Der Autor
Robert Brack, geboren 1959, lebt seit 1981 in Hamburg. Er arbeitet als Übersetzer und freier Schriftsteller. Für seine Kriminalromane wurde er mit mehreren Preisen ausgezeichnet. Unter dem Pseudonym Virginia Doyle hat er mehrere historische Kriminalromane verfasst.
Das Buch
St. Pauli 1922. Das Viertel gleicht einem Hexenkessel. Illegales Glücksspiel, Prostitution, Rauschgifthandel und organisiertes Verbrechen greifen um sich. Zudem erschüttert ein grauenvoller Mord die Bevölkerung. Als ein völlig verwahrloster und verstörter Junge auf die Davidwache gebracht wird, übernimmt Heinrich Hansen den schwierigsten Fall seines Lebens, in den alte Freunde und neue Widersacher verwickelt sind – und seine Jugendliebe Lilo Koester, die »Königin der Reeperbahn«.
Nach »Die rote Katze« der zweite Teil der St.-Pauli-Trilogie mit Heinrich Hansen.
Robert Brack schreibt als Virginia Doyle
Kriminalroman
Midnight by Ullstein
midnight.ullstein.de
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Ungekürzte Ausgabe bei Midnight
Midnight ist ein Digitalverlag
der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
Februar 2015 (1)
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2015
Umschlaggestaltung:
ZERO Werbeagentur, München
Titelabbildung: © FinePic®
Autorenfoto: © Charlotte Gutberlet
ISBN 978-3-95819-024-5
Alle Rechte vorbehalten.
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»Haltet die Zeit an! Schießt auf die Uhr! Na, los doch!«, hörte Hansen eine Stimme aus der Masse.
So ein Unsinn, dachte der Kriminal-Oberwachtmeister, was kann denn die arme Uhr dafür? Seit fünf Jahren macht sie brav ihre Arbeit, nie geht sie falsch.
Erst an diesem Morgen war er ins Dachgeschoss der neuen St.-Pauli-Polizeiwache gestiegen, um den gut geölten Mechanismus aufzuziehen. Er vergaß nie, wenn es Zeit dafür war. Und nun hatte sich da unten auf dem Spielbudenplatz der Mob versammelt und wollte die Zeit anhalten.
Ein Schuss ertönte. Ein Fenster im Erdgeschoss ging splitternd zu Bruch.
Um Gottes willen, die wollen uns wirklich an den Kragen! Hansen schaute sich um. Knapp zwanzig Männer, teils uniformiert, teils in Zivil, hatten sich im ersten Stock der Davidwache versammelt, weitere zehn harrten im Erdgeschoss aus. Manche hielten Karabiner in den Händen, andere hatten ihre Pistolen gezogen. Mitten unter ihnen stand der neue Revierleiter Kommissar Ramming, die Mauser in der Hand. Kaum hatte er den Schuss und das Zerbersten des Fensters vernommen, stieg ihm die Zornesröte ins Gesicht. »Dieses Pack!«, rief Ramming, während er seine Pistole durchlud. »Verdammtes Gesindel! Ungeziefer! Ausmerzen sollte man die ganze Bagage!«
Die haben doch nur Hunger, dachte Hansen.
Ramming setzte sich ans Telefon und gab eine Meldung an die Polizeizentrale im Stadthaus durch, forderte Panzerwagen an. Die Verbindung brach ab. Leise vor sich hin schimpfend hängte er ein.
Hansen warf einen Blick durch das geöffnete Fenster. Die Menge wuchs stetig an. Es hatte eine Versammlung gegeben, drüben auf dem Heiligengeistfeld. Das hatten die Informanten der Polizeibehörde frühzeitig mitgeteilt. Auch dass die Spartakisten ihre Agitatoren dort hinschicken würden. Natürlich hatten sich die Beamten auf der Wache darauf eingestellt, ebenso wie ihre Kollegen von der Bezirkswache an der Eimsbütteler Straße. Nach solchen Versammlungen ging es immer hoch her auf der Reeperbahn, dem Spielbudenplatz und den Seitenstraßen von St. Pauli. Das kannte man schon. Seit einem halben Jahr war Revolution, da gewöhnte man sich an Menschenaufläufe. Aber an diesem Tag schien die Sache aus dem Ruder zu laufen.
»Was wollen die denn von uns?«, rief ein junger Schutzmann aus. »Wieso schießen sie auf die Uhr?«
Hansen schaute wieder durch das Fenster: Ob sie das selbst so genau wissen, die da draußen?, fragte er sich. Vielleicht denken die in ihrer Wut ja, eine Uhr an der Fassade einer Polizeiwache sei ein Symbol der Unterdrückung.
Ein Wachtmeister mit einem Notizzettel in der Hand kam ins Zimmer gestürmt. »Tumulte auf dem Rathausmarkt, Zusammenrottung vor dem Stadthaus, Übergriffe im Hafen, Aufruhr vor dem Untersuchungsgefängnis!«, las er hastig vor. »Mehrere Polizeiwachen in Eimsbüttel, St. Georg und in der Altstadt vom Mob belagert. Wache 17 in der Karolinenstraße gestürmt.«
Kommissar Ramming riss dem Beamten den Zettel aus der Hand und zerknüllte ihn. »Das haben sie ja fein eingefädelt«, sagte er grimmig. »Aber nicht mit uns, Männer! Wir verbarrikadieren uns!«
Das große Möbelrücken begann. Schränke wurden vor die Fenster geschoben, Tische und Schreibpulte hochkant gestellt, Matratzen aus den Unterkunftsräumen geholt, bis die meisten Fenster verstellt waren und nur noch spaltbreite Schießscharten übrig blieben.
Der Spielbudenplatz war nun voller Menschen, auch die Davidstraße füllte sich. Noch immer kamen Leute von rechts und links die Reeperbahn entlanggelaufen oder strömten aus den Seitenstraßen herbei. Wütendes Gebrüll aus Männer- und Frauenkehlen schallte zu ihnen herauf, sogar Kindergeschrei war zu hören. Schritt für Schritt schob sich die wogende Menschenmasse näher an die Wache heran.
Hansen schaute immer wieder hinaus. Drei Polizisten mit Karabinern vor der Brust standen unten vor dem Tor. Aber was vermochten die schon gegen diesen Auflauf auszurichten?
Ein Steinregen prasselte gegen die Mauern der Wache, einige Wurfgeschosse durchschlugen die Fensterscheiben.
Hansen drehte sich um. »Wir sollten die Posten am Tor abziehen und unten alles dichtmachen!«, rief er Ramming zu.
»So? Sollten wir das?«, fragte der Kommissar.
»Es hat keinen Sinn, die Männer zu opfern, wir können sie hier drinnen besser gebrauchen.«
Wieder ertönte ein Schuss, wieder splitterte Glas. Ein Polizist, dem die Scherben ins Gesicht geflogen waren, fluchte laut, stellte das Gewehr beiseite, zog ein Taschentuch aus der Hosentasche und tupfte Blutstropfen von Stirn und Wangen.
»Auch die Karabiner sollten wir retten«, gab Hansen zu bedenken.
»Sicher, sicher«, murmelte Ramming unentschlossen.
»Gewehre haben die genug da unten!«, meldete sich ein Schutzmann zu Wort, der unter einem Tischbein hindurch nach draußen spähte.
Na klar, dachte Hansen bitter, nach einem verlorenen Krieg bringen die Soldaten die Waffen mit nach Hause, ist ja das Einzige, was ihnen bleibt. Und dann passiert so was.
»Da ist ein Wagen gekommen. Mit Kisten drauf. Und Gewehren drin!«, rief der Uniformierte.
»Was?«, rief Hansen ungläubig und drängte den Kollegen beiseite. »Hat mal jemand einen Feldstecher?«
Von irgendwoher wurde ein Fernglas gereicht. Hansen spähte hindurch.
Tatsächlich, dort drüben auf der anderen Seite der Reeperbahn, vor dem vernagelten Eingang des Bierpalastes, stand ein Lieferwagen mit offener Ladefläche. Ein Mann war hinaufgeklettert und verteilte Karabiner an herbeieilende Kämpfer. Neben dem Wagen stand ein Herr in eleganter Kleidung – Anzug, Weste, Krawatte, Hut – und sah zu. Kenne ich den etwa? Hansen kniff erst das eine, dann das andere Auge zusammen, war sich aber dennoch nicht sicher.
Endlich gab Kommissar Ramming den Befehl, die Männer vor dem Tor wegzuholen und den Eingang der Wache zu verrammeln. Zwei Schutzmänner stürmten ins Treppenhaus.
»Und das alles nur wegen dieser vermaledeiten Sülze!«, rief Oberwachtmeister Breitenbach zornig aus. »Da schreien sie es schon wieder.«
In der Tat, draußen hörte man wieder die Rufe: »Ratten in der Sülze! Ratten in der Sülze!« Damit hatte alles angefangen. Schon als die Menge drüben am Millerntor wie eine drohende menschliche Gewitterwolke aufgetaucht war, hatten die Polizisten diese Rufe gehört.
»Ratten in der Sülze!«, entrüstete sich Inspektor Ramming.
»Unsinn! Propaganda! Verdammte Spartakisten! Man sollte einfach hineinschießen in diesen menschlichen Unrat.«
»Aber da sind doch Kinder dazwischen, und Frauen auch«, gab ein junger Beamter zu bedenken.
»Na klar, das ist doch die größte Gemeinheit! Kalte Berechnung, um uns zu übertölpeln. Aber nicht mit mir, meine Herren Sozialisten!«
Draußen ertönte wieder ein Schuss. Die Menge johlte.
»Nicht mit mir!«, wiederholte Ramming. »Alle Mann an die Fenster! Karabiner in Stellung bringen!«
Hansen lehnte sich auf die Fensterbank, das Gewehr im Anschlag. Ich schieße über die Köpfe hinweg, überlegte er, egal was passiert. Ich kenne doch die meisten da unten.
So was ungeheuer Dummes!, dachte er. Sülze! Wann habe ich denn das letzte Mal Sülze gegessen? Frau Schmidt, seine Wirtin, mochte keine Sülze. Nicht mal in diesen Hungerzeiten rührte sie so etwas an. Wenn Hansen gelegentlich einen Heißhunger auf Sülze mit Bratkartoffeln verspürte, ging er in eine Kneipe. Aber das letzte Mal war schon lange her. Die Rattensülze hab’ ich jedenfalls nicht gefuttert.
Ramming war ja sowieso der Meinung, das sei alles nur Propaganda der Spartakisten: »Die schrecken vor Mord nicht zurück. Was die mit dem Heil gemacht haben, das zeigt doch deutlich, wes Geistes Kind sie sind!«
Der Fleischfabrikant Jakob Heil war vor drei Tagen von einer blindwütigen Menschenmenge beinahe gelyncht worden. Irgendjemand, nach Rammings Meinung natürlich ein widerrechtlich eingedrungener Berufsrevoluzzer, hatte in der Fabrik verdorbene Sülze entdeckt, verfaulte Fleischreste, verweste Tierkadaver und angeblich auch tote Ratten, die in Töpfen auf ihre Weiterverarbeitung warteten.
Die Neuigkeit hatte sich rasch verbreitet. Revolutionäre, die nach der Absetzung des Arbeiter- und Soldatenrates neue Betätigungsfelder suchten, hatten sofort Demonstrationen organisiert. Wer hungert, wird schnell wütend, vor allem auf jene, die versuchen, mit verdorbenen Lebensmitteln Profit zu machen. Der Mob schleppte den Unternehmer zum Rathausmarkt, verprügelte ihn und warf ihn in die Alster. Wenn ein mutiger Polizist nicht trotz der johlenden und gewaltbereiten Menge ins Wasser gesprungen wäre, um den Mann zu retten, wäre er jämmerlich ertrunken.
Der verbrecherische Heil wurde in den folgenden Tagen zur Symbolfigur des gewissenlosen Profiteurs und die Parole »Ratten in der Sülze!« zum Kriegsruf der hungernden Masse. Natürlich nutzten die Revolutionäre, die mit dem Ergebnis der Bürgerschaftswahl nicht zufrieden waren, die Situation aus, da hatte Ramming recht. Aber Hansen wunderte sich nicht im Geringsten darüber, dass die Menschen ihnen folgten. Sie waren gezwungen, mit allen Mitteln ums Überleben zu kämpfen.
Aber was war mit den Leuten, die aus solchen Situationen Kapital schlagen wollten? Hansen griff erneut nach dem Feldstecher. Der Mann im Anzug, der das Verteilen der Gewehre überwacht hatte, stieg jetzt in den Lieferwagen und ließ sich hinterm Steuer nieder. Das Gefährt setzte sich langsam in Bewegung. Hupend fuhr es einen Kreis durch die Menge und kam dabei näher.
Tatsächlich, er war es! Am Steuer des Wagens saß ein Mann, den er sehr gut kannte. Einer, der immer auftauchte, wenn es darum ging, aus brenzligen Situationen Profit zu ziehen.
»Friedrich«, murmelte Hansen. »Dieser verdammte Hund!«
»Was?« Oberwachtmeister Breitenbach sah ihn fragend an.
»Der Mann, der die Gewehre verteilt. Friedrich von Schluthen.«
»Ein Adeliger verteilt Waffen an die Spartakisten?«
»Er ist ein falscher Von. Wir haben ihn seit zwanzig Jahren in der Kartei. Eigentlich heißt er Schüler mit Nachnamen.«
»Ich erinnere mich.« Breitenbach strich sich über den grauen Schnurrbart. »Haben wir den nicht mal festgenommen?«
»Einmal hatten wir ihn hier in der Zelle«, sagte Hansen bitter.
»Aber er ist uns entwischt. Danach haben wir ihn nicht mehr zu fassen gekriegt.«
Eine heftige Detonation erschütterte die Wache. Putz rieselte von der Decke. Erschrocken gingen die Männer in Deckung.
»Was war das?«, rief einer.
»Handgranate«, stellte jemand nüchtern fest, »das Geräusch kenn’ ich gut.«
»Nur keine Panik«, meldete sich Hansen mit ruhiger Stimme zu Wort. »Unsere Wache ist wie eine Festung gebaut.« Aber er merkte, dass seine Kollegen die Stabilität der dicken Backsteinmauern in Zweifel zogen. Handgranaten hatte die Wache noch nie aushalten müssen.
Draußen knallten Schüsse. Querschläger jaulten die Fassade entlang. Einige der Terrakottafliesen des Erkers explodierten unter der Wucht der Geschosse.
»Es wird ernst!«, rief Ramming. »Los, auf mit euch! Alle Mann zurück an die Fenster. Macht euch zum Feuern bereit!«
Eine weitere Gewehrsalve ertönte, gefolgt von einer zweiten ohrenbetäubenden Detonation direkt unten vor dem Tor.
Ein Uniformierter stürzte aus dem Treppenhaus ins Zimmer.
»Man versucht, den Eingang aufzubrechen!«
»Gewehre in Anschlag bringen!«, kommandierte Ramming.
Um Himmels willen, dachte Hansen, wir können doch nicht auf die Leute da draußen schießen. Er überlegte fieberhaft, was man zur Entschärfung der Situation tun könnte.
Rammings Diensttelefon klingelte. Der Revierleiter hob den Hörer ans Ohr. Hansen bemerkte, wie er blass wurde. Er nickte mehrmals und hängte wieder ein.
»Keine Panzerwagen«, sagte er mit ausdruckslosem Gesicht.
»Die sind schon zu anderen Wachen unterwegs.«
»Vielleicht sollten wir mit jemandem da unten reden«, gab Hansen zu bedenken.
»Mit diesem aufgepeitschten Mob? Niemals!« Ramming schlug mit der Faust auf den Tisch. »Und wo bitte sollen denn da Anführer sein? Das ist doch nur eine blindwütige Masse.«
Ein Widerspruch, dachte Hansen. Erst sind die Spartakisten an allem schuld, dann heißt es, es sei eine blindwütige Masse.
Unten vor dem Eingang hörte man das »Hau ruck! Hau ruck!« der Männer, die versuchten, das schwere Holztor einzudrücken.
»Zurück, zurück!«, brüllte jemand. »Wir sprengen es auf!«
»Es ist genug!«, rief Ramming und sprang auf. »Gewehre in Position. Zielt nur auf die Männer!«
»Halt!«, rief Hansen. »Zuerst nur Warnschüsse über die Köpfe. Das sind Menschen aus dem Viertel. Wir müssen sie zur Vernunft bringen.«
»Vernunft? Bah!«, schnaubte Ramming. »Also los! Gewehre in Position. Warnschüsse über die Köpfe auf mein Kommando!«
Hansen atmete erleichtert aus.
Gut zwanzig Gewehrläufe schoben sich durch die Schießscharten.
»Achtung, fertig, feuern!«, kommandierte Ramming.
Das Knattern der Salve wurde von johlendem Wutgeheul beantwortet.
»Die weichen aber nicht zurück«, stellte Breitenbach fest.
»Abwarten«, sagte Hansen. Er warf dem anderen Kollegen neben sich einen Blick zu. Der junge Mann zitterte. Auf seiner Stirn hatten sich Schweißtropfen gebildet. Armer Kerl, dachte Hansen. Da ertönte ein einzelner Schuss. Die Schirmmütze des jungen Beamten flog nach hinten und fiel zu Boden. Der Mann ging in die Knie.
»Zweite Warnsalve! Auf Kommando! Fertig? Feuern!«, schrie Ramming.
Hansen hob den Karabiner an die Schulter und zielte auf einen Baum. Die Schüsse knatterten abgehackt. Es klang kläglich, aber die Menge duckte sich und wich tatsächlich zurück.
Nach etwa vierzig Metern blieben die Angreifer stehen und reckten drohend die Arme. Ein paar Steine flogen.
»Da ist wieder der Lieferwagen«, sagte Breitenbach. »Verdammte Kriegsgewinnler!«
Sind wir denn im Krieg?, fragte sich Hansen. Der Lieferwagen schob sich im Schritttempo durch die Menschenmenge und hielt an der gleichen Stelle wie vorher. Die Menschen auf der Straße machten dem Fahrzeug Platz, als wäre es ein Heiligtum, das sie nicht berühren durften. Der Herr im eleganten Anzug stieg aus, lief um den Wagen herum und öffnete die Beifahrertür. Eine Frau in hellem Sommerkleid stieg aus dem Auto und spannte einen Sonnenschirm auf. Zwei Männer in grober Kleidung, Schirmmützen auf dem Kopf und mit roten Armbinden traten zu ihnen hin. Man unterhielt sich gestikulierend. Dann tauchten die beiden Männer wieder in der Masse unter.
Das elegante Paar lehnte sich gegen den Wagen und betrachtete das Geschehen.
»Schönes Wetter heute, was?«, kommentierte Breitenbach sarkastisch.
»Die sind wohl von allen guten Geistern verlassen«, brummte Hansen. »Das ist doch keine Silvesterknallerei hier.«
»Wer ist die Dame dort?«
»Lilo Koester.« Ein leicht verächtlicher Ton schwang in Hansens Stimme mit.
»Ach die, natürlich. Soll sie doch ihre Mädchen mitbringen und diese Irren da unten zum Tanzen bringen.« Breitenbach lachte hämisch.
»Verdammte Bande!«, schrie Ramming. »Jetzt seht euch das an!«
Die Beamten starrten gebannt nach draußen. Ungläubig beobachteten sie, wie in der ersten Reihe der Menge Männer in Position gingen. Sie knieten sich hin und brachten ihre Gewehre in Anschlag. Ein Mann mit roter Armbinde hob die Arme, um das Kommando zum Schießen zu geben.
»Jetzt wird scharf geschossen!«, schrie Ramming. »Zielt auf die Bewaffneten! Hansen und Breitenbach, ihr nehmt euch den Rädelsführer vor!«
Hansen nickte. Was zu viel war, war zu viel.
»Achtung, fertig …«, kommandierte der Revierleiter.
Hansen zuckte zusammen. Erst im letzten Moment erkannte er den Mann mit der Armbinde und riss das Gewehr hoch.
»Feuer!« rief Ramming.
»Herrgottsakrament!«, fluchte Hansen.
»Ruhig Blut«, murmelte Breitenbach.
Rammings Schießbefehl kam eine Sekunde zu spät. Die Salve der Aufständischen knatterte zuerst los. Die Kugeln ließen die letzten Scheiben im ersten Stock zerbersten, bohrten sich in Matratzen, Tische und Schränke, Holz splitterte, dann ein Schmerzensschrei, als der Kommissar nach hinten taumelte, das Gleichgewicht verlor und auf den Rücken fiel.
Breitenbach sprang auf und kniete sich neben ihn. Hansen behielt das Gewehr im Anschlag. Die Schüsse aus der Wache hatten ihre Wirkung nicht verfehlt. Die Menschenmenge wich zurück. Nur die Bewaffneten blieben, wo sie waren. Hinter der Doppelreihe der Schützen lagen drei Personen auf dem Boden. Zwei der Revolutionäre hatte es ebenfalls erwischt. Blutpfützen bildeten sich neben ihnen auf dem Asphalt. Der Mann mit der roten Armbinde war ebenfalls zusammengebrochen. Zwei Männer eilten zu ihm, hoben ihn auf und trugen ihn fort. Ein zweiter Anführer mit roter Binde nahm seinen Platz ein. Wieder gingen die Schützen in Stellung.
Hansens Blick folgte dem Verletzten. Hoffentlich habe ich ihn nicht versehentlich getroffen, dachte er. Ich kann doch meinen alten Kumpel Pit nicht einfach abknallen, ob er nun Spartakist ist oder nicht. Wie hatte es nur so weit kommen können, dass Freunde aufeinander schossen, ausgerechnet in dem Viertel, in dem sie gemeinsam aufgewachsen waren? Wer hatte diesen Wahnsinn entfesselt?
Hansen bemerkte zwei Männer, die aus der Reihe der Bewaffneten vortraten, offenbar mit Wurfgeschossen in der Hand.
Wenn das jetzt wieder Handgranaten sind, dann ist es um uns geschehen, dachte er.
Da kam heftige Bewegung in die zurückgewichene Menge. Lautes Geschrei ertönte. Man deutete Richtung Millerntor. Die Leute liefen auseinander.
Erstaunt wandten sich die Aufständischen um. Zwei Panzerwagen der Schutzmannschaft näherten sich. Auf die Dächer der Führerhäuser waren Maschinengewehre montiert. Eine Salve peitschte über den Spielbudenplatz. Hinter den Panzerwagen tauchten Soldaten auf mit Gewehren im Anschlag, und Pferde, die Haubitzen zogen. Die Revolutionäre sprangen auf und waren in Windeseile in den Seitenstraßen verschwunden.
Vereinzelt ertönte ein klägliches Hurra. Hansen drehte sich um und schaute Breitenbach an. Der Oberwachtmeister deutete auf den neuen Revierleiter und schüttelte den Kopf.
Wirklich erstaunlich, dachte Hansen, dass so eine ungezielte Kugel einen Menschen ganz einfach mitten ins Herz treffen kann. Jemand hatte auf die Uhr gezielt und daneben getroffen. Für Ramming war die Zeit abgelaufen.