António Lobo Antunes
Roman
Aus dem Protugiesischen von
Maralde Meyer-Minnemann
Mit einem Nachwort von Sigrid Löffler
btb
António Lobo Antunes wurde 1942 in Lissabon geboren. Er studierte Medizin, war während des Kolonialkrieges Militärarzt in Angola und arbeitete danach als Psychiater in einem Lissabonner Krankenhaus. Heute lebt er als Schriftsteller in seiner Heimatstadt.
Lobo Antunes zählt zu den wichtigsten Autoren der europäischen Gegenwartsliteratur. In seinem Werk, das mittlerweile sechzehn Titel umfaßt und in circa dreißig Sprachen übersetzt worden ist, setzt er sich intensiv und kritisch mit der portugiesischen Gesellschaft auseinander. Er erhielt zahlreiche Preise, zuletzt 2005 den Jerusalem-Preis für die Freiheit des Individuums in der Gesellschaft.
ALEIXO, ANTÓNIO (1899–1949), portugiesischer Dichter.
ALJUBARROTA: Schlacht im gleichnamigen Ort, in der die Portugiesen am 14.8.1385 die dreimal so starke Armee der Spanier besiegten und damit die Unabhängigkeit Portugals besiegelten.
ANDRESEN, SOPHIA DE MELLO BREYNER (1919–2004), von vielen als die bedeutendste portugiesische Dichterin betrachtet.
BANDARRA, GONÇALO ANES (1500?–1556), der Schuster von Trancoso, Dichter und Prophet.
BLONDIN, ANTOINE (1922–1991), französischer Schriftsteller.
BOCAGE, MANUEL MARIA BARBOSA DU (1765–1805), wichtiger portugiesischer Dichter zwischen Klassik und Frühromantik, dessen Werk u. a. über 300 Sonette enthält.
CAMÕES, LÚIS DE (1524–1580), Portugals größter Dichter, Verfasser des Nationalepos »Die Lusiaden«.
CARBONARIER: Ursprünglich Mitglieder einer Geheimgesellschaft, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts für die Einheit Italiens kämpfte; eines ihrer bekanntesten Mitglieder war Guiseppe Garibaldi. Sie hießen so, weil sie sich in aufgegebenen Kohlebergwerken trafen. Die »Carbonária Portuguesa« hat die Revolution organisiert, die 1910 zur Einführung der Republik in Portugal geführt hat.
CATITINHA: Stadtbekannter Irrer aus der Kindheit des Autors.
CHIADO (ANTÓNIO RIBEIRO), Dichter des 16. Jahrhunderts, Verfasser von Versen und Theaterstücken. Seine Statue auf der Rua do Chiado, von der, dem Vernehmen nach, sein Spitzname »Chiado« stammt, weil er dort lebte und dichtete, stellt ihn auf seinem Bronzestuhl sitzend dar.
DANTAS, JÚLIO (1876–1962), war ursprünglich Arzt, widmete sich später dem Journalismus und der Literatur. Schon zu Lebzeiten als rückwärts gewandt empfunden. Nach seinem Tod geriet er in Vergessenheit. Hier wohl Anspielung auf sein Werk »A Ceia dos Cardeais« (Das Abendmahl der Kardinäle).
DONA MARIA: Auf der 1967/68 in Umlauf gebrachten portugiesischen Tausend-Escudo-Note war Königin Maria II. von Portugal abgebildet, die von 1834–1853 regierte.
GOMES LEAL, ANTÓNIO DUARTE (1848–1921), ursprünglich ultra-romantischer portugiesischer Dichter, dessen späteres Werk vom Parnaß und von Baudelaire beeinflußt ist.
JOSÉ MATIAS: Anspielung auf den unglücklich in Elisa Miranda verliebten Dichter José Matias aus der gleichnamigen Erzählung des portugiesischen Schriftstellers José Maria Eça de Queiroz (1845–1910).
LEGIÃO PORTUGUESA: Ende der 20er Jahre gegründete paramilitärische Organisation des Salazarregimes.
LOBATO, GÉRVASIO (1850–1895), Dramatiker, dessen Komödien im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert sehr populär waren.
LOPES, FERNÃO (1380–1460), Autor der »Crónica de D. João I.«, gilt als Vater der portugiesischen Geschichtsschreibung.
MANIQUE, PINA (1733–1805), Generalintendant der Polizei unter dem Marques de Pombal, der für seine Strenge berühmt war.
MOLERO: Hauptfigur des 1977 erschienenen Romans »O que diz Molero« (Was Molero sagt) von Dinis Machado (1930).
OLIVEIRA, FERNANDO CORREIA DE (1921), portugiesischer Komponist.
PEDRO UND INÊS: Die großen Liebenden der portugiesischen Geschichte, König Pedro I. und Inês de Castro. Sie liegen in ihren Sarkophagen in der Kirche von Alcobaça so, daß sie einande r ansehen, wenn sie am Jüngsten Tag auferstehen.
PINTO, FERNÃO MENDES (1510?–1583), Abenteurer und Schriftsteller, der seine über zwanzig Jahre dauernde Reise durch den Orient, über Äthiopien bis nach Japan, in dem Buch »Peregrinação« (Merkwürdige Reisen im fernsten Asien –1537–1558) niederschrieb. Seine Schilderungen wurden auch als Lügenmärchen bezeichnet.
QUENTAL, ANTERO DE (1842–1891), portugiesischer, zur Gruppe der »Generation von Coimbra« gehörender Dichter, die sich um 1860 gegen den Romantizismus wandte.
SARDINHA, ANTÓNIO MARIA DE SOUSA (1887–1925), portugiesischer Dichter und Politiker.
SILVA: Portugiesischer Nachname, so häufig wie hier Maier oder Schulz.
SOUSA, FREI LUÍS DE (1556–1632), religiöser Name von Manuel de Sousa Coutinho, war Ritter des Malteserordens. Während seiner Gefangenschaft in Algier lernte er im Gefängnis Miguel de Cervantes kennen. Nach seiner Freilassung im Jahre 1577 kehrte er nach Portugal zurück, diente dann zwei Jahre lang Philip II. von Spanien und heiratete nach seiner Rückkehr nach Portugal D. Madalena de Vilhena, die Witwe von D. João de Portugal. Er übernahm verschiedene Ämter, trennte sich nach dem Tode seiner Tochter D. Ana de Noronha von seiner Frau, trat in den Dominikanerorden ein und widmete sich nur noch dem Schreiben.
SOUSA MARTINS, JOSÉ THOMAS DE (1843–1897), berühmter portugiesischer Arzt und Pharmazeut, dessen im Campo dos Mártires da Pátria errichtetem Standbild Wunderheilungen nachgesagt werden und der vom Volk fast wie ein Heiliger verehrt wird.
STUART CARVALHAIS, JOSÉ (1886–1961), gilt als der Begründer des portugiesischen Comics für Kinder. Er schuf die Figuren »Quim« und »Manecas«. Ihre Abenteuer erschienen von 1915 bis 1953 in verschiedenen Zeitungen.
TELLADO, CORIN (1927), spanische Schriftstellerin, die – wie Barbara Cartland – erfolgreich romantische Liebesromane geschrieben hat. 5000 an der Zahl – und viermillionenmal verkauft. Von der UNESCO zur am meisten gelesenen Schriftstellerin spanischer Sprache erklärt (vor ihr kommen die Bibel und Cervantes).
VERDE, CESÁRIO (1855–1886), revolutionierte die portugiesische Dichtkunst durch Sprach- und Stilmischung und den kühnen Gebrauch von Adjektiven.
VETTER BASÍLIO: Hauptfigur des gleichnamigen Romans von Eça de Queiroz.
Habent sua fata libelli. Bücher haben ihre Schicksale – erst recht, wenn es sich um Werke ausländischer Autoren handelt. Schwer nachvollziehbar sind die Entscheidungen der Verlage, ein bestimmtes Buch eines fremdsprachigen Autors einzukaufen und übersetzen zu lassen, oft erst Jahre nach dem Erscheinen der Originalausgabe. Die ursprüngliche Reihenfolge der Entstehung der Werke scheint da ganz unmaßgeblich. Selten wird auf die originalen Erscheinungsdaten geachtet, sodaß die Werk-Chronologie meist völlig durcheinander geht; oft werden Werke aus späteren Schaffensperioden zuerst übersetzt – und ziehen erst dann, falls sie vom Publikum gut aufgenommen werden, die Übersetzungen auch ihrer Vorgänger-Romane nach sich. Bei Titel-Auswahl, Erscheinungszeitpunkt und Reihenfolge der Werke eines Autors herrscht im Übersetzungsgeschäft oft reine Willkür.
Das deutschsprachige Publikum, aber auch der deutschsprachige Kritiker, steht dann vor Einzelteilen eines Werkes, deren Genesis und Reihenfolge sich ihm nicht erschließen, die nicht zueinander passen, die einander nicht erklären und sich nicht chronologisch in die Werkbiographie eines Autors einfügen lassen – alles nur Text, aber kein Kontext, nirgendwo. Schaffensperioden, Entwicklungen, thematische Schwerpunkte sind nicht erkennbar, lassen sich jedenfalls an der erratischen Übersetzungspolitik nicht ablesen. Die Umrisse des Œuvres sind nicht einmal erahnbar. Was einen Schriftsteller umtreibt, warum er was wann und in welcher Reihenfolge geschrieben hat – all das muß rätselhaft bleiben, sofern man die Sprache des Autors nicht beherrscht, die Werke im Original nicht lesen und daher nicht nachvollziehen kann, wie sie ursprünglich aufeinander folgen.
Auch dem Portugiesen António Lobo Antunes ist es bei seiner deutschsprachigen Leserschaft zunächst nicht anders ergangen. Sein zweiter Roman, »Der Judaskuß« (1979), der ihn in Portugal schlagartig berühmt machte, erschien in Deutschland als sein erstes Werk, allerdings mit achtjähriger Verspätung – nämlich erst 1987. Zu diesem Zeitpunkt hatte Lobo Antunes in Lissabon längst vier weitere Romane vollendet und veröffentlicht, die das deutschsprachige Publikum aber nicht kennen konnte – ganz abgesehen von seinem Debütroman, von dem bestenfalls der Titel gerüchtweise bekannt war, »Memoria de Elefante«. Woher dieser Autor kam, welche biographischen und politischen Umstände ihn zum Schreiben motiviert hatten, wohin er sich als Erzähler entwickelte, vielmehr: inzwischen längst entwickelt hatte – all dies mußte der deutschsprachigen Leserschaft vorerst verborgen bleiben.
Die Leser konnten auch nicht wissen, daß dieser Autor in Romanzyklen arbeitete, in Trilogien und Tetralogien. Am Anfang seines Werks stand eine autobiographische Roman-Trilogie – mit dem »Judaskuß« im Zentrum –, und darauf folgte eine Tetralogie – vier Romane zum Thema Portugal. Erst recht konnten deutschsprachige Leser nicht ahnen, daß Lobo Antunes zu diesem Zeitpunkt bereits eine zweite Trilogie in Angriff genommen hatte – drei Romane, die in Benfica spielen, dem Lissaboner Villenviertel, in dem er aufgewachsen ist.
Diese willkürliche und nicht nachvollziehbare Erscheinungspolitik änderte sich erst vor einem knappen Jahrzehnt. 1996 nahm der Luchterhand Verlag das Werk von António Lobo Antunes in seine Obhut, und ab da wurde schlagartig alles anders. Der Verlag setzte seinen Ehrgeiz darein, der deutschsprachigen Leserschaft das gesamte Romanwerk dieses Weltautors zugänglich zu machen – immerhin inzwischen sechzehn Romane. So wurden ab 1996 nicht nur die jeweils neuesten Romane von Lobo Antunes umgehend ins Deutsche übersetzt, angefangen mit der so genannten »Tetralogie der Macht« – jenem Roman-Quartett, das auf die »Benfica-Trilogie« gefolgt war und in dem er sich die alten Eliten Portugals vornahm, die weißen Kolonialherren in Afrika und die Machthaber im Mutterland; parallel dazu wurden auch die vielen chronologischen Lücken im Frühwerk Buch für Buch aufgefüllt, sodaß deutschsprachige Leser heute das gesamte Œuvre von Lobo Antunes überblicken können. Der allererste Roman folgte zuletzt: 25 Jahre nach dem Erscheinen von »Memoria de Elefante« in Lissabon konnte man Lobo Antunes’ Erstlingsroman »Elefantengedächtnis« schließlich auch auf Deutsch lesen.
Jetzt läßt sich endlich erkennen, woher diese eigenwillige Erzählerstimme kommt und wie der Hallraum beschaffen ist, in den hinein sie tönt. Jetzt läßt sich endlich nachvollziehen, wie dieser Autor und Großbürger-Sproß, Militärarzt und Psychiater, Jahrgang 1942, in vier gewaltigen Roman-Zyklen und in allen weiteren, darauf folgenden Erzählwerken das Unglück Portugals aufgehoben hat, im Hegelschen Sinne. Bei diesem Autor ist alles immer Gegenwart. Die Vergangenheit ist, mit William Faulkner gesprochen, nicht vergangen; die Gegenwart ist, mit Sartre gesprochen, nichts als vergangene Zukunft. Vergangenheit und Zukunft gehen bei Lobo Antunes auf in einer allumfassenden Gegenwärtigkeit. Alles dauert an, alles dauert fort. Alles geschieht gleichzeitig. Bei Lobo Antunes ist alles in Sprache konserviert – Portugals Gründungslegenden und Stammessagen, seine Machtphantasien und ausgerenkten Mythen, seine wurmstichige Größe, seine Zeremonien des Zerfalls.
Immer wieder aufs Neue hat dieser Autor auch mit den kolonialen Mythen seines Landes abgerechnet, von der hochgemuten Gründung des portugiesischen Weltreichs bis zu dessen jämmerlichem Ende in einem schmutzigen Kolonialkrieg in Afrika, der die Reste des Weltreichs hinweggefegt hat, ohne dessen imperiale Phantasmen zu beseitigen. Da im Portugal des António Lobo Antunes alles am toten Punkt stagniert, bewirkt der allgemeine Stillstand die Gleichzeitigkeit aller Vorgänge. Das zeitliche Nacheinander ist aufgehoben in der Synchronität aller Ereignisse.
Wo nichts geschieht, geschieht alles zugleich. Vasco da Gama und Pedro Cabral brechen auf ins Goldene Zeitalter der Entdeckungen; aber gleichzeitig strolchen sie auch durchs heutige Lissabon, als namenlose Penner und lausige Glücksritter. Und ihre stolzen Karavellen, die von großer Fahrt zurückkommen, beladen mit den Schätzen der Kolonien, sind zugleich verrostete Kähne, aus denen das Gerümpel der retornados, der Rückkehrer aus Afrika, an den Strand gekippt wird. In dem Roman »Die Rückkehr der Karavellen« läßt Lobo Antunes alle berühmten Seefahrer, Entdecker, Missionare und Feldherren, die Portugals Weltreich einst begründeten, als Vertriebene an Bord der letzten Karavellen geschlagen heimkehren.
Erst durch die Kunst dieses Schriftstellers ist Portugal für die literarische Welt wirklich lesbar geworden. Seine Romane entfalten präzise und sehr differenzierte Zustandsbilder der portugiesischen Gesellschaft und übersteigern sie zugleich ins höllisch Fratzenhafte. Was Lobo Antunes herbeihalluziniert, wem er die Stimme gibt, das sind Portugals Dämonen, so grotesk wie fürchterlich. Seine Romane sind barocke Untergangsgeschichten vom portugiesischen Wesen und Verwesen, bizarr und melancholisch.
Die triftigste Untergangsmetapher ist immer noch die Familie. Lobo Antunes erzählt das Unglück Portugals deshalb vornehmlich als Familiensaga, als vielstimmige Herrschafts-und Leidensgeschichte von der Gewalt der Väter und der Ohnmacht der Söhne, von der Dämonie der Mütter und dem Elend der Töchter. Er erzählt die Geschichte Portugals als familiäre Verfallsrhapsodie einer untergehenden Klasse. Er besingt den üppig blühenden Niedergang, die grandiose Auflösung eines Landes, das seine Zukunft seit langem hinter sich hat.
Wenn einer seiner Romane den Titel »Portugals strahlende Größe« trägt, dann kann dies nichts anderes sein als eine höhnische Grimasse: Das Zitat aus der portugiesischen Nationalhymne steht über der Geschichte einer Familie von retornados , die aus Angola nichts ins Mutterland zurückbringen außer ihren zerstörten Illusionen und ihren wahnhaften, kaputten Beziehungen zueinander. Lobo Antunes sieht sich »als Erbe eines alten, unbeholfenen, sterbenden Landes, voller Furunkel aus Palästen und Harnsteinen aus kranken Kathedralen« – so liest man in seinem stark autobiographischen »Judaskuß«, dem Buch, das seinen Ruhm begründet hat.
Sein Portugal ist eine Phantasmagorie, geschichtsmatt und weltvergessen. Sein Lissabon ist eine versunkene Stadt, über der sich die Fluten der Zeit geschlossen haben – ihre Dächer sind Korallenriffe, ihre Straßen Krebsgrotten und die Wolken über der Stadt »nichts weiter als schwimmende Algenbänke«. Sein Thema ist dieser schmale Landstreifen im Rücken Europas und mit dem Rücken zur Zeit: ein Land der Ahnungen und Alpträume, das aufs Meer und in die Vergangenheit starrt, beide unendlich größer als das Vorhandene.
Immer noch schaut das Land gebannt nach Westen, in der sagenhaften Hoffnung, Dom Sebastiao, der verschwundene Knabenkönig, werde eines Tages im Nebel aus dem Meer geritten kommen, um Portugal zu retten. In der »Rückkehr der Karavellen« wird diesem falschen Trost- und Heilsbringer-Mythos der Garaus gemacht. Das radikale Schlußbild des Romans will den Sebastianismus ein für alle Mal erledigen. Da versammeln sich die einstigen Eroberer und Imperienbauer am Meeresufer, eine Kohorte von Schwindsüchtigen, die im Morgengrauen hustend am Strand sitzen, vor sich »nichts als den Ozean, leer bis zur Linie des Horizonts«. Geduldig warten sie auf »einen blonden Jüngling mit einer Krone auf dem Kopf« und »auf das Wiehern eines Pferdes, das nie kommen würde«.
Das Portugal des António Lobo Antunes ist ein phantastisches Ruinenreich, trotz Massentourismus und EU-Beitritt, ein entmutigtes und entmächtigtes Land, trotz Sturz des Diktators Salazar in der so genannten Nelkenrevolution von 1974. Was die Nelkenrevolution beseitigen wollte, das Ancien Règime, das west fort. Die vorrevolutionäre Vergangenheit Portugals ist nicht vergangen. Die alten Substanzen – das Militär, die Kirche, die mächtigen Familien – sind immer noch vorhanden. Die alten Eliten geben immer noch den Ton an – oder mindestens den Mißton. Und die portugiesische Gesellschaft ist immer noch zerstritten darüber, als was die Nelkenrevolution anzusehen sei: als ein Befreiungsschlag oder als nationale Katastrophe. Dieser Riß geht auch durch Lobo Antunes’ Familie und durch ihn selbst hindurch. Dieser Riß – Befreiung oder Katastrophe? – ist sein literarisches Thema. Daß er beide Seiten kennt, dass beide an ihm ziehen und zerren, das befähigt ihn zu seinem Roman-Werk.
Die Familie Lobo Antunes ist eine großbürgerlich-aristokratische Dynastie. Hohe Militärs und einen brasilianischen Kautschuk-Großhändler zählt der Autor zu seinen Vorfahren, aber auch eine deutsche Großmutter. Sein Vater, zwei seiner fünf Brüder und er selbst sind Mediziner. Ehe er den Arztberuf aufgab, um zu schreiben, war er Chefarzt im Hospital Miguel Bombarda in Lissabon, einer psychiatrischen Klinik, in der auch schon sein Vater Chefarzt gewesen war. »Ich bin ein Mann aus einem schmalen, alten Land, aus einer in Häusern ertrinkenden Stadt. Ich wurde geboren und bin aufgewachsen in einer stickigen Welt aus Häkelspitzen, die Häkelarbeit der Großtante und die manuelinische Häkelarbeit der Architektur haben meinen Kopf in Filigranmuster zerlegt, mich an die Nichtigkeit von Nippes gewöhnt, kurz, sie haben meine Sinne reglementiert«, berichtet der Ich-Erzähler im »Judaskuß«. Da hat er den Schock seines Lebens schon hinter sich, die Entregelung der Sinne bereits durchgemacht, auf die denkbar brutalste Weise – ein Schicksal, das der Ich-Erzähler mit seinem Autor teilt.
Der Schock hieß Angola – und er warf ihn aus der Bahn. 1968, im Alter von 26 Jahren, wurde Lobo Antunes vom Salazar-Regime als Militärarzt nach Angola zwangsverpflichtet. Vier Jahre Wehrdienst, davon 27 Monate im dreckigen Kolonialkrieg am Arsch der Welt – »Os cus de Judas«, wie der unverblümte Originaltitel seines Romans lautet – sind die zentrale Schreckenserfahrung seines Lebens. Der Kolonialkrieg in Angola, das war der Vietnamkrieg des armen Mannes. Er ist zugleich nationales Trauma und Auslöser der Revolution von 1974 – deren Wortführer waren desillusionierte Kolonial-Offiziere, gezeichnet von den Gräueln, die sie in Afrika mitgemacht hatten.
150 von den 600 Mann seines Bataillons seien gefallen, sagt Lobo Antunes – aufgerieben durch einen unsichtbaren Feind, verreckt an Malaria, zerrissen von Minen, getötet von Guerilla-Kugeln aus dem Hinterhalt: »Angola hat mir politisch die Augen geöffnet. Es war ein Krieg von Kindersoldaten, angeführt von Offiziersknaben. Er wurde geführt im Namen gewaltiger, stumpfsinniger Ideale – Ehre, Opfer, Vaterland. Dabei gibt es nur eine Ehre – die Ehre, am Leben zu sein.« Einer dieser Offiziersknaben war Ernesto Melo Antunes, Antónios Hauptmann im Angola-Krieg und einer der Mitverschwörer und Programm-Vordenker der Revolution, der später Minister wurde. Diesem bewunderten Freund sollte Lobo Antunes 1996 seinen Roman »Das Handbuch der Inquisitoren« widmen, seine Abrechnung mit den Machthabern des Salazar-Regimes.
Lobo Antunes selbst ist davongekommen, im »Judaskuß« beschwört er diese Reise ins Herz der Finsternis und ans Ende der Nacht. Dieser kaum fiktionalisierte Text mit seinem dichten autobiographischen Substrat ist inszeniert als trunkener Monolog eines Angola-Veteranen in einer Lissaboner Bar. Er ist die fiebrige Konfession an eine unbekannte Frau, der besessene Redeschwall eines Mannes, der seine Verzweiflung in Alkoholschwaden auflöst. So kaputt er ist, so gnadenlos rechnet er mit denen ab, die ihn kaputtgemacht, in einem absurden Krieg verheizt und fürs Leben verdorben haben. Vier Jahre später, in seinem Roman »Fado Alexandrino« (1983), sollte Lobo Antunes das Thema der Nelkenrevolution nochmals aufgreifen: Da treffen sich fünf Veteranen des Kolonialkriegs in einer Kneipe und beichten einander, fast zehn Jahre nach der Revolution, die Debakel und Fiaskos nach ihrer Heimkehr.
Der 25. April 1974, der Militärputsch gegen das System Salazar /Caetano – das ist das Datum, an dem sich die Geister scheiden, auch die der Familie Lobo Antunes. Der Vater und die Brüder des Autors waren einverstanden mit dem Umsturz. Aber die Brüder seiner Mutter, die Schwestern seines Vaters haben die Revolution einfach nicht zur Kenntnis genommen, haben sich verweigert, die Zeit angehalten, sich eingesponnen in ein imaginäres Portugal von früher.
Diese Ambivalenz gegenüber der Geschichte durchzieht auch das Personal der Romane. Bei Lobo Antunes kommen alle zu Wort, die Machthaber, die Nutznießer, die Opfer, die Verlierer. Die großen Familien der Salazar-Zeit, die Wirtschaftsbarone, Kirchenfürsten und Financiers, gehören ebenso zum Stammpersonal wie die Militärs und die Geheimdienstleute, die imperialen Phantasten und achtlosen Menschenwürger, einschließlich ihrer Büttel und Folterknechte. Wie die Herrschaft der großen alten Familien-Clans andauert, das beschreibt etwa der Roman »Das Handbuch der Inquisitoren«. Die Zensur mag in Portugal abgeschafft, die PIDE, die politische Polizei, mag aufgelöst sein, aber der Schatten der Despotie mit ihrem Spitzel- und Folterwesen ist nicht gewichen. Die Diktatur von einst hat nur geheimem neuen Terror Platz gemacht, grotesken und gespenstischen Machenschaften, wie im Roman »Anweisungen an die Krokodile« nachzulesen ist, politischen Komplotten und Geheimdienst-Attentaten in der Ex-Kolonie Angola, wie sie der jüngste Roman »Guten Abend ihr Dinge hier unten« beschreibt. Die Ordnung der alten Männer, das väterliche Prinzip, gilt nach wie vor. Und sie spinnen noch ihre Ränke, als wäre Salazar nach wie vor an der Macht – der kümmerliche lusitanische Diktator, der »mit seinem Spatzenfiepen« über Leben und Tod entscheiden konnte, über Erwerb und Verderb, über Fátima-Wunder, Konzentrationslager und Kolonialkriege.
Aber es gibt auch die Lebensuntüchtigen, die Träumer und Melancholiker. In vielen seiner Romane führt Lobo Antunes solche Menschen vor, die nostalgisch einer verschwundenen Größe von einst nachhängen: Schleiereulen der Vergangenheit, die benommen ins Heute blinzeln und sich nicht zurechtfinden im grellen Faktenlicht. Auf der anderen Seite läßt Lobo Antunes aber auch die Opfer der Geschichte auftreten. Er entfaltet ein Panorama der kleinen Leute und gestrandeten Existenzen, die nicht wissen, wie ihnen geschieht – Habenichtse, Geduckte und Gedrückte, Verrückte, Spinner, gebrochene Menschen. Bei allen schwärt die nachkoloniale Seelenfäule weiter fort, bei den Rückkehrern aus den überseeischen Provinzen ebenso wie bei den Veteranen des Kolonialkriegs.
Es hat seinen besonderen Reiz, nun das allererste Buch dieses Autors – den legendären Vorgänger-Roman von »Der Judaskuß« – zuletzt zu lesen, den Grundstein dieses gewaltigen Romanwerks gewissermaßen als dessen Schluß-Stein. Lobo Antunes zögerte lange, »Memoria de Elefante« – erstmals erschienen 1979, im selben Jahr wie »Der Judaskuß« – seinem fremdsprachigen Publikum zugänglich zu machen. Fürchtete er, sein Erstlingswerk werde den Vergleich mit seinen späteren, immer komplexer und vielschichtiger gebauten Romanen nicht aushalten? Hatte er Bedenken, weil in diesem Debüt-Roman von der Heimkehr eines Militärarztes aus dem Angola-Krieg so unverhüllt und deutlich das autobiographische Unterfutter erkennbar ist? Ließ ihn das Urteil seines Vaters, Psychiater wie er selber, zaudern, der das Buch anfängerhaft fand? Wenn solche Vorbehalte und Besorgnisse der Grund seines Zögerns gewesen sein sollten, dann läßt sich nach der Lektüre dieses Erstlings sagen: Sie waren unberechtigt. »Elefantengedächtnis« kann sehr wohl neben den späteren Werken bestehen: Es ist ein kraftvoll erzähltes Buch und besitzt allen Zauber und alle Unschuld eines Erstlingswerks.
Mehr noch: »Elefantengedächtnis« eignet sich hervorragend als Einstieg in die Roman-Welt von Lobo Antunes. Gewiß: von der unverwechselbaren polyphonen Erzähltechnik, dem Verfahren des Stimmengewirrs aus Gesprächen und inneren Monologen ohne Erzählstrang, die Lobo Antunes erfunden, entwickelt und in sechzehn Büchern immer mehr ausdifferenziert und verfeinert hat, ist in »Elefantengedächtnis« noch nichts zu erkennen. Aber auch wenn von der kühnen Konstruktion und virtuosen Vielstimmigkeit der späteren Werke hier noch kaum etwas zu merken ist, läßt dieses Buch die späteren Romane doch in einem anderen Licht erscheinen. Es nimmt den Leser mit zu den autobiographischen Quellen, aus denen sich das gesamte folgende Œuvre speist – später freilich kaum mehr wahrnehmbar, weil das autobiographische Element immer raffinierter verhüllt wird und das Ich des Autors hinter der Fülle von Erzählerstimmen verschwindet. »Memoria de Elefante« fängt die Atmosphäre und das geistige Klima Portugals an der Wende zur Demokratie ein und enthält bereits alle Themen und Motive, die diesen Autor sein Leben lang umtreiben werden.
Da ist zunächst das Trauma des Angola-Krieges. So wie der Autor selbst sind die Helden und Erzähler seiner ersten drei Romane gleichfalls Angola-Veteranen, von ihren Erfahrungen schwer gezeichnet. Das Grauen und Entsetzen über dieses »portugiesische Vietnam« wird nie mehr ganz aus Lobo Antunes’ Texten verschwinden. Dieser Kolonialkrieg ist der erste Ort der Hölle, den dieser Dreißigjährige kennen gelernt hat, und er hat ihn mit tiefen Depressionen infiziert. Im Roman ist die Rede von »unerklärlichen Melancholien«, von einer »ozeanischen Traurigkeitstiefe«.
Der zweite Höllenort, in den der Autor und sein Held Einblick nehmen, ist das Irrenhaus – das psychiatrische Krankenhaus in Lissabon, in dem der Sohn dem Vater im Chefarzt-Posten gefolgt ist, im Roman und in der Realität. »1973 kam ich im Hospital Miguel Bombarda an, um die lange Reise durch die Hölle zu beginnen«, liest man im dritten Roman von Lobo Antunes, »Einblick in die Hölle«. Und in »Elefantengedächtnis« liest man: »Hier hinein, dachte der Arzt, mündet das letzte Elend, die absolute Einsamkeit, was wir an uns selber nicht ertragen können, die verborgensten und beschämendsten unserer Gefühle, die wir bei den anderen Verrücktheit nennen, die aber letztlich unsere eigene ist, vor der wir uns schützen, indem wir sie mit Etiketten versehen, hinter Gittern zusammenpferchen, mit Pillen und Tropfen nähren.«
Auch die radikale Auseinandersetzung mit dem eigenen Beruf, der Aufstand des Sohnes gegen eine Profession, die er als familiäres Oktroi empfindet, ist ein Leitmotiv zumindest der frühen Romane von Lobo Antunes. Es zieht seine Helden mächtig zur Literatur, zum Schreiben, aber der Druck der Familie, die Macht der Tradition hindern sie vorläufig noch daran, den entscheidenden Schritt zu tun, aus den vorgegebenen familiären Bahnen auszubrechen und den Beruf zu wechseln. Schriftsteller zu sein, entspricht ganz und gar nicht den Erwartungen der Familie, des Vaters und des Großvaters. Im Gegenteil: dieser Beruf stößt auf ihre tiefe Mißbilligung.
Sein Held von »Elefantengedächtnis« empfindet »täglich ein schlechtes Gewissen wegen der Kraftlosigkeit meiner Proteste und meiner angepaßten Unangepaßtheit und wegen der Gewißheit, daß die Revolution, die von innen heraus gemacht wird, bei mir nicht funktioniert«. Erst in seinem dritten Roman »Einblick in die Hölle« wird Lobo Antunes beschreiben, wie sein Leiden an der Psychiatrie so stark zunahm, dass er die Kraft zum Widerstand und schließlich zum Bruch mit der Familientradition fand. Das Buch erzählt seine schwierige Selbstbefreiung aus seinem deprimierenden Beruf.
In »Elefantengedächtnis« herrscht bereits eine Stimmung vor, die später das gesamte Roman-Œuvre dieses Autors grundieren wird. Es ist das Grundgefühl, dass Portugal durch die sich viel zu lang hinschleppende Agonie des Salazar-Regimes ein vergiftetes und kraftloses Land ist – eine Gesellschaft, die niederdrückende Erinnerungen wie uralte Todeskeime mit sich herumträgt und sich davon nicht erholen kann. Alles heißt Salazar, alles ist gelähmt von diesem Namen – die Vergangenheit, die Gegenwart und auch die Zukunft. »Als wir geboren wurden, hatte Salazar das Land bereits in ein gezähmtes Priesterseminar verwandelt. Seit Salazar gestorben ist, geht’s von einem Debakel zum anderen«, liest man im »Elefantengedächtnis«.
Hier ist bereits spürbar, woran sich die Phantasie dieses Autors immer wieder neu entzünden, was sein großes Erzählprojekt werden wird – die Dekonstruktion der portugiesischen Stammessagen, die radikale Entmythisierung seines Landes. Der Held findet sich in der Gegenwart nicht zurecht, erinnerungsbeschwert wie er ist. Er hat das »Gefühl, daß er nur in der Vergangenheit existierte und die Tage rückwärts glitten wie auf den alten Uhren.« Wie das Land leidet der Held an seinem Elefantengedächtnis. Die Erinnerung schleppt er nach, abwerfen kann er sie nicht, leicht kann er es sich nicht machen. »Warum erinnere ich mich bloß immer an die Hölle, fragt er sich: weil ich von dort noch nicht wieder weg bin oder weil ich sie durch eine andere Qual ersetzt habe?«
Der Held kann sich nicht einleben in dieser Gesellschaft. Er kann sich mit seinem Land unter der verwesenden Herrschaft des Diktators nicht identifizieren, und er wird mit dem Trauma des Angola-Kriegs nicht fertig. Man liest: »Zwischen Angola, das er verloren, und Lissabon, das er nicht wiedererlangt hatte, fühlte sich der Arzt doppelt verwaist, und dieser Zustand der Heimatlosigkeit dauerte schmerzhaft an.«
Diese Existenz- und Sinnkrise wird noch verstärkt durch eine selbst herbeigeführte Qual des Helden – durch die mutwillige Trennung von seiner Ehefrau. Der Roman erzählt aus der Sicht des Mannes die Monate der Desorientierung und Haltlosigkeit unmittelbar nach dieser Trennung. Der Held hat seine Bodenhaftung und seine Richtung verloren, er fühlt sich nicht mehr richtig geerdet. Er taumelt durch sein Leben. So unverstellt und biographisch erkennbar hat dieser Autor in seinem späteren Werk nie mehr von seinen persönlichen Krisen erzählt. So nahe an sich heran ließ er in seinen späteren Romanen den Leser nicht mehr kommen.
In dem Interviewband »Gespräche mit António Lobo Antunes«, geführt von der Journalistin María Luisa Blanco, spricht der Autor mit großer Offenheit über diese Krise. Man erfährt, dass Lobo Antunes über nichts so anhaltend, kummervoll und reuig nachgegrübelt hat wie über die Trennung von seiner ersten Frau. Diese Trennung erscheint ihm heute noch unbegreiflich, mutwillig, er nennt sie »selbstzerstörerisch, dumm, irrational«. Man liest: »Der Grund war vollkommen blödsinnig. Ehrlich gesagt, weiß ich nicht, warum. Ich habe mich ganz sicher von ihr getrennt, weil das in Mode war, alle machten das. Nach der Revolution haben sich viele getrennt, bestimmt, weil sie nicht richtig mit der Freiheit umgehen konnten.« Und an anderer Stelle bekennt er: »Meine Trennung ist das Dümmste, was ich in meinem Leben getan habe. Ich bereue sie sehr, aber Leben ist wie Schreiben ohne Korrekturen.«
Im Roman taucht immer wieder ein Sehnsuchtsmotiv auf – die utopische Vorstellung, man könne die Vergangenheit korrigieren. »Laß uns an den Anfang zurückkehren, das Leben ins reine schreiben, neu beginnen.« Dem steht der Satz entgegen: »Man kann die Vergangenheit nicht ins reine schreiben.«
Wohl aber kann ein Autor die Vergangenheit lebenslang umschreiben. Das Gedächtnis, sagt Lobo Antunes, sei ein labyrinthisches Lagerhaus, in dem die eigene Vergangenheit gesammelt ist. Und mit dem Gedächtnis schreibt man. Als Mensch mag man leiden, aber als Schriftsteller denkt man darüber nach, wie man dieses Leiden für seine Arbeit nutzen kann. Und durch das Umschreiben verändert sich auch die Erinnerung. Phantasie ist die Art, wie man die Erinnerung ordnet.
Das Auffälligste an »Elefantengedächtnis« ist der Umgang des Autors mit der Zeit. Es obwaltet darin eine ganz eigentümliche Konzeption von Zeit. Der Roman ist eine literarische Vorwegnahme der eigenen Trauer und Verzweiflung des Autors über seine Ehescheidung, die zu dem Zeitpunkt, als der Roman geschrieben wurde, noch gar nicht vollzogen war. Als er sich die Folgen der Trennung literarisch bereits detailliert ausmalte, war er noch gar nicht geschieden. Vergangenheit und Zukunft fallen in diesem Erzählvorgang in eins, anders gesagt: Es gibt keine Vergangenheit und keine Zukunft, es gibt »nur die immense Gegenwart, die alles umfaßt«.
António Lobo Antunes sagt, er habe dieses veränderte Zeitgefühl erstmals in Afrika erfahren. In Afrika habe er dieses geduldige Verharren in einer allumfassenden Gegenwart erlernt. Dies hat, wie man gesehen hat, gewaltige Folgen für die Erzähltechnik seiner Romane. Diesem synchronen und polyphonen narrativen Verfahren, das Lobo Antunes später unendlich verfeinern und immer mehr komplizieren sollte, begegnet man bereits in seinem Debütroman. »Elefantengedächtnis« ist demnach ein Text, der bereits alle späteren Texte in sich enthält. Er ist die Kapsel des Unglücks, welches das literarische Glück eines großen zeitgenössischen Romanwerks generiert hat.