Carola Wimmer
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1. Auflage 2018
© 2018 cbj Kinder- und Jugendbuchverlag
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Alle Rechte dieser Ausgabe vorbehalten
Licensed by ZDF Enterprises GmbH, Mainz
© 2018 – Cottonwood Media – Opéra national de Paris – ZDF – ZDF Enterprises GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Geschrieben von Carola Wimmer
basierend auf dem Drehbuch von Jill Girling und Lori Mather
Umschlaggestaltung: Init GmbH unter Verwendung eines Film-Fotos
© 2018 – Cottonwood – Opéra de Paris – ZDF – ZDFE. Picture Thibault Grabherr / Creation Rysk
Fotos im Innenteil: © 2018, Cottonwood – Opéra de Paris – ZDF – ZDFE. Picture Thibault Grabherr
hf • Herstellung: UK
Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
ISBN 978-3-641-24183-4
V002
www.cbj-verlag.de
Prolog
Die Sonne schien auf die schönste Stadt der Welt. Lena Grisky stand auf dem Dach der Opéra Garnier und reckte ihr Gesicht in den Himmel von Paris. Sie fühlte sich überglücklich. Einen schöneren Sommer als diesen des Jahres 1905 konnte es nicht geben. Seufzend senkte sie den Blick und trat an die Brüstung. Unter ihr lagen die Straßen und prächtigen Boulevards, Menschen spazierten am Ufer der Seine, vornehme Paare, Herren mit Zylindern, Damen mit zierlichen, spitzenbesetzten Sonnenschirmen. Die ganze Welt reiste nach Paris, Maler und Poeten, Forscher und Gelehrte, englische Prinzen und italienischer Adel. Alle wollten sie hier sein, in der Hauptstadt der Künste, der Wissenschaft, der Liebe – dem heimlichen Mittelpunkt der Welt.
Nur Lena hatte das eigentlich nicht gewollt. Ihre Eltern – Prinzessin Alexandra und Fürst Stefan – hatten sie als Achtjährige aus St. Petersburg hierhergebracht und in eine Ballettschule gesteckt. Damit eine Dame aus ihr würde! Lena kicherte bei diesem Gedanken. Eine Dame war aus ihr nicht geworden! Aber eine leidenschaftliche Balletttänzerin – eine, von der man sagte, sie könnte einmal die beste aller Zeiten werden!
Aber noch war sie nur eine Schülerin. Doch ihr größter Wunsch war es, Primaballerina zu werden. Denn sie liebte nichts mehr als die Musik, den Tanz, die Atmosphäre, den Applaus – aber auch die Arbeit im Probenlicht, den staubigen Bühnenboden, genauso wie die Werkstatt für die Bühnenbilder und die Kostümschneiderei.
Seit einiger Zeit liebte sie aber besonders das von einem goldenen Fries umsäumte Dach der Oper. Jedoch nicht wegen des herausragenden Blicks weit über die Stadt. Für Lena war dieser Platz aus anderen Gründen etwas ganz Besonderes, ein Ort, den sie nur mit klopfendem Herzen betrat. Denn Lena hatte ein Geheimnis …
1
Lena richtete sich wieder auf und rannte über den schmalen Sims, der neben dem riesigen Kuppeldach zum hinteren Teil des Gebäudes führte. Hier befand sich ein alter, ungenutzter Kamin. Vorsichtig löste sie einen Ziegelstein und griff in die entstandene Lücke, um ein Schwarz-Weiß-Foto herauszufischen. Es zeigte Lena mit einem Jungen in ihrem Alter. Er hatte ein ungewöhnlich hübsches und freundliches Gesicht. Unter einer Schirmmütze lugte braunes Haar hervor. Lena drückte das Foto seufzend an die Brust. Im nächsten Moment spürte sie, wie jemand hinter sie trat und ihr die Hände vor die Augen legte. Es war der Junge vom Foto.
»Henri!«, rief sie und drehte sich jauchzend um.
Hier auf dem Dach war ihr Treffpunkt, hier hinterließen sie sich kleine, geheime Nachrichten. Niemand durfte von ihren Begegnungen wissen. Ein solches Verhalten war den Ballettschülerinnen, ja allen wohlerzogenen, jungen Damen, strengstens verboten. Allein ihre Freundin Claudine kannte Lenas Geheimnis. Diese hielt ihr den Rücken frei und half so, diese kurzen Momente mit Henri zu ermöglichen.
Henri nestelte in seiner Hosentasche und zog eine zierliche Kette hervor. Daran hing eine kleine, zauberhafte Uhr mit einem roten Edelstein in der Mitte. Henri legte Lena die Kette um den Hals.
»Das soll ab jetzt dein Glücksbringer sein«, sagte er lächelnd.
»Wie wundervoll! So einen Glücksbringer habe ich mir schon immer gewünscht!«, rief Lena und sprang Henri vor Freude in die Arme.
Tatsächlich konnte sie einen Talisman gut gebrauchen. Ihre Eltern hatten ein Telegramm geschickt und ihr mitgeteilt, sie wollten die heutige Aufführung besuchen. Lena war deshalb mehr als aufgeregt. Seit zwei Jahren hatte sie ihre Eltern schon nicht mehr gesehen. Sie durfte heute ein Solo tanzen und würde zeigen können, was sie gelernt hatte. Dankbar betrachtete Lena den Anhänger.
»Er hat magische Kräfte«, sagte Henri. »Er wird dir helfen, nie das Gleichgewicht zu verlieren.«
»Danke, danke! Ich verspreche dir, ihn immer zu tragen!« Lena sah Henri zärtlich an. Dann wand sie sich aus seiner Umarmung und rief: »Fang mich!« Im vollen Tempo rannte sie über das Dach. Henri folgte ihr lachend.
Zur selben Zeit hielt eine aus St. Petersburg kommende Dampflok zischend im größten Bahnhof von Paris. Mit zahllosen Kisten und Koffern, einem Gefolge von Zofen, Dienern und zwei Kosaken, die als Wachen dienten, verließen Prinzessin Alexandra und Fürst Stefan den Zug. Mit Kutschen ging es zum Grand Hotel Royal, direkt an der Seine, wo das hochgestellte Paar die gesamte erste Etage bezog. Nachdem sich ihre Anwesenheit in Paris herumgesprochen hatte, machten sich nahe und ferne Verwandte sogleich auf den Weg, ihnen ihre Aufwartung zu machen. Auch Lena eilte, sobald sie von der Ankunft ihrer Eltern erfahren hatte, direkt ins Hotel. Sie freute sich unglaublich, ihre Familie nach so langer Zeit wiederzusehen. Gerne hätte sie ihre Mutter fest in die Arme geschlossen. Doch sie wusste, dass sie als Prinzessin selbst ihren Eltern gegenüber in der Öffentlichkeit keine Gefühle zeigen durfte.
Zu ihrer Bestürzung fiel die Begrüßung – sogar für aristokratische Verhältnisse – überraschend kühl aus. Prinzessin Alexandra hielt Lena lediglich die Hand entgegen. Fürst Stefan ließ sich von seiner Tochter immerhin auf die Wange küssen. Es folgten ein paar Floskeln über die Reise und das Wetter in St. Petersburg. Dann wandte sich Prinzessin Alexandra demonstrativ anderen Besuchern zu. Lenas Audienz war beendet.
Bitter enttäuscht kehrte Lena zurück in die Oper. Konnte ihre Mutter denn wirklich so nachtragend sein?, fragte sie sich. Als Kind war Lena ein richtiger Wirbelwind gewesen. Regelmäßig hatte sie ihre Mutter zur Weißglut getrieben. Als sie ihren Bruder vor einem festlichen Essen mit voller Absicht in eine Pfütze gestoßen hatte, war ihrer Mutter der Geduldsfaden gerissen: Lena war nach Paris verbannt worden. Seitdem hatte sie sich unter größter Anstrengung kaum noch etwas zuschulden kommen lassen. Und trotzdem hatten die Jahre ihre Mutter offenbar nicht milder gestimmt.
Lena tastete seufzend nach ihrer neuen Kette mit dem Anhänger. Heute Abend würde sie auf der Bühne stehen und ihren Eltern beweisen, dass sie stolz auf sie sein konnten!
2
Am frühen Abend hielten vor der Oper im Minutentakt die schwarz glänzenden Kutschen. Die vornehme Gesellschaft der Stadt hatte sich versammelt, um die neueste Premiere der Opéra Garnier zu erleben. Livrierte Diener servierten Damen in eleganten Roben und Männern in schwarzen Fräcken Champagner. Über die eindrucksvolle Freitreppe strömte das seidenraschelnde, juwelenglitzernde Publikum in den Zuschauerraum, bis schließlich der letzte Platz besetzt war. Neugierig beäugten sich die Anwesenden. Es wurde verstohlen genickt oder huldvoll gelächelt: Man wollte sehen und gesehen werden. Dann wurde der Zuschauerraum verdunkelt, das Licht auf der Bühne flammte auf, die Vorführung begann.
Die Tänzerinnen des Ensembles schwärmten auf die Bühne, bildeten einen weißen Reigen, der zum Takt der Musik scheinbar mühelos auf den Zehenspitzen balancierend, die Beine elegant in die Höhe streckte, zur Seite führte – und sich mit einer Gleichzeitigkeit drehte, als wäre die eine das Spiegelbild der anderen. Es gab keinen Zweifel: Sie waren die Besten der Besten.
Lena stand am Rand der Bühne und verfolgte herzklopfend das Geschehen. Nervös strich sie sich den knielangen Tüllrock glatt und kontrollierte noch einmal den Sitz ihrer Spitzenschuhe. Gleich würde der Nachwuchs sein Können zeigen dürfen. Lenas Auftritt war der erste der Schülerinnen und würde damit im direkten Vergleich zu den Profis stehen.
Zur selben Zeit saßen Prinzessin Alexandra und Fürst Stefan in ihrer Loge. Sie bemerkten nicht, dass Henri sich heimlich in den kleinen Raum geschlichen hatte und sich hinter ihren Sitzen verbarg. Er wollte unbedingt hören, was die Prinzessin und der Fürst über Lenas Auftritt sagen würden. Er war überzeugt, dass sie voll des Lobes sein würden.
Als die Tänzerinnen unter tosendem Applaus die Bühne verließen, fächelte sich Lenas Mutter mit unbewegter Miene Luft zu. Dann beugte sie sich leicht vor. Denn Lena betrat nun die Bühne. Klaviermusik erklang, Lena hob sich auf die Zehenspitzen, eine erste anmutige Drehung und das Publikum war hingerissen. Lena war erfüllt von einem inneren Leuchten. Sie zeigte eine Präsenz auf der Bühne, die mit Training allein nicht zu erreichen war. Vier weitere Tänzerinnen betraten die Bühne, umringten Lena und brachten sie nur noch mehr zum Glänzen.
Vorsichtig lugte Henri zwischen den Sitzen hervor. Lenas Eleganz verschlug ihm den Atem. Ihre Eltern mussten so stolz auf sie sein! Umso überraschter war er, als er plötzlich Prinzessin Alexandra mit schneidender Stimme sagen hörte: »Und trotzdem … Wir nehmen sie mit nach Russland. Gleich morgen Früh!«
Vor Schreck wäre Henri beinahe aufgesprungen! Das durfte doch nicht wahr sein! Mit weichen Knien schlich er aus der Loge.
Er musste sofort zu Lena!
So schnell er konnte, lief er die zahlreichen Treppenstufen hinab, rannte durch das leere Foyer, dann einen Gang entlang zum Bereich hinter der Bühne. Erleichtert entdeckte er Claudine, Lenas Freundin und Vertraute. Zusammen mit zwei anderen Tänzerinnen begutachteten sie Lenas Darbietung. Henri verbarg sich hinter einer Säule und versuchte, Claudine Zeichen zu geben. Und tatsächlich: Claudine bemerkte ihn. Für einen Augenblick trafen sich ihre Blicke. Aber dann drehte sich das Mädchen weg, um mit den anderen Tänzerinnen zu tuscheln.
»Also ich weiß nicht …«, zischte Claudine mit Blick auf Lena. »Sie ist ein Achtel hintendran!«
Die Mädchen nickten beifällig. In diesem Moment endete Lenas Auftritt mit einer endlosen Zahl makelloser Pirouetten im tosenden Applaus. Lena eilte beglückt von der Bühne, direkt auf Claudine zu. Sie strahlte über das ganze Gesicht.
»Oh, Claudine, warte nur, bis du da draußen stehst! Es gibt nichts Vergleichbares!«, rief sie und drückte ihre Freundin fest an sich.
»Du warst großartig!«, antwortete Claudine übertrieben begeistert.
»Oh, nein! Ich war ein Achtel hinterher«, gestand Lena.
»Wirklich? Ist mir gar nicht aufgefallen!« Claudine winkte mit großer Geste ab.
Endlich bemerkte Lena Henri zwischen den Kulissen, der ihr aufgeregt winkte. Lena sah Claudine fragend an.
»Na, geh schon, ich pass auf!«, erklärte Claudine großzügig. Dankbar lief Lena zu Henri.
Dieser nahm wortlos ihre Hand und führte sie in das Foyer, wo sie ungestört waren.
Henri rang nach Worten. »Sie wollen dich zurück nach Russland bringen«, stieß er schließlich hervor. Noch bevor Lena seine Worte vollkommen begriff, erschien Prinzessin Alexandra. Lena wurde blass. Henri zog sich zurück.
»Pack deine Sachen. Wir kehren unverzüglich nach Russland zurück«, befahl die Prinzessin.
»Mutter, bitte! Du hast mich doch tanzen sehen. Ich werde wahrscheinlich ins Ensemble aufgenommen!«, flehte Lena.
Aber Prinzessin Alexandra blieb unbeeindruckt. »Muss ich dich wirklich daran erinnern, dass du Prinzessin Helena bist?«, fragte sie böse. »Du beschmutzt den Namen unserer Familie, indem du dich mit diesem Bauernlümmel abgibst!«
Lena erschrak. Wie konnte ihre Mutter von ihrer Freundschaft mit Henri wissen?
Prinzessin Alexandra schien ihre Frage erraten zu haben. »Glücklicherweise hatte deine Zimmergenossin den Anstand, mir einen Brief zu schreiben«, erklärte sie.
In diesem Moment spürte Lena, dass sich hinter ihr eine Tür öffnete. Claudine erschien im Foyer. Auf ihrem Gesicht lag ein böses Lächeln.
»Es ist vorbei, es wird kein Ballett mehr für dich geben«, sagte Prinzessin Alexandra und stürmte davon.
Lena sah Claudine ungläubig an. »Wie konntest du mir das antun?«, fragte sie schließlich mit tonloser Stimme.
Claudine zuckte mit den Schultern, drehte sich um und ging erhobenen Hauptes davon.
Lena war kurz davor, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Da spürte sie Henris vertraute Hand auf ihrer. »Das war’s dann wohl?«, fragte er traurig.
Lena ließ den Kopf hängen. Doch im nächsten Moment spürte sie aus ihrem tiefsten Inneren ein unbändiges Aufbegehren.
»Nein, auf keinen Fall!«, sagte sie mit fester Stimme. Henri sah Lena überrascht an. »Lass uns zusammen davonlaufen!«, rief Lena leidenschaftlich.
Henri lachte: »Bist du verrückt geworden?«
Aber Lenas Entscheidung war gefallen. Sie wollte nicht zurück nach Russland, sie wollte in Paris bleiben – mit Henri! Lena hielt Henri ihre Hände entgegen. Auf sein Gesicht schlich sich ein glückliches Lächeln. Gemeinsam rannten sie los! Im Garderobenraum nahm Lena ihre Tasche und warf sich rasch ihr rotes Kleid über.
Über den Hintereingang für die Bühnenarbeiter huschten sie auf die Straße. Doch da entdeckten Prinzessin Alexandras Wachen sie. Lena und Henri machten auf dem Absatz kehrt, aber die beiden Kosaken hatten sie bereits entdeckt und die Verfolgung aufgenommen. Gemeinsam rannten sie Richtung Bühne und bogen dann links ab. Da entdeckte Lena eine Metalltür. Ohne zu zögern, eilte sie darauf zu. Henri schob den Riegel auf und stemmte die beiden Türhälften auseinander. Rasch huschte Lena hindurch. Doch in dem Moment, in dem Henri ihr folgen wollte, krachten die eisenbeschlagenen Türflügel wieder ins Schloss. Henri rüttelte an ihnen, doch sie wollten sich keinen Millimeter bewegen. Es war, als ob jemand sie von der anderen Seite zuhielt.
»Lena!«, rief Henri verzweifelt.
»Henri!« Lena hatte keine Ahnung, wo sie sich befand. Dunkelheit umfing sie. Ihr Herz begann ungewöhnlich heftig zu schlagen. Sie konnte das Pochen deutlich spüren. Erschrocken fasste sie sich an die Brust. Doch es war nicht ihr Herz, das da pochte und klopfte, es war das Medaillon! Es erzitterte unter ihrer Hand, und der Stein in der Mitte begann, rot zu leuchten. Erschrocken ließ Lena die Kette los. Aber der Schein wurde immer heller und plötzlich löste sich ein gleißender Strahl und schoss in die vor ihr liegende Finsternis. Ein dumpfes Rumpeln setzte ein, wie vom Räderwerk einer gewaltigen Uhr, die sich schwerfällig in Bewegung setzt.
»Henri?«, rief Lena erneut. Sie spürte, wie eine unwiderstehliche Kraft sie auf das ratternde Geräusch zuzog. Das konnte kein Bühnentrick sein. Das war keine Falltür oder das Verschieben einer Kulisse! Aber was war es dann?
Schlagartig wich die Dunkelheit einem Lichtwirbel und Lena stürzte ins Nichts. In ihrer Panik versuchte sie, irgendwo Halt zu finden. Schemenhaft zeichneten sich um sie herum für kurze Augenblicke Umrisse von Gebäuden, fremdartigen Orten und Straßen ab. Doch Lena nahm sie in ihrer Angst kaum zur Kenntnis. Straßen und Landschaften, Segelschiffe auf dem Meer, Menschen in Kleidern einer fremden Mode rasten an ihr vorbei. Endlich hörte das Rattern und Rumpeln auf. Es erklang der dröhnende Schlag von Glocken. Im selben Moment sah Lena das Gesicht eines weißblonden Jungen. Er blickte ihr direkt in die Augen. Verblüfft zeigte er mit dem Finger auf sie. Sein Mund war weit geöffnet, als ob er etwas rufen würde. Lena konnte bei all dem Lärm nicht verstehen, was. Dann wurde es wieder dunkel. Der Glockenschlag verstummte.
3
»Bist du da, Lena? Mach bitte die Tür auf!« Henri drückte seinen Kopf gegen die kalte Oberfläche des Metalls und lauschte angestrengt. Nichts war zu hören. Dann atmete er tief durch und nahm alle Kraft zusammen. Jeder Muskel in seinem Körper spannte sich schmerzhaft an, bis die Tür endlich nachgab und weit aufschwang – nur um den Blick auf eine massive Wand aus Ziegelsteinen freizugeben. Henri entfuhr ein ungläubiges Lachen. Seine Hände fuhren über die Mauer. Da war nichts, kein Spalt, kein loser Stein und vor allem nicht die geringste Spur von Lena! Während Henri versuchte zu begreifen, was passiert war, trat hinter ihm eine hochgewachsene Gestalt aus dem Schatten. Die donnernde Stimme traf ihn bis ins Mark: »Was hast du nur getan, Sohn?«
Henri konnte sich nicht erinnern, seinen Vater jemals so aufgebracht erlebt zu haben. Bevor er sich versah, hatte Victor Duquet ihn auch schon am Kragen gepackt und von der Tür weggerissen. Obwohl Henri spürte, dass Lena gerade in diesem Moment seine Hilfe dringend brauchte, blieb ihm keine andere Wahl. Er stolperte neben seinem Vater her, den Gang entlang und die Treppe hinauf, bis sie in das kleine Büro im Dachstuhl gelangten.
»Du wirst mir jetzt ganz genau erzählen, was du getan hast und was dann passiert ist«, forderte ihn Victor auf.
»Ja, also …«, stammelte Henri, immer noch nach Luft ringend, »wir rannten auf diese Tür zu, Lena und ich, und … und dann, ich weiß nicht, dann ist sie verschwunden!«
Victors Gesicht verfinsterte sich. »Wo ist es?«, fragte er.
»Wo ist was? Die Tür? Wir standen doch eben davor«, sagte Henri, der nicht verstand, worauf sein Vater hinauswollte.
»Nicht die Tür! Das Medaillon! Wo ist die Kette mit dem Anhänger?«
»Oh«, sagte Henri tonlos und schluckte schuldbewusst. »Die hängt um Lenas Hals.«
Victor verdrehte ungeduldig die Augen. »Wo hast du es gefunden?«, wollte er dann wissen.
»Na, das ist eine komische Geschichte«, begann Henri ausweichend.
Victor sah seinen Sohn streng an.
»In einem Raum … in dem Wandschrank in deinem Büro gibt so eine Art Geheimtür …«, versuchte Henri zu erklären. Denn die Sache war kompliziert.
Beim Aufräumen von Victors Büro hatte er zufällig die Geheimtür im Wandschrank entdeckt. Auf einem Stuhl balancierend hatte er eine Hutschachtel abstauben wollen. Aber als er sie ein Stück hervorzog, war eine gewaltige Staubwolke auf ihn niedergegangen, sodass er kräftig niesen musste. Dummerweise geriet er aus dem Gleichgewicht. Hilflos mit den Armen rudernd hatte er den Halt verloren. Statt seinen Fall zu bremsen, hatte das Regal hinter ihm unerwartet nachgegeben und den Durchgang zu einem verborgenen Raum geöffnet, den er mit seinen alten Büchern, Kisten und Truhen für eine längst vergessene Requisitenkammer gehalten hatte.
»Es ist doch nur ein altes Medaillon …«, sagte Henri zu Victor, der seinen Ausführungen schweigend zugehört hatte. »Warum siehst du mich schon wieder so an, als ob ich etwas ausgefressen hätte?«
Statt einer Antwort schob ihn sein Vater beiseite und betrat nun selbst den Wandschrank. Wenn sich Henri gefragt hatte, ob außer ihm noch jemand von der Existenz des Geheimzimmers wusste, dann beseitigte sein Vater jetzt jeden Zweifel. Zielsicher drückte er einen verborgenen Knopf und die Rückwand schwang knarzend auf.
Das Zimmer war deutlich größer als Victors eigentliches Büro und angefüllt mit allerlei Schränken, Regalen, Kisten und Schachteln. Hastig kramte er eine Geldbörse, eine Taschenuhr sowie einen Stoß alter Papiere hervor und steckte sie in seine Tasche. Mit einem kurzen Blick über die Schulter versicherte sich Victor, dass sein Sohn ihn nicht beobachtete, bevor er eine Schublade aufzog. Darin lag ein seltsames kleines Täfelchen. Die Oberfläche war glatt, fast wie bei einem Rasierspiegel, aber das Glas war viel zu dunkel, um etwas darauf zu erkennen. Zusammen mit all den anderen Sachen verschwand es in Victors Tasche.
»Du hast ja keine Ahnung, was du angestellt hast«, sagte Henris Vater.
»Habe ich wirklich nicht, nein! Ich weiß überhaupt nicht, was los ist!«, sagte Henri und deutete mit dem Finger um sich. »Ich sehe nur, dass du Geheimnisse hast! Aber die viel wichtigere Frage ist: Wo ist Lena …?«
»Durch deine Schuld ist sie durch die Zeit gereist«, schnitt ihm sein Vater das Wort ab.
Henri sah seinen Vater ungläubig an, dann brach er in schallendes Gelächter aus: »Okay, der Witz war gut«, prustete er los. »Immerhin hast du deinen eigenwilligen Humor nicht verloren.«
Victor schüttelte den Kopf. Mit großem Ernst fuhr er fort: »Ich wollte eigentlich warten, bis du alt und vor allem reif genug bist, um dich der Verantwortung würdig zu erweisen.« Er trat einen Schritt vor und legte Henri die Hand auf die Schulter.
»Mein Sohn«, verkündete er mit feierlicher Miene, »wir sind Zeitreisende!«
4
Um Lena herum wurde es schlagartig gleißend hell. Das Nächste, was sie wahrnahm, waren der Bühnenboden, auf dem sie lag, das Geräusch von Spitzenschuhen und das Rascheln von Tutus. Mühsam richtete sie sich auf.
»Henri? Wo bist du?«Taumelnd versuchte sie, sich zurechtzufinden. Dabei stieß sie mit einem Jungen zusammen. Er war hoch gewachsen, hatte dunkles Haar und schwarze, melancholische Augen.
»He, pass auf, wo du hintrittst!«, rief er halb amüsiert, halb verärgert.
Eine Hand griff sie sanft am Arm und zog sie zur Seite. Der Arm gehörte einem Mädchen mit dunklem Teint und schwarzen, gekräuselten Haaren.
»Los, stell dich in die Reihe. Wir sind gleich dran«, flüsterte sie.
Lena starrte das Mädchen fasziniert an. So wuschelige Haare hatte sie noch nie gesehen! Ines besah nun ihrerseits Lena genauer.
»Wow, mutig!«, flüsterte sie, deutete auf das Kleid und kniff ein Auge verschmitzt zusammen.
Lena sah sich um. Hinter ihr standen noch vier weitere Mädchen in der Reihe. Alle trugen weiße Tutus. Als sich die Gruppe in Gang setzte, wurde Lena mitgezogen. Da bemerkte sie, dass sie gerade im Begriff war, auf die offene Bühne zu treten. Im Zuschauerraum sah sie Publikum sitzen. Alle trugen seltsame Kleidung!
»Wartet – was passiert hier?«, fragte Lena und hielt sich an ihrer Reisetasche fest, als sei dies ein Anker. Hier stimmte etwas nicht, aber sie konnte nicht sagen, was! Plötzlich stieg eine noch nie empfundene Panik in ihr auf. Hals über Kopf wollte sie von der Bühne flüchten und stolperte dabei über die Tänzerin hinter ihr. Polternd gingen beide zu Boden.
»Runter! Runter. Von. Mir!«, zischte das Mädchen und versuchte sich aufzurappeln. Aber Lena klammerte sich ängstlich an ihr fest.
»Was machst du denn? Los, verschwinde«, schimpfte das Mädchen und schubste Lena zur Seite.
Das Publikum raunte. Lena stand auf und taumelte an die Seite der Bühne, hinüber zu dem Mädchen mit den Wuschelhaaren und den anderen Tänzern.
In diesem Moment ertönte eine Ansage: »Meine Damen und Herren, wir heißen Sie herzlich willkommen. Es ist uns eine Ehre und ein ebensolches Vergnügen, Ihnen hier und heute das Ensemble des Pariser Opernballetts zu präsentieren und unsere Nachwuchsklasse 2018.«
»2018? Was bedeutet das, 2018?«, stammelte Lena.
»Wow. Du scheinst ja unglaubliches Lampenfieber zu haben? Wir haben das Jahr 2018 …«, begann das Mädchen zu erklären.
Lena unterbrach sie. »Das Jahr? Wir haben das Jahr 2018? Oh mein …« Lena wurde es schwarz vor Augen. Ohnmächtig sank sie zu Boden.
5
Henri konnte nicht glauben, was sein Vater da erzählte. »Wir sind Zeitreisende?« Auf seinem Gesicht lag ein amüsierter Ausdruck. »Ist das jetzt so wie damals, als du mir einreden wolltest, dass wir mit dem Königshaus verwandt sind, nur damit ich besser auf meine Sachen aufpasse?«, fragte er lachend.
Statt einer Antwort holte sein Vater ein dickes, ledergebundenes Buch hervor.
»Was ist das?«, fragte Henri.
»Unsere Familie reist schon seit Jahrhunderten durch die Zeit, Henri. Hier drin ist alles festgehalten«, erklärte Victor. Er fuhr mit dem Finger über den Einband. »Aber dafür gibt es Regeln, wichtige Regeln. Und heute hast du geschafft, gegen so gut wie jede davon zu verstoßen.«
Henri streckte die Hand nach dem Buch aus, doch sein Vater schüttelte den Kopf und stellte es ins Regal zurück. Henri ahnte allmählich, dass sein Vater ihm tatsächlich die Wahrheit sagte. Victor Duquet war nicht der Typ für solche Scherze. In Henris Hals bildete sich ein dicker Kloß.
»Kann ich das alles wiedergutmachen?«, fragte Henri.
»Das kann ich dir leider nicht gestatten. Du hast keine offizielle Erlaubnis für Zeitreisen. Und du hast jetzt schon Dinge in Bewegung gesetzt, die sich nicht mehr umkehren lassen.«
Henri ließ sich auf einen Stuhl plumpsen.
Victor legte ihm den Arm auf die Schulter. »Am besten hilfst du Lena, wenn du hier in der Opéra Garnier bleibst!«
»Aber du schaffst es doch, sie zurückzuholen, oder?« Henri sah sorgenvoll auf.
»Das will ich zumindest hoffen.« Victor holte seine Tasche. Gemeinsam verließen sie das Büro. Tausend Fragen schossen Henri durch den Kopf, während sie das dunkle Treppenhaus hinabliefen. Aber er fühlte, dass es wohl besser war zu schweigen.
»Lena ist hier durch das Garnier-Portal gegangen«, sagte sein Vater schließlich, als sie bei der schweren Eisentür angelangt waren. »Allerdings bedeutet das nur, dass wir wissen, wo sie gelandet ist, aber nicht wann.«
Er zog eine goldene Taschenuhr hervor und betrachtete eingehend das Zifferblatt.
»Wie meinst du das?«, wollte Henri wissen.
»Nun, sie könnte im Jahr 1975 angekommen sein oder im Jahr 2030. Von unserer Seite aus gibt es leider keine Möglichkeit, durch den Zeitstrudel zu sehen. Aber ich werde mich auf die Suche nach ihr machen.«
»Da ist noch eine Sache, die du unbedingt wissen solltest!«
»Was«, sagte Henri, »sag bitte nicht, dass wir auch noch Vampire sind!«
Henri nickte entschuldigend.
»Was wollen diese Zeitsammler?«
»Was sind Zeitmesser?«, setzte Henri an, doch sein Vater schnitt ihm das Wort ab: »Keine Zeit für Erklärungen. Ich muss gehen, bevor sich das Portal schließt.«