Der Autor
Wolfgang Haupt lebt und arbeitet in Salzburg. Auf seinem Weg von der Sprachwissenschaft, über Kommunikationswissenschaft und Anglistik bis hin zur Informatik hat sich der Blick auf und vor allem in die Menschen als spannendster Antrieb erwiesen. Reisen und das Interesse an fremden Kulturen und Sprachen haben in seinem Leben einen großen Stellenwert.

Das Buch
Der Personenschützer Felix Horvat bekommt einen Anruf: Seine beste Freundin und Polizistin Andrea hat ein mit Säure verätztes Opfer am Tatort vorgefunden, auf dessen Handrücken dieselbe tätowierte 5 zu erkennen ist, die auch Felix trägt. Felix war früher in einer Jugendgang und scheinbar hat es jemand auf die ehemaligen Mitglieder abgesehen. Er ermittelt auf eigene Faust und wird von den Geistern seiner Vergangenheit heimgesucht. Als Felix‘ Familie ins Visier der Verbrecher gerät, muss er sich an den Einzigen wenden, der jetzt noch helfen kann: Darius, alter Freund, gefährlicher Junkie und selbst Träger einer 5. Gemeinsam mit Andrea kommen sie einer hochexplosiven Mischung aus Drogengeschäften, Ex-Militärs und Verrat auf die Spur …

Wolfgang Haupt

Salziges Blut

Thriller

Midnight by Ullstein
midnight.ullstein.de

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Originalausgabe bei Midnight.
Midnight ist ein Digitalverlag
der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
Juni 2015 (2)
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2015
Umschlaggestaltung:
ZERO Werbeagentur, München
Titelabbildung: © FinePic®
Autorenfoto: © privat

ISBN 978-3-95819-039-9

Alle Rechte vorbehalten.
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Für alle Helfer, Heiler und Helden.

Kaum ein Ort der nicht mit Leben gefüllt wäre
Wo die Schreienden willkommen wären
Sich die Arme ausbreiten und im Kreise drehten
Bis der Kopf in der Wiese läge
Entzückt über die Turbulenzen des Himmels
Und die einzige Unterbrechung die zarte Hand der Mutter
Die das nasse Haar nach hinten streicht

Prolog

Die Geschmacksknospen ziehen über den Stein, erfüllen das Maul mit dem Geschmack des Salzes. Wieder und wieder vergräbt sich die Zunge in den Kristallen, verlangt nach mehr. Wasser, eine Portion Heu, die Haflingerstute kreist den Kiefer in völliger Entspannung. Sie wiederholt die Prozedur, schüttelt die Mähne und spitzt die Ohren. Ein Laut versetzt die Zellen in Wallung. Die Hufe scharren im Heu, treten auf der Stelle. Der Körper gerät in Aufruhr, der Rumpf schüttelt sich. Die Ohren haben etwas vernommen, etwas Vertrautes, das sich nähert. Ein Wiehern, die Klinke der Box geht nach unten, die Tür geht auf. Das Tier senkt den Kopf, ein Streicheln über den Nacken. Ein sanfter Druck, Stirn gegen Stirn. Gleich kommt sie wieder, die Decke unter den Arm geklemmt. Ein gewohnter Handgriff, ein Säuseln, das den Raum erfüllt. Das Gewicht des Sattels erzeugt Gegendruck, kalter Stahl am Bauch, der vorsichtig in den Lederriemen eindringt. Ein Streicheln, das Zaumzeug, ein Ziehen, das Tier setzt sich in Bewegung. Links aus der Box, über den Hof, vor das Gatter. Ein Quietschen des Eisens, ein Ziehen am Maul, das Gatter fällt zu. Die Hand streicht über den Rücken, der Steigbügel senkt sich, alles ist gut. Dampf steigt aus den Nüstern, der Hals biegt sich, die Beine wollen vorwärts. Zuerst im Trab, den Hügel hinauf, zwischen den Bäumen hindurch. Altbekannte Pfade. Das Tier will mehr, übt sich in Geduld. Nicht mehr weit, dann kommt die Ebene, die Geschwindigkeit, die Hufe, die sich in den Schotter drücken. In der Abendsonne, in der Wärme der letzten Sonnenstrahlen. Hinter ihnen das Schloss, erbaut aus Lust am Leben, vor vierhundert Jahren. Sie ist noch zu spüren, die Freude des Markus Sittikus von Hohenems.

Es geht nach Norden, das Schloss versinkt hinter dem Hügel, ist schnell vergessen in der Hoffnung der Ebene. Die Hufe beschleunigen, graben sich in den Boden, alles will vorwärts. Diese Momente waren selten in den letzten Monaten, der Winter hielt spät Einzug und ließ sich schwer vertreiben. Dann ist es einsam und kalt. Der Wind zieht über die Felder, pfeift gegen das Gehöft. Wider den Protest der wiehernden Meute.

Heute ist es anders. Die Sonne hat Kraft, die Welt aus dem Schlaf geholt, die Kälte vertrieben. Nun werden sie häufiger hinaus, vielleicht täglich, sie weiß es nicht. Was ist morgen?

Es existiert nur der Galopp, in dem sie gänzlich ertrinkt. Die Nüstern aufgerissen, zum Ansaugstutzen gedehnt. Es geht nach Westen, in den Wald, auf Forstwegen, geradeaus. Schneller, immer schneller, die Reiterin schmiegt sich an den Rücken. Die Köpfe verschmelzen im Wind, ein Schwall geht durch die beiden. Eine Symbiose, unzertrennlich im Augenblick. Der Schranken ist nicht weit, noch eine Sekunde, sie brauchen Platz, um zu stoppen. Es geht nach links, dasselbe Spiel, im Takt der Spechte durch den Duft des Nadelwaldes. Allein, keine Spaziergänger, die die Ruhe zu stören vermögen. Keine Hunde, Pferde, Forstautos. Niemand, der in ihr Universum eindringt. Langsam, links, noch eine Runde. Einigkeit, der Wald ist eine Mauer, die nur ihnen bestimmt ist.

Ein ungutes Gefühl, die Störung nähert sich, ein schwarzer Fleck in der Ferne. Statisch, glänzend, fremd. Wir haben noch ein paar Meter. Was kümmert uns das?

Sie spürt die Unsicherheit, wird langsamer, geht in den Trab, wittert etwas. Sie kann es nicht ignorieren. Eine Hand gleitet auf die Schulter, entspann dich, Mädchen. Der Blick geht nach links, durch die Spärlichkeit der Blätter, sucht nach Anhaltspunkten. Empörung macht sich breit, Frechheit schleicht durch die Gedanken. Beruhigung. Sie alle dürften nicht hier sein. Autos und Pferde sind gleichsam verboten.

Eine Bewegung, hinter den Tannen. Geschrei, ein Streit, ein Schuss. Eine rote Jacke huscht hinter den Stämmen vorbei. Die Steigbügel schlagen gegen den Bauch, piano, keine Eile.

Du darfst den Fleck nicht aus den Augen lassen. Dann die Ablenkung, der BMW blendet, zieht die Aufmerksamkeit auf sich. Verdammt. Das Rot ist verschwunden. Das Herz beschleunigt, der Mund presst Luft aus der Lunge. Die Pupillen springen hin und her, die Linsen ziehen sich zusammen, fokussieren. Da! Braves Mädchen, Geduld. Sie müssen leise sein. Vielleicht ist er nicht allein.

Ein Schnauben, die Hufe klicken auf dem Schotter. Fünfzig Meter bis zu dem Rot, das nicht hierhergehört. Die Blicke trennen sich, die Reiterin sucht nach einer Bewegung zwischen den Bäumen. Kein Geräusch zwischen dem Klicken der Hufe, allein der Herzschlag pulsiert durch die Bäume. Noch ein paar Meter, der linke Steigbügel senkt sich und die Stiefel knacken auf dem Untergrund.

Verhaltene Schritte, ein Blick in den Wald. Keine Regung hier und dort. Die Reiterin läuft hin, dreht ihn auf den Rücken, nicht nur die Jacke versinkt im Rot. Eine Schaufel, Blut klebt am Stiel. Sichtlich nicht das seine, das passt nicht zum Loch in der Brust. An der Hand eine Zahl. Eingebrannt, vernarbt. Am ehesten eine Fünf.

1

Der Abend trägt den Wind herein. Er reist mit dem Fluss, verstärkt sich, nimmt den Schweiß des Südens mit in die Stadt. Er vermischt sich mit dem der Reichen, um sich dann mit dem der Migranten zu verbinden. Früher war kein Tropfen südländischer Ausdünstung dabei. Das war vor Felix’ Zeit. Er kennt es nicht anders, ist damit aufgewachsen und hat sich nie daran gestört. Ist es doch ebenso sein Duft, der einen Teil beiträgt, mit dem Wind nach Norden verschwindet. Hinter der Stadt vergeht, sich über die Ebenen verteilt, über die Grenze nach Deutschland zieht.

Doch trägt er auch den Gestank und den Lärm der Fahrzeuge, die sich in den Abendstunden ineinander verschränken. Von Zeit zu Zeit ein Signalhorn, Blaulichter, die durch die Dunkelheit von Osten nach Westen schneiden. Oben an der Kreuzung biegen sie nach links ab und ihr Horn verliert sich in den Häuserschluchten. Dort bricht sich das Licht und mahnt zur Eile. Meist Rettungsfahrzeuge, manchmal die Polizei und selten die Feuerwehr. Früher oder später müssen sie alle hier vorbei, unter Felix’ Balkon. Er ist ein Alibi, einen halben Meter lang und einen Meter breit, nicht viel mehr als die Tür, die hinausführt. Gerade groß genug, um den Rauch der Zigarette draußen zu halten.

Die rußgeschwärzten Häuserfronten wechseln sich mit bunten Fassaden ab, sind verbunden mit den Stromleitungen der Busse, die sich zwischen den Autos durchzwängen. Von Süden her dringen die Glocken der Kirchen, die zahlreicher nicht sein könnten. Ein Erbe, ein Vermächtnis, das an die Macht der Kirchenfürsten erinnert. Eine Sache, die Felix nicht kümmert. Es gibt nur eine orthodoxe Kirche, die er nie besucht. Zwar in der Nähe, doch der Glaube hat ihn nie erreicht in dieser Welt. Er ist verblasst, verloren zwischen den Welten, wie die Menschen, die dorthin gehen.

Die Augen starren in die Leere, vorbei an der Glut, die sich in den Tabak frisst. Das Knistern der Zigarette blendet alles aus, füllt die Lunge mit Rauch. Ein tiefer Zug, der Stummel verglüht im Aschenbecher, Felix geht in die Wohnung. Der Blick trifft das Telefon, eine jähe Störung, die ihm keine Ruhe lässt. Er setzt sich auf die Couch, die nachts als Bett fungiert, schaltet den Fernseher ein.

Salzburg heute. Barbara Weisl erzählt über die Geschehnisse im Bundesland, es ist nicht viel passiert. Sport, Wetter, Ende. Felix drückt die Weisl weg und setzt sich an den Rand der Couch. Er atmet durch, steht auf, geht eine Runde im Zimmer. In die kleine Küche, in der sich nichts außer einer Kaffeemaschine befindet. Er drückt den Knopf, George Clooney drängt sich in die Gedanken, die Mundwinkel wandern nach oben. Wegen ihm hat er die Maschine. Oder eher wegen seines Aussehens.

Ein Blick in den Kühlschrank, ein halb volles Päckchen Milch, Gemüse, ein Karton Eier. Er wäscht eine Tasse ab, platziert sie unter dem Zapfen, mit dem George Clooney in der Werbung die Frauen herumkriegt. Felix drückt den großen der zwei Knöpfe, ein Brummen, der Nasenbär spuckt zwei genormte Espressi in die Tasse. Keine Milch, kein Zucker. Dazu eine Zigarette, immerhin vergeht die Zeit. Felix öffnet die Balkontür, stellt die Tasse auf das Eisengitter. Feuer, Knistern, ein tiefer Zug. Es stinkt nach Essig, dem Abgas der Fahrzeuge. Verdammt, warum lebst du eigentlich noch hier? Wahrscheinlich liegt es an den Immobilienpreisen in den anderen Vierteln. Oder den Alimenten. Oder dem unterbezahlten Job. Oder daran, dass du selten dort bist. Egal, konzentrier’ dich auf den Rauch. Ein Brennen, die Bronchien öffnen sich, das Nikotin ist in Sekundenschnelle da, wo es hingehört. Im Belohnungszentrum, direkt im Gehirn.

Nebel zieht auf, lässt den Anblick der Straße vergehen. Allein die Lichter scheinen durch, wie hinter Watte, der Lärm ist weit entfernt. Er will den Zigarettenstummel nach unten schießen, vielleicht bleibt er darauf liegen.

Lass es. Das verursacht nur Brandflecken. Das macht es nicht besser. Das macht den Tag, dein Leben nicht besser. Morgen musst du was tun, raus aus dieser Enge, die dich erdrückt. Vielleicht an den See, unter Menschen. So sehr ihm das widerstrebt. Wenn er sich hängen lässt, wird sie die Überhand gewinnen, ihn ewig mit Enissa erpressen. Du brauchst einen Plan.

Felix geht hinein, zum Kleiderschrank, steckt den Schlüssel in die Kassette und nimmt die Pistole heraus. Eine ČZ 75, 9 mm, Baujahr 99. Klein, leicht, zuverlässig. Er zieht das Magazin aus der Pistole, kontrolliert die Patronen. Die Hand gleitet den Schlitten entlang, das linke Auge schließt sich, die Linse des rechten fokussiert einen Punkt hinter dem Ende des Laufs.

Angeln wäre eine Idee. Laut dem Wetterbericht soll es schön werden. Vielleicht hat Suzuki Zeit. Ein Griff zum Telefon, er setzt sich auf die Couch. Die Finger fahren den Oberarm entlang, kreisen um die Ornamente der Tätowierung, die Hand umschließt ihn, streicht nach unten, bis sie am Handrücken hängenbleibt. An der kaum sichtbaren Narbe, die einmal die Zahl Fünf dargestellt hat.

***

Der VW Sharan schiebt sich durch den Nebel. Die Salzach entlang, den Kai hinunter, zwischen den Autos durch. Der Wind hat aufgefrischt, zieht von Süden herein, versucht die Schwaden zu vertreiben. Mit mäßigem Erfolg. Immer wieder taucht ein Auto vor dem Sharan auf, das Blaulicht ignorierend, um gleich wieder hinter ihnen zu verschwinden. Andreas Kollege, der Nowak, hält sich am Griff über dem Autofenster fest, den Blick möglichst nicht nach vorn gerichtet. Es ist die schlechte Sicht, die ihn beunruhigt. Andreas Fuß bleibt am Gaspedal, von Zeit zu Zeit bremst sie auch.

»Wer weiß, was da los ist. Da spinnt sicher nur einer.«

»Ich bin mir da nicht so sicher. Ich habe so ein Gefühl«, antwortet sie lakonisch.

»Kannst du das nicht auch unterdrücken, wie dein Privatleben? Dann kommen wir vielleicht lebend an.«

»Du hast doch nur Schiss, weil du nicht selber fährst.« Und ich eine Frau bin. »Sei nicht so ein Weichei. Dann erzähl ichs auch niemandem.«

Der Nowak widmet die Aufmerksamkeit dem Autofenster, schüttelt den Kopf.

Was weiß er schon von deinem Privatleben? Nur weil er keins hat? Mit seinen fünfzig Jahren, der kahlen Birne und dem Bierbauch. Was hat er für eine Ahnung?

Andrea biegt ab, mit Folgetonhorn über die Kreuzung hinter dem Justizgebäude, mit Volldampf die Alpenstraße hinunter. Es ist nicht mehr weit. Nach einem Kilometer rechts in die Akademiestraße, der Sharan lässt den behelfsmäßigen Kreisverkehr unbeachtet, hundert Meter und rechts.

Vier Fahrzeuge der Freiwilligen Feuerwehr stehen vor dem Gebäude der ehemaligen Germanistik, Andrea stellt den Sharan dahinter ab. Sie springt aus dem Wagen, der Kommandant kommt auf sie zu.

Ein Nicken, sie gehen an der Bierbank vorbei, auf der ein paar Sauerstoffflaschen liegen und ein Freiwilliger Aufzeichnungen macht. Daneben eine Stoppuhr, die anzeigt, welche Gruppe sich wie lange im Gebäude aufhält. Drei Männer mit Atemschutzmasken kommen heraus, drei andere nehmen ihnen die Flaschen ab. Der hinter der Bank notiert. Andrea verharrt einen Moment, der Kommandant tippt ihr auf die Schulter. Sie sollen weitergehen. In das Gebäude, den Taschenlampen hinterher.

Sie folgen den Spuren der Verwüstung, ausgeschlagene Türen, zerbrochene Fenster, Männer in Sandgelb mit Gummimasken im künstlichen Nebel. Sie bleiben stehen, halten inne, als Andrea dem Kommandanten hinterher an ihnen vorbeigeht. Ihr blonder Pferdeschwanz und ihre Proportionen sind ein Blickmagnet. Die Uniformhose betont genau das, was sie eigentlich verbergen soll. Im Dienst etwas nachteilig, in der Regel wird Andrea kaum ernst genommen. Da kommt der Nowak ins Spiel. Vor einem bierbäuchigen alten Mann haben die Leute eher Respekt. Das gefällt dem Nowak. Der einzige Moment, in dem sie seine Brust hat anschwellen sehen. Er ist kein Chauvinist, ein zurückhaltender Typ, ein Normalo eben. Unauffällig und durchschnittlich. Die Leistung hangelt ebenfalls am Mittelmaß entlang. Doch ist er ihr Gegenpol, jemand, der ihren Ehrgeiz im Zaum hält. Manchmal ist sie dankbar dafür.

Heute weniger. Bis er Andrea folgt. Dann ist mit der Gafferei normalerweise Schluss. Dann wird sich das Hecheln unter den Atemschutzmasken auf ein normales Maß einstellen.

Sie folgt dem Kommandanten die Treppe hinab, die Baustellenlichter entlang, durch einen Rahmen ohne Tür. Andrea kann außer dem Nebel nichts erkennen. Eine Baustellenlampe steht an der Wand, der Kommandant sagt ihr, dass sie dorthin gehen solle. Vielleicht hat der Nowak recht. Vielleicht sollte sie die Gefühle unterdrücken, anstatt ihr Leben für eine vage Vorahnung zu gefährden. Es gab keinen Grund, mit Blaulicht und Folgetonhorn in dieser Geschwindigkeit hierherzufahren. Keine Prügelei oder Schießerei, kein Einbruch. Der Nowak wird mindestens einen Kaffee verlangen. Oder eine Jause.

Andrea sieht den Kommandanten an, er drückt den Sprechknopf am Funkgerät, sagt, dass die Feuerwehrleute den Ventilator einschalten sollen. Es dauert keine zehn Sekunden, ein Motor startet, der Rauch beginnt sich aufzulösen.

Wie Watte zieht er durch das Kellerfenster, am Boden zeichnet sich eine Silhouette ab. Ein Mensch in einer Badewanne, umspült von einer braunen Brühe. Beziehungsweise das, was einmal ein Mensch gewesen ist. Eins achtzig groß, achtzig Kilo. Eine Hand hängt über dem Rand, außer den Knien der einzige Körperteil, auf dem sich Haut befindet.

»Rufen Sie den Nowak«, sagt Andrea. Weit entfernt von jeglicher Ruhe. Der Kommandant funkt, eine Minute später nähert sich ein Hecheln. Der Nowak sieht die Leiche, sieht Andrea, sagt: »Sag ich doch, dass wir es nicht eilig haben.« Andreas Blick schneidet ihn fast entzwei, der Nowak macht auf dem Absatz kehrt. »Ich gehe zum Auto. Du wartest hier.«

Ein Nicken, Andrea atmet durch, geht in die Hocke. Scheiß mich an, wer hat dich so zugerichtet? Es sieht aus wie verbrannt, die Haut, das Fleisch zerfressen. Dort, wo einmal das Gesicht war, ist nun das Weiß der Knochen. Sie sieht dem Toten in die Augenhöhlen, bedauert ihn einen Moment, sucht ihn ab. Eigentlich Sache des LKA, aber zu aufregend, um sich nicht darum zu kümmern.

Sie steht auf, der Rauch hat sich komplett verzogen. Die rechte Hand. Sie nimmt ihr Mobiltelefon, beugt sich hinab, stellt die Kamerafunktion ein. Ein Augenblick, die Linse stellt scharf, ein Foto. Sie spreizt die Finger am Display, vielleicht bringt das Licht in die Angelegenheit. Die Narbe kommt ihr bekannt vor. Der Nowak schlurft um die Ecke, sagt, er habe die Kollegen verständigt und fragt den Kommandanten, ob jemand den Toten angefasst hätte. Der Mann verneint, der Nowak sagt Andrea, dass sie fahren sollen, die Spurensicherung da sei. Andrea dreht sich um, lässt das Telefon in die Tasche gleiten. Das musst du klären. Das kann kein Zufall sein. Und hoffentlich nicht deine Befürchtung.

***

Jemand macht sich an der Hand zu schaffen. Eine Berührung. Ein Flüstern. Eine zweite Stimme mischt sich ein. Alles ist fern, unwirklich. Ein Blinzeln gegen das grelle Licht, die Lider gegeneinandergepresst, die Augen öffnen sich. Ein Stich, der den Kopf durchfährt, die Pupillen werden enger, verschwinden hinter den Lidern. Das Flüstern wird unruhig, die Berührung fester. Der Herzschlag beschleunigt, Adrenalin durchfließt die Adern. Darius spannt alles an, streckt die Gliedmaßen, die Hände sollen verschwinden. Hektische Bewegungen neben ihm. Jeweils eine Hand drückt seine Schultern nach unten. Er reißt die Arme nach oben, zieht den Kopf nach vorne und dreht sich auf die Seite. Schreie, die Aufmerksamkeit verlangen. Sein Nachname, sein Vorname. Jemand packt ihn, Darius befreit sich, geht einen Schritt vor, reißt die Augen auf, blinzelt gegen den Schmerz. Mehrere Schatten stehen um ihn herum, er läuft einen Meter, ein dumpfer Laut, dann zieht ein Stich durch das Knie. Er schreit, die Lippen bleiben aneinander kleben, der Mund die Sahara.

Darius dreht sich um, geht auf eine Silhouette zu. Der Umriss weicht zurück, ruft etwas. Schritte, die sich hastig entfernen, eine Tür fällt ins Schloss. Er prügelt Schimpfwörter in den Raum, wartet, dreht sich im Kreis. Die Arme vor dem Körper, bereit zuzupacken. Nichts. Außer Brennen in den Augen und dem Widerhall der eigenen Rufe. Das Pochen im Knie wird stärker, er tastet den Raum ab. Vor sich, hinter sich. Eine Matratze, ein frisches Laken. Darius setzt sich auf die Kante, fährt über das Knie, zuckt beim Kontakt. Er streckt das Bein aus, zieht es zurück, hechelt, massiert sich das Gelenk. Ein Augenblick der Ruhe. Er muss weg von hier. Was immer hier passiert, wo dieses Hier auch sein mag. Die Hände streichen den Körper hinab. Kein T-Shirt, keine Hose, nur Boxershorts. Er steht auf, humpelt an der Wand entlang. Bis er eine Türklinke zu fassen bekommt. Er reißt daran, keine Regung. Es muss einen Ausgang geben. Was würdest du für das Gefühl geben, das du gerade noch hattest, um das du eben betrogen wurdest. Vielleicht soll er nicht glücklich sein, vielleicht ist es anderen bestimmt. Nur nicht ihm. Es war zum Greifen nah.

Tränen steigen ihm in die Augen, er lehnt sich gegen die Wand, lässt sich hinabsinken. Die Hand vor der Stirn, an den Beinen, die er eng an den Körper gezogen hält. Ein Schlüssel, der sich im Schloss dreht. Darius fährt mit den Fingerknöcheln über die Lider, schnieft die Flüssigkeit in die Nase, stemmt sich an der Wand hoch. Er wischt die Feuchtigkeit vom Handrücken, fährt mit der Rechten über das Auge.

Die Narbe glänzt unter den Tränen.

Ein Mann betritt den Raum. Aufrechte Haltung, schwarz gekleidet, die Schultern hat er nach hinten gezogen. Behutsam nähert er sich, die Hände hält er wie ein Cowboy am Körper. Darius weicht zurück, tastet die Wand entlang, atmet gegen das Gefühl, das ihn zu kontrollieren droht. Ein Gegenstand presst sich an die Finger. Kalt, metallisch, einen halben Meter lang.

»Ich würde das an deiner Stelle sein lassen.« Der schwarze Mann. Monotone Stimme, mit einem Brocken Überheblichkeit.

Darius umklammert den Feuerlöscher, hält ihn vor den Körper. Wenn er näher kommt, macht er damit Bekanntschaft. Dann wird er sehen, mit wem er es zu tun hat.

Der Mann lässt sich nicht beirren, setzt den Schritt fort. Darius’ Atem wird schneller, das Herz springt aus der Brust. Er nimmt den Feuerlöscher und wirft. Der Augenblick dehnt sich zur Unendlichkeit. Der Blick folgt dem Rot, das mit einem hohlen Klang auf dem Boden aufschlägt. Der Kopf des Mannes senkt sich, ein Lachen, blechern, spaßbefreit.

»Dann bin wohl ich an der Reihe«, sagt der Mann, fährt einen Totschläger aus.

2

Suzuki lehnt an der Tür zur Tankstelle, neben dem Aschenbecher, den die Betreiber notdürftig eingerichtet haben. Weil sich die Leute gegen den offiziellen, fernab der Zapfsäulen, standhaft wehren. Männer in Arbeitermontur, mit Schlapphüten aus dem Baumarkt und goldenen Halsketten, ziehen sich Zigaretten zwischen die Rippen, trinken Kaffee aus dem Automaten. Einer der besseren Sorte, der dennoch nicht an den italienischen heranreicht, obwohl er scheinbar von dort kommt.

Suzukis Augen weiten sich beim Anblick der Honda. Eine Fireblade SC57, 174 PS. Aufkleber, die einiges vermuten lassen. Zwischen dem schwarz-roten Dekor steht auf der rechten Seite: It’s not the speed that kills you, it’s the sudden stop. In Weiß, auffällig, damit jeder kapiert, womit er es zu tun hat. Standesgemäß. Wirksam. Womit man in der Ignaz-Harrer-Straße Aufsehen erregt, am Café vorbeischleicht, um das Motorengeräusch in den Kopf der Schaulustigen zu prügeln.

Der direkte Weg in die Landesirrenanstalt, wie sie ihr Gründer einst getauft hat, zweimal umbenannt, um dem neuen Auftrag gerecht zu werden. Eine Straße für Menschen, die sich nicht im Bereich des Normalen bewegen. Ein Pflaster für Motorräder, Autos, illegale Straßenrennen, wohlweislich nachts. Breit genug, um zu sehen, was die Mühle hergibt. Nichts für Felix und Suzuki. Ihnen reicht die Auffälligkeit des Tages, das Gefühl der Sichtbarkeit.

Felix stellt das Motorrad ab, holt eine Schachtel Pall Mall aus der Brusttasche und stellt sich neben die anderen. Ein Nicken, es ist noch früh, man will sich mit Gesprächen nicht auf die Nerven fallen. Suzuki, eins siebzig, vernarbtes Gesicht, hagere Statur, sehnige Kraft, ein zäher Bursche, gesellt sich zu ihnen, zieht den Plastikstreifen von einer Schachtel American Spirit. Die ohne Brandbeschleuniger und Zusatzstoffe. Keine Bläh- oder Folientabake. Die Gesunden, wie er oft scherzt. Wie man etwas, das man anzündet und inhaliert, als gesund bezeichnen kann, will Felix nicht in den Kopf. Trotzdem ein Schmunzeln wert.

Ein fester Händedruck, sie senken das Kinn. Die Rucksäcke sind gefüllt mit Angelutensilien, in Suzukis Fall: Bier.

Suzuki gibt Felix einen Plastikbecher, in Stille trinken sie Kaffee, rauchen Zigaretten. Dann steigen sie auf die Motorräder.

Kommunikation über die Motoren, stumme Gemeinsamkeit unter den Helmen, zehn Minuten lang. Sie parken die Maschinen, gehen ein paar Meter und stellen die Klappstühle vor den See.

Um diese Zeit ist es ruhig, der Platz liegt im Schatten der Bäume. Spaziergänger mit ihren Hunden, ein ewiges Thema zwischen Fischern und Hundebesitzern. Nichts, was die beiden aufregt. Sie werden nicht kontrolliert, obwohl sie eine Angelkarte besitzen. Der letzte Fisch im Netz ist Jahre her.

Rückblende: Felix und Suzuki in einem Audi A3, schwarz, Sportausführung, Ledersitze. Vor einem Haus in der Elisabethstraße, die Aufmerksamkeit gilt einer Wohnung im dritten Stock. Ein Unterschlupf, in diesem Fall ein Zweitwohnsitz, weniger der Einsamkeit als dem gemeinsamen Vergnügen dienlich. Damit die Ehefrau nicht weiß, was ihr Mann so treibt. Zudem günstig und in einem Viertel, das dem Normalbürger äußerst unattraktiv erscheint. Die Observierung dauert bereits zwei Stunden, kein Wort im Wagen, als Suzuki den Auslöser der Kamera drückt.

Ein Mann im Anzug verlässt das Gebäude, hektische Kopfbewegungen, alles gut, er steigt ein. Ein Blick in den Rückspiegel, die Krawatte zurechtgezupft, das Haar in Businessoptik gekämmt. Ein Lächeln zu ihm selbst, das Auto verlässt den Parkplatz. Eine Frau, zehn Minuten danach, Minirock, hohe Absätze, dasselbe Grinsen. Wieder der Auslöser der Kamera, sie folgen dem Mann. Auf digitalem Weg. Ein GPS-Sender an der Karosserie, unsichtbar. Befriedigendes Ergebnis einiger Versuche, den Zweitwohnsitz auszumachen. Von Zeit zu Zeit verliert sich das Signal in den Häuserschluchten, kein Problem, die beiden bleiben dran.

Da vorne an der Kreuzung, zwei Wagenlängen vor ihnen, ist er, der Wagen hinter ihm biegt ab, eine rote Ampel, das schaffen sie. Das ganze Spiel dreimal, sie sind zu knapp, er wittert ihre Anwesenheit. Immer wieder sieht er in den Rückspiegel, nach vorne, nach hinten. Offensichtlich sucht er nach einer Möglichkeit, den beiden zu entkommen. Die Aufklärung: Nicht lückenlos, kein Problem, sie haben Bilder, den Sender, sie finden ihn, falls sie noch Beweise brauchen.

Bericht: Die Detektive konnten wahrnehmen, dass die Zielperson in vermutlich postkoitalem Zustand zehn Minuten vor einer aufreizend gekleideten Frau das Gebäude verlassen hat. Fotos befinden sich im Anhang. Zur weiteren Beweisführung wird eine erneute Observierung empfohlen.

Suzuki holt ein Bier aus dem Rucksack, hält es Felix vor die Nase.

Stumme Ablehnung.

Er hat sich die Kapuze des Pullovers über den Kopf gezogen, sich in den Protektoren der Lederjacke vergraben. Felix und Alkohol: Die Zeiten sind vorbei.

Suzuki ist einer der Menschen, die Felix nicht stören. Er hat das Gefühl, im Leben genug gesagt zu haben. Jemand, der schweigt, wenn er nichts zu erzählen hat: unschätzbar. Suzuki spricht nicht einmal, wenn er trinkt. Was des Öfteren der Fall ist. Felix hat vergessen, wie sich Suzukis Stimme anhört. Es ist der Klang der Stille, der ihn sympathisch macht.

Im Gegensatz zum Telefon, das sich Aufmerksamkeit verschafft.

»Verdammt.« Er hat vergessen, es zu Hause zu lassen.

Felix zieht es aus der Tasche, drückt den Ton weg, lässt es wieder hineingleiten. Ein Moment vergeht, es klingelt erneut. Suzuki sieht ihn an, Felix hebt die Schultern. Andrea. Eine Freundin, wenn man ihr Verhältnis näher beschreiben wollte: Freundschaft plus, in unregelmäßigen Abständen. Dass sie vormittags anruft: unüblich.

Felix hebt ab, flüstert: »Ich bin fischen. Ich rufe später zurück.«

»Nein, tust du nicht. Dieser Anruf ist dienstlich.«

***

Sie haben die Fesseln gelöst und ihn aus dem Raum geführt. In ein Zimmer, in dem allein das Summen des Computers zu hören ist. Ein runder Tisch, vor dem zwei Sessel stehen, noch zwei an der Wand unter dem Kalender, der eine schottische Landschaft zeigt. Genauer: die Isle of Skye, stark kontrastiert mit dem Regler, Photoshop. Modriger Geruch, nicht allzu sehr, gerade so viel, dass Darius ihn wahrnehmen kann. Es riecht, wie sich das Innere seiner Mundhöhle anfühlt. Abgestanden, trocken, verklebt. Darius sucht einen Wasserhahn, eine Flasche, irgendetwas, das dieses Gefühl verstummen lässt. Die Augen durchwühlen den Raum, die weißen Wände, finden eine Kaffeetasse mit dem Logo des Krankenhauses, in dem sich ein eingetrockneter brauner Ring befindet.

Was soll das? Wer besitzt die Frechheit, ihn einzusperren? Du willst raus. Jetzt.

Darius steht auf, spreizt die Jalousien, versucht, das Fenster zu öffnen. Der Sprung wäre nicht tief. Das kann er ohne Folgen überstehen. Er reißt am Griff, der keine Regung von sich gibt. Versperrt. Die Tür! Rütteln, ziehen, Fehlanzeige. Dann sperrt er wenigstens den Tag aus. Dieses Brennen in den Augen. Es ist zu hell. Viel zu hell.

Darius setzt sich, verschränkt die Arme und lässt das Kinn auf die Brust sinken. Alles im Körper will Ruhe. Zwischen den Alkis und Junkies kann er nicht schlafen, verdammt. Das machen die absichtlich. Wenn ich einen in die Finger bekomme, dann …

Die Tür geht auf, eine Frau kommt herein, weißer Mantel, auf dem Namensschild steht: Dr. Maria Ogrisek, Fachärztin für Psychiatrie. Ihre Stimme ist weich, verständnisvoll, die blauen Augen treu. Die Haare hat sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. In der Manteltasche ein Stethoskop, in der Brusttasche Stifte und eine Spritze mit einem roten Stöpsel. Beruhigungsmittel? Das kann sie vergessen. Er hat niemand gebeten, ihn hierherzubringen.

»Darius, verstehen Sie mich?«

Ein Nicken, mit vorgeschobenem Kinn und zusammengezogenen Lidern.

»Ich bin Frau Dr. Ogrisek, Ihre behandelnde Ärztin.«

»Hab ich gelesen.«

»Woran können Sie sich denn erinnern?«

Dass ich nicht hier sein will, sondern dort, wo ihr mich weggeholt habt.

Darius hebt die Schultern, gräbt die Arme in den Bauch.

»Was haben Sie denn genommen? Wissen Sie das noch?«

Lass mich in Ruhe. Kümmer dich um deine Angelegenheiten.

Sie notiert, holt einen Zettel aus der Manteltasche, faltet ihn auseinander.

»Sie wissen, was das ist?«

Darius dreht den Kopf weg, ein verhaltenes »Nein«.

»Sie wissen nicht, was das ist. Dann erklär ichs Ihnen.«

Ihre Stimme hat nichts an Verständnis verloren.

»Das ist eine Meldung der Freiheitsbeschränkung nach dem Unterbringungsgesetz. Da oben steht ihr Name, darunter der Grund. Ich habe Selbstgefährdung angekreuzt. Wissen Sie, warum?«

»Mir ging es gut. Bis sie mich ans Bett gefesselt und mich geschlagen haben. Oder warum tut mir mein Knie so weh?«

»Darius, Sie sind vor ein Auto gelaufen.« Darius sieht die Arme hinab, den Rumpf, die Beine. Nur das Knie. Sonst nichts.

»Das hat mich am Knie angefahren? Dieses Arschloch, wenn ich das erwische.«

»Sie waren fast nackt, haben sich auf die Straße gelegt. Sie können von Glück sprechen, dass der Mann so geistesgegenwärtig reagiert hat.«

»Trotzdem hat er mein Knie erwischt.«

»Laut den Informationen, die ich von der Polizei habe, hat er die Stelle abgesichert, Sie in die stabile Seitenlage gedreht und zugedeckt.«

»Dabei hat er mich verletzt?«

»Sie dürften sich einige Male übergeben haben. Auch im Rettungswagen. Dann sind Sie zu uns gekommen und waren«, sie überlegt, »nicht so ganz einverstanden.«

Der schwarze Mann, dieser Schläger, er hat dich …

»Deshalb hat er mich geschlagen.«

»Herr Hermann, bei uns wird niemand geschlagen. Der Sicherheitsbedienstete hat sich Ihre Aufmerksamkeit verschafft.« Pause. »Damit wir Sie fixieren konnten.«

»Dürfen Sie das?«

Nicken, Kopfbewegung, Blick auf das Formular.

»Dann haben Sie mich geschlagen.« Keine Frage.

»Sehen Sie, was auf dem Formular angekreuzt ist? Selbstgefährdung. Sie haben sich die Verletzung selbst zugefügt. Am Bettrand, wir haben ein Röntgen gemacht. Es ist nicht gebrochen, die Schwellung minimal, das wird bald besser werden. Das Knie ist nicht der Grund, warum wir hier sind.«

»Dann kann ich ja gehen, oder nicht? Sie haben überhaupt kein Recht, mich hierzubehalten. Ich bin ein freier Mensch.«

»Da haben Sie natürlich recht, Herr Hermann. Das sind Sie. Aber ich möchte Sie bitten, etwas bei uns zu bleiben.«

Du bittest mich nicht, du zwingst mich. Freier Mensch, eine Lüge ist das.

»Was, wenn nicht?«

»Ich fürchte, Sie haben keine Wahl. Sie haben Suchtgift genommen, wenngleich wir auch nicht wissen, was genau. Aber deswegen sind wir hier. Den Einstichen am Arm nach zu urteilen, auf jeden Fall etwas Härteres. Ich möchte Sie bitten, mir zu sagen, was genau.«

»Damit Sie mich anzeigen können?«

»Es liegt nicht in meinem Sinn, Ihnen Schlechtes zu tun. Ich will Sie schützen. Vor der Polizei, den Drogen und vor allem: sich selbst.«

Darius presst Luft durch die Nase, der Blick bleibt auf ihr haften, er lehnt sich vor, lässt sich zurücksinken.

»Genau.«

»Ich weiß, das ist alles etwas viel für Sie, aber ich möchte Ihnen sagen, dass Sie uns vertrauen können. Jedem von uns. Wir haben viel Erfahrung, was Ihre Situation betrifft. Sie sind da nicht allein.«

»Ich sehe aber sonst niemand.«

»Darius. Überlegen Sie sich das, bitte. Wenn Sie uns helfen, dann können wir Ihnen helfen.«

»Helfen Sie sich doch selbst. Ich will raus, sonst nichts. Ich kann auf mich aufpassen.«

»Wie Sie meinen. Am Freitag ist ein Richter da, der wird entscheiden, ob das in Ordnung geht.«

Wusste ichs doch. Von wegen Hilfe, Schutz.

»Damit Sie mich einsperren können?« Darius steht auf, drückt die Brust heraus, die Ogrisek bewegt sich keinen Millimeter. Die Tür geht auf, ein Mann in Weiß streckt den Kopf herein, fragender Blick, sie tätschelt die Luft.

»Das hat nichts damit zu tun, dass Sie jemand anklagt. Da geht es um die Beurteilung der Freiheitsbeschränkung.«

»Also doch.«

Sie hält ihm den Zettel vor die Nase.

»Ich habe gestern angeordnet, dass Sie ein wenig bei uns bleiben. Bis sich Ihre Lage stabilisiert hat. Brauchen Sie irgendetwas? Sollen wir jemand in Kenntnis über Ihren Aufenthalt setzen?«

Kopfschütteln. Ich brauche niemand. Ich komme schon raus.

»Sicher? Sie werden einige Tage bei uns bleiben. Heute ist Mittwoch. Wenn Sie niemand haben, der zum Beispiel auf Ihr Haustier aufpasst, organisieren wir das für Sie.«

Dieses Weiche in der Stimme. Sie hat sich keine Minute provozieren lassen. Vielleicht, na ja, wer weiß. Das bekommst du schon noch hin.

»Ich habe einen Mitbewohner. Werner. Kann ich ihn anrufen?«

»Wir machen das für Sie. Ich fände es besser, wenn Sie noch keinen Kontakt zur Außenwelt hätten. Um sich klar zu werden, warum Sie da sind.«

»Dann machen Sie das eben.«

»In Ordnung. Wir machen das für Sie. Wenn Sie etwas brauchen, sagen Sie es?«

»Haben Sie eine Zigarette?«

Die Ogrisek steht auf, klopft an die Tür, der Mann beugt sich zu ihr, die Blicke streifen Darius. Sie geht zu ihm, legt den Kopf leicht seitlich, ein Lächeln wie aus dem Katalog.

Ein verständnisvolles Nicken, sie sagt: »Ich komme später bei Ihnen vorbei. Dann reden wir noch mal.« Keine Frage.

***

Die Fahrt auf die Wache gestern verlief wortlos. Der Nowak hat einzig gefragt, ob das ihre erste Leiche sei. »Nein, war sie nicht. Aber die erste, die so grausam zugerichtet war.« Dass sie die Narbe auf der Hand von jemandem kennt oder dass sie von dem stammt, von dem sie es nicht hofft, hat sie verschwiegen. Dann haben sie den Rest der Nacht nicht darüber gesprochen. Es war einiges los, da hat sich die Gelegenheit nicht ergeben. Der Nowak ist außerdem keiner, der auf solche Dinge sensibel reagiert. Nur auf die Jause hat er bestanden.

Andrea steht vor dem Spind, hängt die Uniform hinein, der Nowak packt sie von hinten an der Schulter. Sie dreht sich um, sieht ihm in die Augen, einen Moment, er darf nichts merken, sie hält dem Blick nicht stand. Der Nowak hat Erfahrung, was solche Dinge angeht. Den kannst du nicht belügen.

»Wie lange sind wir schon Kollegen?«, fragt er. Stoisch, verständnisvoll, suggestiv. Verdammt, es kommt gleich. Sie wird es ihm sagen, aber nicht jetzt.

»Drei, vielleicht vier Jahre.« Kein Wieso. Das verrät sie nur.

»Ich weiß, es war viel los. Und die Leiche und das alles. Du weißt, dass du mit mir darüber reden kannst.«

Ja, du bist ein netter Typ. Ich weiß. Ein Nicken voller Hoffnung.

Der Nowak sieht ihr in die Augen, tief, dreht den Kopf weg, wieder zu ihr.

»Dann weißt du auch, was du mir sagen solltest.«

»Was sollte ich dir denn sagen?«

»Wie lange bin ich schon im Geschäft? Was glaubst du?«

Du siehst aus wie sechzig.

»Es war ein langer Dienst. Wir reden morgen, ja?«

Der Nowak packt sie an den Oberarmen, nicht fest, gerade so, dass sie weiß, dass er es ernst meint.

»Was glaubst du?«

»Zwanzig, dreißig Jahre?«

»Dreißig kommt schon ganz gut hin. Was glaubst du, wie viele Kollegen ich schon hatte?«

»Wird das jetzt ein Spiel?«

»Das hängt von dir ab.«

»Du stellst die Fragen. Also bist du der Quizmaster und folglich ist es auch dein Spiel.«

Der Nowak grinst, nicht amüsiert, andernorts vielleicht ein guter Witz.

»Ich glaube, es waren an die zwanzig, dreißig.«

»Das ist gut.« Andrea presst die Lippen aufeinander, nickt.

»Es gibt nur eine Sache, die ich von meinen Kollegen verlange.« Pause, eindringlicher Blick. »Ehrlichkeit.«

Es später zu erzählen, ist nicht weniger ehrlich.

»Ich meine, wenn jemand am Tatort ist und es sein erster Toter ist, dann stiftet das Verwirrung. Das habe ich schon oft gesehen. Auch ist es nur als Zeitgeist zu verstehen, wenn jemand von der Leiche ein Foto macht. Aber dann machen die Leute von der ganzen Leiche ein Bild, nicht nur von der Hand.« Er atmet langsam ein, lässt die Luft in der Lunge. »Du kennst ihn.«

»Nein, ich kenne, ich meine, ich glaube, dass …«

»Was jetzt?«

»Können wir das morgen besprechen?«

Der Nowak überlegt, dreht sich im Kreis, fährt sich über den Kopf.

»Wenn du weißt oder glaubst zu wissen oder nur eine vage Ahnung hast, wer das ist, ist es deine Pflicht, das zu sagen. Ist das klar?«

Andrea senkt langsam das Kinn.

»Ich muss das zuerst klären, dann kann ich dir mehr sagen. Das kann auch ein Zufall sein, ein blöder …«

»Dann klär das. Und versuch nicht, mich für dumm zu verkaufen. So eine Situation kann sich gegen dich wenden. Wenn das jemand mitkriegt.«

»Wer soll das mitbekommen haben?«

»Bist du wirklich so naiv?« Keine Frage. »Der Feuerwehrkommandant ist daneben gestanden und hat gesehen, wie du das Foto gemacht hast. Vierzig Feuerwehrleute waren anwesend. Die werden sie mit Sicherheit vernehmen. Der Kommandant wird so etwas sagen wie: Ihre Kollegin hat schon ein Foto gemacht. Dann werden sie zuerst sich und dann dich fragen, warum. Dann werden sie vielleicht mich fragen. Dann werde ich in deinen Bericht sehen und nichts darüber finden. Dann werden sie dich fragen, warum das nicht in deinem Bericht erscheint. Vielleicht nehmen sie das auch nicht ernst. Das wäre dein Glück. Aber wenn, dann …«

»Ich habe verstanden.«

»Das ist gut. Und jetzt geh nach Hause. Das war eine anstrengende Nacht.«

Ja, das war sie. Wer weiß, was der Tag noch bringt.

3

Andrea hat auf nichts reagiert. Weder auf den knackenden Akzent, dem sie normalerweise schwer widerstehen kann, noch auf seine weiche Stimme. Plan B.

Sie treffen sich nicht bei ihm zu Hause, nicht bei ihr. Sie war hart, kalt, ungewohnt am Telefon. Auf seine Fragen hat er keine Antwort bekommen. So kennt er sie nicht, das ist ein Präzedenzfall. Hat er es übersehen, sich zu lange gespielt? Hat sie jemand gefunden? Du bist nicht der einzige Südländer, nicht der Einzige mit Charme und einem Motorrad. Sie will reden, fragt sich nur, worüber.

Felix ist zu Fuß gekommen. Niemand fährt gerne Motorrad im Regen. Außer den Engländern. Eher aus Not als aus Freude. Mit dem Wetter verhält es sich hier nicht unähnlich. Im Schnitt regnet es jeden zweiten Tag. Ein seichtes Nieseln, gerade stark genug, dass es nass und kalt wird. Ein Arzt im Mittelalter hat Salzburg als Kloake des Universums betitelt. Zu Recht, wie Felix findet. Über die ganze Stadt hat sich ein Teppich aus Schnürlregen gelegt.

Andrea hat sich ein Café ausgesucht, das mehr zur Tarnung den Titel trägt. In diesem Viertel geht es darum, vormittags Bier zu trinken, eine nach der anderen zu rauchen und sich über das Leben zu beschweren. Dass die Ausländer nicht arbeiten und die Regierung nichts taugt. Meist, bis man nicht mehr reden kann. Doch interessiert es kaum jemand, was am Nebentisch passiert. Beziehungsweise haben die Leute das vergessen, wenn sie nach Hause gehen.

Felix hat sich die Kapuze der Regenjacke über den Kopf gezogen, die Hände in den Taschen vergraben. Er geht die Rudolf-Biebl-Straße hinab, den Blick vor die Füße gerichtet. Die Straße ist viel befahren, wenige Fußgänger kreuzen den Weg.

Vor ihm das Café, Andrea wartet mit einem Schirm vor der Tür. Normalerweise bringt sie Licht in den Tag, erhellt mit ihrer Mähne die Umgebung. Aber ihr Blick verhält sich analog zum Telefongespräch. Kalt, starr, irgendwie besorgt. Ein kurzes »Hallo«, sie gehen hinein, steuern eine Nische in der hintersten Ecke an.

Es dauert keine zwei Minuten, der Kellner kommt, mit wackeligen Beinen und einer Alkoholfahne. Er fragt, ob sie zwei Bier möchten, Andrea sieht auf die Uhr, zwei Uhr nachmittags. Einen Pfefferminztee für sie, einen Espresso für Felix. Der Kellner hebt die Schultern, verschwindet hinter dem Tresen.

Felix sucht Blickkontakt, sie weicht ihm aus. Sie soll einfach sagen, was los ist. Dass sie mit einem wie ihm nichts zu tun haben will. Dann hat er es hinter sich. Wäre nicht das erste Mal, dass dir so etwas passiert.

Andrea holt das Mobiltelefon aus der Tasche, tippt darauf herum, schiebt es über den Tisch. Felix sieht sie fragend an, sie macht ein Zeichen, er soll die Finger spreizen. Er nimmt das Handy, vergrößert die Aufnahme.

»Wann hast du das gemacht?«

»Gestern. Wo, darf ich dir nicht sagen. Ich dürfte nicht einmal hier sein. Also: Was ist das?«

Felix streicht über die Narbe am Handrücken, spürt die Vergangenheit. Das ist fast zwanzig Jahre her. Weit entfernt von jeglicher Aktualität.

»Wir wissen beide, was das ist. Die Frage ist eher, wo du das gefunden hast.«

»Wo, ist nicht die Frage, sondern wie.«

»Und wie hast du das gefunden?«

»Im Einsatz.«

»Mehr hast du nicht zu sagen?«

»Wie wärs, wenn du mal zu reden anfängst? Ich meine, ich habe nie eine Antwort bekommen, was es mit der Narbe auf sich hat. Außer: eine Jugendsünde, etwas, das schon lange vorbei ist, blablabla. Ich glaube, es ist an der Zeit, dass du mit der Wahrheit rausrückst.«

»Warum hast du den nicht gefragt, von dem du das Foto gemacht hast?«

»Weil nicht mehr viel von ihm übrig ist.«

Felix schluckt, der Adamsapfel kratzt am Hals, er taxiert sie. Sagt sie die Wahrheit? Dieser Blick lässt keine Zweifel zu. Er macht eine Handbewegung, sie soll ihm noch einmal das Telefon geben. Er sieht sich die Hand an, dieses Mal eindringlicher. Es ist ihre Fünf, ihr Zeichen, das sie für immer daran erinnern und verbinden sollte. Er streckt ihr die Hand entgegen.

»Wir haben uns die Nummer eingebrannt, mit einem Eisen von einem Briefkasten. Wir hätten nie gedacht, dass wir einmal getrennt sein würden. Niemand hätte daran gedacht. Es sollte uns an den Schwur erinnern. Immer füreinander da zu sein. Alle für einen, einer für alle, so in etwa.«

»Warum dann die Fünf?«

»Weil wir zu fünft waren. Die Gang of Five.«

»Eine Gang.«

»Na ja, keine Gang. Eher ein paar Kinder, die sich dafür gehalten haben. Mit hässlichen Frisuren, hinten lang, vorne kurz, Goldketten, billigen Lederjacken und Sonnenbrillen. Wenn uns fad war, sind wir, um uns zu prügeln, nach Liefering oder Taxham gefahren. Mit den Mopeds, zwei KTM Ponys und einer Puch Maxi. Die Maxi war meine, war ja schließlich der Chef.«

Augenzwinkern, auf das Andrea nicht reagiert.

»Weißt du, wer das ist?«

»Ich weiß, wer es nicht ist.«

»Wer ist es nicht?«

»Darius. Er ist schwarz. Na ja, ein bisschen.«

»Ich brauche die Namen der anderen. Wir müssen herausfinden, wer das war.«

»Ich mache das. Ich will nicht, dass sie in Schwierigkeiten kommen. Wir haben immer alles selbst geregelt.«

Andrea lehnt sich auf den Tisch, reißt die Augen auf, will schreien, nicht hier.

Sie zischt: »Du bist kein verdammtes Kind mehr. Hier geht es nicht um irgendeine vertrottelte Gang, Herrgott noch mal.«

Sie atmet durch, lehnt sich zurück. Sie hasst es, wenn sie die Beherrschung verliert.

»Aber ich hatte die Verantwortung, verstehst du das? Ich habe sie im Stich gelassen.«

»Weil du erwachsen geworden bist? Ist dir nicht klar, worum es hier geht? Du hättest das sein können, Felix, du. Kapierst du das nicht?«

Warum hättest du das sein sollen? Macht sie sich etwa Sorgen? Er kann auf sich aufpassen, dafür gibt es keinen Grund.

»Vielleicht werde ich es ja noch.«

»Du bist dümmer, als du aussiehst, Felix Horvat. Außerdem hast du überhaupt keine Ahnung, was ich für dich aufs Spiel setze.«

Du hast sie nicht darum gebeten. Du kommst auch alleine klar. Das auszusprechen: keine gute Idee.

»Hör mal, ich muss das selbst regeln. Ich sage dir Bescheid, wenn ich was weiß.«

»Ich bin die Polizei, verdammt. Da gibt es kein ›Ich sage dir Bescheid, wenn ich was weiß‹. Vielleicht bist du der Nächste. Habt ihr wirklich nichts gemacht? Sucht euch die Vergangenheit heim? Das war kein Zufall und mit Sicherheit kein einfacher Mord. Da hat sich einer mit wem angelegt, der ihn aus dem Weg räumen wollte. Sonst nichts.«

»Ich weiß es nicht. Wir haben nicht viel getan, ein paar kleinere Diebstähle, Zigaretten geraucht und uns angesoffen. Ich glaube nicht, dass uns ein rachsüchtiger Greißler verfolgt.«

»Das ist alles? Bist du dir sicher? Wenn du mir etwas verheimlichst, sag es besser gleich.«

»Gib mir eine Woche, dann weiß ich mit Sicherheit mehr. Du weißt, du kannst mir vertrauen. Das wäre nicht das erste Mal.«

Sie spitzt den Mund, die Pupillen schwingen hin und her, bis sie auf Felix liegen bleiben.

Ein Seufzer, ein kraftloses »Du bist ein Idiot. Weißt du das?«.

Möglich.

Andrea steht auf, beugt sich über den Tisch, schlägt mit der flachen Hand darauf. »Das geht auf dich. Damit du weißt, wie es ist, für etwas zu bezahlen, was du nicht verbrochen hast. Vielleicht geht dir ja ein Licht auf.«

***