme dicker Fliegen brummten, vermutete Rammar seinen Bruder Balbok.

»Du elender umbal!«, maulte er vor sich hin, während er die Lichtung nach ihm absuchte. »Wie oft habe ich dir gesagt, dass es sich nicht lohnt, den Helden zu spielen! Dass nur ein verblödeter Mensch den Kopf für andere hinhält! Aber nein, du wusstest es ja wieder besser als ich. Hättest du auf deinen älteren Bruder gehört, dann wärst du noch am Le …«

Er verstummte, als aus dem nahen Gebüsch ein Rascheln drang. Rammar hob seinen saparak und fuhr herum. Im Unterholz knackte es, und Rammar erwartete schon, dass sich ein paar Gnomen daraus stürzten. Wie groß war sein Erstaunen, als keine grüne Gnomenfratze aus dem Dickicht auftauchte – sondern das hagere Gesicht seines Bruders.

»Balbok!«

Für einen kurzen Augenblick war helle Freude auf Rammars dunklen Zügen zu sehen, und fast wäre er dem Bruder freudig um den Hals gefallen – doch er ermahnte sich, dass sich ein solches Verhalten für einen Ork nicht schickte. Abrupt blieb er stehen, und die alte Verbissenheit kehrte in seine Miene zurück.

»Rammar!« Balbok legte sich weniger Zurückhaltung auf. Ein freudiges Zähnefletschen erschien auf seinen kindlichen Zügen, und er stürzte auf seinen fetten Bruder zu, um ihn überschwänglich zu umarmen. Rammar hielt ihn zurück, indem er kurzerhand den saparak gegen ihn hob.

»Was ist los mit dir?«, fuhr er ihn an. »Bist du verrückt geworden? Was soll das?«

»Ich dachte, du wärst tot.«

»Bin ich nicht!«, schnappte Rammar. »Und du auch nicht, wie ich sehe. Nachdem wir das geklärt hätten, können wir ja wieder vernünftig sein. Und vielleicht kannst du mir auch sagen, wieso du noch am Leben bist, während alle anderen massakriert wurden.«

»Das weiß ich nicht.« Balbok zuckte mit den Schultern. »Der Kampf war eigentlich vorbei, die Gnomen hatten alle erschlagen, nur ich war noch übrig. Sie hatten mich eingekreist, und von allen Seiten griffen sie mich an. Ich sah die Mordlust in ihren Augen und war mir sicher, dass es vorbei war. Ich blickte dem sicheren Tod ins …«

»Verdammt, du bist ein Ork und kein Zwerg!«, schnaubte Rammar. »Du sollst mir keine Saga erzählen, sondern sagen, was passiert ist. Ich habe schließlich nicht den ganzen Tag Zeit.«

»Ich … ich weiß es nicht«, wiederholte Balbok ratlos. »Ich dachte, es wäre aus, aber plötzlich überlegten es sich die Gnomen anders und zogen ab.«

»Das war alles?«

»Das war alles«, versicherte Balbok, was bei seinem Bruder spontanen Neid hervorrief. Wozu, in aller Welt, hatte er sich in eine enge Felsspalte verkrochen und dort den halben Vormittag verbracht, wenn er ebenso gut auf dem Schlachtfeld hätte abwarten können?

»Das ergibt keinen Sinn«, sagte er. »Wen die Gnomen einmal in ihren Klauen haben, den lassen sie nicht einfach wieder laufen. Warum also haben sie dich am Leben gelassen, hä?«

»Ich weiß es wirklich nicht«, beteuerte Balbok, doch dann fügte er hinzu, nicht ohne Stolz in der Stimme: »Ich habe gekämpft bis zum Schluss. Vielleicht haben sie es ja mit der Angst zu tun gekriegt und sind deshalb geflohen.«

»Angst? Vor dir?« Rammar lachte laut auf. »Das hättest du wohl gern.«

»Immerhin war ich der Letzte, der noch auf den Beinen stand.«

»Und was ist mit mir? Auch ich bin noch am Leben, wie du siehst.«

»Du hast auch bis zum Schluss gekämpft?«, fragte Balbok erstaunt. Er konnte sich nicht entsinnen, seinen Bruder auf dem Schlachtfeld gesehen zu haben.

»Was soll die bescheuerte Frage?«, fauchte Rammar und bedachte ihn mit einem wütenden Blick. »Natürlich habe auch ich bis zum Schluss gekämpft. Oder willst du behaupten, ich hätte mich feige in eine Felsspalte verkrochen und gewartet, bis der Kampf vorbei war?«

Balbok zögerte mit der Antwort, was seinen Bruder vollends in Zorn versetzte. »Du elender Zwergenfurz!«, schalt er ihn. »Und um dich habe ich mich all die Jahre gekümmert, nachdem unser Vater von einem Troll gefressen wurde! Dir habe ich beigebracht, wie man mit dem Schwert und dem saparak umgeht! Wie man mit Pfeil und Bogen schießt!«

»Wie man mit Pfeil und Bogen schießt, habe ich dir beigebracht«, wandte Balbok ein.

»Unterbrich mich nicht, wenn ich mit dir rede! Das ist respektlos, schließlich bin ich der Ältere von uns beiden. Und wenn ich noch einmal das Gefühl habe, dass du mich verdächtigst, mich verkrochen zu haben, während unsere Kameraden tapfer um ihr Leben kämpften, dann sollst du den Stahl meines Dolchs zu spüren bekommen, das schwöre ich bei Torgas stinkenden Eingeweiden!«

Ob dieser Schelte wagte Balbok keinen Einwand mehr. Eingeschüchtert ließ der Hagere, der seinen älteren Bruder um zwei Köpfe überragte, das Haupt hängen. Den Tod der Kameraden hatte Balbok mit orkischem Gleichmut hingenommen – die Standpauke seines Bruders hingegen traf ihn schwer. Seine Mundwinkel fielen nach unten, sein bleiches Gesicht nahm einen betrübten Ausdruck an, und seine Lippen stülpten sich schmollend nach vorn.

»Was ist denn jetzt?«, schnauzte Rammar.

»Du bist böse mit mir.«

»Ja, verdammt, ich bin böse mit dir. Sehr sogar. Ich kann es nun mal nicht ausstehen, wenn du …« Als Rammar sah, wie das Gesicht seines Bruders noch länger wurde und der Ausdruck darin noch betrübter, unterbrach er sich. »Nein, ich bin nicht böse mit dir«, erklärte er seufzend.

»Wirklich nicht?« Balbok blickte auf.

»Nein. Aber wenn du noch einmal behauptest, ich wäre vor einem Kampf geflohen, dann reiße ich dir mit den Zähnen die Gedärme aus dem Leib. Ist das klar?«

»Klar«, erklärte Balbok grinsend.

»Dann lass uns jetzt zusehen, dass wir von hier fortkommen. Was immer die Gnomen dazu bewogen hat, abzuziehen – weitkönnen sie noch nicht sein. Und ich bin nicht erpicht darauf, ihnen noch einmal zu begegnen.«

»Was ist mit Girgas?«, fragte Balbok.

»Was soll mit ihm sein?«

»Er ist unser Anführer.«

»Er war unser Anführer«, verbesserte Rammar.

»Es ist unsere Pflicht, seinen Kopf zurückzubringen, damit er im Ritual des shrouk-koum Unsterblichkeit erlangt.«

»Das Ritual des shrouk-koum?«, fragte Rammar ungläubig. »Du schlägst allen Ernstes vor, Girgas’ klobigen Schädel die ganze Strecke zurück nach Hause zu schleppen, nur damit sie einen Schrumpfkopf daraus machen?«

»So will es das Gesetz«, erwiderte Balbok schulterzuckend. »Tun wir es nicht, wird man uns aus dem Stamm verstoßen und uns unseren Besitz nehmen.«

»Echt?« Rammar glotzte seinen Bruder ungläubig an.

»So will es das Gesetz«, wiederholte Balbok.

»Dann sollten wir den alten Dickschädel finden und nach Hause bringen!« Rammar seufzte und blickte sich auf dem Schlachtfeld um. »Fragt sich nur, wo wir mit der Suche anfangen sollen.«

»Dort drüben!«, sagte Balbok und deutete auf eine Stelle unweit des Waldrands, wo die Standarte der Orkmeute im Boden steckte. Girgas’ Banner, das eine geballte Faust zeigte, flatterte zerfetzt im Wind, zusammen mit den Zwergen- und Gnomenskalpen, mit denen die Fahnenstange geschmückt war.

Tatsächlich fanden sie dort auch Girgas’ Leichnam, zur Hälfte eingesunken im Morast. Dies ließ darauf schließen, dass sich eine große Anzahl Gnomen auf ihn gestürzt hatte. Entsprechend verunstaltet war der Tote: Die Grüngesichter hatten Girgas regelrecht in Stücke gehackt und gerissen – der Tote sah aus, als hätte ihn ein Warg gefressen, dann halb verdaut wieder ausgespuckt und seine Überreste mit den Krallenpfoten in die Erde gescharrt.

Der Grund, weshalb Rammar eine Verwünschung ausstieß, als er die Leiche sah, war jedoch ein anderer: Girgas’ Kopf saß nicht mehr auf dessen Schultern!

Nun gut, im Eifer eines Orkgefechts kommt es schon mal vor, dass sich Kopf und Rumpf voneinander trennen. Also gingen die beiden Brüder daran, die Umgebung nach dem Schädel ihres Meuteführers abzusuchen. Als sie jedoch auch nach einer ganzen Weile noch nicht fündig geworden waren, kamen sie zu dem Schluss, dass die Gnomen, als sie abgezogen waren, Girgas’ Kopf mitgenommen hatten: Das Haupt des Meuteführers war gestohlen worden!

»Das gibt Ärger«, prophezeite Balbok.

»Shnorsh«, erwiderte Rammar.

In die Sprache der Menschen übersetzt bezeichnete das Wort bolboug eine Siedlung oder ein Dorf. Tatsächlich gab die Sprache der Menschen die Bedeutung des Wortes aber nur sehr unzureichend wieder. Denn bolboug nannte ein Ork nur jenes Dorf, aus dem er selbst stammte, wohingegen jedes andere Dorf als kuun, als Fremde, bezeichnet wurde.

Da die Orks auf Grund dessen nie auf den Gedanken kamen, ihren Dörfern und Siedlungen Eigennamen zu geben – untereinander wussten sie ja, von welchem Ort sie sprachen –, führte dies im Laufe ihrer Geschichte zu erheblichen Verwirrungen. Wann immer von einem bolboug die Rede war, herrschte unter den Stämmen Uneinigkeit, wessen Heimat denn nun gemeint war, und es gab Chronisten unter den Menschen und den Zwergen, die behaupteten, dass die Niederlage der Orks im Zweiten Krieg unter anderem darauf zurückzuführen war, dass man eigentlich nie genau wusste, wo sich das Heer versammeln sollte.

Von solchen Überlegungen waren Rammar und Balbok weit entfernt, als sie am vierten Tag nach der Schlacht im Grenzland ins Gebiet ihres Stammes zurückkehrten. Schon von weitem rochen sie den fauligen Gestank, der über den Höhlen lag und für einen Ork den Inbegriff von Behaglichkeit darstellt. Als sie dann auch noch den Geruch von frisch geschmortem Menschenfleisch schnupperten, fühlte sich Balbok wieder ganz daheim.

»Endlich!«, sagte Rammar, als sie den Hohlweg in die Schlucht nahmen, an deren steilen Felswänden die Höhlenund Hütten des bolboug lagen. »Als Erstes werde ich mir einen großen Schluck Blutbier gönnen, danach werde ich mich in das faulige Laub unserer Höhle wühlen und die nächsten Tage schlafen.«

»Ja«, erwiderte Balbok halblaut. »Wenn sie uns lassen.«

»Was hast du? Fängst du schon wieder damit an?« Rammar schüttelte verärgert den Kopf. »Wie oft soll ich dir noch sagen, dass du dir keine Sorgen zu machen brauchst. Ich werde Graishak die Sache mit Girgas’ Haupt schon begreiflich machen.«

»Aber das Gesetz sagt …«

»Es ist mir gleich, was das Gesetz sagt. Die Gnomen waren in der Übermacht, und Girgas’ Kopf war nicht mehr da. Was hätten wir denn tun sollen? Auf die Schnelle einen neuen schnitzen?«

»Aber das Gesetz …«

»Hör endlich auf damit!«, fuhr Rammar seinen Bruder an. »Wenn du noch einmal vom Gesetz anfängst, werde ich dich mit bloßen Fäusten erschlagen, hast du verstanden?«

»Ja.«

»Also schön. Du hältst einfach das Maul und überlässt das Reden mir, hast du kapiert? Dann kommt alles in Ordnung, du wirst schon sehen.«

Balbok widersprach nicht mehr, und Rammar hielt die Angelegenheit damit vorerst für erledigt. Stolz hielt er die Standarte der Meute hoch (oder vielmehr das, was die Gnomen davon übrig gelassen hatten) und trug sie über den Felsweg in die Schlucht. Zu beiden Seiten des schmalen Pfades tauchten finstere Gestalten auf – Krieger, die den Zugang zum bolboug bewachten und ihnen feindselig ihre saparaks entgegenhielten.

»Ihr da! Wie lautet die Losung?«

»Schlagetot«, gab Rammar beiläufig zurück. »Aber warum fragst du mich das, Faulhirn? Erkennst du uns denn nicht? Ich bin Rammar, und dies ist mein Bruder Balbok.«

»Was weiß ich, wer du bist!«, entgegnete der Hauptmann der Wache mürrisch. »Ich kann schließlich nicht jede Trollfresse kennen, die im bolboug lebt. Was ist denn mit eurer Standarte passiert? Und wo ist euer Anführer?«

»Tot«, entgegnete Rammar schlicht. »Gnomen.«