Jürgen Heiducoff
Sein Traum von Harmonie
Berufssoldat-Militärattachè-Kriegsgegner-Freund Chinas
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Sein Traum von Harmonie
Wie Jura zustande kam – ein Zufall auf der Suche nach sozialer Sicherheit nach Kriegsende
Die Friedenslinde – Symbol der Harmonie
Ausgrenzung und Erziehung in einer deutsch dominierten Umgebung
Das Zerbrechen der Familie überschattet die glückliche Kindheit
Der Traum vom Land der Harmonie
Besuch im Rheinland und Reintegration im verarmten Sachsen
Gefühlte, aber spät erkannte Ausgrenzung und antideutscher Sarkasmus
Der Prager Frühling
Der Boden der Realität
Abneigung gegenüber Kriegsspielen, Lagerleben und militärischer Ausbildung
Erste weltanschauliche Orientierung
Der Ernst des Lebens im realen Sozialismus
Studium und Leben im Mutterland des Sozialismus
Akademische Ausbildung und brachiale sowjetische Militärstrategie
Dynamik der Truppenübungen statt Papiertiger schieben
Widersprüche zwischen den humanen Zielen einer kommunistischen Gesellschaft und der Tagespolitik
Balanceakt zwischen treuem Dienst und privatem Interesse
Neuanfang nach dem größten Umbruch
Die Flucht ist vorbereitet
Die Hölle Tschetschenien
Im Krieg der Nächte zwischen Pionierlager und Filtrationslager
Rückkehr und Frust eines veränderten Menschen
Kampf in Afghanistan – ohne Ende und ohne Sinn
Diplomatie und Leben an der Basis
Reisen ins Kampfgebiet
Choreografie des Terrors im Krieg gegen den Terror
Auszeit in Dubai
Leben in Kabul
Vielseitige Kontakte
Hauspersonal
Besatzermanieren
Eine uns völlig fremde Kultur im Schatten des Pamir - der Wakhankorridor
Erlebnisse einiger Freunde
Militärisches Vorgehen und Vertrauensverlust
Ausbilden und Beraten statt selbst kämpfen
Angst und radikale Auswege
Juras Reisen ins Reich der Mitte
Seine Motive
Der Flug des Falken in die gefühlte Freiheit
Ankunft in Peking, Organisiertheit, Disziplin, Sicherheit und Sauberkeit
In der Provinz
Juras Platz an der Sonne, seine Sympathien für China
Der tägliche Fleiß und der neue Mittelstand
Bildung und Erziehung
Kommunistische Partei und Gesellschaft
Religionen und Traditionen
Mentalität gewordene Traditionen
Chinesische Hochzeitskultur
Wohn- und Lebensqualität
Wachstumswahn
Falsches China – Bild in Deutschland
Zur Verkehrsinfrastruktur
Marktkultur im Kleinen
Tage- und Stundenlöhner
Besuch der großen Ausstellungshallen des Kunst-, Kultur- und Wissenschaftsmuseums Dalian
Erbe der europäischen Tradition
Individuelle Freiheiten
Weihnachtsstress
Von der Einkaufskultur bis zur Digitalisierung
Am Goldenen Strand von Dalian
Gutgläubigkeit und Harmonie in der Dynamik des Alltages
Zur Rolle von Märchen und Visionen
In der Heimat: vergebliche Suche nach einer Friedenskultur
Enttäuschungen im persönlichen Leben
Ein bescheidenes Leben im Kiez
Impressum neobooks
Widersprüchlicher, ja wirrer als im Leben des Jungen und späteren Mannes Jura kann es wohl kaum zugehen. Es ist eine Achterbahn der Ereignisse und Entscheidungen. Aber dieses Leben ist auch zielorientiert. Es ist dominiert von dialektischen Widersprüchen. Doch jeder neue Widerspruch ist zugleich auch Herausforderung – solange die Kraft reicht. Juras Erkenntnis: Widersprüche und Harmonie schließen einander nicht aus. Ergänzen sich der Traum von Harmonie mit Optimismus und Zuversicht, dann ist seine Verwirklichung greifbar nahe. Hier sollen am Beispiel des Jungen und späteren Mannes Jura Momentaufnahmen, Impressionen und Schlaglichter eines Lebens skizziert werden, die sich so oder so ähnlich zugetragen haben könnten. Es geht nicht darum, eine vergangene Realität zu spiegeln. Einige der geschilderten Episoden sind authentisch, andere frei erfunden. Hier sollen einige Aspekte eines typischen ostdeutschen Lebens im Übergang vom 20. zum 21. Jahrhundert mit all den unangenehmen Nachwehen beleuchtet werden. Juras Lebensweg soll stellvertretend für Hunderttausende Ostdeutscher stehen. Der Leser im Osten soll Parallelen zu seinem eigenen Leben erkennen, der im Westen vielleicht erstarrte Bilder und Ansichten ergänzen und korrigieren. Die Ostdeutschen haben ein spezifisches Gerechtigkeitsempfinden, ein besonderes Rechtsverständnis und eigene Auffassungen von Harmonie, wenn auch der Begriff selten gebraucht wird. Die ostdeutsche Harmonie ist nicht die Ruhe nach dem Sturm und schon gar keine statische Größe oder Zustand hierarchischen Gleichgewichtes. Sie entsteht im Ergebnis ständigen Eingehens von Kompromissen. Juras Leben beginnt im dörflichen Umfeld des sächsischen Bergbaugebietes. Wie ein Bilderbuch prägt es seine Erinnerungen. Fleiß, Sparsamkeit, aber nicht Geiz begleiten den Jungen. Die Menschen leben in Eintracht miteinander. Körperlich schwere Arbeit gehören zu ihrem Alltag. Der Alltag – das sind sechs Tage die Woche. An den Abenden sind sie erschöpft. Täglich, auch an Sonn- und Feiertagen werden die Haustiere versorgt und der Garten bearbeitet. Jura hat dabei seine spezifischen Aufgaben und Verantwortungen.Einige Leute gehen zum evangelischen Gottesdienst. Die meisten beten zu Hause oder haben den Glaube an Kirche und Gott in den Wirren von Krieg, Flucht und Vertreibung verloren.
Der westliche Teil des schönen und fleißigen Grenzlandes Sachsen ist in jenen Tagen wenige Jahre nach Ende des furchtbaren letzten Krieges besonders stark in Mitleidenschaft gezogen. Die Bombardierungen der Städte und Industrieanlagen haben ihre Spuren hinterlassen. Die Menschen sind erschöpft und traumatisiert. Doch auch Aufbruchstimmung, Hoffnung und Zuversicht entstehen. Das sind die Katalysatoren, die das Leben am Laufen halten.
Viele der Männer sind nicht von den Fronten zurück gekehrt. Andere harren und leiden noch immer in den Kriegsgefangenenlagern. Das Überleben ist hart. Die Brikettfabriken beginnen notdürftig ihre Produktion. Frauen müssen die Arbeit der fehlenden Männer übernehmen. Ihnen fällt die harte ungewohnte Schinderei sehr schwer.
In Westsachsen wechseln die Besatzer – die Amis gehen, die Russen kommen und bleiben. Wie lange, weiß keiner.
Noch immer kommen Flüchtlinge aus den deutschen Ostgebieten.
Marie – eine vertriebene deutsche Kriegswitwe aus dem Sudetengau verschlägt es mit ihrem kleinen Sohn in den Raum Borna. Da leben ihre Schwiegereltern.
Ihr Ehemann und Vater des Sohnes gehörte zu den ersten Opfern des größenwahnsinnigen Überfalls auf die Sowjetunion. Er hat seinen Sohn nie sehen können. Noch keine 20 Jahre alt fand er im Winter 1941/42 sein Grab in der gefrorenen und blutgetränkten russischen Erde. Zunächst findet Marie mit ihrem Sohn Unterschlupf in Sachsen bei ihren Schwiegereltern. Als aber die Bombardierungen im Raum Leipzig immer massiver werden, kehren sie in das sichere Böhmen zurück. Dort erwartet sie der Hass der Tschechen und die Vertreibung. Als sei sie als Deutsche schuld am Leiden der anderen Völker. Misstrauen und Hass bestimmen das Leben. Schließlich gelingt es ihr, einen Transport nach Deutschland zu ordern. Sie fürchtet, auch hier weiter vertrieben zu werden. Ihre Schwiegereltern, arme Bergarbeiter, nehmen sie und den Enkelsohn erneut auf. Sie versorgen ihr eine Arbeit in der nahen Brikettfabrik. Die Leute essen Brot und Kohlrübensuppe.
Eine unhandliche Holztruhe mit einigen Habseligkeiten ist alles, was Marie besitzt. Besonders in Ehren hält sie die kleine vergoldete Bibel und einige Kruzifixe. Das erinnert an ihre strenge katholische Erziehung. Die katholische Kirche war es, die ihr in ihrem unsagbar schweren Leben immer zur Seite stand. Doch im protestantischen Sachsen gibt es nur wenige katholischen Gemeinden. Marie fühlt sich einsam, verlassen und verraten.
In Deutschland entsteht ein neues politisches Umfeld. Neue Strukturen werden gebildet. Marie interessiert all dies nicht. Das Leben hat sie gelehrt, sowieso keinen Einfluss zu haben.
In Sachsen vollzieht sich der Übergang von der sowjetischen Besatzungszone zur DDR. Zwei neue Staaten auf deutschem Boden entstehen. Ihre Heimat ist nun Ausland und nur schwer erreichbar.
Am Alltag ändert sich nichts. Es fehlt an allem, vor allem an Männern. Viele Frauen brauchen für sich und ihre Kinder zuverlässige Versorger. Zuneigung und Liebe spielen bei der Partnerwahl eine untergeordnete Rolle. Die Hoffnungen steigen und fallen mit jedem der immer wieder angekündigten Transporte aus den Kriegsgefangenenlagern. Dutzende Frauen drängen sich an den Gleisen der Haltepunkte der Deutschen Reichsbahn, wenn Transporte eintreffen. Sie hoffen, ihren oder wenigstens einen Mann zu finden. Die Männer sind erschöpft. Enttäuscht gehen die Frauen nach Hause, wenn sie wieder einmal keinen Mann gefunden haben.
Doch dieses Mal lernt Marie den Heimkehrer Fritz kennen. Fritz ist vom Kriegsgefangenenlager gezeichnet und sichtlich gealtert. Marie hingegen wirkt recht ausgeruht. So verschweigt sie ihrem neuen Partner ihr wahres Alter und macht sich gleich mal zehn Jahre jünger. Dieser Vertrauensbruch soll sich später rächen.
Marie zieht in das Haus ihres neuen Schwiegervaters Paul ein. Da ist Platz genug, denn drei seiner weiteren Söhne sind noch nicht wieder heim gekehrt.
Monate später sollen Marie und Fritz Juras Eltern werden. Vorher wird die evangelisch – katholische Mischehe begründet, damit das mit Jura seine Richtigkeit hat. Schwiegervater Paul ist es egal, ob geheiratet wird. Aber die Leute ...
Jura erblickt im eiskalten Januar mit der Beihilfe einer resoluten Hebamme im ungeheizten Schlafzimmer des verfallenen Hauses des Vaters von Fritz das Licht der Welt. Vater Fritz und Großvater Paul rennen auf Kommando der Hebamme mit Schüsseln kalten und warmen Wassers aufgeregt hin und her. Das neue Leben ist da, schreit die Anwesenden an und wird, wenn auch unbeholfen, so doch sorgsam geschützt und behütet.
Jura wächst am Dorfrand in Haus, Hof und fruchtbarem Garten, umsorgt von seiner Mutter Marie und Opa Paul auf. Inmitten des Gartens steht eine stattliche Sommerlinde. Es ist die Friedenslinde.
In den letzten Kriegswochen nutzt Paul die Wirren der Ereignisse und das Chaos, um sich von der Truppe zu entfernen. Mit viel Glück gelingt es ihm, sich durchzuschlagen und unerkannt in sein Haus zurück zu kehren. Da hat er sich nachts in den Garten geschlichen und eine Linde – die
„Friedenslinde“ gepflanzt. Sorgsam hat er sie gehegt und gepflegt. Sie und der Duft ihrer Blüten begleiten Jura bis ins Jugendalter. Er träumt davon, dass später ebenfalls Linden in seinem Garten stehen werden. Das ist einer seiner frühen Träume. Großvater Paul betrachtet Linden als eine Quelle der Harmonie, die das Leben braucht.
Jura geniest seine Kindheit in der individuellen kleinen Welt von Haus, Hof und Garten. Er muss noch nicht einmal in den Kindergarten gehen. Das lässt ihn die Züge eines Einzelgängers annehmen. Vater Fritz sorgt für den bescheidenen Unterhalt der kleinen Familie. Er vertritt die Auffassung, Jura soll möglichst keinen Kontakt zu anderen Kindern und zum Dorfleben haben. Er soll geschützt werden. Aber eben das verstärkt die Individualisierung der sich entwickelnden Persönlichkeit des Heranwachsenden. Harmonie und Glück enden an der Grundstücksgrenze. Bereits im Dorf herrscht ein anderer Wind.
Die Heiducoffs sind seit Generationen ausgegrenzt worden. Die Angehörigen der Großfamilie kamen Mitte des 19. Jahrhunderts als Vertriebene aus Bulgarien über Russland nach Sachsen. In Dresden, später in Leipzig und dann auf dem Dorf waren sie isoliert. Sie passten weder in das kaiserlich, patriotisch, nationale, noch in das nationalsozialistische Umfeld der angestammten Deutschen. Durch ihren Namen, durch ihr Äußeres und durch ihr Verhalten waren und sind genügend Ausgrenzungsmerkmale gegeben. Jura selbst nimmt diese belastete Verhältnis zwischen den Heiducoffs und dem deutsch geprägten Umfeld erst spät wahr. Die Ausgrenzung erfolgt nicht aggressiv, sondern eher unterschwellig. Sie erzeugt eine Antipathie gegen die Öffentlichkeit und gegen Kollektive.
Als Juras Schuleintritt naht, sträubt und windet er sich. Es dauert Wochen, bis Jura Interesse an der alten Dorfschule empfindet. Schulgebäude, Schulhof und Pfarrhaus bilden eine Einheit unmittelbar neben der Dorfkirche. An der Christenlehre nimmt er auf Anraten seines Großvaters Paul nicht teil. Der hatte zwei Weltkriege und die Bombardierung Dresdens erleben müssen und vertritt die Ansicht, dass, wenn es einen lieben Gott geben würde, dieser diese Verbrechen verhindert hätte. So begründet er seinen Atheismus.
Jura findet den Unterricht langweilig, aber er mag die naturbezogenen Wanderungen mit einigen der Grundschullehrer.
Zu Hause herrschen seit Wochen schlechte Stimmung und Streit. Vater Fritz trennt sich von Marie und der Familie. Die „Versorgungsehe“ nach Kriegsende mit der zehn Jahre älteren Marie erwies sich nun als überholt. Fritz hatte eine jüngere Frau gefunden. Mutter Marie verbietet Jura den Kontakt zu seinem Vater. Diese Umstände reißen ein tiefes Loch in Juras Leben. Er hat doch seinen Vater auch sehr lieb. Sehnsucht nach künftiger Harmonie kommen auf. Er träumt davon, dass sich Vater und Mutter wieder versöhnen könnten. Doch die Realität ist eine andere.
Jura mutiert zum Herrscher über Haus, Hof und Garten. Er genießt alle Freizügigkeiten, kann seine Ideen verwirklichen und beginnt mit den Jahren Schuppen und Speicher umzubauen. Er findet Reliquien aus der Nazizeit. Da sind Bücher und Akten , die den Nationalsozialismus verherrlichen. Sie stammen von den vier Söhnen Pauls. Einer ist in Russland gefallen, der andere bislang vermisst und der dritte hat sich in den Westen abgesetzt. Er war Offizier des Heeres und wollte den Russen nicht begegnen. Der Grund dafür wird immer ein Geheimnis bleiben. Der jüngste Sohn ist Fritz – Juras Vater.
Jura erfährt, dass Paul, ein anerkannter Arbeiterveteran, lange Jahre keinen Kontakt zu seinen Söhnen, allesamt stramme Nazis, haben durfte. Seine Frau habe dies den Kindern strengstens verboten.
Doch Jura lässt kein Mitleid mit Opa aufkommen, sondern Stolz auf ihn. Jura lernt von Großvaters Vorsätzen: „Nur der Kampf hat Sinn im Leben“ oder „Tue recht und scheue niemand, meide das Böse, das ist Verstand“. Diese verewigt Opa auch in seinen Eintragungen in Juras Poesiealbum.
Bei alledem: Jura bleibt ein individueller Träumer. Er träumt von Harmonie. Dies ist auch eine Art Flucht vor den Enttäuschungen der zerbrochenen Familie.
Jura entwickelt – nicht ohne Zutun seines Opas - Sympathien für die Arbeiterbewegung und besonders für August Bebel. Gleichzeitig empfindet Jura starken Hass gegen alles, was an den Faschismus erinnert.
Opa setzt sich im Gemeinderat mit dem Wunsch durch, die Borngasse, in der sich sein Haus befindet, in August-Bebel-Straße umzubenennen.
Paul ist stolz darauf seit 1901 der Gewerkschaft und seit 1904 der Sozialdemokratischen Partei anzugehören. Nach einem zeitweiligen Wechsel in die USPD kehrte er zurück zur SPD. Diesmal seit der Vereinigung von SPD und KPD zur SED ist eine Rückkehr ausgeschlossen. Paul mochte die Kommunisten nicht. Einige von ihnen seien in SA - und SS - Uniformen aufgetaucht und nach dem Krieg wieder in der KPD angekommen. Paul weiß, dass es gelogen ist, wenn sie behaupten, sie hätten dies im Auftrag der Partei getan.
Auf kommunaler Ebene werden viele der vormaligen Widerstandskämpfer in führenden Positionen eingesetzt. Leider mangelt es ihnen zu oft an der erforderlichen Qualifikation. Das gilt für Betriebsleiter ebenso wie für Polizisten oder Lehrer. Lehrer werden wegen der früheren NSDAP - Mitgliedschaft aus dem Schuldienst entfernt und durch Neulehrer ersetzt. Die Qualität des Unterrichtes leidet stark darunter.
Doch eines muss man anerkennen: ihre Überzeugungen, ihr Antifaschismus und ihre Friedensliebe waren echt. Aber leider reicht das nicht immer.
Tiefen Eindruck haben die Vorbereitungen der Maifeiern auf den Jungen hinterlassen. Da werden oben neben dem Speicherfenster die Flaggen gehisst: die rote Arbeiterfahne und die der DDR. Haus und Hof werden mit Birkenzweigen und Fähnchen geschmückt. Am Vorabend der Maifeier findet traditionell ein Fackelumzug statt, der am großen Lagerfeuer auf dem Sportplatz endet. Am 1. Mai selbst findet in fast jedem Dorf eine Maidemonstration statt. Später, in den 1970er Jahren werden die Demos auf der Basis der Betriebe durchgeführt. Alles erfolgt dann konzentrierter. Jura nimmt gern daran teil. Ihm stehen seine Pionierkleidung mit der roten Nelke und die weißen Kniestrümpfe. Ihn begeistern die Fanfarenzüge und Trommlergruppen aus den umliegenden Betrieben.
Seit Fritz weg ist, muss Mutter Marie von früh bis abends hart arbeiten um den Lebensunterhalt zu bestreiten. In den Ferien fährt Jura mittags mit dem Fahrrad hinüber zur Fabrik, um mit Mutter in der Kantine zu essen. Anschließend darf er sich in den Werkhallen des Reparaturwerkes umsehen.
Die Arbeit ist hart und der Lohn von Mutter reicht nur für ein bescheidenes Leben. So gibt es statt Limo oder Cola eben nur kalten Muckefuck zu trinken. Und oft muss sich Jura mit Griebenschmalz auf dem Brot zufrieden geben. Gemüse und Obst gibt es genügend aus dem eigenen Garten. Kartoffeln werden in ausreichender Menge eingekellert. Frische Eier legen die Hühner. In der Vorweihnachtszeit wird der Stollenteig selbst hergestellt und zeitig morgens zum Bäcker gebracht. Der Stollen reichte manche Jahre bis Ostern.
Die Versorgung mit Süßigkeiten und Schokolade übernimmt Mutters Schwester Anna, indem sie regelmäßig Westpakete schickt.
In Haus, Hof und Garten mutiert Jura zu einer Art Pascha. Paul lässt dem Jungen freien Lauf. Seit Vater Fritz weg ist, darf Jura auch Freunde empfangen. Unter den Jungen ist es üblich, Krieg zu spielen und alle haben geschnitzte Waffen. Jura hasst diese Kriegsspiele. Sicher das Resultat des pazifistischen Einflusses von Opa Paul. Opa hat beide Weltkriege erleben müssen und versucht die Kinder immer wieder von der Sinnlosigkeit der Kriege zu überzeugen.
Opa Paul hat immer Zeit für den Jungen. Er schnurrt ständig irgend welche Melodien vor sich hin. Spontan flucht er aber auch schon Mal unangekündigt.
Bei alledem: die Bilder der Gasse, des Schachtgrabens, der hohen Pappeln und der Schnauder, einem Bach, den Jura mit seinen Freunden umzuleiten versuchte, werden für immer in Juras Erinnerung haften bleiben. Da sind aber auch die alte und neue Kolonie, die Mühle, das Rittergut und die alte Dorfkirche, die Jura bleibend beeindrucken. Wenn im Schlosspark Jahrmarkt ist, beeindrucken die Schaukeln und das Riesenrad den Jungen. Es sind diese alten Bilder, die Juras Erinnerung noch heute prägen.
Das Dorf ist von seiner ihr eigenen Harmonie geprägt. Da ist eine gewachsene Infrastruktur. Es gibt ein Konsumgeschäft, eine HO (Handelsorganisation), einen Bäcker, ein Fisch- und Gemüsegeschäft, zwei Fleischerläden, einen weiteren Tante – Emma – Laden und diverse Handwerker wie Tischler, Stellmacher und Sattler. Nebenher betreibt dieser oder jene ein Fuhrgeschäft und die Rolle für das Glätten der Bettwäsche.
Die Bauern sind in einer LPG (Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft) zusammen geschlossen.
Die meisten der kleinen Handwerker und Händler können später in den 1990er Jahren der Konkurrenz der Supermärkte und Dienstleistungsbetriebe in den nahen Städten nicht mehr widerstehen. Die über Jahrhunderte gewachsenen dörflichen Strukturen werden unwiderruflich zerstört.
Für die Einhaltung von Recht, Gesetzen und Ordnung sorgen zwei Polizisten, sogenannte Abschnittsbevollmächtigte (ABV).
Im Gemeindeamt herrscht der Bürgermeister. Da befindet sich auch die Dorfbibliothek.
Jura radelt zu gern in die nahe gelegene Stadt Lucka, um dort für einen Groschen Eis zu essen. Lucka gehört bereits zu Thüringen. An heißen Sommertagen geht es mit dem Fahrrad zum Tagebausee. Jura hat trotz des fehlenden Vaters eine glückliche Kindheit. Das lehrt ihn, dass Glück und Zufriedenheit nicht unbedingt finanziellen Überfluss voraussetzt. Eigentlich hat er alles, was man von einer Kindheit erwarten kann. Und dennoch bleibt er ein Träumer.
Es ist nicht die von Staatswegen verordnete Vision von Frieden und Sozialismus, die Jura nachhaltig beeindruckt, sondern der Traum von einem nicht definierten Land der Gerechtigkeit und Harmonie. Zweifel an der Existenz eines solches Phantasielandes unterdrückt er. Er liest gern utopische Romane, in denen ferne, unerreichbare Phantasiewelten beschrieben sind.
Oft steigt Jura auf das Dach des Hauses, sitzt am Schornstein und träumt. Er starrt auf den Horizont und will hinaus in die Welt. Vielleicht vermutet er in der Ferne das Land der Harmonie, das Land seiner Träume. Ist es ein Zufall, dass sich beim Blick vom Dach der Horizont im Osten am weitesten öffnet? Das fällt Jura erst viel später auf.
Bisher ist er mit seinem Fahrrad nur die knapp 25 Kilometer bis Leipzig gekommen. Traurig ist Jura, wenn die Nachbarn ihre Autos auf der Gasse in Marschordnung aufreihen und Ausflüge unternehmen. Jura muss immer zurück bleiben.
Stattdessen plant er an Wanderkarten Fahrradtouren durch das schöne Sachsenland. Burgen und Heimatmuseen sind zunächst bevorzugte Ziele. Die befahrenen Routen werden auf der Karte markiert. Allmählich füllt sich das Straßennetz mit den Markierungen. Es gilt nun über Sachsen hinaus zu planen. Thüringen bietet sehr lohnenswerte Ziele.
Doch bald darf er mit Mutter an einer längeren Bahnreise teilnehmen. Es geht ins Ausland - in die Heimat, erklärt sie, ins Egertal nach Karlsbad, Komotau und Kaaden. Die Formalitäten und Grenzkontrollen waren aufwändig und belastend.
Im Egerland leben die Mama von Juras Mutter und ihr großer Sohn, die wie durch ein Wunder von der Vertreibung der Sudetendeutschen verschont blieben.
Juras kleines Weltbild wird erweitert und er begeistert sich für die wunderschöne Landschaft im Egerland. Er wandert gern durch die Berge. Interessant findet er die Spuren der deutschen Kultur an Gebäuden der Altstadt, in Kirchen, Kapellen und auf Friedhöfen. Für die Tschechen sind diese nicht von Bedeutung. Sie lassen sie verfallen, was Jura nicht versteht.
Er darf an den Touren seines großen Bruders mit dem Betriebsauto des Volksgutes, in dem er arbeitet, teilnehmen. Es geht durch weite Teile Böhmens und Mährens. An den Wochenenden geht es in die Berge des Erzgebirges zum Schwarzbeeren sammeln. Unvergessen bleibt der Schwarzbeerkuchen der Großmutter. Wir verschlingen ihn blechweise.
Jura hört gern die alten Geschichten der Oma. Sie sei Zeit ihres Lebens nur bis zur Kreisstadt gekommen, sonst nirgends hin. Sie weigert sich, Tschechisch zu lernen. Beim Einkaufen muss sie mit Zeichensprache zurecht kommen. Und sie traut keinem Slowaken. Die seien falsch.
Anfang der 1960er Jahre soll es zu einer nächsten Erweiterung für Juras Weltbildes kommen. Es geht noch viel weiter per Eisenbahn – ins Rheinland. Da lebt in Koblenz die Schwester von Mutter.
Jura, der die bisherige Bescheidenheit des Lebens in Sachsen und in Böhmen kennt, ist beeindruckt und begeistert von der Konsumwelt des Westens. Am 13. August 1961 wird die Grenze geschlossen. Die Verwandten raten Mutter zu bleiben. Sie hat Anspruch auf Kriegswitwenrente und braucht nicht zu arbeiten. Eine kleine Wohnung für sie und Jura wird ihr versprochen. Doch Mutter lehnt ab und meint, in einem Jahr sei der Spuk vorbei und sie würde wieder kommen. Die Geschichte verläuft anders.
Jura gewinnt nach der Rückkehr in den Osten an Selbstbewusstsein und Zuversicht. Im Nachhinein stellt er fest, dass ihn die bunte Reklamewelt in Koblenz überfordert hat. Das einfache Leben und seine Regeln im Osten sind ihm vertraut und er ist dieses Leben gewohnt. Es hat ihn geprägt, in einem Haushalt ohne Auto, ohne Fernsehgerät, ohne Kühlschrank, Waschmaschine oder Staubsauger zu leben. Die Nachbarn versammeln sich gelegentlich zum gemeinsamen Fernsehen bei denen, die bereits über ein Gerät verfügen. Die Mangelwirtschaft zwingt zum Zusammenhalt zwischen den Menschen. Bei Schlachtfesten, beim Federnschließen oder beim Tabakschneiden und Zigarrendrehen finden sich alle Anwohner der Gasse regelmäßig zusammen. Dies dient auch der Information und dem gemeinsamen Lösen von Problemen. Selbst Konflikten wird so ausgewichen. Ein durch die Mangelwirtschaft bedingter Ansatz zu harmonischem Zusammenleben. Erst später wird im Rückblick klar, dass durch steigenden Wohlstand und inhomogene Besitzverhältnisse sowie Neid diese Gemeinschaft zerstört wurde. Auch ökologisch hat dies extreme Auswirkungen. So kommt es mit zunehmenden materiellen Anschaffungen zu mehr Abfall und Umweltbelastungen. Der Verpackungswahn entsteht. Vorbei die Zeit, als wenig weggeworfen wird und alles noch irgend eine Verwendung findet.
Nachts hört jeder im Dorf das Quietschen der Eimerketten und Schaufelräder der Bagger, die sich immer weiter an den Dorfrand heran fressen. Braunkohle ist mehr als nur Heizmaterial oder Rohstoff. Sie ist die Lebensgrundlage der Menschen.