HÅKAN NESSER

Das unerträgliche
Weiß zu Weihnachten

und andere winterliche Morde

1. Auflage

Deutsche Erstveröffentlichung
dieser Zusammenstellung von Kurzgeschichten

November 2014

Copyright © by Håkan Nesser

Copyright © »Eine unwahrscheinliche Begegnung«
by Håkan Nesser & Henning Mankell

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2014

by btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: semper smile, München

Umschlagmotiv: Masterfile / Freeman Patterson

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

RK · Herstellung: sc

ISBN 978-3-641-14658-0

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Herr Kadar

Shit happens

Eine unwahrscheinliche
Begegnung

Wie ich meine Tage
und Nächte verbringe

Das unerträgliche Weiß
zu Weihnachten

Herr Kadar

1

Am Nachmittag des 18. Dezembers flogen wir von Daressalam nach Mafia.

Es war eine kleine, zwölfsitzige Maschine der Fluggesellschaft Coastal, die alle Inseln vor der tansanischen Küste anfliegt, und wir waren insgesamt elf Passagiere. Außer uns waren dies noch ein Quartett von Italienern im Alter von etwa sechzig Jahren, zwei Männer, zwei Frauen – die Frauen redeten ununterbrochen, vor allem die eine, die klein war, schwarze Haare hatte und eine Sonnenbrille trug, die fast ihr ganzes Gesicht bedeckte –, ein etwas jüngeres deutsches Paar, das allem Anschein nach in den Flitterwochen war, und zwei englische Frauen beginnenden mittleren Alters; zumindest setzten wir voraus, dass sie Engländerinnen waren, da sie Englisch mit einem Akzent sprachen, der einen augenblicklich an Oxford und Cambridge denken ließ.

Sowie Herr Kadar.

Wir hatten seinen Namen aufgeschnappt, weil er vor uns in der Schlange gestanden hatte, als wir auf dem Flughafen von Daressalam an Bord der Maschine gegangen waren. Er war groß und drahtig, hatte kurze, graue Haare und war so braungebrannt, als hätte er sich schon länger auf diesem Kontinent aufgehalten. Er schien um die fünfzig zu sein und unterschied sich von der restlichen Gruppe vor allem durch seine Kleidung. Sowohl die Italiener als auch die Deutschen und Engländerinnen hatten sich, wie wir selbst auch, umgezogen und luftigere Kleidung angelegt. Dünne Kleider, Shorts, Sandalen, nur der uns allen gemeinsame bleiche Teint verriet, dass wir uns bis vor Kurzem in einem bedeutend unwirtlicheren Klima aufgehalten hatten.

Herr Kadar dagegen war mit einem dunklen Anzug bekleidet; sein weißes Hemd trug er zwar offen, aber da die Temperatur bei unserer Landung auf dem schlichten Flugplatz von Mafia mitten in der schlimmsten Nachmittagshitze sicherlich über dreißig Grad betrug, stach er von Anfang an ein wenig heraus.

Schwarze, schon leicht staubige Halbschuhe und Strümpfe.

Die Hitze machte ihm jedoch nichts aus. Während wir auf den Jeep warteten, der uns quer über die Insel bringen sollte, konnten wir feststellen, dass kein einziger Tropfen Schweiß auf seine Oberlippe oder seine ernste Stirn getreten war. Die italienischen Damen ächzten laut und wedelten sich mit improvisierten Fächern gegenseitig Luft zu; die junge Deutsche verschwand in einer Art Toilette und zog eine noch dünnere Bluse an, und die Engländerinnen hatten von der Hitze bereits hochrote Köpfe bekommen.

Einzig Herr Kadar stand kerzengerade und unbeeindruckt in dem schmalen Schattenstreifen unter dem vorschießenden Dach und las in einem dicken Buch. Wir fragten uns, woher er wohl kommen mochte. Welche Nationalität er besaß.

Sein Nachname kam uns vage bekannt vor, und wir beschlossen, dass er Ungar war. Bislang hatte er jedoch mit keinem aus unserer Gruppe ein Wort gewechselt, so dass wir uns unserer Sache fürs Erste nicht sicher sein konnten.

Die Fahrt zu der kleinen Ferienanlage Pole Pole führte über eine holprige, streckenweise schwer befahrbare Schotterpiste und dauerte eine gute halbe Stunde. Wir kamen durch zwei Dörfer, in denen Kinder an der Straße standen, uns zuwinkten und lachend »Jambo msungu!« riefen. Außerdem waren am Straßenrand überall Menschen gemächlichen Schrittes unterwegs, mit oder ohne Lasten auf dem Kopf; manche grüßten unseren Fahrer, der Ben hieß und zwei Mal anhielt, um Leuten, die ihn bereits erwarteten, Dinge zu übergeben. Die Vegetation war dicht und üppig, und man merkte, dass es erst kürzlich geregnet haben musste, denn es roch wie in einem Treibhaus; an manchen Stellen musste Ben beinahe in den Dschungel ausweichen, um braunen Pfützen zu entgehen. Die eine Engländerin meinte zur anderen, dies sei ungewöhnlich, da die Regenfälle normalerweise erst im März und April einsetzten.

Wir wurden an einer einfachen Rezeption unter einem Dach aus geflochtenen Bananenblättern empfangen, und während jeder von uns mit Hilfe eines Strohhalms Milch aus einer Kokosnuss trank, erklärte uns ein junges Mädchen namens Robyn die Gepflogenheiten. Wir machten einen Rundgang und schauten, wo Restaurant, Pool, Massagehütte und Bibliothek lagen, erfuhren die Essenszeiten und wurden anschließend zu unseren jeweiligen Häusern geführt; alles in allem gab es sieben, von denen wir fünf füllten, und da uns noch zwei Stunden Tageslicht blieben und die Flut gerade ihren höchsten Stand erreicht hatte, empfahl Robyn uns, vor dem Abendessen noch einen Abstecher zum Strand und Meer zu machen.

Eine halbe Stunde später lagen wir erwartungsgemäß in Liegestühlen unter schattenspendenden Sonnenschirmen, während fünf Meter unterhalb unserer Füße leise der Indische Ozean plätscherte.

Wir selbst. Die Italiener. Das deutsche Paar und die Engländerinnen.

Darüber hinaus ein Paar, das nicht in unserem Flugzeug gewesen war und das wir rasch als Holländer identifizierten.

Alle, nur nicht Herr Kadar.

Das Abendessen war ausgezeichnet. Vier Gänge, Fisch und Schalentiere und große Mengen an Gemüse, alles zubereitet von zwei einheimischen Köchen, und fast alle Zutaten stammten von der Insel oder aus dem Meer. Sauvignon Blanc aus Südafrika. Wir saßen auf der unteren von zwei einfachen Terrassen, und zum Nachtisch tauchte ein Herr namens Massimo auf. Er ging von Tisch zu Tisch, um sich zu vergewissern, dass wir uns wohlfühlten. Dabei stellte sich heraus, dass er der Besitzer der gesamten Anlage war, und er erzählte uns, dass es ihm ein Anliegen gewesen sei, die Ressourcen zu nutzen, die man in den Dörfern und auf der Insel vorfinde. Dies gelte für die Angestellten, dies gelte für die Speisekarte, dies gelte für die Materialien in allen Gebäuden, die sich in der Tat in einer unerhört schlichten und geschmackvollen Weise in ihre Umgebung einfügten.

»Ich liebe wirklich jeden, der hier arbeitet«, bekannte er. »Ich hoffe, Ihnen wird es genauso ergehen. Sie bleiben also über Weihnachten, genau wie …« Er machte eine Pause und schaute sich um. »… ja, genau wie alle anderen hier Anwesenden abgesehen von Herrn und Frau deVries, die in zwei Tagen heimreisen werden. Sie werden einander also mit der Zeit kennenlernen. Aber jetzt möchte ich Sie nicht länger beim Essen stören. Zum Dessert darf ich Ihnen übrigens den süßen Wein von Madagaskar empfehlen.«

Wir sahen uns an und lächelten. Warfen Blicke zu den anderen Tischen und dachten, dass man selten eine so große Ansammlung durchgängig glücklicher Menschen antraf. Der erste Abend auf einer kleinen Insel im Indischen Ozean, nun gut, die Holländer würden natürlich bald abreisen, sahen aber trotzdem nicht sonderlich traurig aus.

Herr Kadar saß mit seinem Buch alleine an einem Tisch. Er hatte Schuhe und Strümpfe ausgezogen und trug nun einen leicht zerknitterten Leinenanzug. Wir einigten uns darauf, dass er zwar ernst, aber nicht unbedingt unglücklich aussah. Sein Tisch war für zwei Personen gedeckt, und mitten darauf stand in einer Vase eine einsame Rose. Wir fragten uns, ob er jemanden erwartete oder ob er dort saß und sich an jemanden erinnerte, den er verloren hatte.

»Er spricht nur Ungarisch, sonst nichts.«

Eine der Engländerinnen, Mary Simpson, wusste dies beim Frühstück am nächsten Morgen zu berichten. Ihre Freundin war im Übrigen gar keine Engländerin, sondern auf einer Farm in Tansania geboren und aufgewachsen. Ihre Vorfahren waren jedoch Briten gewesen, und sie selbst hatte fünf Jahre in Oxford verbracht, wo sie Mary kennengelernt hatte. Es war fast zwanzig Jahre her, dass sie ihre Examen abgelegt hatten, aber sie hatten niemals den Kontakt zueinander verloren, obwohl sie mittlerweile mehr als achttausend Kilometer voneinander entfernt lebten. Es war so, wie Massimo es uns prophezeit hatte. Wir lernten einander schon kennen. Ihre Freundin hieß Bridget Somerset und hatte sich entschlossen, vor dem Frühstück eine Runde schwimmen zu gehen, und deshalb hatte sich Mary kurz an unserem Tisch niedergelassen.

»Oh je«, erwiderten wir. »Tja, dann wird das mit der Verständigung natürlich ein wenig schwierig werden. Woher wissen Sie das eigentlich?«

»Massimo, der Besitzer, hat es mir erzählt. Seine Frau kommt in ein paar Tagen, er selbst ist einer der besten Taucher der Welt.«

»Massimo?«

»Nein, Mr Kadar. Der Ungar.«

»Ein Taucher aus Ungarn? Das dürfte ziemlich ungewöhnlich sein. Das Land liegt ja nicht gerade am Meer.«

»Keine Ahnung«, erwiderte Mary Simpson und zuckte mit den Schultern, und dann tauchten sowohl ihre Freundin als auch Herr Kadar auf, wenngleich aus verschiedenen Richtungen, und unsere kurze Unterhaltung war vorbei.

Wir nahmen an diesem ersten Tag an keinem Ausflug teil. Stattdessen zogen wir es vor, uns mit der näheren Umgebung vertraut zu machen; wir gingen am Strand spazieren, am Rand eines Mangrovensumpfs vorbei und bis zu einem wesentlich längeren Sandstrand, vor dem eine Reihe von Dhaus trieben und an dem ein recht munteres Treiben herrschte. Hier gab es zudem eine etwas größere Ferienanlage als Pole Pole – das Mafia Island Resort –, zwei verschiedene Tauchcenter sowie einen kleinen, zusammengezimmerten Verschlag, der sich als Café ausgab. Wir bestellten eine Tasse Kaffee und unterhielten uns eine Weile mit dem Inhaber, der Pablo Picasso hieß und Bilder malte, die er zu lächerlich niedrigen Preisen verschleuderte. Wir schauten uns einige davon an, sie zeigten entweder langbeinige Massaifrauen oder bunte Fische. Wir erklärten, dass wir sicher auf sie zurückkommen würden.

Zum Mittagessen erschienen nur wir, die Holländer und Herr Kadar, weil alle anderen beschlossen hatten, den Tag irgendeiner Form von Aktivität zu widmen: Tauchen, Schnorcheln, ein Besuch der Nachbarinsel Chole, oder was auch immer. Wir grüßten höflich die drei anderen Gäste, und Herr Kadar erwiderte unsere Kontaktaufnahme, indem er den Hals zu einer sanften Verbeugung neigte, jedoch ohne etwas zu sagen oder unserem Blick zu begegnen. Er trug denselben Leinenanzug wie am Vorabend und las, wie die ganze Zeit schon, in demselben dicken Buch. Die Rose stand noch auf seinem Tisch, ließ aber ein wenig den Kopf hängen, und wenn man bedachte, dass die Lufttemperatur auch an diesem Tag bei etwa dreißig Grad zu liegen schien, fanden wir dies nicht weiter verwunderlich.

»Es wird interessant sein, seine Frau zu sehen. Was denkst du, wie sie ist?«

»Wie sie ist?«

»Ja.«

»Eine dunkelhaarige Schönheit mit mystischer Ausstrahlung.«

»Ich wette, dass das nicht stimmt.«

Wir gingen die Wette ein. Eine Ganzkörpermassage für den Gewinner.