Alles, was geschieht, geschieht in einer Gegenwart. Und alles, was geschieht, geschieht in einer Gesellschaft. Zwischen diesen beiden Sätzen herrscht eine Spannung. Denn alles, was geschieht, geschieht hier und jetzt und zugleich im Kontext von Abwesendem und Unsichtbarem, es wird in einer Gesellschaft räumlich und zeitlich transzendiert. Genau diese Erfahrung ist es, die das Besondere der modernen Gesellschaft ausmacht. Die Soziologie hat die Spannung zwischen Gegenwart und Gesellschaft stets aufzulösen versucht und dabei den Akzent entweder auf die Gegenwart oder auf die Gesellschaft gelegt. Mit einem Konzept einer Gesellschaft der Gegenwarten unternimmt Armin Nassehi den Versuch, diese Spannung praxis-, system- und gesellschaftstheoretisch aufzulösen.

Armin Nassehi ist Professor für Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Zuletzt im Suhrkamp Verlag erschienen: Geschlossenheit und Offenheit. Studien zur Theorie der modernen Gesellschaft (stw 1636), Bourdieu und Luhmann. Ein Theorienvergleich (stw 1696, hg. zusammen mit Gerd Nollmann) und Der soziologische Diskurs der Moderne (stw 1922).

Armin Nassehi

Gesellschaft der
Gegenwarten

Studien zur Theorie
der modernen Gesellschaft II

Suhrkamp

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Vorwort

Mit meinem Buch Geschlossenheit und Offenheit. Studien zur Theorie der modernen Gesellschaft habe ich 2003 eine Sammlung von zehn Aufsätzen vorgelegt, in denen es vor allem um die Entfaltung eines systemtheoretischen Programms ging, das sich für die operative Geschlossenheit von Formenbildung und Weltperspektiven interessiert. Mit diesem zweiten Band präsentiere ich nun unter dem Titel Gesellschaft der Gegenwarten mit wiederum zehn Beiträgen eine Weiterentwicklung. Die Formulierung Gesellschaft der Gegenwarten habe ich das erste Mal in jenem ersten Band verwendet, um auf die Operativität gesellschaftlicher Ordnung hinzuweisen. Dieser Frage habe ich in der Zwischenzeit mit meinem Buch Der soziologische Diskurs der Moderne eine größere Studie gewidmet, die die Theoriefigur des Operativen als einen Diskursstrang der Geschichte unseres Faches herausarbeitet. Die nun hier vorliegenden Aufsätze führen dieses Programm weiter, dessen Grundfrage lautet, wie sich Gegenwart im Sinne konkreter Situationen und Gesellschaft so zusammendenken lassen, dass daraus kein dichotomisches oder gar topologisches Modell von Akteur und Struktur oder Handlung und System wird.

Zu danken habe ich dem sehr produktiven Umfeld meines Arbeitsbereichs am Münchner Institut für Soziologie, wo wir in gemeinsamen Forschungsprojekten sowie in unserem colloquium sociologicum die meisten der hier behandelten Themen ausführlich und produktiv diskutieren konnten, sowie dem Vorstand des Humanwissenschaftlichen Zentrums der Ludwig Maximilians-Universität (bis vor kurzem) unter der Leitung von Ernst Pöppel, dessen interdisziplinärer Zuschnitt ein großer Gewinn für meine Arbeit ist. Namentlich danken möchte ich Iryna Klymenko, die mich bei der technischen Herstellung des Manuskripts unterstützt hat, bei Julian Müller, dem ich hilfreiche Anregungen für die Komposition des Bandes verdanke, bei Jutta Steinbiß als stets kritische Leserin, insbesondere aber über die Jahre wiederholt bei Irmhild Saake. Den Gesprächen mit ihr verdanken viele der hier vorgetragenen Gedanken eine Präzision, die sie ohne Irmhilds Kritik nicht gehabt hätten.

Eva Gilmer und dem Suhrkamp Verlag danke ich sehr für die Möglichkeit, einen zweiten Band meiner Studien zur Theorie der modernen Gesellschaft vorlegen zu können.

München, im April 2011

Armin Nassehi

11Einleitung: Gesellschaft der Gegenwarten. Vom Sinn einer theoretischen Figur

Es geht hier um eine einfache Frage, für die es auf den ersten Blick eine einfache Antwort gibt: Ist »Gesellschaft« ein empirisch gehaltvoller Gegenstand? Die einfache Antwort lautet: Ja! Schon was hier geschieht, nämlich dass mit Hilfe von Schrift kommuniziert wird, dass diese Schrift sich auf andere Schrift und anderes Gesprochenes bezieht, dass es technisch auf Papier gedruckt wurde, mit Hilfe weiterer technischer Verfahren gebunden wurde, dass das daraus entstandene Buch von einem Verlag ökonomisch kalkuliert wurde und der Inhalt im Hinblick auf seine Verwertungsrechte vertraglich fixiert wurde, dass der Verlag das ökonomische Risiko eingeht, in Vorlage zu gehen und Geld für die Produktion auszugeben, von dem er hofft, es auf einem Markt maximieren zu können, dass der Autor dieser Zeilen in der Erwartung schreibt, dass wissenschaftliche Fachkolleginnen und -kollegen auf den Text reagieren werden und womöglich Notizen oder gar Rezensionen in außerfachlichen Massenmedien erscheinen werden – all das sind elementare Bedingungen dafür, dass so etwas Banales wie ein Buch wie das vorliegende entstehen kann. Und es ist keineswegs nur eine abstrakte, vorempirische, in diesem Sinne apriorische oder gar transzendentale Setzung, dass all das, was ich hier angedeutet habe, in einer Gesellschaft stattfindet. Noch mehr: Es ist keineswegs so, dass all diese Dinge statthaben und als zusätzliches Akzidens auch noch ihre Gesellschaftlichkeit zu betonen wäre. Was ich hier behaupten möchte, ist vielmehr dies: All das Angedeutete findet nicht nur in einer Gesellschaft statt, sondern es findet als Gesellschaft statt. Dass all dies überhaupt möglich ist, setzt eine Gesellschaft voraus, die bereits eine gesellschaftliche Struktur hat, bevor das Buch wissenschaftlich geschrieben, vertraglich ermöglicht, ökonomisch kalkuliert sowie verkauft und medial verbreitet werden kann. Schon dieses banale Beispiel zeigt, dass man sich der Empirizität, der Erfahrbarkeit einer Gesellschaft gar nicht entziehen kann. Insofern erscheint die Frage, ob Gesellschaft ein empirischer Gegenstand sei oder sein könne, tatsächlich trivial.

12Freilich stellt sich tatsächlich die Frage sofort anders, wenn man den Fokus weniger auf die Gesellschaftlichkeit der hier angedeuteten Phänomene lenkt, sondern auf die Frage ihrer empirischen Erfassbarkeit. Es geht dabei um nichts Geringeres als um das Verhältnis von empirischer Forschung und soziologischer Theoriebildung. Schon die wenigen Sätze, die ich über die Gesellschaftlichkeit dieses Buches angedeutet habe, legen etwa nahe, wie sich dieser Text eine Gesellschaft vorstellt. Es geht offensichtlich um zweierlei: zum einen darum, dass Gesellschaft stets auf etwas Abwesendes Bezug nimmt, also auf Möglichkeitsbedingungen, die in konkreten Situationen nicht unmittelbar beobachtbar sind, zum anderen darum, dass die Beschreibung etwa der wissenschaftlichen, rechtlichen, ökonomischen und medialen Relationalität des vorliegenden Buches bereits theoretische Vorannahmen enthält, die den Kenner der Materie an differenzierungstheoretische Figuren erinnern wird. Was kann man also sehen? Nur konkrete Situationen, nur konkret und situativ Sichtbares, nur das Anwesende, wie spätestens seit Karl Poppers Situationismus die Gefahr transzendentaler, das heißt nichtempirischer Beschreibungen gebannt werden soll? Und in der Tat gilt: Alles Sehen und Wahrnehmen findet stets gegenwärtig statt – es gibt nichts, was nicht jetzt und hier stattfindet, wenn man sich tatsächlich für Operatives, für Empirisches, für Konkretes interessiert. Was kann man also sehen? Nur Gegenwarten oder mehr? Nur Gegenwarten in einer Gesellschaft? Letzteres würde schon wieder das Problem entstehen lassen, dass Gegenwarten und die Gesellschaft Gegenstände unterschiedlicher ontologischer Art seien. Was ich hier vorschlagen möchte, ist weder ein neuer positivistischer Situationismus noch der bloße Versuch, Gegenwarten in einer Gesellschaft zu verorten, sondern Gesellschaft selbst als den Zusammenhang von Gegenwarten zu beschreiben – als Gesellschaft der Gegenwarten eben.

Nehmen wir einmal empirizistisch an, dass sich tatsächlich nur Situationen, also Gegenwarten unmittelbar beobachten lassen, so stellt sich soziologisch in der Tat die Frage danach, wie unterschiedliche Gegenwarten miteinander verbunden sind, das heißt, wie unterschiedliche empirische Phänomene und damit ihre Befunde in Relation zueinander stehen. Wie geht man mit der banalen Tatsache um, dass die Verbreitung des hier Geschriebenen eine »gesellschaftliche« Infrastruktur voraussetzt, also einen Markt, 13Papierproduktion und Druckmaschinen, Leute, die diese Maschinen bedienen, Leute, die weder die Leser noch der Autor dieses Buches je zu Gesicht bekommen werden? Wie geht man damit um, dass die Sätze, wie sie hier geschrieben vorliegen, einer bestimmten materialen Form und sinnhaften Erwartungen genügen müssen, um zu funktionieren, ohne dass dieser Art Form und Sinn der Situation selbst entstammen? Wie fasst man soziologisch die empirisch evidente Erfahrbarkeit, dass alles, was in dieser Gegenwart geschieht, von gleichzeitigen und ungleichzeitigen Gegenwarten andernorts hochgradig abhängig ist? Mir geht es nicht darum, diese Selbstverständlichkeiten eigens zu begründen, denn es sind in der Tat Selbstverständlichkeiten, die sich schon daran ablesen lassen, dass die Erörterung dieser Fragen das voraussetzt, was hier zur Erörterung steht. Abstrakt lässt sich dann formulieren, dass bereits die Beschreibung, auch die soziologische Beschreibung, der Gesellschaft in der Gesellschaft stattfindet und auf eine Geschlossenheit hinweist, aus der es kein Entkommen und zu der es keine Alternative gibt – außer jener, auch dies innerhalb jener »gesellschaftlichen« Geschlossenheit zu vollziehen. [1]

Mit diesem Begriffsvorschlag, den ich bereits an verschiedenen Stellen formuliert habe (vgl. Nassehi 2003a, S. 159 ff.; Nassehi 2006b, S. 375 ff.), verfolge ich drei Ziele: Erstens werde ich die Gegenwärtigkeit allen gesellschaftlichen Geschehens darstellen; zweitens werde ich auf die Operativität alles Gegenwärtigen hinweisen; und drittens werde ich zeigen, wie alles Gegenwärtige, also alles, was geschieht, nur in seiner Gesellschaftlichkeit zu verstehen ist.

Die Gegenwärtigkeit alles Gesellschaftlichen

Ist Gesellschaft tatsächlich nur ein spekulativer Gegenstand oder empirisch beobachtbar? Diese Frage impliziert mehr als nur das Problem der Erreichbarkeit. Es gibt in der soziologischen Forschung eine ausgeprägte Vermeidungsstrategie, Gesellschaft als einen tatsächlich benennbaren Sachverhalt zu behandeln – denn so 14lange Forschung sich nur um kontrollierbare, das heißt sichtbare Phänomene kümmern kann, ist jeder Rekurs auf alles, was sich dieser Sichtbarkeit entzieht, illegitim (vgl. dazu etwa Friedrichs/Lepsius/Mayer 1998, S. 9 ff.).

Dabei wird das Entscheidende durchaus sichtbar, wenn man den engen Blick auf die je eine Gegenwart multipliziert. Es erscheint dann eine Gesellschaft, die alles, was sie tut, in je konkreten Gegenwarten mit je eigenen Anschlusslogiken und -möglichkeiten tut. Letztlich lässt sich das an allen großen gesellschaftlichen Themen beobachten. Man denke etwa an den bioethischen Diskurs, an dem sich deutlich ablesen lässt, wie unterschiedlich und inkommensurabel sich unterschiedliche Perspektiven darstellen. Dabei geht es keineswegs um unterschiedliche ethische Theorien oder Orientierungen, sondern eher darum, dass sich empirisch zeigen lässt, dass die unterschiedlichen Perspektiven sich in geradezu unterschiedlichen Welten aufhalten. In einem Forschungsvorhaben über klinische Ethik-Komitees etwa konnten wir herausarbeiten, wie in solchen Gremien Sprecher inkommensurabler Welten aufeinandertrafen, deren Perspektiven sich nicht einfach harmonisieren und demokratisieren ließen, sondern deren Inkommensurabilität sachlich und sozial bearbeitet wurde (vgl. Nassehi/Saake/Mayr 2008). Ein solches Gremium verweist darauf, dass derselbe Sachverhalt beziehungsweise dasselbe Problem in den je unterschiedlichen Kontexten der hier aufeinandertreffenden Sprecher je Unterschiedliches bedeutet. Eine ärztliche Perspektive unterscheidet sich radikal von der eines Patienten, eines juristischen Beobachters, eines religiösen Akteurs oder gar eines Ethikers. Das mag auf den ersten Blick selbstverständlich und geradezu banal erscheinen, aber exakt das ist es, was die Komplexität einer modernen Gesellschaft ausmacht: dass Sprecher/Akteure unterschiedlicher Herkünfte aus je unterschiedlichen Kontexten an kommunikative Formen anschließen. Durch diese Sprecher spricht letztlich eine Gesellschaft hindurch, die sich daran gewöhnt hat, dass Kommunikation keine Eindeutigkeit herstellt, sondern Perspektiven entkoppelt. Im Falle klinischer Ethik-Komitees wird die Inkommensurabilität der beteiligten Perspektiven nicht zum Anlass genommen, vor Entscheidungen zu kapitulieren, sondern eine Form für die Inkommensurabilität zu finden. In diesem empirischen Fall ist es die Form, Inkommensurabilität durch Authentizität zu kompensieren – was 15hier auch die Orientierung des Ethischen an strengen, Eindeutigkeit generierenden guten Gründen verhindert. Das Ethische wirkt dann gewissermaßen in der Folgenlosigkeit der unterschiedlichen Perspektiven fort, die sich nicht nur in ihrer Inkommensurabilität, sondern auch in ihrer Unhintergehbarkeit anerkennen – nicht moralisch übrigens, sondern praktisch (vgl. Nassehi 2010a, S. 12 ff.).

Aus diesem Beispiel lässt sich lernen, dass sich die moderne Gesellschaft nur als eine Gesellschaft verstehen lässt, die vor allem mit der Inkommensurabilität ihrer Perspektiven umzugehen gelernt hat. Das heißt nicht, dass Gesellschaften zerfallen oder ihre operative Basis verlieren – im Gegenteil: Sie finden ihre Form und ihre Einheit gerade darin, dass sie die Differenz ihrer Funktionen empirisch durch die Differenzierung konkreter operativer Gegenwarten bearbeiten. Das klassische Arena-Modell der Gesellschaft, entstanden im 19. Jahrhundert gleichzeitig mit dem operativen Selbstbewusstsein politisch verstandener Nationalgesellschaften, hat es geschafft, die Definition gesellschaftlicher Problemlagen und die Konstruktion lösbarer Probleme in einem »gesellschaftlichen« Diskurs zu etablieren, wie ihn Jürgen Habermas treffend als »Strukturwandel der Öffentlichkeit« beschrieben hat. Die Etablierung einer politischen beziehungsweise politisierbaren Öffentlichkeit war ihrerseits eine Reaktion darauf, mit der Komplexität der Gesellschaft zurechtzukommen, indem man so etwas wie »eine zentrale Gegenwart« hergestellt hat. Gesellschaft wurde als Gegenwart erlebt – als Gegenwärtigkeit, als Gleichzeitigkeit von Unterschiedlichem, was in den Nationalgesellschaften des 19. und 20. Jahrhunderts vor allem räumlich umgesetzt wurde. Das Primat des Politischen in jener Epoche war vor allem eines der politischen Beschreibbarkeit der Welt – keineswegs ein operatives Primat in dem Sinne, dass die Gesellschaft tatsächlich so »politisch« war, wie sie der öffentlich wirksamen Selbstbeobachtung und auch der professionellen Selbstbeobachtung durch ihre Soziologie erschien. Gegenwärtigkeit wurde letztlich dadurch hergestellt, dass die Definition von gesellschaftlichen Themen und Problemen sich an der Machbarkeit und Entscheidbarkeit politischer Themenstellungen orientierte, was dann auch die entsprechend kompakten politischen Angebote in Form klassischer Parteien, Lösungskonzepte und polit-kultureller Orientierungen hervorgebracht hat. Mit Differenzierungsproblemen ist man dann entsprechend »politisch« umgegangen – einerseits 16durch die Definition von gesellschaftlichen Themen als kollektiv zu entscheidenden beziehungsweise zu bearbeitenden Themen, andererseits auch anhand des Erfolgs der nationalgesellschaftlichen beziehungsweise -staatlichen Einhegung von Funktionssystemen durch solche Begrenzungen. Nicht nur Politik, auch Recht, Ökonomie und Wissenschaft konnten in dieser Weise eingegrenzt werden und die Illusion einer, wohlgemerkt: einer gesellschaftlichen Gegenwärtigkeit nähren. Die Idee eines herrschenden ästhetischen Geschmacks, wie Bourdieu ihn beschrieben hat, aber auch die Orientierung an »normalen« Lebensläufen und Erwerbsverhältnissen, sogar die anthropologisierende Idee einer reflexiven Vernunft – all das stellte eine Gegenwärtigkeit her, die keineswegs empirisch so gegeben war, aber letztlich in der Selbstbeschreibung der Gesellschaft und ihrer massenmedialen Vermittlung institutionalisiert wurde. Wo Differenzen auftauchten, wurden sie in Form von etablierten Konflikten integriert – man denke etwa an den zentralen sozialen Konflikt als integrativem Faktor der Industriegesellschaft, wie Ralf Dahrendorf (in Dahrendorf 1959) ihn beschrieben hat. Gesellschaftliche Gegenwärtigkeit war von Themen und räumlichen Grenzen bestimmt.

Letztlich hat diese gesellschaftliche Erfahrung es für die Soziologie selbst kaum attraktiv gemacht, einen operativen Gesellschaftsbegriff zu etablieren – einen Gesellschaftsbegriff, der sich dafür interessiert, wie sich Ordnung tatsächlich empirisch in konkreten Gegenwarten praktisch herstellen muss. Die Illusion einer starken gesellschaftlichen Gegenwärtigkeit hat letztlich einen Substratbegriff von Gesellschaft hinterlassen, der entweder an den integrativen Funktionen von Normen und Werten oder von Konflikten ausgerichtet war oder der sich schlicht mit der medial gestützten Erfahrung einer nationalräumlich begrenzten Substanz zufriedengab. Ein operativer Gesellschaftsbegriff dagegen stößt auf zweierlei: Zum einen stößt er auf die empirische, praktische, immer wieder neu zu aktualisierende, prozessuale Herstellung von Strukturen und Regelmäßigkeiten. Alles, was geschieht, geschieht dann in konkreten, praktischen, lokalen Gegenwarten. Auch die Bestätigung von Strukturen und Regelmäßigkeiten muss immer wieder neu erfolgen, denn es lässt sich kein ontologisches Substrat ausmachen jenseits des »Es geschieht«. Zum anderen bildet ein operatives Verständnis von Gesellschaft die Erfahrung ab, dass die 17Gesellschaft aus unterschiedlichen je gegenwärtigen Perspektiven je unterschiedlich erscheint. Diese vor allem systemtheoretisch und praxistheoretisch weithin etablierte Figur klingt abstrakt; sie schließt an epistemologische Annahmen an, die die Perspektivität aller Kognition betonen und Welt als ein Aktkorrelat denken. Gerade für systemtheoretische Denkfiguren ist konstitutiv, auf die Systemrelativität allen Geschehens hinzuweisen. Allerdings handelt es sich hierbei, trotz aller Abstraktheit, um einen empirisch in der modernen Gesellschaft evidenten Sachverhalt. Die Gegenwärtigkeit der »Gesellschaft« hat sich offensichtlich an die Pluralisierung von Gegenwarten gewöhnt – daran, dass gesellschaftliche Kommunikation bereits damit rechnet und dechiffrieren kann, dass kommunikative Akte stets systemrelativ codiert und indiziert sind. Einige einfache Beispiele mögen das deutlich machen: Die Indizierung von Kommunikation geht so weit, dass etwa der sachliche Gehalt der Aussage eines Politikers – als Personenkonstrukt des politischen Systems – stets mit dem Index versehen wird, dass ebendieser sachliche Gehalt mindestens doppelcodiert ist. Er hat auch einen politischen Gehalt – ob der Sprecher das will oder nicht, und ob dies so »gemeint« ist oder nicht. Eine Aussage im Kontext politischer Kommunikation verändert oder bestätigt stets die politische Konstellation von Machterhalt und Machtverlust beziehungsweise von kollektiv bindender Entscheidbarkeit. Dasselbe widerfährt dem sachlichen Gehalt eines Satzes, geäußert von einem Unternehmensvertreter, der nolens volens in den Sog ökonomischer Indizierung hineingezogen wird. Und wer als Pädagoge kommuniziert, kommt nicht heraus aus der pädagogischen Gegenwart, dass etwa eine Frage mehr oder anderes implizieren könnte als nur den sachlichen Gehalt der Frage. Man kann das auch rollentheoretisch erklären – muss dann aber zugleich mitsehen, dass die unterschiedlichen Reziprozitäten von Verhaltenserwartungen gerade auf die unterschiedlichen Gegenwarten einer Gesellschaft verweisen, in der die Dechiffrierung unterschiedlicher Gegenwarten, Gegenwärtigkeiten zum gewohnten Inventar gehört.

Ich habe mehrfach auf »Gewohnheit« hingewiesen, darauf, dass sich diese Gesellschaft und Akteure in dieser Gesellschaft daran gewöhnt haben, unterschiedliche Gegenwarten mit unterschiedlichen Logiken und mehrfach codierten Bedeutungen auszuhalten. Der Rekurs auf Gewohnheit meint tatsächlich, dass es sich dabei 18letztlich um ein vorreflexives, praktisches Wissen handelt. Was in der Sozialphänomenologie als »Reziprozität der Perspektiven« (vgl. Schütz 2003, S. 97) bezeichnet wird, sollte auf die Unterstellung einer gemeinsamen Welt trotz unterschiedlicher Perspektiven hinweisen – in dem Sinne, dass die Lebenswelt von der Illusion einer Welt für alle geprägt sei. Schon Husserl hatte versucht, die Idee der Perspektivität, in diesem Sinne: Gegenwärtigkeit allen Wahrnehmens und Operierens, mit einem Weltbegriff zu versöhnen, der eben nicht ein solipsistisches Aktkorrelat sein sollte, sondern Welt für alle ist. Denn das ist die eigentliche operative Leistung, eine solche Welt für alle operativ herzustellen.

Man muss die Figur der »Reziprozität der Perspektiven« wohl erweitern – und zwar in die Richtung, dass wir uns daran gewöhnt (sic!) haben, dass diese Reziprozität als solche registriert wird, zugleich aber zu unterschiedlichen Welten führt. Die Multiplikation von Möglichkeiten gilt übrigens nicht nur zwischen Funktionssystemen, sondern auch innerhalb ihrer selbst. Die Einheit eines Funktionssystems wird durch die Codierung beziehungsweise die Orientierung an einem symbolisch generalisierten Kommunikationsmedium erzeugt – aber eben diese Form von Einheit und operativer Eindeutigkeit ist ein Garant für Vielfalt, für requisite variety, für Pluralität. Gerade derselbe Code ermöglicht es, unterschiedliche wissenschaftliche Sätze über den gleichen Sachverhalt sagen zu können, explizit Unterschiedliches für politisch geboten zu halten, denselben Sachverhalt juristisch unterschiedlich würdigen zu können oder auf unterschiedliche Weise an Gott oder die Götter zu glauben.

Eine Gesellschaft der Gegenwarten ist also eine Gesellschaft, die in erster Linie auf Perspektivendifferenz gebaut ist, auf Unversöhnlichkeit, auf widersprüchliche Praxisformen. Es entstehen dadurch unterschiedliche Anschlüsse, unterschiedliche Gegenwarten, unterschiedliche Kontexte, und gesellschaftliche Modernität scheint sich dadurch auszuzeichnen, mit dieser Differenziertheit klarzukommen. Die Konzentration der modernen westlichen »Kultur« auf Einheitschiffren – auf Rationalität und Vernunft, auf eine universalistische conditio humana, auf die Idee der Gesellschaft als Arena des Interessenausgleichs, auf standardisierte Formen legitimer ästhetischer Urteile und Lebensformen etc. – verweist auf dieses Bezugsproblem der konkurrierenden Kontexte.

Gesellschaft der Gegenwarten meint exakt dies: Die moderne Ge19sellschaft zeichnet sich dadurch aus, dass sie die Möglichkeit von Anschlüssen multipliziert. Für eine empirische Forschungsperspektive bedeutet das, sich nicht von einer vorgängigen Harmonisierungserwartung solcher Perspektiven einschränken zu lassen, sondern die Logik von Situationen tatsächlich darin zu entdecken, dass es unterschiedliche Gegenwarten sind, in denen sich Anschlüsse plausibel machen, Anschlüsse, die an sich selbst feststellen, dass diese Gegenwart sich ebenso wenig wie andere auf andere Gegenwarten und Plausibilitäten extrapolieren lässt.

Die Operativität alles Gegenwärtigen

Alles, was geschieht, geschieht in einer Gegenwart. Dieser Satz scheint auf den ersten Blick von großer Selbstverständlichkeit zu sein und nicht weiter erläuterungsbedürftig. Denn weder in der Vergangenheit, noch in der Zukunft geschieht etwas – es sei denn in vergangenen oder zukünftigen Gegenwarten. Auf den zweiten Blick freilich ist dieser Satz keineswegs so selbstverständlich, denn was das »Es geschieht« bedeuten soll und was darin die Qualität der Gegenwart ausmacht, ist mit diesem Satz eher vorausgesetzt denn erläutert.

Was sich in einem ersten Denkschritt freilich schon zeigen lässt, ist Folgendes: Dass etwas geschieht, erscheint zwar selbstverständlich. Aber vielleicht ist dies der Satz, an dem sich wissenschaftliche Innovationen in verschiedenen Disziplinen ereignen. Wenn es ein Gemeinsames derzeitiger wissenschaftlicher Innovationen gibt, dann ist es wohl die Abkehr von der Beschreibung konstanter Bedeutungen, Welten, Ordnungen und Strukturen hin zur Konzentration auf den prozessualen Aspekt des Ordnungsaufbaus, der operativen Entstehung und Entfaltung von (psychischen, sozialen, kulturellen, biologischen) emergenten Strukturen, der performativen Herstellung von Bedeutung, der praktischen Bewährung von Erwartungen usw. Der Begriffe sind viele – aber das zugrunde liegende Bezugsproblem ist ähnlich: weg von der ontologisierenden Beschreibung dessen, was der Fall ist, und hin zu dem, was sich ereignet, was geschieht und was darin erst jene Ordnungen generiert, die nur dann stabil aussehen, wenn man den Aspekt der Zeitlichkeit und des Werdens unterschätzt.

20Der Blick auf den – zusammenfassend gesprochen – operativen Aspekt des Aufbaus von Ordnung verweist unmittelbar auf das Problem der Gegenwart. Operatives, Emergentes, Sich-Ereignendes, Performatives sind Gegenwartskorrelate – in dem Sinne, dass sich die operative Entfaltung von Ordnung operativ vollziehen muss und nur in Gegenwarten ablaufen kann. Dies verweist nun nicht nur auf Gegenwart als zentrale Frage, sondern nimmt dem Topos des Gegenwärtigen auch die Trivialität, womöglich nur ein »Jetzt« zu sein. Es ist sowohl eine empirische als auch eine theoretische Frage, was wie als Gegenwart behandelt wird. Jedenfalls steht Gegenwart für jenen Aspekt des Operativen, an dem sich entscheidet, wie emergente, operative Prozesse für Anschlüsse sorgen. Damit haben Gegenwarten sowohl eine zeitliche Ausdehnung als auch eine sachliche Bandbreite von Möglichkeiten – man denke etwa an die Drei-Sekunden-Intervalle als kleinste operative Einheit des Bewusstseins/Gehirns (vgl. Pöppel 1997, S. 64; 2009) oder an die soziale Konstruktion von Situationen, in denen Ereignisse noch revidierbar sind und die damit eine operative Gegenwart konstituieren, an die weitere Gegenwarten in der Zeit anschließen. Der Topos Gegenwart ist damit das dynamische, operative Korrelat zur Herstellung von Ordnung, Stabilität und Struktur. Das Eine ist ohne das Andere nicht zu denken.

Diese operative Bedeutung des Gegenwärtigen habe ich an anderer Stelle ausführlich theoretisch dargestellt (vgl. zum Folgenden Nassehi 2008a, S. 24 ff.). Was ich dort als Entparadoxierung der Zeit durch die Zeit entwickelt habe, findet sich heute in ähnlicher Gestalt in praxistheoretischen Termini wieder. Ich möchte zunächst kurz meine eigene Gedankenführung rekonstruieren:

Das Argument arbeitet folgendermaßen: Die Auflösung des Zirkels der Reflexion in der Theorie autopoietischer Systeme stellt von Substanz auf Zeit um. Während traditionelle Lösungen des Problems eine invariante Substanz als Entparadoxierung annehmen, die den Akt der Selbstbeobachtung immer schon enthält, entparadoxieren sich ereignisbasierte, autopoietische Systeme durch Zeit. Sobald ein neues Ereignis auftritt, gehört die Beobachtung, die durch gleichzeitige Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit zum System eine Paradoxie verursacht hat, nun eindeutig zum System, wie eine neue Beobachtung zeigen kann, die aber selbst auch eine neue Paradoxie produziert. In diesem Sinne bemerkt Luhmann: »Eine erste Unter21scheidung kann nur operativ eingeführt, nicht ihrerseits beobachtet (unterschieden) werden. Alles Unterscheiden von Unterscheidungen setzt diese ja voraus, kann nur nachher erfolgen, erfordert also Zeit beziehungsweise, in anderen Worten, ein in Operation befindliches autopoietisches System. Und alle Rationalisierung ist deshalb Postrationalisierung« (Luhmann 1990, S. 80). Die logische Aufhebung der Paradoxie der Selbstbezüglichkeit erfolgt demnach durch die Zeit, das heißt zeitweise, nämlich von Ereignis zu Ereignis.

Diese Einheit der Differenz als Akt beziehungsweise als Sich-Ereignen habe ich mit Husserls Theorie der Retention und Protention beschrieben. Luhmann bezeichnet diesen Sachverhalt als »basale Selbstreferenz«, der »die Unterscheidung von Element und Relation zugrunde liegt« (Luhmann 1984, S. 600). Diese »Mindestform von Selbstreferenz« bildet die Grundbedingung autopoietischer Prozesse: Ein Element schließt an ein anderes an, identifiziert sich durch diese Relationierung als Element des Systems und wird nach seinem Verschwinden selbst Relatum einer Relationierung, die wiederum eine neue Gegenwart konstituiert. Dadurch wird Zeit schon auf der Ebene der Autopoiesis konstituiert, was nicht weiter erklärungsbedürftig zu sein scheint, da diese operative Konstitutionstheorie der Zeit bereits von Husserl vorbereitet worden ist. Da Zeit schon auf der elementaren Ebene autopoietischer Operationen durch das Auftreten und Verschwinden von Ereignissen konstituiert wird, kann man hier von Ereignistemporalitäten sprechen.

Vom Problem der Ereignistemporalität her habe ich ein Problem aufgegriffen, das sich auch im Zusammenhang mit Husserls Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins stellt, sich aber im Lichte der Ereignistheorie womöglich ganz anders darstellt. Von verschiedenen Seiten ist Husserl vorgeworfen worden, dass es ihm nicht gelungen sei, die Selbstgegenwart des Bewusstseins paradoxiefrei zu entwickeln, was erhebliche Konsequenzen für die Beschreibung des Zeitbewusstseins hat. Ich meine damit die komplementären Vorwürfe von Jacques Derrida und Manfred Frank an die Adresse Husserls, die ich hier nicht noch einmal rekonstruiere (vgl. dazu ausführlich Nassehi 2008a, S. 72-76 und 182 ff.). Als Ergebnis habe ich herausgearbeitet, dass operative Systeme sich selbst sozusagen immer schon vorweg sind, da sie sich nie in ihrer Gänze beobachten (geschweige denn: kontrollieren) können. Wir werden 22letztlich in unserem Bewusstsein von uns selbst überrascht, weil wir den operativen Akten unseres Bewusstseins unhintergehbar ausgesetzt sind.

Und Ähnliches geschieht auch in der Kommunikation. Parsons hatte ja bekanntlich die Situation doppelter Kontingenz normativ aufgelöst – unter anderem in dem Sinne, den Überraschungswert sozialer Prozesse für sich selbst möglichst gering zu halten. In der Luhmannschen Variante dagegen wird Kommunikation – wenn man so will – von sich selbst überrascht, weil sie sich immer schon vorreflexiv, das heißt genau: vor der Reflexion vorfindet. Dass jedes kommunikative Ereignis zunächst eine Beobachtung erster Ordnung ist, wie Luhmann sagt, soll exakt dies heißen: dass Kommunikationen in ihrer jeweiligen Gegenwärtigkeit unvermittelt und kontingent auftreten und dann retentional oder erinnernd reflektiert werden. Erst in der nachträglichen Selbstbeobachtung durch das nächste Ereignis kann sich Kommunikation auf sich beziehen. Insofern ist die systemtheoretische Kommunikationstheorie eine phänomenologische Theorie der Zeit.

Was die Systemtheorie von der Phänomenologie gelernt hat, ist die Einsicht in die Radikalität der Gegenwartsbasiertheit operativer Theorieformen. Das Besondere bei Husserl (und ähnlich in der Ereignisphilosophie Alfred North Whiteheads) ist die radikale Temporalisierung, die auf eine Praxis verweist, die für sich selbst weitgehend unhintergehbar ist, die eben keine Reflexivität hinter den Ereignissen mehr kennt, sondern die strenge Immanenz allen Geschehens. Soziologisch ist das insofern bedeutsam, als sich damit eine Theorie der Unentrinnbarkeit abzeichnet. Es gibt keine Möglichkeit, aus der eigenen Praxis auszusteigen, was nicht nur die Lust an der theoretischen Paradoxie befördern sollte, die man dann dekonstruieren kann. Viel interessanter ist die gewissermaßen protosoziologische Einsicht, dass sich soziale Ereignisketten, das Nacheinander von Handlungen und Kommunikationen, die Anschlussfähigkeit von Ereignissen praktisch ereignen und an ihre operativen Gegenwarten gebunden sind. Die empirischen Konsequenzen dieser Einsicht sollten nicht unterschätzt werden: Es sind in der Tat so etwas wie urimpressionale Gegenwarten, in denen sich Akteure vorfinden und durch die sie als Akteure konstituiert werden. In diesem Sinne ist die Theorie autopoietischer Systeme eine phänomenologische Theorie, weil sie keine Referenz außerhalb der 23eigenen Praxis erlaubt. Viel lässt sich dabei von Derridas Kritik an Husserl lernen (vgl. Derrida 1979). Dass Derrida in der Urimpression einen Rest Metaphysik sehen will, ist kein Zufall – wenn mit dem Titel Metaphysik etwas bezeichnet werden soll, was seine eigene Präsenz gewissermaßen voraussetzt und unerklärbar macht. Das Spannendste an der Figur autopoietischer Systeme wie an der Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins liegt in der Möglichkeit, Prozesse zu beschreiben, die von sich selbst überrascht werden können, eben weil sie an ihre urgegenwärtige Praxis gebunden sind.

Exakt hier schließt die Rekonstruktion operativer Gegenwarten an die Praxistheorie an (vgl. zum Folgenden ausführlicher Nassehi 2006b, S. 228 ff. und 251 ff.). Die Grundidee der sogenannten praxistheoretischen Wende besteht darin, dass das, was uns in der alltäglichen Beobachtung der Teilnehmerperspektive als Quelle des Handelns erscheint, weder Ursache noch Wirkung ist, sondern bloß das Ergebnis einer Praxis, die sich selbst bewirkt. Diese Idee basaler Selbstreferenz der Praxis hat Gabriel de Tarde bereits 1890 in seinen Gesetzen der Nachahmung in den soziologischen Diskurs eingebracht: »Die Gesellschaft besteht aus Nachahmung und Nachahmung aus einer Art Somnambulismus« (de Tarde 2003, S. 111). Die Metapher des Schlafwandelns soll hier nur besagen, dass die Motive des Handelns selbst nicht bewusst entstehen, weil sie kein »Davor« kennen, denn von welcher Art sollten Motive sein, die Motive motivieren? Von de Tardes Nachahmungstheorie kann man also nicht nur lernen, dass soziale Regelmäßigkeit das eigentlich Aufregende ist (und nicht: der Wandel), sondern auch, dass der soziologische Blick sich dafür zu interessieren hat, wie Praxisformen sich selbst hervorbringen – einschließlich der Selbstbeschreibungen dieser Praxis, die lediglich ein Teil davon sind. Gewissermaßen stößt man bei einem solchen Vorrang der Praxis auf Überraschung, das heißt auf eine Praxis, die je in Gegenwarten erzeugt wird und insofern kein Davor kennt, das außerhalb der Praxis liegt. Dies ist nur eine andere Formulierung für das alte Paradoxieproblem der Selbstimplikation, das alte Problem der Motivation der Motive, oder, in Fichtes Diktion: der Selbstsetzung des Ich. Und soziologisch wird dieses Problem eben nicht transzendental, sondern empirisch gelöst. Nicht hinter der Praxis, also transzendental, ist ihr Gegenstand anzusetzen, sondern in ihr. Was erklärt werden muss, ist dann die Frage, wie ein praktisches Ereignis auf das nächste 24trifft, wie angeschlossen wird, welche Selbsteinschränkung von Möglichkeiten eine Praxis entstehen lässt, die sich zwar überrascht, aber nicht überfordert. Diese praxistheoretische Perspektive ist eine Theorie der Gegenwart, nicht eine der Präsenz. Die Figur der Überraschung verweist auf eine radikale Temporalisierung des soziologischen Blicks, auf operative Theorieanlagen, die durch den Vorrang der Praxis vor der Repräsentation geradezu erzwungen werden.

Inzwischen scheint sich so etwas wie ein practical turn anzukündigen (vgl. Reckwitz 2003b), der sich gegen jenen »Mentalismus« in Stellung bringt, der einer auf Motive fixierten Theorie des Handelns beziehungsweise des Sozialen zugrunde liegt. Vielleicht könnte man von einem zweiten Pragmatismus sprechen, der sich in erster Linie dafür interessiert, was tatsächlich geschieht, nicht was an dahinterliegenden Motiven und Repräsentationen vermutet wird. Freilich meint Praxis nicht einfach die Tatsache, dass etwas geschieht. Eine soziologische Frage wird aus der Praxisfrage erst dort, wo es um Kontexte des Geschehens geht, wo Anschlussmöglichkeiten und -wirklichkeiten diskutiert und wo Praktiken praktisch aufeinander bezogen werden. Andreas Reckwitz, der den practical turn zu systematisieren versucht hat, bringt denn auch die Praxistheorie nicht nur gegen den Mentalismus in Stellung, sondern auch gegen den Strukturalismus (Reckwitz spricht von Textualismus) der foucaultschen Diskursanalyse und die Theorie der Alltagszeichen Roland Barthes’ sowie gegen Luhmanns angebliche »Festlegung des Sozialen auf die Codes und Semantiken von Kommunikationssequenzen ›in der Umwelt‹ von psychischen Systemen« (ebd., S. 289). Ob darin tatsächlich, wie Reckwitz meint, ein konzeptueller »›Intellektualismus‹« oder gar eine »›Intellektualisierung‹ des sozialen Lebens« zu sehen ist, wird gerade durch das radikal gegenwartsbasierte Design der Systemtheorie widerlegt. Allerdings bringt Reckwitz durchaus treffend auf den Begriff, dass der Ort des Sozialen keineswegs allein durch Texte und Symbole bestimmt sei und sich weniger durch eine intellektuelle Form einer hermeneutischen Einstellung zur Welt reproduziere. Soziale Praktiken bezeichnet er vielmehr »als know-how abhängige und von einem praktischen ›Verstehen‹ zusammengehaltene Verhaltensroutinen, deren Wissen einerseits in den Körpern der handelnden Subjekte ›inkorporiert‹ ist, die andererseits regelmäßig die Form von routinisierten Beziehungen zwischen Subjekten und von ih25nen ›verwendeten‹ materialen Artefakten annehmen« (Reckwitz 2003b, S. 289). Diese Formulierung weckt sofort Assoziationen zur Metapher des Schlafwandelns bei de Tarde, was darauf gemünzt ist, die soziologische Beobachtung von der Vorstellung zu befreien, ihr Gegenstand sei der Effekt einer mentalen Repräsentation nicht einmal des Handlungsvollzugs selbst, sondern vor allem seiner antizipierten Affekte.

Dass hier selbstverständlich der Hinweis auf den »Körper« nicht fehlen darf, ist nicht zu kritisieren – aber durchaus interpretierbar. Ohne Zweifel sind es Körper, an denen sich soziale Konstellationen und Verhalten sichtbar machen lassen, so sichtbar, dass man soziologische Beschreibungen ganz aufs Körperliche reduzieren kann und in diesem Verfremdungsaspekt dann durchaus auf Einsichten in eine Ordnung stößt, die an den Körpern sichtbar wird. Aber ist das, was da sichtbar wird, tatsächlich nur eine Ordnung des Körpers beziehungsweise der Körper? Ich habe den Verdacht, dass die Sichtbarkeit des Körpers allzu sehr auf das Vertrauen in Sichtbarkeit überhaupt setzt und damit dem kritisierten Mentalismus ähnlicher wird, als ihr lieb sein kann. Denn die kulturelle Plausibilität der »Sichtbarkeit« des Mentalen, also der Motiv- und Innenwelt des Akteurs, bestand gerade darin, dass dieses Bild der bürgerlichen Genese der klassischen europäischen Praxis der Weltbeobachtung geläufiger war als die Bilder des Körpers. Nun könnten es eher die Bilder des Körpers sein, vermittelt durch eine bildreiche Welt der Massenmedien, in denen die Konfrontation mit allerlei Geschehen ohnehin eine Art practical turn nahelegt, der von Motiven geradezu befreit wird. Es sind andere Sehgewohnheiten dazu gekommen – nicht nur beim Gegenstand der Soziologie, sondern auch bei ihr selbst. Die Orte des »Wissens« werden unter anderem Körper, deren Konstellationen dann schlicht so sind, wie sie aussehen – ja, die Orte des »Wissens« wandern sogar aus der Menschenwelt und aus der Zeichenwelt von Verweisungssystemen aus und lassen sich in Artefakten nieder, in Tieren und in der Natur, die ja selbst ebenso Zeichen wie Bezeichnetes ist und darin im Verhältnis von Handelndem und behandelter Welt wieder symmetrische Verhältnisse einführt, wie man es aus Gesellschaften kennt, die nicht einmal »nie modern« waren (Locus classicus dazu: Latour 1995).

Der Körper kommt dabei nicht nur als Analysegegenstand ins Spiel, sondern auch in seiner theorietechnischen Bedeutung. Er soll 26das Implizite anstelle des Expliziten darstellen, das Unmittelbare im Vergleich zum nur Mittelbaren, er stellt gewissermaßen Außenkontakt her innerhalb eines zeichenhaften Verweisungszusammenhangs, das kein Außen mehr kennt. Nun wäre es freilich naiv, in Abrede zu stellen, dass sich soziale Konstellationen in der Tat auch als Körperkonstellationen darstellen. Richtig ist auch, dass die auf individuelle Motive sich kaprizierende Soziologie die praktische Bedeutung solcher Körperkonstellationen vernachlässigt hat. Die besondere Konzentration auf körperliche Praktiken freilich scheint mir eine starke temporale Implikation zu haben. Wer Körper sieht – sowohl in praxi als auch als forschender Beobachter –, muss sie in einer Gegenwart sehen. Wer Körper sieht, sieht nicht abstrakte Präsuppositionen, Motive oder Kulturbedeutungen, sondern zunächst einmal konkrete empirische Operationen. Das macht offensichtlich das Körperliche für die Soziologie derzeit so interessant, und sicher ist das auch eine Gegenreaktion gegen die epistemozentrische, in Bourdieus Worten: scholastische Vernunft soziologischer Normalwissenschaft, die immer schon alle Bedeutungen kennt. Eine besondere hermeneutische Herausforderung scheint deshalb der Körper zu sein, weil er nicht als Gedeutetes auftaucht, sondern etwas tut – selbst wenn man ihn dann als Ergebnis von Praktiken und Deutungen dekonstruieren muss.

Das für eine Soziologie des Gegenwärtigen wirklich Interessante an der Praxissoziologie sehe ich denn auch nicht im Körper, sondern in dem, was den Körper offensichtlich für die Soziologie so interessant macht: die widerständige Gegenwärtigkeit des Operierens, das in actu von sich selbst überrascht wird und sich so geradezu ontologisch nicht für die Praxis, sondern in der Praxis entparadoxiert. Die operative Gegenwart ist eine Praxisgegenwart, die sich vor allem dadurch auszeichnet, dass sie sich in konkreten Gegenwarten bewähren muss. Das hört sich wie eine Tautologie an – und es ist zumindest in der Weise eine Tautologie, als sich Praxisgegenwarten tatsächlich praktisch bewähren müssen. Zwar verfügen etwa Akteure, Konstellationen oder Positionen über Ressourcen von außerhalb der Situation – Macht, Geld, Zuständigkeiten, Wissen, zugerechnete Asymmetrien etc. –, aber diese müssen sich in actu, also in praxi bewähren. Diese methodische Einstellung ist es, die eine praxistheoretische Soziologie in die Lage versetzt, sich für die operative, in diesem Sinne selbstreferentielle Dynamik von Situationen zu 27interessieren, die im Moment keine anderen Ressourcen haben als jene, die in diesem Moment auch verfügbar sind. Macht ist dafür ein gutes Beispiel: Macht hat man nicht einfach, sondern Macht muss umgesetzt werden, ist von Anschlüssen abhängig, zum Beispiel davon, dass das Gegenüber tatsächlich tut, wie ihm geheißen, gleichgültig wie asymmetrisch das Setting immer schon gebaut ist. Die praxistheoretische Soziologie interessiert sich exakt für jene gegenwärtigen Formen, in denen gelingt, was gelingt.

Die Gesellschaftlichkeit alles Gegenwärtigen

Die Gesellschaft der Gegenwarten ist eine polykontexturale Welt, eine Welt, die sich von Binaritäten und darin aufscheinenden Eindeutigkeiten emanzipiert oder, neutraler formuliert, die sich nicht mehr in binären Eindeutigkeiten einrichten kann. Es gilt: Tertium datur! Kulturwissenschaftlich wird deshalb die Figur des Dritten entdeckt, als Chiffre dafür, dass sich die Welt nicht auf eine Leitunterscheidung reduzieren lässt. Albrecht Koschorke beschreibt das so:

Differenztheoretisch entstehen »Effekte des Dritten« immer dann, wenn intellektuelle Operationen nicht mehr bloß zwischen den beiden Seiten einer Unterscheidung oszillieren, sondern die Unterscheidung als solche zum Gegenstand und Problem wird. Zu den jeweils unterschiedenen Größen tritt die Tatsache der Unterscheidung wie ein Drittes hinzu, das keine eigene Position innehat, aber die Positionen auf beiden Seiten der Unterscheidung ins Verhältnis setzt, indem sie sie zugleich verbindet und trennt: ein Drittes, das binäre Codierungen allererst möglich macht, während es selbst als konstituierender Mechanismus gewöhnlich im Verborgenen bleibt (Koschorke 2010, S. 11).

Auf den ersten Blick sieht es so aus, als sei die Entdeckung des Dritten, anders formuliert, die Beobachtung von Unterscheidungen als Unterscheidungen so etwas wie ein emanzipatorischer oder aufklärerischer Akt. Und in der Tat eröffnet ein mehrwertiger Blick tatsächlich eine Perspektive, die in der Lage ist, die Selbstbeschränkungen binärer Oppositionen zu überwinden oder wenigstens ihrer gewahr zu werden. So kann man dann sehen, dass die Unterscheidung Schwarz/Weiß eben nur Schwarzes und Weißes kennt und sich die Welt in dieser Differenz einrichtet. Anderes bleibt dann 28nicht nur unsichtbar, sondern existiert gar nicht. Die Frage ist nur: Wie kommt es zur Entdeckung des Dritten?

Die Antwort kann nur lauten: praktisch. Sie ist kein bloß epistemologisches Spiel, auch nicht das Werk des Schreibtisches, sondern Folge einer Welt, die sich offensichtlich selbst nicht mehr in den Binaritäten ihrer jeweiligen Perspektiven einrichten kann. Soziologisch gesprochen ist das eine Welt, in der gleichzeitig und bisweilen unabhängig voneinander unterschiedliche Beobachtungsverhältnisse statthaben, die sich schon aus empirischen Gründen nicht ignorieren können – oder besser: die sich paradoxerweise nur ignorieren können, indem sie das aktiv tun. Wenn etwa eine ökonomische Sichtweise auf ein beliebiges Phänomen all das, was geschieht, explizit darauf eingrenzt, ob gezahlt werden soll oder nicht, ob man mit Effizienzgesichtspunkten und sparsamer Mittelbewirtschaftung bestimmte Zukunftserwartungen nähren kann, ob man andere Akteure usw. entsprechend in ihrem Zahlungs-/Investitions-/Marktverhalten einschätzt, dann sieht diese operative Perspektive zunächst nichts anderes – muss das aber in einer Gesellschaft durchsetzen, die das Problem auch politisch oder rechtlich oder moralisch beobachten könnte.

Empirisch geschieht das in Organisationen. So »rein« die binären Codierungen von Funktionssystemen in ihrer operativen Gestalt tatsächlich voneinander zu scheiden sind, so sehr werden diese Binaritäten gerade in Organisationen aufeinander bezogen. Der Diskurs über die Theorie funktionaler Differenzierung bleibt unpräzise und unergiebig, wenn er in der Weise geführt wird, dass man sich darüber wundert, dass in konkreten Praxisfeldern unterschiedliche Logiken aufeinandertreffen. Stilbildend – und immer wieder zitiert (vgl. etwa Lindemann 2008b, S. 126) – für diese Verwunderung bleibt bis heute ein inzwischen 20 Jahre alter Aufsatz von Karin Knorr Cetina (1992), dessen Kritik letztlich ins Leere läuft (vgl. schon Nassehi 1999, S. 20 ff., und Kap. 4 in diesem Band). Knorr Cetina schreibt etwa, bezogen auf wissenschaftliche Forschung: »Daß Kommunikation innerhalb wissenschaftlicher Experimente durch eine ausschließliche oder auch nur vorwiegende Codierung in eine Wahrheitssemantik vermittelt sein soll, ist empirisch nicht rekonstruierbar.« (Knorr Cetina 1992, S. 412) Hier hat sie Recht und Unrecht zugleich – selbstverständlich ist dies nicht rekonstruierbar, schon weil wissenschaftliche Experimente 29in der Tat Praktiken in Organisationen sind, in denen Handlungen/Kommunikationen ganz unterschiedlicher Natur stattfinden – rechtliche, politische, intime, karrieretechnische usw. Aber dass man das rekonstruieren kann, setzt doch voraus, dass es offensichtlich unterschiedliche Logiken sind, die hier aufeinandertreffen. Es ist ein folgenschweres Missverständnis, Funktionssysteme für jene Organisationen zu halten, die die gleichen Namensschilder tragen: Wo Wissenschaft auf dem Organisationsschild steht, ist auch anderes drin. Wahrscheinlich besteht der Funktionssinn von Organisationen genau darin, das, was in den jeweiligen Funktionssystemen an Anschlusslogiken und vor allem Anschlusskräften erzeugt wird, an konkreten empirischen Orten zusammenzuführen (vgl. dazu Kap. 6).