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Inhaltsverzeichnis
 
 
 

Einleitung
Den gelben Aufkleber konnte man wirklich nicht übersehen. Vor allem nicht in dieser noblen Gegend. Als ich in einem ruhigen Münchner Wohnviertel gemächlich vor mich hin joggte, stach mir ein Sonnensticker in die Augen. Unübersehbar klebte er an einem Papierkorb ausgerechnet zwischen den gepflegten Villen, wo die Menschen mit Geländewagen zum Brötchenholen fahren. Tatsächlich, da war sie wieder, die lachende Sonne mit den Zacken und der geballten Faust. Atomkraft? Nein, danke! Jahrelang war sie praktisch verschwunden gewesen, die Anti-Atom-Sonne, die so plakativ das Solarzeitalter einläuten und das Nuklearzeitalter ausklingen lassen sollte. Man sah sie allenfalls auf der Toilettentür eines alternativen Cafés oder auf der Heckklappe eines rostigen VW-Käfers.
Die Sonne war unser Symbol gewesen, das Symbol der Atomkraftgegner. Wir waren stolz darauf. Wir klebten es auf die Leitzordner mit den Vorlesungsskripten, pinnten es als Anstecker an den selbst gestrickten Pullover. Gingen zu den Treffen der neu gegründeten Bürgerinitiative gegen Atomkraft. Als ich anfing zu studieren, das war 1979 in Regensburg, gehörte es irgendwie dazu, gegen Atomkraft zu sein. Zumindest für all jene, die sich politisch engagierten und nicht Jura oder Betriebswirtschaft studierten. Alle, die irgendwie »links« waren, fanden Kernkraftwerke zu gefährlich. Sie hielten den Staat, der sie durchsetzen wollte, für repressiv und die Energiekonzerne, die daran auch noch verdienen wollten, für verbrecherisch.
Die Studentengeneration vor uns hatte noch Marx von vorne bis hinten analysiert. Doch in diesen Jahren verflüchtigte sich der Glaube an die kommunistische Beglückung. Der Einmarsch der Russen in Afghanistan im Dezember 1979 nahm vielen den letzten Funken Hoffnung auf Frieden durch Sozialismus. Die älteren Semester schwärmten noch vom Sozialistischen Deutschen Studentenbund SDS. Doch den gab es nicht mehr, und die etwas verquere Marxistische Gruppe oder der Marxistische Studentenbund Spartakus erschienen vielen von uns als zu dogmatisch.
Die Atomenergie kam gerade recht als neuer Kristallisationspunkt des Protestes. Sie hatte alle Ingredienzien für eine linke Bewegung: die Repression des Staates, der seine friedlichen Bürger von besetzten Bauplätzen mit Knüppeln vertrieb; die bedrohliche Nähe der Technik zur Rüstung. Wer gegen Kernwaffen war, musste doch auch gegen Atomkraft sein; hinzu kam die Profitgier der kapitalistischen Energieunternehmen, die mit mafiösen Methoden Geld verdienten. Darüber bestand kein Zweifel, spätestens seitdem am 28. März 1979 der Atommeiler von Harrisburg durchgebrannt war. Der »größte anzunehmende Unfall«, der GAU, war also nicht nur ein Menetekel, eine düstere Vorahnung durchgeknallter Atomkraftgegner, sondern Gewissheit. Jetzt glaubte man der »Atomlobby«, die das stets heruntergespielt hatte, kein Wort mehr. Dass in Harrisburg angeblich niemand zu Schaden gekommen war, konnte nur Vertuschung sein.
Wer Linke als »Ratten und Schmeißfliegen« bezeichnet, ist selbstredend eine Hassfigur. Als Bayerns Ministerpräsident Franz Josef Strauß Deutschland zeigen wollte, wie man eine Atomanlage durchsetzt, schaffte er damit endlich ein konkretes Projekt, gegen das sich so richtig kämpfen ließ. Wiederaufarbeitung – das war noch ein Schritt weiter auf dem Weg zum totalen Atomstaat, den Robert Jungk bereits 1977 vorhergesagt hatte. Das Hüttendorf im Taxöldener Forst bei Wackersdorf wurde zum Wallfahrtsort, das Motto hieß: »Stoppt den WAAhnsinn«. Es war klar, dass wir Silvester 1985 dort feierten und es als Sieg betrachteten, dass das Camp im Wald zwei Wochen lang stand – eine Räumungsaktion wollte die Polizei so kurz vor Weihnachten wegen der Negativschlagzeilen nicht riskieren. Zeitungen schrieben von »Besetzung« und »Bürgerkrieg«. Dass bei einer Demo ein Asthmakranker an einem Anfall starb, passte zum Bild des unmenschlichen Staates.
Die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl bestätigte die schlimmsten Befürchtungen. Ob der Unfall in der Ukraine der Wiederaufarbeitungsanlage den Todesstoß versetzte, ist umstritten. Fest steht jedoch, dass Tschernobyl die Saat der Angst vor der Atomkraft in den deutschen Köpfen endgültig aufgehen ließ. Der Widerstand war nicht mehr nur die Sache der jungen Partei der Grünen, geschweige denn von ein paar Bürgerinitiativen. Die Volkspartei SPD ließ sich anstecken vom Anti-Atom-Virus – bereits bei ihrem Parteitag im Herbst 1986 schrieb sie den Ausstieg im Programm fest.
Dass Tschernobyl in Deutschland so nicht passieren konnte, spielte für den Widerstand keine Rolle. Denn jene Kernkraftgegner, deren Ablehnung sich mehr von einer dumpfen Angst als von Argumenten nährte, hätte man vom Gegenteil ohnehin nicht überzeugen können. Und den anderen war es egal, sie pochten auf die Risiken durch deutsche Kraftwerke, auf die Risse von Stade und die Leukämiefälle von Krümmel.
Ganze Politikergenerationen sind durch den Kampf gegen die Kernkraft sozialisiert worden. Es gehört in Deutschland einfach dazu. Der Ausstieg aus der Kernenergie, fünfundzwanzig Jahre nach dem Erwachen einer Volksbewegung vollzogen, schien logisch zu sein. Nach dem Motto: Wenn alle dafür sind, kann es ja nicht falsch sein. Wer daran zweifelte, dass Kernkraft nicht verantwortungslos und gefährlich sei, zweifelte lieber im Stillen. Sich gegen kollektive Bewegungen zu stemmen, ist immer mühsam.
Es gibt zweifelsohne gute Gründe, gegen Kernkraft zu sein. Atomreaktoren sind komplizierte Anlagen, Menschen machen Fehler. Das Risiko eines Unfalls besteht immer, mit erheblichen Folgen. Doch Risiko wird bekanntlich völlig subjektiv bewertet. Dass man sich ins Auto setzt, obwohl man dabei einen tödlichen Unfall riskieren könnte, ist eine persönliche Entscheidung. Wenn der Staat mit einem Kernkraftwerk seine Bürger einem tödlichen Risiko aussetzt, dann tolerieren es die meisten Menschen nicht – selbst wenn das Risiko zu sterben, um Größenordnungen geringer ist. Das ist legitim, aber nicht rational.
Die Irrationalität gewisser Argumente gegen die Kernkraft störte mich als Physikerin zunehmend. Zweifel daran, dass Atomkraftwerke aus Gründen der Sicherheit nicht vertretbar waren, kamen mir bei einer meiner ersten Zeitungsrecherchen. Für die Wochenzeitung Die Zeit war ich 1990 zum Kernkraftwerk Stade im Alten Land bei Hamburg gefahren, um das seit längerem heftig gestritten wurde. Gegner bezeichneten die Anlage, die damals mit knapp zwanzig Betriebsjahren eine der ältesten der Bundesrepublik war, als »Schrottreaktor« und versuchten, eine Stilllegung zu erzwingen, wobei sie auf die Unterstützung der neuen rot-grünen Landesregierung in Niedersachsen hofften. Der Betreiber PreussenElektra hielt dagegen, das Kraftwerk könne ohne Bedenken noch mindestens ein Jahrzehnt betrieben werden.
Bei dem Streit ging es um feine Haarrisse im Stahl des Reaktordruckbehälters und um die Zahl der Neutronen. Es war eine höchst akademische Diskussion mit zahlreichen Hypothesen und Vermutungen über die Langzeitversprödung von Stahl, über die Zahl der Neutronen und die Ausbreitung von Rissen. Gutachten um Gutachten wurden geschrieben, es war, als ob Gegner und Befürworter sich viele Runden Schattenboxen lieferten.
Niedersachsen hatte sein Stade, die rot-grüne Koalition in Berlin ihren Forschungsreaktor am Hahn-Meitner-Institut (HMI). Die grüne Umweltsenatorin Michaele Schreyer hatte einen Grund gefunden, dem Minireaktor die weitere Betriebsgenehmigung zu verweigern – wegen ein paar Kilogramm Abfall, von denen unklar war, wo man sie hinschaffen würde. Zuvor hatten Horrorszenarien einer möglichen radioaktiven Verseuchung Westberlins die Runde gemacht.
Der Forschungsreaktor BER II und Stade sind längst heruntergefahren, doch im Rückblick erscheinen die Gefechte, die um sie und viele andere Atomanlagen ausgetragen wurden, als haarspalterisch. Andererseits: Wer mochte schon für die Atomenergie auf die Straße gehen? Auch wenn die Verbissenheit der Gegner mehr von Ideologie als von seriösen Argumenten getragen zu sein schien – der Konsens war einfach zu breit, dass Kernkraftwerke zu gefährlich sind, um sie in Deutschland weiterzubetreiben.
Als die rot-grüne Koalition im Jahr 2000 den Ausstieg beschloss, konnte man zumindest argumentieren, dass damit die Zeit der gewalttätigen Anti-AKW-Auseinandersetzungen beendet war. Viele ahnten, dass es aus Gründen der Wirtschaftlichkeit nicht wirklich vernünftig war, Kernkraftwerke nach dreißig Jahren Laufzeit abzuschalten. Doch der Atomausstieg diente immerhin dem gesellschaftlichen Frieden, der bis heute andauert und nur gelegentlich von Protesten gegen die Castor-Transporte gestört wird.
Möglicherweise hätte man sich damit abgefunden, obwohl es teilweise unberechtigt und ökonomisch irrational war, funktionierende Kernkraftwerke abzuschalten. Wäre da nicht der Klimawandel gewesen. Dass der Globus sich erwärmt, ist zwar keine neue Erkenntnis. Bereits Anfang der Neunzigerjahre warnten Klimaforscher vor den Folgen des ungezügelten Verbrennens fossiler Brennstoffe. Doch die Klimamodelle waren zunächst noch ungenau, die vorhergesagten Fieberkurven der Erde klafften auseinander, und es fehlte der Beweis, dass die Erwärmung, die bereits eingesetzt hatte, tatsächlich Menschenwerk war. Immer wieder erhoben sich die Stimmen von Klima-Dissidenten, welche die Erderwärmung als natürlich bedingte Warmzeit bezeichneten, die sich irgendwann wieder ins Gegenteil umkehren würde. Die Zweifel an einem menschengemachten Treibhauseffekt wurden vor allem von Politikern in den USA gierig aufgegriffen und sogar geschürt.
Bis die Hinweise sich verdichteten, dass hinter der Erderwärmung doch die Menschen mit ihrem Energiehunger steckten. Wirkungsvoller als die trockenen Zahlen und Modelle, die mit jährlich steigender Sicherheit die Klimakatastrophe vorhersagten, ist freilich die Realität: Der verheerende Wirbelsturm Katrina, der im Spätsommer 2005 eine Schneise der Verwüstung im Südosten der USA hinterließ, brachte ein ganzes Land zum Umdenken. Katrina war zugleich Folge und Vorbote der Energiewende: Mit großer Sicherheit sind die immer häufigeren Stürme bereits eine Konsequenz der aufgeheizten Erde. Und Katrina führte den Menschen in den USA plastisch vor Augen, wie abhängig sie vom Erdöl waren: Als plötzlich Ölplattformen und Raffinerien im Golf von Mexiko stilllagen, verdoppelte sich mancherorts der Benzinpreis.
Fast wie Schuppen fiel es vielen Menschen von den Augen, dass die Vertreibung aus dem Energieparadies begonnen hatte. Und zwar gleich zweifach. Dass die Vorräte an Öl und Gas irgendwann einmal knapp würden, war längst bekannt. Doch der Mensch ist ein Meister der Verdrängung, wenn es um seinen Lebensstandard geht. Inzwischen aber ist der Energiehunger der Schwellenländer nicht mehr übersehbar. Chinesen, Inder und Südamerikaner fordern jetzt den Wohlstand ein, der ihnen bislang verwehrt blieb. Die Preise für Öl und Gas steigen – und der Markt ist so angespannt, dass er singuläre Einbrüche wie die durch Katrina ausgelöste Knappheit in den USA nicht mehr ausgleichen kann. Der Wohlstand des Westens ist bedroht, weil Energie knapp wird. Und die gesamte Erde ohnehin, weil sie sich unaufhörlich erwärmt.
Die Energiefrage hat eine dramatische Wendung genommen. So schnell wie möglich muss sich die Menschheit vom Öl abnabeln und sich Alternativen zum Erdgas überlegen. Kohle, die noch reichlich vorhanden ist, darf in Zukunft nicht mehr verfeuert werden, wenn es nicht gelingt, das schädliche Kohlendioxid zurückzuhalten und zu lagern.
Womit aber den Energiehunger der Menschen stillen? Vor allem die Industrieländer, die bereits viele Reserven verprasst haben und einen großen Teil der Schuld am Klimawandel tragen, werden sparen müssen. Sonne, Wind, Wasser und Biomasse sind schier unerschöpfliche Energiequellen und werden in Zukunft mehr Strom und Wärme liefern müssen als bisher.
Doch reicht das aus? Ich fürchte nicht. Das legen zahlreiche Einschätzungen von Experten aus aller Welt nahe. Um die Temperaturerhöhung des Globus auf zwei Grad zu begrenzen – das ist die rote Linie, die nach Ansicht der Klimaforscher nicht überschritten werden sollte -, muss der Ausstoß an Kohlendioxid bis zum Jahr 2050 mindestens halbiert werden im Vergleich zu 1990. Das ist nach dem jetzigen Stand nicht zu schaffen, wenn nicht auch die Kernkraftwerke zumindest für eine Überbrückungszeit weiterlaufen. Insbesondere Deutschland, das sich sehr ehrgeizige Klimaziele gesetzt hat, kann diese nicht einhalten, wenn es am Atomausstieg festhält.
Warum wir vermutlich aus dem Ausstieg aussteigen müssen, soll dieses Buch erklären. Es will kein bedingungsloses Plädoyer für die Kernenergie sein, die durchaus schwerwiegende Nachteile hat. Auch diese werden auf den folgenden Seiten zur Sprache kommen. Es wäre genauso irrational, die Kernkraft nun zu beschönigen, so wie es irrational war, sie jahrzehntelang zu verteufeln. Wie vielen anderen Menschen, die als Kinder, Jugendliche oder Studenten eine Zeit der Angst vor der atomaren Verseuchung erlebt haben, fällt es mir nicht leicht, das Denkgerüst von damals umzuwerfen und ein neues aufzubauen. Doch im Lichte der drohenden Erderwärmung müssen manche Nachteile der Atomenergie neu bewertet werden.
Die ersten Kapitel beschreiben, wo wir heute stehen: Warum der Treibhauseffekt keine Marotte von ein paar Klimaforschern ist, und was die Welt erwartet, falls die Temperatur des Globus tatsächlich um drei, vier oder fünf Grad steigen sollte. Und warum es richtig ist, dass ein Bewusstseinswandel eingesetzt hat und Europa zumindest versucht, Vorreiter beim Klimaschutz zu sein. Es wird die Rede davon sein, wie sehr die Industrienationen am Öl hängen und wie davon auch die Weltpolitik beeinflusst wird.
Der zweite Teil des Buches zieht eine Bilanz für Deutschland: Wird es möglich sein, Kohle klimaschonend zu verbrennen, indem man das Kohlendioxid abscheidet und lagert? Können Windräder tatsächlich bereits im Jahr 2030 ein Siebtel des deutschen Strombedarfs decken? Lohnt es sich hierzulande, die Energie der Sonne anzuzapfen? Welches Potenzial steckt in der bislang wenig genutzten Biomasse? Und schließlich: Wie viel unseres Energiebedarfs können wir in den kommenden zehn, zwanzig Jahren einsparen?
Im dritten Teil des Buches geht es um die Kernenergie. Ich versuche zu erklären, warum gerade die Deutschen sich so sehr davor fürchten, und ob es tatsächlich weltweit eine Renaissance dieser Energiequelle gibt. Ein Kapitel handelt vom Risiko eines Unfalls, ein weiteres von den Schwierigkeiten, den atomaren Müll sicher unter der Erde zu lagern. Weitere Einwände gegen die Kernkraft betreffen die Verfügbarkeit des immer teurer werdenden Urans, die Kosten des Atomstroms sowie die »Proliferation«, die Verbreitung des strahlenden Materials, das für Bomben missbraucht werden kann. Sollten wir deshalb lieber Kraftwerke abschalten? Das beleuchten weitere Kapitel. Der letzte Abschnitt schließlich versucht, eine Kohlenstoffbilanz zu zeichnen: Wird es Deutschland gelingen, seine Klimaziele einzuhalten?
Ohne Kernkraft wohl nicht – lautet die Antwort im Schlusskapitel. Deutschland laviert, weil die große Koalition in der Atomfrage zutiefst gespalten ist. Doch es ist höchste Zeit, sich von ein paar hartnäckigen Mythen zu verabschieden und ehrliche Antworten auf die drängenden Fragen der Energiewende zu finden.

Ein Planet im Fieber
Klimaforscher müssen hartnäckige Zeitgenossen sein. Sie dürfen nicht müde werden, Botschaften zu wiederholen: immer und immer wieder die gleiche nervende und unpopuläre Aussage, dass wir Menschen die Erde aufheizen und geradewegs auf eine Katastrophe zusteuern.
Wer die Klimaforscher Hartmut Graßl und Hans Joachim (»John«) Schellnhuber kennt, weiß, dass sie ziemlich hartnäckig sein können. In Deutschland, aber auch weltweit, waren die beiden Mahner in den letzten knapp zwanzig Jahren nicht zu überhören, wenn man ihnen denn zuhören wollte. Weil sie beharrlich ihre Klimaprogramme verbesserten und konsequent auf die sich immer stärker abzeichnende Gefahr durch die Erderwärmung hinwiesen, ist auf ihre Aussagen Verlass. Sie wollten keine Marktschreier der Klimakatastrophe sein, aber Warner. Das macht sie so vertrauenswürdig.
Vielleicht hat ihre Beharrlichkeit ein wenig mit ihrer bayerischen Herkunft zu tun. Der Physiker Graßl stammt aus Berchtesgaden und war von 1988 bis 2005 Direktor am Hamburger Max-Planck-Institut für Meteorologie. Zwischendurch ging er nach Genf, wo er das höchstrangige Gremium der Klimaforscher, das International Panel on Climate Change (IPCC) der Vereinten Nationen leitete. Schellnhuber ist in einem kleinen Ort in der Nähe von Passau geboren und verbrachte seine Studenten- und Assistentenzeit in Regensburg. Am Institut für Theoretische Physik, wurde er zum Experten für statistische Fragen – ein gutes Rüstzeug für die Klimamodelle, die von vielen unsicheren Faktoren abhängen. Schellnhuber ist seit 1993 Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung, zwischendurch leitete er das Klimazentrum im englischen Tyndall und beriet die britische Regierung.
Graßl und Schellnhuber gehören zu den renommiertesten Klimawissenschaftlern weltweit, sie erforschen seit langem den menschengemachten Treibhauseffekt. Auch als der Klimawandel noch nicht ganz oben auf der Agenda der Politik stand, hat Hartmut Graßl mithilfe von immer raffinierteren Modellen untersucht, wie sich die Atmosphäre aufheizen wird. Schellnhuber hat als erster Forscher in Deutschland überhaupt die Folgen des Klimawandels untersucht: Wie schnell wird das Eis an den Polen schmelzen? Wird man in fünfzig Jahren in Norddeutschland noch Getreide anbauen können? Und was werden Dürren und Überschwemmungen die weltweite Volkswirtschaft kosten?
Zurzeit hat es den Anschein, als ob wir den Klimawandel gerade erst entdeckten: Mit Wucht dringt er in unser Bewusstsein ein, in Form des Wirbelsturms Katrina, der im Sommer 2005 weite Landstriche der Karibik und der USA verwüstete. Oder in Form der neuesten Daten der internationalen Gemeinde der Klimaforscher, die sich im IPCC, im Klimarat der Vereinten Nationen, zusammengeschlossen haben und alle paar Jahre Schrecken erregende Daten veröffentlichen. Zuletzt war das Anfang Februar 2007 der Fall – da warnten die Wissenschaftler, dass wenn die Menschheit weiterhin so fleißig fossile Brennstoffe verfeuern wird, die Atmosphäre sich bis Ende des Jahrhunderts um wahrscheinlich zwei bis drei, im schlimmsten Fall sogar um mehr als sechs Grad Celsius erwärmen könnte. Mit »sehr hoher Gewissheit« stecke der Mensch hinter den beobachteten Klimaveränderungen, heißt es im IPPC-Bericht. So sicher war sich die internationale wissenschaftliche Gemeinschaft bisher noch nie. Und dann riefen auch noch Meteorologen den Januar 2007 als wärmsten Januar seit zweihundert Jahren aus.
Die Hiobsbotschaften über den Fieberzustand der Erde mögen uns mit Wucht treffen, doch Klimaforscher haben sie längst prophezeit, und zwar schon seit über fünfzehn Jahren. Hartmut Graßl mag das Wort Klimakatastrophe übrigens nicht, denn schließlich, sagte er damals in einem Gespräch, das ich 1990 mit ihm in Hamburg führte, sei eine Katastrophe ein Ereignis, das über die Menschen hereinbreche. Die Klimatologen aber hätten vorhergesehen, dass sich das Klima weltweit durch menschliche Aktivität verändern werde – »ohne jeden Zweifel«, wie Graßl schon damals betonte. 1990 erschien auch der erste Bericht des UN-Klimarates, der fortan alle fünf bis sechs Jahre die neuesten Ergebnisse der Klimamodelle veröffentlicht hat, zuletzt eben im Februar 2007.
Im Jahr 1990 beugte Hartmut Graßl sich noch über lange Bögen von Endlosdruckerpapier voller Kurven. Es war damals mühselig, das Klima zu simulieren. Die Modelle waren noch nicht so ausgefeilt, und im Vergleich zu einem heutigen PC rechneten die mächtigen Großcomputer der Klimaforscher im Schneckentempo. Die Ergebnisse waren längst nicht so belastbar. Doch der technische Fortschritt und anderthalb Jahrzehnte Forschung haben Früchte getragen: Mehr als zwanzig Simulationen verschiedener Institute weltweit sind in den vierten Weltklimabericht eingeflossen. Die neuesten Modelle berechnen ziemlich genau die Zirkulation der Erdatmosphäre und die großräumigen Strömungen im Ozean. Und anders als ihre Vorläufer von vor anderthalb Jahrzehnten berücksichtigen sie auch »Rückkopplungseffekte« wie den Einfluss des Meereis in den Polarregionen und die Fähigkeit der Meere und Pflanzen, Kohlenstoff aufzunehmen.
Freilich sind auch heutige Modelle ziemlich grobkörnig, sie unterteilen die Atmosphäre in kleine Kästchen von 200 mal 200 Kilometern, was bedeutet, dass selbst große Wolkenfelder durch das Raster fallen. Doch die Klimaforscher vertrauen ihren Modellen. Denn sie werden an der Vergangenheit geeicht: In Probeläufen wird das Klima der letzten Jahrzehnte zurückgerechnet – nur Modelle, welche die Vergangenheit richtig vorhersagen, haben die Bewährungsprobe bestanden. Und jede Vorhersage beruht immer auf zahlreichen, ganz unterschiedlichen Modellen. Selbst der notorische Zweifler Richard Lindzen, Forscher am Massachusetts Institute of Technology und Einflüsterer der US-Regierung, hat inzwischen eingeräumt, dass die Erderwärmung auf die Zunahme des Kohlendioxids in der Atmosphäre zurückgeht. Früher hatte Lindzen CO2 als »belangloses Spurengas« heruntergespielt.
Manche Forscher zweifeln noch immer daran, dass der Treibhauseffekt menschengemacht ist. An der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe in Braunschweig etwa sind einige Wissenschaftler davon überzeugt, dass die Menschheit zwar zusätzliche Treibhausgase in die Atmosphäre emittiert, dass deren Menge jedoch zu gering ist, um im Vergleich zu natürlichen Faktoren wie Wasserdampf eine Wirkung zu entfalten. Andere glauben, dass die wechselnde Sonneneinstrahlung dazu führt, dass die Erde sich mal erwärmt, mal abkühlt. Doch die Zweifler sind Außenseiter, ihre Arbeiten werden von den seriösen Fachjournalen nicht veröffentlicht, weil ihre wissenschaftliche Grundlage dürftig ist. In Misskredit sind die Leugner des Klimawandels zudem geraten, weil gerade in den USA etliche Gruppen lange Zeit von der Erdölindustrie gefördert wurden. Auch die Regierung in Washington versuchte nach Aussagen von James Hansen von der Raumfahrtbehörde NASA Einfluss zu nehmen: Hansen war einer der Ersten, die sich mit dem Treibhauseffekt beschäftigten. Vor einigen Jahren kam heraus, dass die Pressestelle seines Instituts Anweisungen aus dem Weißen Haus erhalten hatte, seine Interviews zu kontrollieren.
Obwohl die Zweifler inzwischen leise geworden sind, mag Graßl dennoch nicht triumphieren. Dafür ist die Lage zu ernst. Zum ersten Mal haben er und seine Kollegen in einem UN-Klimabericht geschrieben, dass es keinen Zweifel mehr daran gibt, dass die Eingriffe des Menschen dem Planeten einheizen. Wir tun das, indem wir Öl, Kohle und Gas verfeuern, aber auch weil wir Wälder abholzen, die Kohlendioxid binden könnten. Im letzten Weltklimareport von 2001 waren die Klimatologen noch vorsichtiger gewesen und hatten den Menschen nur als »wahrscheinlichen Verantwortlichen« für die Erwärmung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts benannt.
Der Grund für die drohende Überhitzung des Planeten liegt im Treibhauseffekt. Das Phänomen wird verursacht durch Gase in der Atmosphäre, die wie ein teildurchlässiger Spiegel wirken: Wasserdampf, Methan, Kohlendioxid reflektieren einen Teil der Sonnenstrahlen zurück zur Erde und bewirken damit – ähnlich wie die Glasscheiben eines Treibhauses -, dass die Wärme in den unteren Schichten der Atmosphäre gespeichert wird. Der Treibhauseffekt ist sogar lebensnotwendig, denn ohne ihn wäre unser Planet längst erfroren.
Was allerdings ein zu heftiger Treibhauseffekt bewirken kann, lässt sich an Venus beobachten. Die Oberfläche dieses Planeten ist zu heiß für jegliches Leben, weil sie sich durch einen starken Treibhauseffekt erhitzt hat. Das Schicksal von Venus dürfte der Erde nicht drohen, doch wir bewegen uns in Richtung eines sich verstärkenden Treibhauseffekts.
Die Fakten, die der neueste Report der Klimaforscher zusammenträgt, sind beeindruckend und zugleich erschreckend. So viele Treibhausgase wie derzeit gab es in der Atmosphäre zuletzt vor mindestens 650 000 Jahren. Das heißt: Homo sapiens hat solche Verhältnisse in seiner Geschichte noch nicht erlebt. Zudem: Im 20. Jahrhundert stieg die Temperatur so schnell an wie seit 20 000 Jahren nicht mehr. Die Durchschnittstemperatur auf dem Globus, die jahrtausendelang bei 15 Grad Celsius lag, ist seit 1900 um rund 0,7 Grad angestiegen. Für das 21. Jahrhundert sagen die Forscher einen weiteren Anstieg um zwei bis viereinhalb Grad voraus, falls die Regierungen nicht gegensteuern, wobei eine Erhöhung um drei Grad am wahrscheinlichsten ist.
Zwei bis drei Grad, das hört sich nach wenig an, ist aber dramatisch. »Eine Riesenspanne« nennt Schellnhuber die Erwärmung. Denn die Temperaturdifferenz zwischen einer Eiszeit und einer Warmzeit beträgt etwa fünf Grad. Vor etwa 15 000 Jahren ging die letzte Eiszeit zu Ende. Damals erwärmte sich das Klima um etwa fünf Grad – allerdings über den Zeitraum von 5000 Jahren. Pflanzen und Tiere hatten also Zeit, sich der Temperaturkurve anzupassen. Das wäre jetzt anders, zumal die menschengemachte Erwärmung zu der derzeit ohnehin stattfindenden Erwärmung des Globus praktisch noch hinzukäme.
Wenn sich in diesem Jahrhundert, warnt Schellnhuber, die Atmosphäre um deutlich mehr als zwei Grad Celsius erwärmt, dann würden wir in der vergleichsweise kurzen Zeit von hundert Jahren eine stärkere Aufheizung des Planeten erfahren als jemals Lebewesen in den vergangenen zwanzig Millionen Jahren.
Zweifler weisen gerne darauf hin, dass ein bisschen mehr Hitze Europa kaum schaden wird. Wer hätte schon etwas dagegen, wenn verregnete deutsche Sommer endlich richtige Sommer würden und in Bayern Palmen wüchsen? Tatsächlich sind die Auswirkungen auf einzelne Regionen noch schwer abzuschätzen, dafür sind die Klimamodelle zu ungenau. Nach all dem was man weiß, dürften auch die Folgen für Mitteleuropa nicht die schlimmsten sein. Schreckensszenarien wie der »Kölner Dom unter Wasser«, mit dem Der Spiegel seine Ausgabe vom 11. August 1986 titelte, sind tatsächlich übertrieben.
Doch global gesehen ist der Wandel, der sich ankündigt, dramatisch. Sollte die Erde sich im Mittel um drei Grad erwärmen, sind drei große Umwälzungen zu erwarten. Die erste betrifft das ewige Eis der Erde, das so ewig nun nicht mehr ist. Die ersten Anzeichen eines Eisschwunds sind bereits deutlich in den Alpen und anderen Gebirgen zu sehen. Ob in Österreich, Neuseeland oder am Kilimandscharo in Tansania: Die Gletscher schrumpfen.
Im Vernagttal, einem Seitental des Ötztals, haben Forscher seit Mitte des 19. Jahrhunderts die Größe des Vernagtferners beobachtet. Damals hatte sich diese Eismasse weit vorgewagt und im Sommer den Bergbach im Tal anschwellen lassen, mit verheerenden Überschwemmungen. Heute studiert der Glaziologe Ludwig Braun von der Bayerischen Akademie der Wissenschaften den Vernagtgletscher. Er bietet den Wanderern ein trauriges Bild. Bis auf 2700 Meter muss man im Sommer hinaufsteigen, um zu den Eismassen zu gelangen, überall fließen Bäche mit Schmelzwasser. Der Gletscher hat zwei Drittel seiner Fläche eingebüßt. Braun zufolge ist der rasche Schwund auch darauf zurückzuführen, dass sich die Alpen in den letzten hundert Jahren besonders stark erwärmt haben. Denn früher reichten die Gletscher bis weit in die Täler hinunter und kühlten lokal die Luft. Je weniger Eismassen es gibt, umso rascher werden die Gletscher schrumpfen. In hundert Jahren, prophezeit Ludwig Braun, wird der Vernagtferner verschwunden sein.
Nur wenige Kilometer Luftlinie vom Vernagtferner entfernt hat übrigens im September 1991 ein weltweit beachteter Fund den Klimawandel dokumentiert: Nahe des Hauslabjochs fanden Wanderer »Ötzi«, eine 5300 Jahre alte Leiche. Ohne Erwärmung würde der Gletschermann heute noch verborgen unter dem Eis liegen. Der Gletscherschwund ist nicht auf nördliche Breiten begrenzt: Auch die Eiskappe auf dem Kilimandscharo schrumpft unaufhaltsam. Wenn der derzeitige Trend anhält, dürfte sie bis zum Jahr 2020 vollständig verschwunden sein.
Gefährlicher noch als das Schmelzen der Eismassen auf den Kontinenten ist wohl der Schwund des Eises nahe den Polen. Wenn die Erde sich weiter erwärmt, dann könnte langfristig das Grönlandeis völlig und das Eis der Antarktis zum Teil wegschmelzen. Beide binden enorme Wassermengen: Im Grönlandeis sind umgerechnet sieben Meter Meeresspiegel gespeichert, im antarktischen Eisschild sogar 56 Meter. Natürlich schmelzen diese Eispanzer nicht binnen Jahrzehnten dahin, und das Meer wird nicht um 63 Meter ansteigen. Zwischen 1,9 und 3,8 Meter, so die Vorhersagen, wird sich der Wasserspiegel an den Küsten bis zum Jahr 2300 heben, wenn die Atmosphäre um drei Grad Celsius wärmer wird. Weitere vierzig Zentimeter kämen durch das Gletscherwasser hinzu. Schließlich gibt es einen dritten Faktor: Meerwasser dehnt sich aus, wenn es wärmer wird. Im 20. Jahrhundert ist der Meeresspiegel im Durchschnitt bereits zwischen fünfzehn und zwanzig Zentimeter gestiegen. Alles in allem, so die Schätzungen, würde der Meeresspiegel in knapp zweihundert Jahren um mindestens 2,7 Meter steigen, im schlimmsten Fall um 5,1 Meter. Das ist ziemlich viel. Inseln in der Südsee lägen unter Wasser, alle Küstenzonen müssten evakuiert werden. John Schellnhuber sagt sogar: »Die menschliche Zivilisation müsste neu erfunden werden.«
Die zweite große Umwälzung betrifft das Leben in den Meeren. Normalerweise sinken riesige Wassermassen im europäischen Nordmeer und in der Labradorsee in die Tiefe und ziehen, ähnlich wie in einem Badewannenabfluss, warmes Wasser vom Süden in Richtung Norden. Das Wasser im Atlantik wird also umgewälzt, in der Fachsprache bezeichnet man die Bewegung, zu der auch der Golfstrom gehört, als Nordatlantikstrom. Ähnliche Umwälzbewegungen gibt es in fast allen Meeren. Wenn der Globus wärmer wird, dann wird die Nordatlantikpumpe durch verschiedene Effekte geschwächt. Das Klima könnte plötzlich kippen – Physiker nennen das eine »Instabilität« -, und die Nordhalbkugel würde sich ziemlich rasch abkühlen. Zwar wären die Folgen nicht so dramatisch wie im Hollywood-Thriller The Day After Tomorrow, der arktische Kälte über New York hereinbrechen lässt. Dennoch muss man mit erheblichen Konsequenzen rechnen: Die Nordhalbkugel würde sich um mehrere Grad abkühlen, die Südhalbkugel sich umso stärker erwärmen.
Auch ohne Kippen des Klimas muss das Leben sich umstellen: Weil ohne ausreichend starke Nordatlantikpumpe nährstoffreiches Wasser nicht mehr aus den Tiefen nach oben gespült würde, wären die Fischgründe weniger ertragreich. Und da zu allem Überfluss die Ozeane versauerten, weil immer mehr CO2 aus der Atmosphäre im Wasser gebunden würde, müsste sich auch das gesamte Leben im Meer umstellen. Vor allem empfindliche Ökosysteme wie die Korallenriffe könnten unter diesen Bedingungen nicht überleben. Zudem käme das gesamte Wettergeschehen durcheinander. Die Atmosphäre wäre stärker als bisher mit Wasserdampf und Energie geladen, die Stürme würden heftiger.
Die bisherigen Vorboten lassen wenig Gutes ahnen. Seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 1851 hat es im Nordatlantik noch nie so viele und so heftige tropische Stürme gegeben wie im Jahr 2005. Der Wirbelsturm Katrina war nur der traurige Höhepunkt einer ganzen Kette, die sich mit den Stürmen Wilma, Vince und Delta fortsetzte. Global gesehen würden sich zudem die Niederschlagskontraste verschärfen: Wo es wenig regnet, würde es noch weniger regnen und umgekehrt – die Ausbreitung der Wüsten wäre nur eine der denkbaren Folgen. Möglicherweise müssten wir wegen des größeren Temperaturunterschiedes von Land und Meer auch in Europa mit einem weltweiten Monsuneffekt rechnen, prophezeien die Klimaforscher.
Das kann nicht ohne Folgen bleiben. Auch die Eiszeiten haben die Wälder in Nord- und Mitteleuropa zurückgedrängt, die Tundra breitete sich aus. Doch es war ein langsamer Prozess, an den sich Tiere und Pflanzen allmählich anpassen konnten. Im Vergleich dazu käme der Klimawandel jetzt mit geradezu atemberaubender Geschwindigkeit über uns. Wenn es schnell wärmer werden sollte, würden vor allem die Pflanzen in den alpinen Regionen darunter leiden. Im Mittelmeerraum würden sich Insekten ausbreiten, Malaria könnte schon in Spanien die Menschen befallen. Bauern müssten mit zunehmender Dürre rechnen, die Erträge der Felder würden rapide zurückgehen.
Dürren und Hungersnöte, Überflutungen und Obdachlosigkeit – der Menschheit drohen dramatische Umwälzungen. In Europa mögen sie noch gering ausfallen, doch wenn immer mehr Flüchtlinge aus Afrika nach Norden drängen, wird auch Europa nicht mehr die Augen verschließen können.
Was können wir überhaupt noch tun? Klimaforscher sind zumindest zuversichtlich, dass die schlimmsten Schäden vermeidbar sind. Vorausgesetzt, der Globus erwärmt sich nicht zu sehr. Die Temperaturerhöhung müsste auf etwa zwei Grad Celsius begrenzt werden, um das Schlimmste zu verhindern. Zwei Grad – das ist keine absolute Grenze, sie beruht auf Abschätzungen. Doch jenseits dieser Grenze, warnt Schellnhuber, werden die Folgen »zunehmend unbeherrschbar«. Rückgängig machen lässt sich der Klimawandel nicht mehr, denn das Klima ist wie ein schwerfälliger Tanker, der nur langsam umgesteuert werden kann. Die Treibhausgase, die jetzt in der Atmosphäre sind, lassen sich nicht mehr entfernen. Es kann nur darum gehen, die Erwärmung nicht außer Kontrolle geraten zu lassen.
Die Welt hat immerhin gehandelt. Zum einen unterstützen die meisten Mitglieder der Vereinten Nationen die Klimarahmenkonvention (United Nations Framework Convention on Climate Change, UNFCCC), die 1992 in New York City verabschiedet und im gleichen Jahr auf der Konferenz der Vereinten Nationen über Umwelt und Entwicklung (UNCED) in Rio de Janeiro von den meisten Staaten unterschrieben wurde. Konkrete Maßnahmen werden jetzt mit dem Kyoto-Protokoll, einem 1997 beschlossenen Zusatzprotokoll zur Ausgestaltung der Klimarahmenkonvention umgesetzt. Zum anderen sieht sich die Europäische Union als Vorreiter beim Klimaschutz, sie will noch strengere Klimaziele erreichen. Beim Gipfel im März 2007 beschlossen die EU-Mitglieder, in den nächsten dreizehn Jahren den Ausstoß der schädlichen Treibhausgase im Alleingang um 20 Prozent zu reduzieren. Machen andere Nationen mit, sollen die Einsparungen sogar 30 Prozent betragen. Wer wie viel Kohlendioxid einsparen muss, ist aber noch nicht entschieden, das wird in Brüssel noch ausgelotet werden müssen.
Das Kyoto-Protokoll (benannt nach dem Konferenzort Kyoto in Japan) ist bisher das einzige internationale Abkommen, das die Verringerung von Treibhausgasen vorschreibt. Allerdings ist es erst im Februar 2005 in Kraft getreten. Es war nämlich vereinbart worden, dass 55 Vertragsstaaten, die zusammengenommen für 55 Prozent der weltweiten Emissionen von Treibhausgasen verantwortlich waren, es ratifizieren müssten. Erst als die russische Duma den Vertrag am 16. Februar 2005 ratifiziert hatte (Präsident Wladimir Putin hatte zuvor unterschrieben) waren die Bedingungen erfüllt. Das hätte früher erfolgen können, wenn die großen Verursacher von Treibhausgasen, die USA und Australien, mitgemacht hätten. US-Präsident Bill Clinton hat das Protokoll zwar unterzeichnet, der Kongress wollte es jedoch nicht ratifizieren. Auch Australien hat sich bisher geweigert. Die zunehmende Dürre im Land könnte die Regierung in Melbourne aber zum Umdenken zwingen.
Das Kyoto-Protokoll, das für die Zeit zwischen 2008 und 2012 gilt, umfasst alle Treibhausgase, auch Methan, Lachgase und Kohlenwasserstoffe – und einige dieser Gase sind weitaus klimaschädlicher als Kohlendioxid. Methan zum Beispiel, das im Wesentlichen in den Mägen der Kühe entsteht, ist ein zwanzig- bis dreißigmal wirkungsvolleres Treibhausgas als CO2. Wo viele Kühe auf der Weide stehen wie in der Schweiz, trägt Methan sogar mehr zum Treibhauseffekt bei, als was aus den Auspuffen der Autos oder den Schornsteinen der Kohlekraftwerke entweicht. Weltweit verursacht CO2 knapp zwei Drittel des menschengemachten Treibhauseffekts, der Rest geht auf andere Gase zurück. Sie werden im Kyoto-Protokoll in CO2-Äquivalente umgerechnet.
Das Protokoll schreibt vor, dass der Ausstoß von klimaschädlichen Gasen bis 2012 um durchschnittlich 5,2 Prozent unter das Niveau von 1990 sinken muss. Allerdings müssen sich nicht alle gleich anstrengen, im japanischen Tagungsort wurden damals sehr verschiedene nationale Ziele ausgehandelt. So sollten die USA ihre Emissionen um sieben Prozent drosseln, in Russland dürfen sie gleich bleiben, in der EU müssen sie um acht Prozent sinken. Auch innerhalb der EU sind die Schwankungen enorm: Deutschland muss mit einem Minus von 21 Prozent zur Erfüllung des Kyoto-Protokolls beitragen, Großbritannien mit 12,5 Prozent. Spanien und Portugal dürfen dagegen sogar ein Fünftel mehr Treibhausgase als 1990 ausstoßen.
Wie die Staaten ihre Ziele erreichen, bleibt ihnen freigestellt. Sie können entweder ihre Kohlekraftwerke abschalten und den Strom durch CO2-arme Techniken erzeugen oder ihre Bürger zwingen, Energie zu sparen. Beides wäre vernünftig, allerdings auch schwer umzusetzen.
Deshalb sind in Kyoto ein paar »flexible Mechanismen« erfunden worden, sozusagen als Hilfestellungen für die Regierungen. Erstens dürfen Staaten untereinander handeln. Wenn Deutschland etwa weniger CO2 einsparen will, Dänemark dafür mehr, dann kann Berlin Verschmutzungsrechte von Kopenhagen kaufen. Manche Länder wie Großbritannien haben mehr CO2 eingespart als vorgesehen, weil sie weniger mit Kohle und zunehmend mit Erdgas heizen und Strom erzeugen. London kann deshalb Rechte an Klimasünder verkaufen, das ist das Prinzip des Emissionshandels.
Um ihre Ziele zu erreichen, dürfen zudem Staaten zusammenarbeiten. Das gilt für Industrieländer, die unter dem Schlagwort »Joint Implementation« partnerschaftliche Projekte verfolgen. Zum Beispiel kann Deutschland ein Kohlekraftwerk abschalten und dafür eine Solaranlage in Spanien finanzieren, wo Sonnenstrom weitaus rentabler ist. Damit soll vor allem osteuropäischen Ländern geholfen werden, ihre Ziele zu erreichen. Industrienationen können auch mit Entwicklungsländern kooperieren – was als »Clean Development Mechanism« bezeichnet wird. Denn für das Klima spielt es schließlich keine Rolle, wo Treibhausgase entstehen, die Atmosphäre heizt sich ohnehin auf. Wenn Deutschland in Afrika Solaranlagen finanziert, dann kann es sich das auf seine eigenen Emissionen anrechnen lassen – und darüber hinaus Entwicklungsländern Technik zur Verfügung stellen.
Während die Wirtschaft warnt, dass es zu viel Geld kostet, die Ziele zu erreichen, finden Umweltschützer und Klimaexperten, dass das Kyoto-Protokoll nicht weit genug geht. Denn insgesamt müssen die Emissionen bis zum Jahr 2050 gegenüber 1990 halbiert werden, will man die Erwärmung auf unter zwei Grad Celsius begrenzen. Davon ist man weit entfernt, denn die Vertragspartner haben sich ja bis 2012 auf eine Verringerung von nur fünf Prozent geeinigt. Weil in vielen Entwicklungsländern die Wirtschaft wächst, könnte dieses Ziel grandios verfehlt werden. Zudem sind viele Länder eher zögerlich bei der Umsetzung der Kyoto-Ziele.
Deutschland hat inzwischen 17 von 21 Prozent geschafft – doch nicht wegen ehrgeiziger Klimaschutzprogramme, sondern weil die Wirtschaft der früheren DDR mit ihren CO2-Schleudern zusammengebrochen ist. Andere osteuropäische Länder haben in ähnlicher Weise vom Abschalten veralteter Industrieanlagen profitiert. In Deutschland sind in den letzten fünf Jahren die Emissionen überhaupt nicht mehr gesunken, im Jahr 2006 sind sie sogar um 0,6 Prozent gestiegen. Das ist umso peinlicher, weil die Bundesregierung sich eigentlich ein noch ehrgeizigeres Ziel als das von Kyoto gesetzt hatte: Bis 2005 sollte nämlich der CO-Ausstoß um 25 Prozent sinken.
Auch andere europäische Länder stehen schlecht da: Spanien, das zwar 15 Prozent mehr CO2 in die Atmosphäre pusten darf, musste bereits eine Steigerung von über 40 Prozent melden, weil die Wirtschaft stark gewachsen ist und weil fast eine Million Flüchtlinge aus Afrika in den letzten paar Jahren ins Land gekommen sind. Die meisten EU-Staaten dürften ihre Ziele nicht schaffen – obwohl diese teilweise schöngerechnet wurden. So werden Wälder als CO2-Senken großzügig angerechnet. Vor ein paar Jahren hatten Forscher ermittelt, dass in den USA mehr Kohlendioxid durch Bäume gebunden wird, als aus den Schornsteinen und Auspuffen entweicht. Die Rechnung erwies sich als falsch, doch sie zeigt, dass es durchaus Möglichkeiten zum Tricksen gibt. Ohnehin haben die Klimasünder keine Strafen zu befürchten, das Protokoll enthält keine Sanktionsmechanismen.
Sorgen machen den Klimaschützern auch die Boomländer China und Indien. Sie haben das Kyoto-Protokoll zwar unterzeichnet, doch sie sind bei den Verhandlungen im Jahr 1997 verschont geblieben, weil ihr Pro-Kopf-Ausstoß damals so niedrig lag. Darum müssen sie ihre Treibhausgase nicht reduzieren. Doch Indiens Wirtschaft ist in den letzten Jahren rasant gewachsen, und China zählt nun schon seit geraumer Zeit zu den global players. Ende 2006 hat China die USA überholt und ist inzwischen der weltweit größte Produzent an Treibhausgasen. Schätzungen zufolge werde Indien und China ihren CO2-Ausstoß bis 2025 gegenüber 1990 verdreifachen.
Die größte Ungerechtigkeit aber liegt wohl in der Weigerung der USA, das Kyoto-Protokoll umzusetzen. Jeder Amerikaner verbraucht jährlich 26 Barrel Öl und verursacht 24,6 Tonnen CO2. Ein Chinese dagegen kommt nur auf 1,7 Barrel Öl und 4,2 Tonnen CO2. Der Verbrauch der Europäer liegt dazwischen. Deshalb wäre es wichtig, Amerika in die Pflicht zu nehmen. Doch lange Zeit konnten die Leugner des Klimawandels das große Wort schwingen. Etliche Forscher bezweifelten, dass es einen menschengemachten Treibhauseffekt überhaupt gibt. Die Regierung Bush hörte das gern und behinderte sogar Forschung, die sich mit den negativen Folgen des Klimawandels auseinandersetzt. Immerhin gibt es eine gute Botschaft. Langsam dreht sich das Blatt im Land der spritfressenden Geländewagen und stromschluckenden Klimaanlagen. Vielleicht wird man einmal, im Rückblick, das Jahr 2005 als den Durchbruch erkennen: Nach dem verheerenden Wirbelsturm Katrina haben viele Amerikaner ihre Meinung geändert. Die Regierung hat erstmals eingeräumt, dass es einen Klimawandel geben könnte, und inzwischen wird diese Ansicht selbst von George W. Bushs konservativer Wählerschaft, den evangelikalen Christen, unterstützt, und Umweltkatastrophen wie Katrina und die immer heftiger wütenden Waldbrände im Südwesten der USA werden als Vorboten des Klimawandels gedeutet. Und der Film des früheren US-Vizepräsidenten Al Gore über die globale Erwärmung, Eine unbequeme Wahrheit, wurde sogar zum Kassenschlager und mit zwei Oscar ausgezeichnet.
Dass die Regierung Bush ihrem Sinneswandel Taten folgen lässt und auf konkrete Klimaziele eingeht, ist jedoch unwahrscheinlich. Immerhin zeigte Bush beim G-8-Gipfel in Heiligendamm guten Willen und unterzeichnete die Abschlussvereinbarung. Demnach verpflichten sich Industrienationen, ihre Emissionen zu senken. Man wird sehen, wie stark der gute Wille ist. Allerdings wird in den USA im November 2008 ein neuer Präsident gewählt – und auf ihn setzen viele ihre Hoffnung. Inzwischen sieht John Schellnhuber gute Chancen, dass Washington nach der Wahl umschwenken wird: Die USA werden wahrscheinlich nicht dem Kyoto-Protokoll beitreten, aber sie könnten sich vergleichbare Ziele setzen.
Zweifellos aber werden auch die Kyoto-Vertragspartner handeln müssen. »Post-Kyoto« heißt die beschwörende Formel. Gemeint ist der Vertrag, der nach 2012 in Kraft treten muss, der zweite Baustein in einer langen Kette drängender Maßnahmen. Dann wird man vor allem die Schwellenländer Indien und China auf Ziele verpflichten müssen, was einfacher wäre, wenn auch die USA mit von der Partie wären.
Doch die Schwellenländer dürften sich erst einmal wehren. Zu Recht. Denn erstens gibt es keinen Grund, dass ein Amerikaner oder ein Deutscher die Atmosphäre mehr verschmutzen darf als ein Chinese oder Nigerianer. CO2 wirkt schließlich immer klimaschädlich, gleichgültig wo es entsteht. Zweitens waren es die Industrienationen, die in den letzten Jahrzehnten der Atmosphäre eingeheizt und damit ein Experiment mit ungewissem Ausgang begonnen haben. Aus Gründen der Gerechtigkeit müssen deshalb die reichen Länder weitaus mehr für den Klimaschutz tun als die ärmeren. Die Industrienationen werden den Entwicklungsländern helfen müssen, Klimaziele zu erreichen, zum Beispiel durch technische Unterstützung, aber auch indem sie Vorbild sind – was übrigens von Vorteil für die Industrie sein wird: Wer jetzt investiert und Umwelt- und Energietechnik entwickelt, hat später den Vorteil, seine Technologie an die großen Zukunftsmärkte in China oder Indien liefern zu können.
Fest steht: Die Welt muss bald handeln. 2007 und 2008 werden entscheidende Jahre sein, denn dann werden die Nationen auf die Probe gestellt werden, ob sie es ernst meinen. Im November 2007 werden die Kyoto-Vertragsstaaten zu einer Konferenz in Indonesien zusammenkommen. Dann wird sich herausstellen, ob die Industrieländer sich auf einen Nachfolgevertrag zum Kyoto-Protokoll einigen können. Die Weichen werden aber nicht nur von der Politik, sondern auch von den Energieversorgern in den nächsten Jahren gestellt. Viele Kraftwerke in Deutschland sind dreißig bis vierzig Jahre alt und müssen erneuert werden. Die wichtigsten Investitionen in die Modernisierung des Kraftwerkparks stehen spätestens in den nächsten fünf bis zehn Jahren an.
CO2 lässt sich auf vielfältige Weise einsparen. Doch die besten Ideen und Vorsätze, auch die ausgefeiltesten Verträge, taugen letztlich wenig, wenn sie nicht umgesetzt werden. Regierungen können Klimaprotokolle unterschreiben, sie können und müssen Rahmenbedingungen setzen. Handeln aber müssen die Verschmutzer, die Unternehmen und die Bürger. Viele mögen sich überfordert fühlen oder resignieren angesichts der gewaltigen Aufgabe, bei der ein Einzelner kaum etwas ausrichten kann. Schellnhuber setzt deshalb auf »eine Koalition der Freiwilligen«, ein Bündnis aus Umweltverbänden, Regionen, Kommunen und Unternehmern. Dieses Bündnis könnte genügend kritisches Potenzial entfalten, um tatsächlich etwas zu bewirken.