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Vollständige E-Book-Ausgabe der im Rosenheimer Verlagshaus erschienenen Originalausgabe 2012

© 2016 Rosenheimer Verlagshaus GmbH & Co. KG, Rosenheim
www.rosenheimer.com

Titelbild: Die Bildertruhe Karin Naulin und Partner, Ainring; Fotograf: Heinz Ehrenkäufer
Lektorat: Dr. Elisabeth Hirschberger, München
Satz: SF-Design GmbH, Stefan Felder, Rosenheim

eISBN 978-3-475-54530-6 (epub)

Worum geht es im Buch?

Rosalie Linner

Mein Leben als Landhebamme

Rosalie Linner hat mit ihren beiden Büchern „Tagebuch einer Landhebamme“ und „Als Landhebamme unterwegs“ viele begeisterte Leserinnen und Leser gefunden.

Ihr drittes autobiografisches Werk enthält neue, bisher unveröffentlichte Texte über ihre Arbeit als Landhebamme. Die Autorin schildert darin nicht nur die Freuden und Leiden, sondern auch die Tücken, die ihr oft gar nicht einfacher Beruf mit sich brachte. Wir erfahren auch eine Menge über die Menschen, mit denen sie zu tun hatte, ebenso wie über die einfachen Lebensverhältnisse, über problematische und glückliche Ehen und natürlich über die vielen Kinder, denen Rosalie Linner zum Leben verhalf.

Ein Buch, das unterhaltsame Lektüre und zeitgeschichtliches Dokument zugleich ist.

Inhalt

Vorwort

Ein Albtraum

Verhängnisvolle Liebe

Wo bleibt der Stammhalter?

Endlich ein Bub?

Ende gut, alles gut?

Zu viel des Guten

Unvernunft tut selten gut

Macht Reichtum glücklich?

Arm an Geld, reich an Kindern

Innerlich arm

Herzenskälte

Immer nur Kälte

Mehr Glück als Verstand

Wer zu spät kommt

Wer kann hier Recht sprechen?

Lügen haben kurze Beine

Rein vor Gott und den Menschen

Göttlicher und menschlicher Beistand

Zwischen Himmel und Erde

Komik und Tragik

Tragik

Ausgleichende Gerechtigkeit

Schlusswort

Vorwort

1943. Eine Bombennacht in einem Luftschutzkeller in Frankfurt am Main: Enge, Angst und die Detonationen in nächster Nähe . Es ist die Nacht, in der die damals 25-jährige Rosalie Linner ein Erlebnis hat, das prägend für ihr weiteres Leben wird: In einer Ecke des Kellers liegt eine junge Frau in den Wehen . Linner, die damals außer einem Erste-Hilfe-Kurs keinerlei einschlägige Vorkenntnisse hat, hilft und tut instinktiv das Richtige . Inmitten von Zerstörung und Tod kommt ein gesundes Kind zur Welt.

Einige Jahre später, in den mageren Zeiten bald nach dem Krieg, hat die energische Geburtshelferin von Frankfurt ihre Berufung zum Beruf gemacht. Es sind noch etliche Hürden zu überwinden, ehe die gebürtige Bayerwäldlerin schließlich in Oberbayern die begehrte Niederlassungserlaubnis als Landhebamme bekommt

Fast vier Jahrzehnte lang ist sie von da ab unterwegs, um Kindern zum Leben zu verhelfen . Oft in abgelegenen Gehöften, bei Wind und Wetter, zunächst viele Jahre noch mit dem Fahrrad. Sie muss immer wieder improvisieren, wenn es unerwartete Komplikationen bei der Geburt gibt und, mangels Telefon und Auto, keine Möglichkeit besteht, noch rechtzeitig einen Arzt herbeizurufen

Für die einfachen Leute, mit denen sie vielfach zu tun hat, ist sie nicht nur Geburtshelferin, sondern auch Seelentrösterin und oft genug Doktor-Ersatz . So erhält sie einen tiefen Einblick in deren Lebensumstände, ihre Nöte und Sorgen, ihre großen und kleinen Freuden, ihre Sehnsüchte und Ängste . Sie bekommt aus nächster Nähe mit, ob ein Kind mit Freude erwartet wird oder unerwünscht ist, sie erfährt von Eheschwierigkeiten, von enttäuschter Liebe und von Reibereien mit den Eltern, den Schwiegereltern oder der Verwandtschaft. Echte Religiosität und tiefes Gottvertrauen erlebt sie ebenso wie manchmal geradezu kuriosen Aberglauben, Misstrauen oder Gleichgültigkeit gegenüber dem eigenen Mann oder der Frau ebenso wie bedingungslose Liebe und Anhänglichkeit an den Partner.

Es versteht sich von selbst, dass eine solche Frau viel zu sagen hat. In ihren beiden Büchern »Tagebuch einer Landhebamme« und »Als Landhebamme unterwegs« hat sie Episoden aus ihrer langjährigen Berufspraxis erzählt und uns dabei immer wieder auch Anlass zum Nachdenken über uns selbst und über unsere Zeit gegeben . Die große Resonanz, die diese beiden Werke gefunden haben, haben Rosalie Linner und uns ermutigt, ein drittes Buch dieser Art in Angriff zu nehmen – mit neuen, bisher unveröffentlichten Geschichten Es lässt vor unseren Augen ein anschauliches Bild vom Wirken einer Landhebamme in den Nachkriegsjahren, der Wirtschaftswunderzeit und in den Tagen entstehen, als im Zeichen des medizinischen Fortschritts – oder einfach eines modischen Trends? – Hausgeburten zur Seltenheit wurden .

Der Verlag

Ein Albtraum

Es war das Los der Landhebamme und damit auch das meine, sich immer bereitzuhalten, um jedem Abruf Folge leisten zu können, auch wenn der Hilferuf bewusst oder unbewusst vorgetäuscht war. Sei es am Tag oder bei Nacht, bei Sturm oder Gewitter, es gab kein Pardon, selbst wenn der Abruf zu einer Zeit kam, die höchst ungelegen war.

Es war ein heißer Sommertag, die Luft flimmerte schon am Morgen und alle Anzeichen deuteten darauf hin, dass heute ein kräftiges Gewitter kommen würde, das sich voraussichtlich gegen Abend entladen wird. Ich verabschiedete mich gerade von der Huberin am Holz, die heute ihr drittes Kind bekommen hatte, als die ersten Gewitterwolken im Westen heraufzogen. »Jetzt kommst grad noch rechtzeitig heim, bevor es das Regnen anfängt«, meinte besorgt die Huberin.

»Das wird heute ein arges Gewitter, weil die Viecher so damisch sind«, prophezeite der Huber am Holz, »und die Ross’, die führn sich auf, als wenn sie verrückt wärn. «

Ich trat kräftig in die Pedale meines Fahrrades, um vor dem Gewitter, das immer näher heranrückte, noch heimzukommen. Eine Ringelnatter kroch quer über die Straße und verschwand im Gebüsch; sie spürte wohl auch die kommende Gefahr.

Schnaufend erreichte ich mein Zuhause, froh, ein schützendes Dach über meinem Kopf zu haben, wenn sich das Unwetter entlädt. Müde von der anstrengenden Strampelei, freute ich mich, daheim zu sein, ein wenig Ruhe zu haben. Doch diese Freude war von kurzer Dauer, denn das Telefon klingelte. »Du musst gleich zu der Daxbergerin auf den Brandberg kommen, soll ich dir ausrichten.« Es war die Wirtin vom Stempfl, die mir diese Nachricht übermittelte. Um die Wichtigkeit dieser Botschaft zu unterstreichen, fuhr sie fort: »Die alte Daxbergerin war da, ganz aufgeregt war sie, weil es bei ihrer Schwiegertochter, der Emmi, so weit ist. Sie hat sich gleich wieder auf den Weg gemacht, weil das Wetter schon hinten steht und nass werden möcht sie auch net, hat s’ gemeint.«

»Komm, wir müssen fort, wir zwei, wenn’s auch schwer fällt«, sagte ich zu meinem treuen Drahtesel, mit dem ich gelegentlich geheime Zwiegespräche hielt. Der Weg führte über eine steinige, holprige Straße, über furchige Wiesenwege, bis mich der Wald aufnahm. Bald fielen die ersten schweren Tropfen. Ich kam an der Waldlichtung an, von wo aus man den Brandberg vor sich hatte. Der hatte mir schon des Öfteren Kummer bereitet. Es regnete jetzt in Strömen und gleichzeitig setzte ein Tosen und Brausen ein, Sturm und Regen peitschten um mein Gesicht, Blitz und Donner lehrten mich das Fürchten. Alle Naturgewalten schienen losgelassen. Ich bemühte mich mit aller Kraft, vorwärts zu kommen, um den schützenden Wald zu erreichen, der den tobenden Sturm wenigstens teilweise von mir abhielt. Da fiel mit einem furchtbaren Krach hinter mir ein großer Baum, abgeknickt von dem heftigen Sturm, auf den Waldweg, der nun hinter mir blockiert war. Bald darauf noch einmal dieser ohrenbetäubende Lärm. Ein zweiter Riese fiel etwas weiter vorne ebenfalls auf den Weg, den ich unbedingt nehmen musste. Ich konnte weder vor noch zurück. Auch ein Ausweichen zur Seite war nicht möglich wegen dem steilen Berghang auf der einen und dem Abgrund auf der anderen Seite. Ich war eingesperrt. Mit dem Fahrrad gab es kein Weiterkommen mehr. Ich musste sehen, wie ich zu Fuß den höchsten Punkt des Brandberges erreichen konnte. Den Hebammenkoffer hielt ich fest in meiner Hand, musste aber dann feststellen, dass ich beide Hände freihalten musste, um überhaupt vorwärts zu kommen. Mit dem Riemen, mit dem ich diesen für mich wichtigsten Gegenstand am Fahrrad festschnallte, nahm ich den Koffer über meine Schultern und versuchte unter Sturm, Donner und Blitz, und manchmal auch auf allen Vieren, die steilere Abkürzung den Berg hinaufzukommen Völlig durchnässt erreichte ich das Plateau und bald das kleine Häusl der Daxbergers, in dem eine werdende Mutter vermutlich ängstlich und ungeduldig auf mich wartete.

Bei meinem Anblick hörte ich die alte Daxbergerin ausrufen: »Du bist ja nass wie ein Hund«, als ich die Kleidung unter dem Vordach des Hauses ausschüttelte. »Das ist aber auch ein Sauwetter wie selten eines«, stellte die Daxbergerin anschließend fest und meinte gutmütig: »Geh hinein in die Stube, setz dich nieder und schnauf dich aus, pressieren tut’s eh net!«

Ich höre wohl nicht richtig, überlegte ich, ich werde diesen schwierigen Weg doch nicht umsonst gemacht haben. Die alte Daxbergerin kannte ich schon lange und wusste, dass ihr Gerede häufig ein wenig wirr, zusammenhanglos und ohne rechten Sinn war. Ich betrat eine geräumige Stube, die zu ebener Erde lag, und wusste einen Augenblick lang nicht, was ich sagen sollte. Ich vergaß sogar den Gruß, den die Höflichkeit normalerweise erfordert. Statt eine werdende Mutter vorzufinden, die mit heftigen Wehen kämpfte, sah ich die Emmi am Nudelbrett mit kräftigen, flinken Armen einen Teig verarbeiten, der, wie es schien, mühelos durch ihre Hände ging. Man konnte ihr ansehen, mit wie viel Begeisterung sie diese Arbeit tat, als sie eine Teigkugel nach der anderen auf dem Nudelbrett anordnete. Lachend sah sie mir entgegen, ab und zu eine Haarsträhne aus ihrem Gesicht wischend, um sich dann wieder hingebungsvoll ihrem Teig zuzuwenden. Meinen Ärger, meine Enttäuschung schien sie nicht zu bemerken, als sie zu sprechen begann: »Hast bestimmt gemeint, ich krieg heute schon mein Kind, wie dich die Stempfl-Wirtin antelefoniert hat, aber die Mutter hat auch gemeint, es ist besser, wenn wir dich holen lassen, auch wenn’s noch net so weit ist, weil ich noch nix spür.«

Nur mühsam fand ich meine Sprache wieder. Der Ärger über das Verhalten dieser beiden Frauen war tief, wenn ich an die Strapazen dachte, die hinter mir lagen. »Da jagst du mich bei diesem Wetter auf den Brandberg, einfach so, weil es dir Spaß macht?«, fragte ich verärgert. Meinen Zorn musste sie inzwischen bemerkt haben, als sie einlenkend antwortete: »Nix für ungut, aber umsonst hätt ich dich net holen lassen.« Gespannt wartete ich auf eine Erklärung der Emmi, die nun doch etwas schuldbewusst dreinschaute. Sie sagte: »Heute ist mir etwas ganz Furchtbares passiert.« Dabei bekreuzigten sich die beiden Frauen, als ob sie noch im Nachhinein die bösen Geister verscheuchen müssten. Emmi unterbrach ihre Arbeit, als sie mir die mysteriöse Geschichte erzählte, in der ein Pfefferstreuer eine wichtige Rolle spielte und sie in Angst und Schrecken versetzte. »Heut Nacht hab ich geträumt, du bist zu mir auf den Brandberg net raufkommen, als ich dich gebraucht hätt. Das allein ist ja schon ein Unglück. Die Angst in der Nacht, die war grausam, und dann in der Früh ist mir das passiert: Ich hab das Pfefferbüchsl umgekippt und der Pfeffer hat sich auf dem Tisch und auf dem Boden verteilt; ist das net schrecklich?«

Betroffen und schweigsam hörte die alte Daxbergerin die Erzählung ihrer Schwiegertochter an, der jedes Lächeln aus dem Gesicht entschwunden war. Stattdessen bildeten sich zwei steile Falten auf ihrer Stirn, die Angst und Unsicherheit ausdrückten. Still stand sie vor mir, die Emmi, noch ganz unter dem Eindruck des Geschehenen und in Erwartung des bevorstehenden Unglücks, das über die Daxbergers kommen wird.

Ein Pfefferstreuer, überlegte ich. Deswegen eine solche Aufregung. Von meiner Schinderei ganz zu schweigen. Es war, als ob mich der Brandberg immer wieder schikanieren wollte; des Öfteren hatte ich schon Probleme mit ihm gehabt.

Nach dem ausführlichen Bericht der Emmi saßen nun beide Frauen mit ihren Gedanken beschäftigt auf ihren angestammten Plätzen in der Stube. Sie sahen ihr kleines Glück in dem bescheidenen Häusl aufs Äußerste bedroht, und man konnte dieser Bedrohung nichts entgegensetzen, denn gegen höhere Gewalt gab es keine Hilfe.

Der Aberglaube ist in diesen Menschen tief verwurzelt, und ganz besonders in denen, die in der Einsamkeit leben. Gegen diese Einstellung kann man nicht angehen, mit keinem Argument, mit keiner logischen Erklärung. Vorstellungen, die seit Generationen Gültigkeit haben, kann man mit Worten allein nicht abtun. Man muss die Gedanken, die das Innere dieser Menschen bewegen, verstehen lernen. Der zutiefst verwurzelte Aberglaube dieser beiden Frauen war die logische Erklärung für ihr Verhalten.

Die Emmi wischte sich in Gedanken an die vorangegangenen Ereignisse den Schweiß von der Stirn und erwartete von mir einen Trost, eine Erklärung, eine Hilfe, was auch immer. Vergessen war für Emmi der Nudelteig, der auf seine weitere Verarbeitung wartete. Sie gab sich weiter ihren trüben Gedanken hin, die sie, wie zu sehen war, erheblich belasteten. Wir hatten ein langes Gespräch, bei dem auch die alte Mutter aufmerksam zuhörte. Ich versuchte, ihr diesen Aberglauben auszureden, der in Anbetracht ihres Zustandes keine gute Voraussetzung für die Geburt ihres Kindes sei. Sie sollte sich mit guten, positiven Gedanken beschäftigen, die auch ihrem Kind zugute kommen könnten, erklärte ich ihr.

Emmi war eine aufmerksame Zuhörerin und, wie ich meinte, etwas getröstet. Zwischen den Gesprächen kamen jedoch immer wieder Zweifel, ob meine Worte glaubhaft seien, denn schon die Großeltern hatten gewusst, dass solche Zeichen Vorboten von Unglück sind. »Du meinst, dass das net stimmt, was meine Großmami allerweil gesagt hat, das mit dem Pfefferbüchsl, mein ich?« Gespannt wartete die Emmi auf meine Antwort.

»Das ist Aberglaube, Emmi«, versicherte ich ihr, »du solltest dich nicht an diese Weissagungen halten, denn nur deiner Ungeschicklichkeit ist es zuzuschreiben, dass dieses Malheur passiert ist. «

Inzwischen hatte sich die Natur draußen etwas beruhigt, es regnete nur noch leicht, sodass ich einen besseren Heimweg erwarten konnte. Mit ein paar tröstenden Worten verabschiedete ich mich von Emmi, als die alte Daxbergerin zur Tür hereinkam, deren Abwesenheit ich erst jetzt bemerkte. »Möchtest schon gehn?«, fragte sie. »Nix für ungut«, entschuldigte sich auch die Mutter, »dass wir dich bei dem Sauwetter da heraufgesprengt haben. Aber wir haben halt Angst gehabt, wir zwei. Mein Bub, der Michi, der ihr Mann ist«, dabei zeigte sie auf Emmi, die immer noch zweifelnd meinen Worten zuhörte, »der wird uns richtig schimpfen, wenn er heimkommt und erfährt, dass wir dich wegen dem ausgeschütteten Pfefferbüchsl auf den Brandberg raufgeholt haben, und noch dazu bei dem Sauwetter«, wiederholte sie sich. Sie wirkte ein wenig schuldbewusst, aber doch zufrieden, dass ich die Emmi in ihren seelischen Nöten nicht allein gelassen habe. Ein wenig gebückt, mit bloßen Füßen, ihr Kopftuch, das sie tief in ihr Gesicht gezogen hatte, voller Laub und Tannennadeln, so, als käme sie gerade vom Wald, stand sie mir klein und müde gegenüber. Ihre Hände zitterten ein wenig, als sie mir eine bunte Blechschüssel reichte mit den Worten: »Das hab ich noch geschwind vom Wald für dich reingeholt, damit du net ganz umsonst da raufkommen bist … und bei dem Wetter.«

»Dann sag ich halt Vergelt’s Gott. « Herrlich frische Steinpilze in allen Größen waren es, die die alte Daxbergerin für mich im nahen Wald gesucht hatte. Diese so liebenswerte Geste berührte und beschämte mich gleichermaßen. Im Stillen schämte ich mich über meinen Ärger, als ich die Dankbarkeit dieser in der Abgeschiedenheit lebenden Menschen sah, die außer ihrem Glauben an Gott auch ihren Aberglauben lebten.

Nach mehreren Wochen rief man mich wieder auf den Brandberg; dieses Mal war der Ruf nach mir gerechtfertigt. Die Emmi erwartete mich schweißtriefend, mit großen, ängstlichen Augen. Ich kannte den Grund ihrer Angstgefühle, denn der verschüttete Pfeffer spukte, wie zu sehen war, immer noch in ihrem Kopf.

»Meinst, es wird gut gehen?«, fragte sie mich des Öfteren. Ihre Zweifel waren deutlich in ihr Gesicht geschrieben.

»Natürlich wird es gut gehen«, antwortete ich auf die immer gleiche ruhelose Frage. »Du bist gesund und was die Geburt angeht, ist alles in Ordnung, mach dir keine Sorgen. Oder denkst du immer noch an den verstreuten Pfeffer von damals?«

Emmi schwieg zu dieser Frage.

Da wusste ich mit Bestimmtheit, dass diese Begebenheit in ihrem Inneren immer noch lebte. Nach mehreren Stunden, welche die Emmi in Unsicherheit und Sorge verbrachte, kam das mit Ungeduld und verhaltener Freude erwartete Kind zum Leben. Die Nabelschnurumschlingung um den Hals des Kindes, die in diesem Fall aber keine akute Bedrohung für das Kind gewesen ist, war eine Abweichung vom Normalen, die manchmal zu Schwierigkeiten im Geburtsverlauf führen kann. Doch dieses kleine Mädchen hatte alles gut überstanden, es lebte, und Mutter und Kind ging es bestens.

Eltern und Großmutter standen staunend vor dem kleinen Wunder, das allen Unkenrufen zum Trotz frisch und gesund war. Die Abweichung im Verlauf der Geburt, die man nie ganz ausschließen kann, verschwieg ich den Eltern gegenüber. Emmi hätte sie mit Sicherheit dem verschütteten Pfeffer angelastet. Niemand erfuhr etwas davon, denn manchmal ist Schweigen die bessere Lösung. Nur mein Tagebuch kennt diese Wahrheit. Hier kam es mir wieder so recht zu Bewusstsein, dass Aberglaube die Menschen bis ins tiefste Innere erfassen kann, wofür auch echte Religiosität kein Hinderungsgrund ist.

Verhängnisvolle Liebe

Es war nichts Ungewöhnliches, besonders im ländlichen Gebiet, dass ein unehelich geborenes Kind zwar unerwünscht war, aber doch angenommen wurde, weil es nun einmal da war. Kam gelegentlich ein zweites, ebenfalls unehelich geborenes Kind dazu, so gab es nicht nur vermehrten Ärger, Schwierigkeiten und böse Worte, die kein Ende nehmen wollten. Vor allem war der gute Ruf der jungen, unehelichen Mutter dahin und die Heiratschancen waren sehr gering geworden. Kam es dann doch noch zu einer Heirat, so verhießen solche Verbindungen nichts Gutes. Wie oft hörte ich: »Wär ich doch allein geblieben mit meinen Kindern!« Immer wieder beklagten sich diese Mütter, wenn sich der Ehemann als äußerst schwierig erwies und die Vorwürfe über die »ledigen Bankerten« kein Ende nehmen wollten. Kam dann noch dazu, dass diese Kinder Schläge statt Zuwendung von ihrem Stiefvater bekamen, so war das für die Mutter ein seelisches Trauma. »Ich muss trotz allem schweigen«, hieß es dann, »er hat mir und den Kindern ein Zuhause gegeben. «

Ein solches Zuhause ist aber eine fragwürdige Angelegenheit, es fehlt etwas ganz Entscheidendes: die Liebe, die gegenseitige Zuneigung, das Dasein füreinander. In solchen Familien sah ich meist verstörte Kinder, traurige, verängstigte Jugendliche, die zwar ein Dach über dem Kopf, aber keine eigentliche Heimat hatten. Kamen dann noch eigene Kinder dazu, so wurden deutliche Grenzen gesetzt: hier die Eigenen, dort die Fremden, die Unerwünschten, die man zwangsläufig dulden musste. Ich erlebte dieses Trauma immer wieder, auch wenn nach außen hin Harmonie demonstriert wurde. Die großen Kinderaugen erzählten oft von unausgesprochenem, tiefem Leid. Es war mir häufig unverständlich, wie sich manche dieser Mütter duckten, stillhielten gegenüber ihren Ehemännern, keinen Widerspruch kannten und ständig in der Furcht lebten, eventuellen Ausschreitungen begegnen zu müssen.

Es war die Zeit des Aufschwunges. Der Krieg hatte seine Spuren hinterlassen, aber es gab berechtigte Hoffnung auf ein neues, besseres Leben. Auch auf dem Land wurde der Umbruch zum Besseren sichtbar. Der Bauernstand holte mit neuen, modernen Arbeitsgeräten auf, Haus und Hof wurden modernisiert, die Arbeit wurde erleichtert. Auf meinen Dienstwegen nahm ich diese Veränderungen mit Bewunderung und Staunen war. Ein neues Zeitalter war im Kommen.

Vroni, die langjährige Stütze der verwitweten Stetterbäuerin, die kein Dienstbote im eigentlichen Sinn war, sondern die zum Hof und zur Familie gehörte, wurde von allen, die sie kannten, als Stetter-Vroni geschätzt und geachtet. Eine tüchtige, umsichtige junge Frau, die ihre ganze Kraft in diesem Hof einsetzte, so, als sei er ihr eigener. Vroni dachte nicht an Heirat, wie es schien, sie war mit ihrem Leben auf dem Stetterhof zufrieden, für den sie von früh bis spät rackerte. Hin und wieder gab es Bewerber, aber zu einer festen Bindung kam es nicht.

Jahre vergingen und plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie sich den Dreißigern näherte und dass es Zeit würde, einen eigenen Hausstand zu haben. Mit einem Mal sah die Vroni, dass sie die besten Jahre ihres Lebens nicht genutzt hatte, dass sich nun keine Bewerber mehr fänden, die sich um sie bemühen würden. Ihre Heiratschancen waren trotz ihrer Tüchtigkeit gering geworden.

Aber dann kam die Wende im Leben der Vroni und – wie ich meine – eine schicksalhafte, folgenschwere Wende, der sie nicht entgehen konnte, nicht entgehen wollte. Ein junger Mann, der in einem nahe gelegenen Betrieb arbeitete, bemühte sich um sie, besser gesagt, verfügte über sie, weil er außer finanziellen Vorteilen noch anderes erwarten konnte. Vroni, die nun im Hochgefühl einer nie gekannten Liebe lebte, war in ihr gefangen. Auf alle wohlgemeinten Warnungen der besorgten Bäuerin achtete sie nicht, sie war wie verzaubert, sie war nicht mehr sie selbst.

Ein Jahr verging. Für Vroni war es ein Jahr höchsten Glücks, aber auch tiefer Sorgen. An einem regnerischen Tag begegnete sie mir, als ich von einer Wochenpflege kam, und um mit mir sprechen zu können, hielt sie mich an. Ich hatte richtig vermutet: Vroni wird in einigen Monaten meine Hilfe brauchen. Ihr sonst so klarer Blick wirkte müde, die ersten Fältchen bildeten sich um Mund und Augen, sie wirkte älter, als sie in Wirklichkeit war. Ihre einst so helle, lebensfrohe Stimme war gedämpft und unsicher. Vroni, diese liebenswerte, junge Frau, die ich von früher her kannte, hatte sich verändert, sie war eine andere geworden. Ich erfuhr von ihr, dass sie von Konstantin dieses Kind erwarte und dass er eine Heirat vor der Geburt dieses Kindes, die sie sich so sehr gewünscht habe, abgelehnt hätte. »Ich muss es hinnehmen, obwohl es mich sehr bedrückt«, sagte sie verbittert. Einige Monate nach diesem Gespräch wurde ein gesunder Bub geboren und Vroni nahm ihn liebevoll in ihre Arme und streichelte sein nasses Köpfchen. Ihre etwas herben Gesichtszüge wurden dabei weich, warm, mütterlich. Den Namen des Kindes bestimmte allein die Vroni, weil sich Konstantin nicht sehen ließ. Sie nahm dies ohne Widerspruch hin. Auch sonst sprach sie nicht über den Kindesvater und sein Verhalten. Konnte sie nicht oder wollte sie nicht? Das war schwer zu beantworten, denn Vroni wollte niemandem Einblick in ihr Inneres geben.

Nach einer Woche brachte ich die Mutter und ihr Kind aus dem Krankenhaus auf den Stettnerhof zurück. Die mütterliche, warmherzige Bäuerin hatte für den Empfang der beiden alles mit sehr viel Sorgfalt vorbereitet. »Meine Kinder sind eh schon groß und genug Platz haben wir auch. Es wird schon gehen«, meinte diese gütige Frau zu mir. Wieder einmal war ich froh, dass ein ungewolltes Kind ein echtes Zuhause gefunden hatte.

Zu Vroni meinte ich abschließend: »Wäre es nicht besser, du würdest dich von diesem Mann trennen? Sein Verhalten gefällt mir nicht. Und was das Kind angeht, kann es hier unter so guten Bedingungen aufwachsen. Du bist auf diesen Mann nicht angewiesen. Es ist sehr fraglich, ob sich Konstantin nach einem zweiten Kind, mit dem du nach großer Wahrscheinlichkeit rechnen musst, zu einer Heirat entschließen wird.« Vroni sah mich an und sagte mit fester Stimme: »Konstantin und das Kind gehören zu mir, daran wird sich nichts ändern.«

Vroni ging wieder ihrer Arbeit auf dem Stetterhof nach und versorgte zusammen mit der Bäuerin ihr Kind, das gut gedieh und keinerlei Sorgen machte. Konstantin ließ sich immer weniger sehen, seine Besuche wurden immer rarer und das Interesse für sein Kind war, wenn überhaupt, gering. Seinen Urlaub verbrachte er weitab von Vroni und seinem Sohn.