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Krebs. Metastasen im Knochenmark und an der Wirbelsäule. Monika Prause ist todkrank. Ein Wirbel ist bereits so vom Krebs zerfressen, dass die Wirbelsäule jederzeit brechen kann, dann ist sie querschnittsgelähmt. Es ist nur eine Frage der Zeit. Es gibt keine Hoffnung. »Ich fahre in die Schweiz«, sagt sie zu ihrem Mann. »Lass mich jetzt nicht allein. Hilf mir. Bitte.« – Die Geschichte einer schweren Entscheidung. Erzählt von Monika Prauses Mann Volker, ergänzt von ihren Söhnen Henrik und Marten.

VOLKER PRAUSE

SABINE EICHHORST

Der Himmel so weit

Vom selbstbestimmten

Sterben der Monika Prause

Ihre Familie erzählt

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Die Erinnerungen von Volker, Henrik und Marten Prause bilden

die Grundlage für die in diesem Buch enthaltenen Dialoge

und Schriftwechsel. Die Gespräche werden sinngemäß wiedergegeben.

Ein Anspruch auf eine wörtliche Übereinstimmung mit den tatsächlich

erfolgten Dialogen und dem Schriftwechsel wird nicht erhoben.

Zum Schutz der genannten Personen wurden alle Namen

außer denen der Familienmitglieder anonymisiert.

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in der Verlagsgruppe Randomhouse GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

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Redaktion: Andrea Kunstmann, München

Umschlaggestaltung: Eisele Grafik-Design, München

Umschlagfotos: © Volker Prause, Darmstadt

Satz: Leingärtner, Nabburg

e-ISBN 978-3-641-16271-9
V002

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Für Moni

1

Volker Prause

»Aua.« Meine Frau fährt sich mit der Hand in den Rücken. Mit der anderen hält sie den Lenker ihres roten Fahrrads, das bedrohlich schwankt. Hinter ihr fällt das Gartentor zu.

»Was ist?« Ich stütze das Rad und nehme den schweren Einkaufskorb vom Gepäckträger. »Hast du es im Kreuz?« Eine Amsel stürzt aus den Zweigen der Birke, die vom Nachbargrundstück herüberragt, und flattert über uns hinweg, so dicht, dass ich das Geräusch ihres Flügelschlags höre. Über der Straße zieht sie einen Halbkreis und landet auf dem Dachfirst des Hauses gegenüber.

»Ich weiß nicht.« Monis Fuß tastet nach dem Fahrradständer. »Als ich unten in der Stadt losfahren wollte, hat es angefangen zu regnen, also habe ich den Bus genommen. Beim Aussteigen habe ich das Rad aus dem Bus gehoben und plötzlich hat es geknackt. Seitdem tut es weh.«

»Vielleicht eine Muskelzerrung.« Ich stelle den Korb ab und helfe ihr, das Fahrrad in die Garage zu schieben. Der kurze heftige Schauer vor einer Stunde hat die prallen Knospen des Rhododendrons zum Glänzen gebracht, und die Erde, die sich in den vergangenen, unerwartet milden Tagen, aufgewärmt hat, scheint zu dampfen. »Ich werde dich massieren.«

»Oh, das ist lieb.« Sie lässt ihre Hand sinken. In ihrem Blick liegen Erschöpfung und Zärtlichkeit. Die Amsel auf dem Dach gegenüber singt, eine helle, fröhliche Melodie. Eine andere Amsel, die ich nicht sehe, antwortet. Scharf und klar hebt sich der schwarze Vogelkörper vor dem blauen Himmel ab.

Zwei Tage später bewegt Moni sich, als hätte sie einen Hexenschuss. Sie ruft unseren Hausarzt an, mit dem wir auch befreundet sind. Doch die Praxis ist geschlossen.

»Auch ein Arzt wird mal krank«, sage ich. »Ich sehe nach, wer Notdienst hat.«

»Robert hat eine Nummer auf seinem Anrufbeantworter hinterlassen.« Moni legt einen Zettel auf den Tisch, auf dem sie in ihrer schnörkellosen Schrift eine Telefonnummer notiert hat. »Der Name der Ärztin sagt mir nichts.« Sie zieht einen Stuhl heran und setzt sich, vorsichtig, als wäre sie aus Glas. Sie sieht blass aus. In ihrem Augenwinkel sitzt Schlaf. Ich reibe ihn fort.

»Möchtest du einen Tee?«, frage ich. Sie nickt. Ich streiche ihr über die Wange, dann fülle ich den Wasserkocher, nehme den Zettel und gehe hinauf ins Arbeitszimmer.

Eine Viertelstunde später habe ich einen Termin verabredet. Am Nachmittag fahren wir in die Praxis. Die Ärztin untersucht meine Frau, nimmt ihr Blut ab, misst den Blutdruck.

»Lassen Sie sich röntgen«, sagt sie. »Ich gebe Ihnen eine Überweisung.«

Wieder zu Hause suchen wir erst im Telefonbuch, dann im Internet nach einer Röntgenpraxis, die uns kurzfristig einen Termin gibt. Schließlich ruft Moni Kathrin Kramer an, eine Freundin und Nachbarin, sie und ihr Mann sind Zahnärzte. Am nächsten Morgen ruft Kathrin zurück, nennt einen Namen. »Es ist eine Gemeinschaftspraxis. Der Kollege ist sehr gründlich.«

Ein paar Tage später stehen wir vor einem Mann, der reichlich aufgelöst wirkt. »Frau Krause?«

»Prause«, sagt Moni.

»Kommen Sie bitte mit.« Wir folgen ihm durch einen hellen Flur. An den Wänden Schwarz-Weiß-Fotografien von menschenleeren Landschaften – Seen, Flüsse, Wälder. Licht- und Schattenspiele in grauer Weite.

»Bitte sehr.« Der Arzt öffnet eine Tür. Der Raum ist überraschend klein. Vor dem Fenster eine herabgelassene Jalousie. Auf dem Schreibtisch eine Designerlampe. Sie taucht ihn in weißes Licht – wie eine Insel, denke ich. Wir setzen uns. Der Arzt schiebt Papiere zusammen, wischt Umschläge beiseite. Seine Hände scheinen zu zittern. »Also, Frau Krause …« Er dreht sich zur Seite, drückt ein paar Tasten auf seiner Tastatur, und auf einem Bildschirm an der Wand erscheint ein Röntgenbild.

»Prause«, sagt meine Frau.

Er fährt herum. Er sieht uns an, und einen Moment denke ich: Gleich heult er.

»Entschuldigen Sie.« Er fährt sich mit den Händen durchs kurze Haar. Moni und ich werfen uns einen Blick zu. »Bitte entschuldigen Sie.« Er öffnet eine Schublade, sucht etwas. Er nimmt den Telefonhörer, wartet einen Moment, sagt: »Haben Sie den Befund weitergeleitet? Es ist dringend!« Neben ihm, hell vor dunklem Grund, die Wirbelsäule und die Rippenbögen meiner Frau. Ich spüre, wie eine Gänsehaut über meine Arme kriecht.

Er legt den Hörer auf. Seine Unterlippe zittert, ein wenig nur, doch ich sehe es, denn die Designerlampe taucht auch ihn in helles Licht. Er faltet die Hände. »Eine Patientin, Lungenkrebs«, sagt er mit tonloser Stimme. »Anfang vierzig, drei Kinder. Rennt nach der Diagnose weinend aus der Praxis, rutscht im Treppenhaus aus, stürzt. Ein halbes Stockwerk, Marmorboden …«

Moni atmet scharf ein.

»Hat sich ein Bein gebrochen. Wir haben sie gerade ins Krankenhaus bringen lassen.«

Moni atmet aus.

»Entschuldigen Sie bitte.« Wieder fährt er sich durchs Haar, und plötzlich, als habe jemand einen Schalter umgelegt, ist sein Gesicht ruhig und beherrscht. Er wendet sich dem Bildschirm zu. »Also, Frau Krause, die Aufnahme ist so weit in Ordnung …« Ich sehe, wie der Arzt auf das Röntgenbild starrt, und weiß, dass er nichts darauf sieht.

»Er war nur der Röntgenarzt«, sage ich, als meine Frau und ich zurück ins Wartezimmer gehen. »Den Termin, den Kathrin für uns verabredet hat, haben wir bei seinem Kollegen.«

Moni nickt und setzt sich. Vorsichtig, als wäre sie aus Glas.

Eine halbe Stunde später werden wir wieder aufgerufen. Der Arzt, der uns empfängt, ist Orthopäde. Ein hochgewachsener Mann, wasserblaue Augen, fester Händedruck. Auf seinem Schreibtisch zwei Bildschirme. Auf einem eine Wirbelsäule. Helle Knochen auf dunklem Grund.

»Bitte setzen Sie sich.« Er deutet auf zwei Freischwinger vor seinem Schreibtisch. Sein Blick folgt Monis Bewegungen, als sie sich setzt. Er nickt. Dann schüttelt er den Kopf und wendet sich dem Bildschirm zu. Er betrachtet das Röntgenbild. Es ist still im Zimmer. Es ist, als könnte ich seine Konzentration hören, wie das Britzeln in Hochspannungsleitungen. Oder ist es meine Anspannung?

»Da ist etwas ….« Er deutet auf eine helle Fläche zwischen dunklen Flächen, und ich beuge mich vor. Auf Röntgenbildern erkenne ich selten etwas. »Das hier sollten wir uns noch einmal gründlicher ansehen.«

»Was ist da?«, fragt Moni.

Der Arzt betrachtet das Röntgenbild. Ich sehe, wie seine Wimpern zucken. Der Kollege ist sehr gründlich – Kathrins Stimme am Telefon klingt wie ein Echo durch meinen Kopf.

»Was meinen Sie?«, frage ich.

»Es sieht aus«, sagt der Arzt, »als würde sich ein Wirbel verschieben.«

Ein paar Tage später fahren wir wieder in die Praxis. Es ist später Nachmittag, ein Termin außerhalb der Sprechstunde. Auf dem Flur begegnen wir dem Röntgenarzt. Er trägt einen Mantel, unterm Arm einen Laptop. »Wie geht es Ihnen?«, fragt meine Frau.

Ein wenig irritiert sieht er sie an. Er erinnert sich nicht. »Gut, danke«, sagt er mit geschäftsmäßigem Lächeln, drückt eine Klinke und verschwindet hinter einer Tür. Moni schaut mich an. Und lacht. Ich greife nach ihrer Hand, drücke sie. Sie ist ein Mensch, der Menschen liebt. Als Erstes habe ich mich in ihr stürmisches Lachen verliebt, dann in ihr warmes Herz. Dann in den Rest.

Wir setzen uns ins Wartezimmer. Außer uns wartet eine alte Frau mit einem Pudel, er kauert zu ihren Füßen und sieht irgendwie krank aus. Ein paar Stühle weiter sitzt ein junger Mann, den Fuß in einem grellgelben Kunststoffgipsverband; ich schätze ihn auf Anfang dreißig, wie Henrik und Marten, unsere Söhne. Moni tastet nach meiner Hand. Ich drehe mich zu ihr – du siehst doch überhaupt nicht krank aus, fährt es mir durch den Kopf. Meine Frau sieht strahlend aus und schön, das graue Haar von ein paar blonden Strähnen durchzogen, ihr hellroter Lippenstift, die braunen Augen. Die Ohrringe mit den kleinen Perlen, die wir vor vier Jahren, an ihrem vierundfünfzigsten Geburtstag, im Urlaub in Mailand gekauft haben. Doch liegt etwas Ernstes in ihrem Blick, auch wenn sie lächelt. Seit der Orthopäde uns erklärt hat, was eine Szintigrafie ist, sind unsere Nerven angespannt. Er kennt die Vorgeschichte.

»Den Brustkrebs hatten Sie vor dreiundzwanzig Jahren?«, fragte er bei unserem letzten Besuch und blätterte durch die Befunde.

»Ja, als ich fünfunddreißig war.« Moni nickte. »Ich wurde operiert. Anfangs musste ich alle vier Wochen zur Kontrolluntersuchung, später alle drei, dann alle sechs Monate. Nach zehn Jahren wurden erneut Metastasen gefunden, ich wurde wieder operiert. Inzwischen gelte ich seit über zehn Jahren als geheilt.«

»Machen Sie sich keine Sorgen, das muss alles nichts bedeuten.« Er lehnte sich zurück und betrachtete sie mit freundlichem, ruhigen Blick. Trotzdem gab er uns einen Termin für eine Skelettszintigrafie, ein nuklearmedizinisches Verfahren, das Knochenerkrankungen sichtbar macht. Auch Tumore und Metastasen. Seither war sie wieder da, die Angst, die uns viele Jahre begleitet hat. Gegen die wir gekämpft haben. Die wir besiegt glaubten.

»Da ist etwas«, sagte meine Frau, als wir wieder zu Hause waren.

»Lass uns abwarten, was die Untersuchung ergibt«, antwortete ich.

Wir versuchten, ruhig zu bleiben. Wir versuchten, den Verdacht, der aufstieg wie ein übler Geruch, zu ersticken.

»Vielleicht hat sich doch eine Metastase gebildet«, sagte meine Frau am Tag vor der Untersuchung.

»Wir müssen die Diagnose abwarten.«

»Was könnte es sonst sein?«

»Alles Mögliche und sicher nichts, was man nicht behandeln kann.« Wir umarmten uns, still und innig.

»Frau Prause, bitte.« Die Stimme im Lautsprecher über unseren Köpfen klirrt. Moni erhebt sich wie in Zeitlupe. Ich reiche ihr den Arm. Der Pudel hebt müde den Kopf, und sein Frauchen schnauft.

Am Empfang erwartet uns eine junge Ärztin in weißen Hosen und hellblauer Bluse. Wir folgen ihr zu einer Tür, auf der in schwarzen Lettern UNTERSUCHUNG 1 steht.

»Ich werde Ihnen gleich ein Mittel spritzen, das leicht radioaktiv ist. Aber keine Angst, die Dosis ist nicht gefährlich. Das Radiopharmakon verteilt sich im Körper und lagert sich verstärkt an Stellen ab, wo Entzündungen, Rheuma oder andere Krankheitsherde sitzen. Der Scanner registriert die Gammastrahlung, und der Computer wandelt die Informationen in Bilder um.«

Moni nickt. Das hat uns schon der Orthopäde erklärt.

»Tragen Sie Schmuck, einen Gürtel oder andere Metallgegenstände am Körper?«

»Meine Ohrringe.«

»Die müssten Sie bitte ablegen.«

Meine Frau löst die Perlen, nimmt ihre Kette mit den goldenen Ginkgoblättern ab, den Ehering und legt alles in eine Schale.

»Nehmen Sie Medikamente?«

»Nicht mehr. Nach der ersten Operation hat man mir ein Medikament zur Behandlung von Brustkrebs verschrieben, und ich habe es über zwanzig Jahre genommen. Vor drei Jahren habe ich es wegen der vielen Nebenwirkungen abgesetzt.«

»Darüber haben Sie sicher auch mit meinem Kollegen gesprochen?«

»Ja.«

»Gut. Haben Sie möglicherweise irgendwelche Allergien?«

»Nein.«

»Dann legen Sie sich bitte hin.« Die Ärztin deutet auf eine Liege. Ich setze mich auf einen Hocker am Fußende und sehe zu, wie sie mit geübten Bewegungen Handschuhe überstreift, Folien zerreißt, eine Kanüle herausnimmt, Steckverbindungen zusammensetzt, einen roten Schlauch an einem kleinen Aluminiumbehälter befestigt. Wie sie die Nadel in Monis Ellenbeuge schiebt. Wie sie langsam das Radiopharmakon injiziert, eine helle, harmlos wirkende Flüssigkeit, und dabei immer wieder auf ihre Patientin sieht. Es ist, als sähe ich einen Film, ein Schulungsvideo über eine neue nuklearmedizinische Diagnosemethode.

»Jetzt müssen wir warten, bis sich das Mittel im Körper verteilt hat«, sagt die Ärztin, als sie die Kanüle löst. »Ich werde Sie wieder aufrufen.«

Moni nickt und richtet sich auf, ein wenig ungelenk. Ich helfe ihr.

Im Wartezimmer sind die Frau und der Pudel fort. Der junge Mann liest in einer Computerzeitschrift. Es ist so still, dass man nur sein gelegentliches Umblättern und das Ticken des Sekundenzeigers der Uhr hört. Ich würde gern eine Zigarette rauchen.

»Hast du daran gedacht, Milch zu kaufen?«, fragt Moni nach einer Weile, fast flüsternd.

»Ja«, raune ich zurück. »Und Parmesan.« In meiner Jackentasche spüre ich die harten Kanten des Zigarettenpäckchens.

»Ach, war der alle?«

Ich nicke.

»Hatte ich gar nicht bemerkt.« Sie streicht sich eine Strähne aus dem Gesicht und sieht aus dem Fenster. Ihre Hand sucht meine.

Irgendwann gehe ich vor die Tür und rauche eine Zigarette. Irgendwann rauche ich eine zweite Zigarette. Irgendwann werden wir wieder von der klirrenden Lautsprecherstimme aufgerufen.

Die junge Ärztin führt uns in einen Raum, groß, hell und kahl. In seiner Mitte ein monströses Gerät. Eine fahrbare, graue Liege ragt heraus. Dahinter zwei massive, viereckige Kästen. Dazwischen würde die Liege positioniert werden. Wie in einem Schraubstock, denke ich. Ein leiser Schauer fährt mir über den Rücken.

Die Ärztin reißt Krepppapier von einer Rolle und breitet es übers Kopfkissen. »Keine Angst, es tut nicht weh.«

Ich nicke.

»Ja«, sagt Moni und schlüpft aus ihren Schuhen. Sie steigt auf die Liege. Ihr Gesicht ist ernst. Ich kenne diesen Ausdruck. Ich denke an die zahllosen Kontrolluntersuchungen beim Onkologen. Die Tastbefunde, die Mammografien, die Ultraschalluntersuchungen, die Bluttests. Die Angst, er könne etwas finden. Eine Auffälligkeit. Eine Anomalie. Metastasen. Ich bin aus Prinzip optimistisch, Moni lässt sich lieber von positiven Nachrichten überraschen. Oft ergänzte sich das gut, und es gelang uns, relativ gelassen zu bleiben, bis die Ergebnisse vorlagen. Doch erst wenn der Arzt sagte: alles negativ, löste sich die Anspannung. An Angst gewöhnt man sich nicht.

»Die Untersuchung wird ein wenig dauern. Wenn Sie wollen, Herr Prause, können Sie sich gern setzen.« Die Ärztin deutet auf einen grauen Kunststoffstuhl. Ihre Sohlen schmatzen auf dem Linoleum.

»Danke.« Ich ziehe den Stuhl neben die Liege und greife nach Monis Hand. Sie ist kalt. Wie damals. Wie vor drei Jahren, als sie aus der Narkose aufwachte. Sie hatte lange darauf gewartet, in die Wechseljahre zu kommen, sodass ihr Östrogenspiegel sank und sie das Krebsmedikament, einen Östrogenblocker, absetzen konnte. Doch auch mit Mitte fünfzig kam ihre Blutung noch regelmäßig.

»Es ist sicher keine kluge Entscheidung, das Medikament abzusetzen«, sagte ich damals.

»Zwanzig Jahre sind genug.« Sie wirkte erschöpft, doch zugleich spürte ich ihren starken Willen. »Ich will keine Pillen mehr schlucken.«

»Aber klug ist es nicht«, beharrte ich.

»Ich fürchte mich vor all diesen Nebenwirkungen – Glasknochen, Entzündungen, Gelenkschäden! Meine Kniebeschwerden rühren auch daher.«

»Das weißt du nicht.«

»Es ist sehr wahrscheinlich.«

Ich wischte mir durchs Gesicht. Meine Hände waren feucht. »Und wenn der Krebs wiederkommt?«

»Das weißt du nicht.«

Ich schluckte. »Sind Kniebeschwerden nicht besser als Krebs?«

Sie sah mich an. Lange und ohne ein Wort zu sagen.

»Wenn du es wirklich willst …«

»Ja. Ich will nicht mehr jeden Tag Medikamente schlucken. Aber ich werde mir die Eierstöcke entfernen lassen. Dann sinkt mein Östrogenspiegel auch.«

Ich sah sie an. Lange und ohne ein Wort zu sagen. Sie war schon immer sehr klar in ihren Entscheidungen gewesen. Und sie hat früh gelernt, sich durchzusetzen, schon gegenüber ihren Eltern, die es beispielsweise unnötig fanden, dass sie als Mädchen Abitur machte.

»Sind Sie so weit?« Die Stimme der Ärztin holt mich zurück.

»Ja«, sagt meine Frau. »Wir können anfangen.«

Ich nehme ihre Hand zwischen meine Hände. Moni schließt die Augen. Die Liege setzt sich in Bewegung und fährt mit leisem Surren auf die Gammakameras zu. Damals, denke ich, hast du eine Entscheidung über Leben und Tod getroffen. Du hast das Risiko zu sterben in Kauf genommen, weil du ein Leben mit für dich unzumutbaren Einschränkungen nicht mehr wolltest. Du warst rücksichtslos. Du warst mutig.

»Alles in Ordnung?« Die Ärztin beugt sich über die Liege, die langsam den Kameras entgegenfährt.

»Ja«, sagt meine Frau, die Augen geschlossen.

»Ich werde während der Aufnahmen nebenan sein, doch ich höre Sie und komme sofort, wenn Sie rufen.«

»Danke.« Monis Stimme klingt ruhig. Doch ich weiß, dass sie nervös ist. Die Ärztin dimmt das Licht, durchquert mit schmatzenden Schritten den Raum und zieht die Tür hinter sich zu.

»Ich bin bei dir«, sage ich und küsse Monis Handrücken.

»Ich weiß.« Ein feines Lächeln spielt um ihre schmalen Lippen.

Als die Liege ihre endgültige Position erreicht hat, setzen sich die Gammakameras in Bewegung. Von oben und unten fahren sie auf die Liege zu, bis sie dicht vor Monis Körper verharren. Wie in einem Schraubstock, denke ich wieder.

Einen Moment lang ist alles still.

Nur das Rauschen einer Lüftung.

Dann ein hohes Surren, als die Kameras beginnen, Monis Körper entlangzufahren. Ein Drucker, der neben mir steht, geht in Betrieb. Langsam, wie eine Kriechpflanze, wächst Papier aus der Öffnung. Nach einer Weile zeichnet sich der obere Rand eines Schädels ab. Die Schädeldecke, grau und gewölbt. Die Stirn, hellgrau und gerade. Die Augenhöhlen, weiße Löcher, ein Geisterblick. Die Nase. Die Wangenknochen. Die Jochbeine. Der Hals. Atlas und Dreher, die ersten Wirbel. Die Schultern. Der obere Brustkorb. Dunkle Flecken. Stellen, an denen sich das Radiopharmakon verstärkt abgesetzt hat? Ich schlucke.

Unbeirrt fahren die Kameras weiter. Monis Augen sind noch immer geschlossen. Ich drücke ihre Hand und starre wieder auf den Drucker, das Skelett, das sich Millimeter für Millimeter herausschält. Auf mittlerer Höhe des Brustkorbs ein roter Fleck. Unaufhaltsam fließt mir das Papier entgegen, Konturen eines Körpers, den ich seit Jahrzehnten kenne und der vollkommen fremd wirkt. Der aus grauen Umrissen besteht, aus Flecken, die ich nicht zu deuten weiß, und aus Flecken, die ich zu deuten weiß, denn sie sind rot, sie schreien Achtung! Sie schreien Gefahr! Sie schreien Krebs!

Ich spüre, wie mir kalt wird.

Ich versuche, mich an die Worte des Orthopäden zu erinnern, der uns erklärt hat, wie ein Szintigramm zu lesen ist.Doch ich kann mich nicht mehr erinnern, es ist, als seien sie aus meinem Kopf gelöscht. Und trotzdem, es ist paradox, weiß ich genau, was diese roten Punkte bedeuten. Punkte, die immer mehr werden. Sich wie eine Schlange um die Wirbelsäule winden. Um einen Rippenbogen.

Nein.

Nein!

Irgendwann bleiben die Kameras stehen. Die Ärztin kommt. Ich helfe Moni von der Liege.

»Du siehst blass aus«, sagt sie.

Ich schüttle den Kopf. »Nur ein bisschen müde.« Sie nickt und fischt ihre Ohrringe aus der Schale.

»Auf dem Flur ist ein Spiegel«, sagt die Ärztin und geht zum Drucker, reißt den Ausdruck ab.

»Danke.« Moni lächelt.

Wir setzen uns ins Wartezimmer. Es ist leer. »Ich bin froh, dass Kathrin diesen Termin für uns verabreden konnte«, sagt meine Frau. »Die Ärzte hier machen einen guten Eindruck.«

»Ja«, sage ich.

»Sie wirken so aufmerksam und gründlich.«

»Ja.« Ich will eine Zigarette rauchen. Ich will Moni nicht allein lassen. Ich will, dass ich mich irre.

Sie drückt meine Hand.

Es dauert nicht lange, bis der Orthopäde uns aufruft. Wir folgen ihm. Wir setzen uns ihm gegenüber. Sein Blick ist ruhig und freundlich.

Ich irre mich, schießt es mir durch den Kopf. Ja, natürlich, ich irre mich, denn er würde nicht so freundlich gucken, wenn mein Verdacht stimmte.

Er räuspert sich. Vor ihm liegen die Ausdrucke. Auch auf seinem Bildschirm sehe ich Monis Skelett. Die roten Punkte.

Es stimmt doch. Mein Verdacht stimmt doch.

Der Arzt räuspert sich wieder. »Frau Prause, Herr Prause …«

Moni sieht ihn unverwandt an.

»Die Szintigrafie zeigt leider, dass sich an Ihrer Wirbelsäule Metastasen gebildet haben.«

Es stimmt. Aber wie kann er dann so ruhig und freundlich sein?

»Auch mehrere Rippen sind von Metastasen befallen.« Er deutet auf mehrere rote Punkte. »Das ist behandelbar, mit gezielten Bestrahlungen. Die Technik ist da inzwischen sehr weit fortgeschritten, die Heilungschancen sind viel besser als noch vor einigen Jahren.«

Ich sehe, wie Monis Blick den Bewegungen seiner Lippen folgt. Ihre Hände liegen in ihrem Schoß. Sie schlingt die Finger ineinander. Die Knöchel sind weiß.

»Was ist das da, zwischen den Schultern?«, fragt sie mit ruhiger Stimme.

Der Arzt deutet auf eine lang gezogene rote Fläche in Höhe der Brustwirbelsäule. »Hier ist der Krebs bereits ins Rückenmark eingedrungen.«

Die Fläche ist etwa zehn Zentimeter lang. Mir ist kalt.

»Und diese beiden Wirbel«, er deutet auf eine andere rote Fläche, »sind bereits sehr porös. Sie können jederzeit in sich zusammenfallen.«

Und plötzlich hat es geknackt – Monis Worte hallen durch meinen Kopf.

»Das heißt, meine Wirbelsäule wird brechen?«, fragt sie.

Der Arzt nickt.

Ich friere.

Moni holt Luft. »Dann bin ich querschnittsgelähmt?«

Der Arzt nickt. Ich schlucke.

»Was …«, frage ich. »Was kann man da tun?«

Er verschränkt die Arme. Er beugt sich vor, und die Ausdrucke mit den roten Flecken verschwinden unter den weißen Ärmeln seines Kittels. Er öffnet den Mund.

»Wann?«, fragt meine Frau. Ihre Stimme so klar und nüchtern, dass es mir den Atem nimmt.

Der Arzt schluckt. »Sie meinen, wann die Wirbelsäule …«

»Wie lange hält sie noch?«

Der Arzt löst die Verschränkung seiner Arme. Er lehnt sich zurück. Er fährt sich mit der Zunge über die Lippen. »Das kann Ihnen niemand sagen. Es kann jederzeit passieren. Gleich, wenn Sie zur Tür hinausgehen, oder in ein paar Wochen.«

»Aber …« Es ist, als wären die Worte in meinem Hals festgekettet.

»Vielleicht auch erst in ein paar Monaten.«

»Aber … da muss man doch etwas tun können.«

»Ja«, sagt der Arzt. »Ich kann Ihre Frau sofort mit einem Liegendtransport in die Klinik bringen lassen. Sie bekommt ein Bett auf der Intensivstation. Außerdem wird man ihr ein Exoskelett anpassen, das die Wirbelsäule stabilisiert …«

»Ins Krankenhaus?« Moni lacht auf. »Nix da!«

»Rechnen Sie nicht damit, dass die Wirbel noch lange halten. Der Krebs ist bereits ziemlich weit fortgeschritten.«

Meine Frau löst ihre Hände. Sie beugt sich vor, ein wenig nur. Sie strafft die Schultern. Sie sitzt sehr aufrecht und sieht den Arzt unverwandt an. »Dann fahre ich in die Schweiz«, sagt sie.

Mit einem Schlag scheint das Blut aus meinem Kopf zu weichen.

Der Arzt holt Luft.

Moni lehnt sich zurück.

»Also, nun mal langsam, Frau Prause.« Der Arzt fährt sich mit zwei Fingern in den Kragen seines Hemdes. »Erst einmal machen wir noch eine Computertomografie, damit wir einen klareren Befund haben.«

Alle Kraft fließt aus meinem Körper, wie Wasser durch einen Abfluss.

»Der Befund ist klar.« Monis Stimme klingt fest und unnachgiebig. Ich kenne diesen Ton. Es ist ihr bitterernst. »Und weil ich nicht querschnittsgelähmt in einer Klinik liegen will, während sich der Krebs durch meinen Körper frisst, werde ich in die Schweiz fahren.«

Ich habe Angst, von meinem Stuhl zu rutschen.

Meine Frau streicht sich eine Strähne aus der Stirn. Diese kleine, alltägliche Geste nimmt mir erneut den Atem. Dann wendet sie sich um, langsam, sehr vorsichtig.

»Volker«, sagt sie und sieht mich an, schaut bis auf den Grund meines Seins. Sie kennt jede Windung in mir, jeden Winkel, sie kennt sich in mir aus wie in einem seit Langem vertrauten Haus. »Volker, lass mich jetzt nicht allein. Hilf mir, bitte.«