Bob Holmes
Geschmack
Gebrauchsanleitung
für einen vernachlässigten Sinn
Aus dem Amerikanischen von
Helmut Dierlamm und Ursula Held
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.
Die amerikanische Originalausgabe erscheint 2017
unter dem Titel »Flavour: The Science of Our Most Neglected Sense«
bei W. W. Norton & Company; USA.
1. Auflage
Deutsche Erstausgabe
© 2016 der deutschsprachigen Ausgabe
Riemann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Neumarkter Str. 28, 81673 München
© Bob Holmes 2016
Lektorat: Werner Wahls
Umschlaggestaltung: Stephan Heering, Berlin,
unter Verwendung eines Fotos von iStockphoto/knape
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-17524-5
V001
www.riemann-verlag.de
Für Deb,
mit der ich Geschmack und Leben teile
Inhalt
Einführung
Kapitel 1: Brokkoli und Tonic
Kapitel 2: Bier aus der Flasche
Kapitel 3: Das Streben nach Schmerz
Kapitel 4: Was Ihr Gehirn zum Wein meint
Kapitel 5: Den Hunger stillen
Kapitel 6: Warum nicht Iguana?
Kapitel 7: Die Killertomate
Kapitel 8: Blumenkohl-Bloody-Mary und andere kulinarische »Highlights«
Kapitel 9: Epilog: Die Zukunft des Geschmacks
Danksagung
Anmerkungen
Über den Autor
Sachregister
Einführung
Haben Sie sich schon einmal gefragt, warum gesalzene Erdnüsse und Bier so gut zusammenpassen? Wissenschaftler kennen die Antwort: Die Wahrnehmung von Bitterem wird durch eine salzige Note gedämpft. Die Nüsse schwächen das Herbe des Biers ab und verhelfen anderen Aromen in den Vordergrund. Wenn man das einmal weiß, kann man das Prinzip auf vielfältige Weise anwenden. Reichen Sie etwa Nüsse (oder Brezeln) zu Gin Tonic. Oder geben Sie eine Extraprise Salz zum Brokkoli, wenn der einmal besonders bitter schmeckt. Auch Ihre Frühstücks-Grapefruit wird mit ein klein wenig Salz süßer schmecken.
Die Beschäftigung mit unserem Geschmackssinn bringt viele nützliche Erkenntnisse, von denen aber kaum jemand weiß. Denn es kommt in unserem Alltag kaum vor, dass wir uns eingehender mit dem Geschmack von Dingen beschäftigen. Wir analysieren unsere Geschmackserfahrungen nicht, und so kommt es, dass wir auch nicht darüber reden oder nachdenken. Ich möchte dies mit einem Gedankenexperiment beweisen: Nehmen Sie sich einen Augenblick Zeit und rufen Sie sich Ihr Lieblingsmusikstück ins Gedächtnis. Wie ist es zusammengesetzt? Was macht es für Sie besonders? Der Saxofonpart in der Überleitung? Die Bearbeitung des Themas durch Geige und Cello? Die atemlose Spannung, bevor der Gesang einsetzt? Sicher können Sie mehrere Merkmale benennen, derentwegen Ihnen diese besondere Musik nahegeht. Sie können die Instrumente aufzählen, Sie kennen Melodie, Begleitung und Rhythmus und bei Vokalstücken auch den Text.
Versuchen Sie nun einmal, Ihre bevorzugte Apfelsorte ähnlich detailliert zu beschreiben. Warum mögen Sie, sagen wir, den Braeburn lieber als den Red Delicious? Meist wird dann Knackigkeit, Süße oder eben »guter Geschmack« angeführt. Aber wenn Sie nicht gerade ein ausgebildeter Apfeltester sind (diese Menschen gibt es!), werden Sie wahrscheinlich nichts weiter dazu sagen können. Nicht die Geschmackselemente so aufzählen wie die Instrumente Ihrer Lieblingsmusik, und genauso wenig das Geschmacksprofil nachzeichnen, das sich mit jedem Bissen aufbaut und dann verebbt.
Und diese Ungenauigkeit betrifft nicht nur Äpfel. Oder können Sie beschreiben, worin sich der Geschmack von Heilbutt und Rotbarsch unterscheidet? Oder der von Brie und Camembert? Für die meisten von uns bleibt der Geschmack von etwas ein unbestimmtes, wenig durchdrungenes Konzept. Wir sagen »dieses Gericht war wirklich lecker« oder »diese Weintrauben sind köstlich«, aber tiefer als diese gängigen Antworten schürfen wir nicht. Dabei nehmen wir den Geschmack von Lebensmitteln differenziert wahr, und jeder kann feststellen, dass die eine Apfel- oder Käsesorte anders schmeckt als die andere. Wir besitzen also sehr wohl den Wahrnehmungsapparat, um die Welt des Geschmacks tiefer zu erforschen. Allerdings wirkt es sich einschränkend aus, dass wir nicht viel über Geschmack wissen, obwohl wir ihn doch täglich wahrnehmen. Wir schlürfen morgens unseren Kaffee und essen mittags in der Kantine, ohne das komplexe Zusammenspiel von Aroma, Geruch, Anblick und auch Erwartung zu beachten, das den Geschmack ausmacht. So fehlen uns die Kategorien, mit denen wir unsere Geschmackserlebnisse beschreiben könnten, und wir nehmen deshalb oft die Feinheiten dessen, was wir essen und trinken, nicht im Einzelnen wahr. Als wäre die unglaublich vielfältige Welt des Geschmacks auf eine gängige Gaumennorm zurückgesetzt worden.
Manchmal reicht das natürlich auch aus, ein wenig Hintergrundmusik, einfach ein schneller Happen, den wir konsumieren, ohne viel darüber nachzudenken. In der Musik aber gehen viele von uns gerne einen Schritt weiter. Wir analysieren unsere Wahrnehmung und bereichern auf diese Weise unsere Erfahrung. Das wäre auch auf dem Gebiet des Geschmacks möglich – aber nur, wenn wir ihn besser erforschen. Wie nehmen wir Geschmack wahr? Wie entsteht er? Wie lässt er sich intensivieren, beim Anbau und in der Küche? Diesen Fragen möchte ich nachgehen.
Die Beschäftigung mit dem Thema Geschmack steigert unser diesbezügliches Wahrnehmungsvermögen. Dass wir wertschätzen, wie Dinge schmecken, ist ja wahrscheinlich eine rein menschliche Gabe. Die Biologie der Gattung Mensch – die Tatsache, dass wir in sozialen Gruppen leben, beinahe jeden Fleck der Erde bewohnen und als Allesfresser die verschiedensten Ernährungsgewohnheiten pflegen – bringt mit sich, dass unsere Vorfahren bestimmte Fähigkeiten besonders ausbilden mussten. Sie mussten Gesichter lesen, um Freund von Feind, Nachbarn von Familie, den Ehrlichen vom Betrüger zu unterscheiden. So sind nahezu alle Menschen in der Lage, subtile Unterschiede in den Gesichtern anderer zu erkennen. Wir erinnern uns an die Gesichter von Menschen, mit denen wir vor langer Zeit zur Schule gegangen sind, genauso wie an das Gesicht einer Zufallsbekanntschaft vom Abend vorher. Und das mit einem Blick, nicht nach eingehender Untersuchung von Nase, Ohren, Wangenknochen und Augen. Die besondere Fähigkeit zur Wiedererkennung beschränkt sich allerdings auf Gesichter, an ihren Händen zum Beispiel würden wir Menschen längst nicht so gut wiedererkennen.
Das Wiedererkennen von verschiedenen Geschmäcken ist genauso eine typisch menschliche Gabe. Als Allesfresser mussten unsere Vorfahren entscheiden, was essbar war und was nicht – sie taten dies über den Geschmack. Geschmackswahrnehmung gehört somit zu unserem biologischen Erbe. »Menschen sind genauso Geschmacksexperten, wie sie Gesichtsexperten sind«, schreibt der Psychologe Paul Breslin, der sich mit der Wahrnehmung von Geschmack beschäftigt. »Es geht hier buchstäblich um Leben und Tod. Denn wenn man das Falsche isst, stirbt man.« Wir erkennen den Geschmack einer Erdbeere, Ananas oder grünen Bohne auf Anhieb, ohne dass wir ihn immer genau benennen können.
Unser Geschmackssinn hat wahrscheinlich wesentlich dazu beigetragen, die Gattung Mensch zu dem zu machen, was sie ist. Der Anthropologe Richard Wrangham meint, wir hätten unsere großen und komplexen Gehirne niemals entwickeln können, wenn wir uns nicht einfach zugängliche Kalorien über das Kochen erschlossen hätten.1 Rohkost liefert nämlich nicht genug Kalorien zur Versorgung unserer modernen, großhirnigen Körper. Unsere Vettern, die Schimpansen, verbringen täglich Stunden damit, ihre rohe Nahrung zu kauen, um die darin enthaltenen Kalorien zu extrahieren. Diese Zeit und Energie können Menschen sinnvoller einsetzen. Wer sich von Rohkost ernährt, verliert deutlich an Gewicht, auch wenn Mixer und Entsafter das beständige Kauen ersetzen. Durch das Kochen werden unverdauliche Fasern aufgespalten, wodurch wir mit weniger Kraftaufwand einen größeren Kalorienertrag aus unserem Essen erhalten. Und nebenbei eröffnet sich ein ganzes Reich köstlicher neuer Geschmäcke.
Wir sind zudem die einzigen Lebewesen, die ihre Nahrung würzen – also deren Geschmack durch Pflanzenteile, die wir Kräuter und Gewürze nennen, bewusst verändern. Es ist gut möglich, dass unsere Vorliebe für das Würzen ihren Ursprung ebenfalls in der Evolution hat. Viele Gewürze haben nämlich eine antibakterielle Wirkung – allgemein gebräuchliche Würzmittel wie Knoblauch, Zwiebel und Oregano schränken das Wachstum von fast allen getesteten Bakterien ein.2 Küchen, in denen besonders viel Würze zum Einsatz kommt – in Thailand Knoblauch und schwarzer Pfeffer, in Indien Ingwer und Koriander, in Mexiko Chili –, gehören meist in warme Klimazonen, in denen durch Bakterien verdorbene Lebensmittel ein größeres Problem darstellen. Dagegen stammt die eher leicht gewürzte Küche Skandinaviens und Nordeuropas aus kühleren Klimazonen. Die den Menschen eigene Aufmerksamkeit für Geschmack und insbesondere die Angewohnheit, Speisen zu würzen, ist also aus einer existenziellen Notwendigkeit entstanden.
Unsere ungewöhnliche Anatomie trägt zur menschlichen Geschmackskompetenz bei. Der aufrechte Gang und unser (verglichen mit anderen Säugetieren) seltsam geformter Kopf sorgen dafür, dass unsere Nase sich weniger auf Gerüche der Außenwelt konzentriert und eher Aromen einfängt, die vom Essen aufsteigen. Die Geschmackswahrnehmung beansprucht überproportional große Hirnregionen. Wer ein Stück Käse, ein Glas Wein oder einen Keks konsumiert, lässt dabei mehr Hirnregionen arbeiten als bei jeder anderen Tätigkeit.3 Geschmack spricht unseren gesamten Wahrnehmungsapparat an: Wir schmecken, riechen, fühlen, hören und sehen ihn. Zum einen ist das motorische System beteiligt, das den Kau- und Schluckvorgang steuert. Zum anderen werden unbewusste Verknüpfungen aktiviert, die Appetit, Hunger und Sättigung steuern. Und zu guter Letzt werden Denkprozesse angeregt, mit denen wir das Gegessene einordnen und bewerten, es in der Erinnerung speichern und entsprechend darauf reagieren. Ganz schön viel Betriebsamkeit also für einen kleinen Bissen.
Geschmack beschäftigt unser Gehirn unterschwellig, aber doch stark. Wenn eine Geruchsinformation – der wichtigste Bestandteil des Geschmacks – das Gehirn erreicht, wandert sie sofort in den Hirnstamm, der für Empfindungen und Erinnerungen zuständig ist. Erst einige Schritte später erreicht sie die Hirnrinde. Dieser Umstand bildet die neurowissenschaftliche Basis für die erstaunliche Fähigkeit des Geschmacks, uns zu berühren: Der Geschmack unseres Lieblingsgerichts bringt uns unmittelbarer und kraftvoller in unsere Kindheit zurück als ein Lied oder ein Foto es können. Immerhin wurde Marcel Prousts Mammutwerk Auf der Suche nach der verlorenen Zeit durch den Geschmack einer in Tee eingetauchten Madeleine angefacht. Der emotionale Kick mag auch erklären, warum Immigranten weiter an ihren Essgewohnheiten festhalten, auch wenn sie bereits eine neue Sprache, Kleidungsweise und manchmal sogar Religion angenommen haben. Ihre Speisen verbinden ethnische Gruppen über Generationen, Ozeane und Grenzen hinweg. Verschiedene Geschmäcke dienen oft als Marker für eine bestimmte Ethnie, und die Köstlichkeiten der einen Kultur sind für die Mitglieder einer anderen Kultur oftmals gewöhnungsbedürftig. Franzosen essen stinkenden Käse, Amerikaner klebrige Erdnussbutter, Australier strenge Vegemite-Paste und Japaner ihr Natto: schleimige fermentierte Sojabohnen.4
Für viele von uns ist das Verlassen der eigenen kulturellen Geschmacksprägung die beste Brücke in eine andere Kultur. »Ich war in vielen Ländern dieser Erde unterwegs, und jedes Mal bin ich auf den Markt gegangen«, erzählt Breslin. »Ich habe nie darüber nachgedacht, warum das so ist, aber ich kann es mir gar nicht anders vorstellen. Es war immer ein lohnendes Erlebnis.« Die meisten Menschen würden diese Einschätzung teilen. Wer reist schon nach Italien und isst dort nur bei McDonald’s? Wer will sich in China von Pizza ernähren?
Der Ursprung des Geschmackssinns reicht offenbar bis tief in die Menschheitsgeschichte. Aber der Geschmack würzt eben auch unseren Alltag. Wir alle müssen jeden Tag etwas essen, und die meisten würden doch, falls möglich, immer das schmackhaftere Gericht wählen. Kunden von Lebensmittelmärkten geben durchgehend an, dass vor allem der Geschmack die Kaufentscheidung beeinflusst, mehr als Erwägungen zu Gesundheit, Preis oder Umwelt. Der Genuss eines guten Essens wird höher bewertet als Sport, Hobbys wie Lesen oder andere Freizeitvergnügen. Nur Ferien, Sex und Zeit mit der Familie können das toppen.5 Und warum ist ein gutes Essen ein solches Vergnügen? Wegen des Geschmacks.
Für Millionen Menschen ist das Kochen einer täglichen Mahlzeit eine kreative, zufriedenstellende Erfahrung. Wenn Sie das vorliegende Buch aus dem Regal gezogen haben, gehören Sie wahrscheinlich zu ihnen. Ich zumindest lese gerne Kochbücher und stöbere im Internet nach interessanten Rezepten, um so das Repertoire der Familiengerichte zu erweitern. Doch die meisten Freizeitköche sind beim Geschmack sehr vorsichtig. Wir befolgen das Rezept und tun das, was wir immer getan haben. Manchmal hören wir auch auf unsere Intuition und streuen etwas Basilikum ein oder reiben ein wenig Muskatnuss dazu. Aber wir folgen den Anweisungen, unserer Intuition oder der Tradition. Uns fehlt das tiefere Verständnis für unsere gustatorische Wahrnehmung, die unseren Experimenten eine Orientierung geben würde. Wir sind vergleichbar mit jemandem, der sich selbst das Gitarrespielen beigebracht hat und nach Gehör in die Saiten greift, aber keine Noten lesen kann und keine Harmonielehre kennt. Wir probieren also herum, und manchmal gelingt uns dabei etwas wirklich Schönes. Aber wie viel mehr könnten wir auf die Beine stellen, wenn wir besser verstehen würden, was wir da tun.
Wer einmal testen möchte, wie wenig wir über Geschmack wissen, der mache den Fruchtgummi-Test. Eine Tüte mit verschiedenen Sorten von Kaubonbons oder Gummibärchen reicht aus. Schließen Sie die Augen, halten Sie sich die Nase zu und bitten Sie jemanden, Ihnen eine Kostprobe zu reichen. Und? Kein besonders aufregendes Geschmackserlebnis, oder? Man merkt natürlich den Zucker, aber die Geschmacksrichtung wird man nicht so leicht erkennen.
Wenn Sie nun die Hand von der Nase nehmen, werden Sie erleben, wie der Geschmack im Mund quasi explodiert. Was vorher nur süß war, schmeckt jetzt nach Zitrone oder Himbeere. Denn nun ist auch die Nase im Spiel. Das Geschmackserlebnis ist nämlich nicht auf die Zunge begrenzt. Aroma entfaltet sich erst über den Geruch. Eine noch deutlichere Demonstration dieses Phänomens erhalten Sie, wenn Sie mit zugehaltener Nase und geschlossenen Augen ein Apfelstück mit einem Zwiebelstück vergleichen – der Unterschied ist schwerer zu erkennen, als man glaubt!
Und Geschmack hat sogar noch mehr Dimensionen als die Reizung von Zunge und Nase. Alle fünf Sinne – Schmecken, Riechen, Fühlen, Hören und auch Sehen – tragen dazu bei, wie wir Geschmack wahrnehmen. Geschmack ist also die Summe aller Sinneseindrücke, die ausgelöst werden, wenn wir Essen in den Mund nehmen. Dies führt zu interessanten Entdeckungen: Das Gewicht einer Schüssel, die Farbe des Tellers und auch die Musik, die im Hintergrund läuft, haben einen Einfluss auf unsere gustatorische Wahrnehmung.
Die Gerichte, die wir kochen, und die Lebensmittel, die wir essen, sind nicht nur tägliches Vergnügen. Denn sie beeinflussen auch unsere Gesundheit. Dies trifft auf die heutige Zeit besonders zu, da überzählige Kalorien eine Übergewichts-Epidemie ausgelöst haben, die sich zum größten lebensverkürzenden Faktor seit Jahrhunderten auswächst. Die Mehrheit der US-Amerikaner ist übergewichtig, der Rest der westlichen Welt holt rasch auf. Fachleute sehen den Genuss von gesüßten Softdrinks und fettem, kohlenhydrat- und kalorienreichem Fast Food als vornehmliche Ursache.
Und damit rückt wieder der Geschmack in den Fokus. Wenn wir etwas gegen Fettleibigkeit unternehmen wollen, als Einzelperson wie als Gesellschaft, müssen wir verstehen, warum wir das essen, was wir essen. Wir müssen lernen zu erkennen, wie der Geschmack unsere Lebensmittelauswahl motiviert und wie wir ihn vielleicht einsetzen können, um unsere Konsummuster zu verändern; zu erkennen, wie der Geschmack uns mitteilt, dass wir gesättigt sind und ob wir uns überessen, wenn Gerichte besonders gut schmecken. Wie sich herausstellt, sind dies komplexe Fragen, die auch Experten noch nicht vollständig durchdrungen haben. Manche der bereits gefundenen Antworten werden Sie jedoch verwundern.
Bis vor Kurzem wäre ein Buch über den wissenschaftlichen Hintergrund des Geschmackssinns viel weniger umfangreich ausgefallen. In den vergangenen Jahren aber haben Wissenschaftler große Fortschritte darin erzielt, den Weg von der Nahrungsaufnahme über die Wahrnehmung bis zum Verhaltensmuster offenzulegen. Man kann ohne Übertreibung sagen, dass die Beschäftigung mit dem Geschmackssinn aktuell eine der sich am schnellsten entwickelnden und aufregendsten wissenschaftlichen Disziplinen ist. Ein großer Teil der mehreren hundert wissenschaftlichen Artikel, die ich bei meiner Recherchearbeit für dieses Buch gelesen habe, sind höchstens ein bis zwei Jahre alt. Und sicher halten die kommenden Jahre noch bedeutendere Entdeckungen bereit. Das Schöne dabei: Jeder Mensch hat gleich einen Bezug zum Thema, denn es geht schließlich um die Lebensmittel, die wir tagtäglich konsumieren, um das Vergnügen an einem Glas Wein, einem Bier, einem Kaffee, und natürlich um die Frage, die sich uns jeden Tag neu stellt: Was kochen wir heute?
Anfang der 1990er Jahre haben die Biologen Linda Buck und Richard Axel die für die Erkennung von Geruchsmolekülen verantwortlichen Rezeptoren identifiziert. Für ihre Arbeit erhielten die beiden 2004 den Nobelpreis. Mit dem Wissen um diese Rezeptoren und unterstützt durch die Anfang des Jahrhunderts vollendete Entschlüsselung des menschlichen Genoms sind Wissenschaftler nun eifrig damit beschäftigt, den Code zu knacken, durch den unsere Nase die vielen verschiedenen (wahrscheinlich mehrere Millionen) Gerüche erkennt, die den Geschmack unseres Essens bilden. So wird unter anderem nach den chemischen Rezeptoren geforscht, die Chili als scharf und Minze als frisch einordnen. Die fünf Geschmacksrichtungen, nach denen unsere Zunge seit einem Jahrhundert eingeteilt wird, müssen sich den Platz inzwischen mit mindestens einem, womöglich aber mehreren hinzugekommenen Geschmäcken teilen.
Während die Wissenschaftler also unser Verständnis erweitern, festigt sich die Erkenntnis, dass jeder Mensch auf unserem Planeten in seiner ganz eigenen Geschmackswelt lebt, geprägt durch Anlage, Erziehung, Geschmackserlebnisse und natürlich die jeweilige Kultur. Wir beginnen zu verstehen, wie sich diese einzelnen Geschmackswelten, unsere Vorliebe oder Abneigung für bestimmte Lebensmittel, erklären lassen. Der ehemalige US-Präsident George H. W. Bush verabscheut bekanntermaßen Brokkoli. (»Ich mag keinen Brokkoli«, sagte Bush 1990 Reportern, »und zwar schon seit meiner Kindheit, als meine Mutter mich zwang, ihn zu essen. Jetzt bin ich Präsident der Vereinigten Staaten, und ich werde nie wieder Brokkoli essen!«6) Ohne einen Gentest können wir nicht sicher sein, aber sehr wahrscheinlich ist Bush Träger einer besonderen Genvariante eines speziellen Geschmacksrezeptors für Bitterstoffe – dieser lässt Brokkoli und andere Kreuzblütengewächse besonders bitter erscheinen. Auch Ihre Gene werden sich auf ganz ähnliche Weise auf Ihre Lebensmittelvorlieben auswirken. Doch Genetik ist kein Schicksal: Nicht jeder, der besonders empfänglich für Bitterstoffe ist, hasst den Geschmack von Bitterem.
Vom Sinneseindruck bis in die Küche ist Geschmack sehr viel komplexer und vielschichtiger, als die meisten denken. Die folgenden Seiten können Sie sich als eine Art Benutzerhandbuch der gustatorischen Wahrnehmung vorstellen. Am Ende haben Sie, so hoffe ich, ein besseres Verständnis von dem, was Geschmack ist und wie wir ihn wahrnehmen, und Sie werden dieses Wissen einsetzen können, um ein reicheres Geschmackserlebnis zu genießen.
Geschmack ist ein Buch für alle, die Gaumenfreuden schätzen. (Wer tut das nicht?) Sie brauchen kein Geschmacksexperte zu sein, um die Dinge auf Ihrem Teller und in Ihrem Glas gründlicher wertschätzen zu können. Ich selbst bin auf diesem Gebiet kein Virtuose. Ich bin Hobbykoch mit mittelmäßigen Fähigkeiten, überdurchschnittlichem Elan und einer Nase im Normalbereich. Wenn ich in die Welt des spezifizierten Geschmacks gefunden habe, wird das jeder andere auch können.