Gunter Pirntke (Herausgeber)

Otto Julius Bierbaum

Stilpe

Ein Roman aus der Froschperspektive

Impressum:

Covergestaltung: Alexandra Paul

Digitalisierung: Gunter Pirntke


2014 andersseitig.de

ISBN: 978-3-95501-092-8




andersseitig Verlag

Dresden

www.andersseitig.de


info@new-ebooks.de


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Inhalt

Impressum:


Erstes Buch

Der Knabe Willibald

Erstes Kapitel.

Zweites Kapitel.

Drittes Kapitel.

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel.

Sechstes Kapitel.

Siebentes Kapitel.

Zweites Buch

Das Jünglinglein

Erstes Kapitel.

Zweites Kapitel.

Drittes Kapitel.

Viertes Kapitel.

Fünftes Kapitel.

Sechstes Kapitel.

Drittes Buch

VIR IVVENIS DOMINVS STILPE

Erstes Kapitel.

Zweites Kapitel.

Drittes Kapitel.

Viertes Kapitel.

Viertes Buch

Ecce poeta

Erstes Kapitel.

Zweites Kapitel.

Drittes Kapitel.

Viertes Kapitel.

Schlußkapitel.


An Hermann Bahr in herzlicher Verehrung



Erstes Buch

Der Knabe Willibald

Eine schlechte Kinderstube wird durch kein Begräbnis erster Klasse wett gemacht.

Aus Stilpes zerstreuten Papieren.


Erstes Kapitel.

Als mein Freund Stilpe geboren worden war, herrschte, wie das so üblich ist, viel Freude in der Familie. Dies umsomehr, als die Sache anfangs gedroht hatte, bös auszugehn.

Tante Pauline, die nachgezählt hat, will es beschwören, daß Stilpe-Vater an jenem schweren Tage dreiundachtzig Mal: Umgotteswillen! gesagt hat, wobei er sich, zornig halb, halb mit der Miene eines zerknirscht auf alles Gefaßten, in den Achselausschnitt der Weste fuhr und mit sämmtlichen Fingern, außer den Daumen, die eben hinten steckten, auf beide Seiten der Westenbrust trommelte. Und dabei war Stilpe-Vater eigentlich ein sehr ruhiger Mann, seines Zeichens Lepidopterologe, und konnte von sich sagen, daß er die Welt mit Gelassenheit betrachtete.

Aber dieser Fall war zu sehr außerhalb der Erfahrungen seines Metiers. Das Kind lag nämlich schief, und Doktor Schatzheber, schon durch diesen Namen zum Geburtshelfer prädestiniert, sah sich genötigt, mit der Zange einzugreifen.

Umgotteswillen! Mit der Zange! Dem Lepidopterologen, der an die gelinde Art dachte, wie sich die Schmetterlinge auf diese Welt bringen, hätte sich das Haar gesträubt, wenn es nicht schweißnaß am Schädel geklebt wäre.

– Nu, nu! sagte Tante Pauline: das ist das Schlimmste noch nicht. Die Hebamme hat mir erzählt . . .

– Umgotteswillen, Pauline, verschone mich! Du bist nie in der Lage gewesen. Also solltest du auch nicht . . .

Tante Pauline rauschte ab. Es muß gesagt werden, daß die ganze aufregende Geschichte ihr eine gewisse Genugthuung bereitete.

Das Verheiratetsein hat also auch seine Schattenseiten! Ja, ja, ja!

Das versöhnte sie auf eine Weile mit der Welt.

Schließlich lief also Alles gut ab, nur daß der kleine Stilpe eine kleine Eindöllung am Hinterkopfe aufwies. Tante Pauline hatte die Güte, fragend zu bemerken, ob derlei nicht Blödsinn zur Folge haben könnte?

– Nein! schnaubte Doktor Schatzheber, aber, wenn die Wöchnerin nicht bewußtlos wäre, würde ich Sie . . . . ; dann wusch er seine Zange in Karbol.

Tante Paulinens Benehmen ist schuld daran, daß ich vergessen habe, den Schauplatz von Stilpes Geburt zu nennen. Es vollzog sich dieser Akt in Leißnig, einer kleinen sächsischen Stadt, über die ich in Kürschners Quartlexikon nichts weiter finde, als daß sie an der Freiberger Mulde und nicht weit von dem Schloß Muldenstein liegt. Ich habe auch keinen Anlaß, mich bei diesem Gemeinwesen länger aufzuhalten, denn, wenn ich auch zu Beginn meiner Geschichte eine kleine Stilpopädie zu liefern gedenke, so bin ich doch weit entfernt, mich nach dem preiswürdigen Muster des lieben Meisters Rabelais auch mit den Windelerlebnissen meines Freundes zu beschäftigen. Selbst die erste Hose und die Schulzuckertüte bringt mich nicht von dem Vorsatz ab, erst in dem Augenblick einzusetzen, wo mein Freund in das versandfähige Alter eintritt, da man ihn von Hause weg und in fremde Hände gab, genauer gesprochen, da man ihn aus Leißnig nach Dresden und zwar in die Königliche Erziehungsanstalt für Knaben in Friedrichstadt-Dresden gab, die unter dem Namen Freimaurerinstitut bekannt ist.



Zweites Kapitel.

Das Freimaurerinstitut in Dresden-Friedrichstadt verfolgt nicht, wie man aus dem Namen schließen könnte, den Zweck, Freimaurer zu züchten, sondern es erblickt seine Bestimmung darin, aus jungen Knaben, die zu Hause schwer zu glätten sind, wohlpolierte Jünglinge zu machen. Es führt sie aber nicht bis zu jenen Höhen der Bildung, deren Erklimmung die Thore einer Universität öffnet, sondern es begnügt sich mit der bescheideneren, aber zuweilen doch recht mühereichen Aufgabe, seine Pflegebefohlenen nur bis zum Vorhofe des Tempels zu bringen. Dort giebt es ihnen einen leisen Schlag auf die Schulter (so, wie es den jungen Fohlen geschieht, wenn man sie aus dem Stalle läßt) und befiehlt sie der fördernden Gnade dessen, der aus Tertianern nach und nach Primaner und weiterhin im sanften Gleisgange Studenten, Doktoren, Pastoren, Professoren, geheime Räte, wirkliche geheime Räte, kurz allerlei Lichter oder auch wohl blos Leuchter macht.

Mein Freund Stilpe, von dem ich hoffe, daß ich ihn einst unsern Freund werde nennen dürfen (aber man hofft manchmal verwegen), wurde aus zweierlei Gründen in die Obhut dieser wissenschaftlichen und moralischen Brutanstalt gegeben.

Einmal geschah es deshalb, weil der Vater notwendig nach Südamerika reisen mußte, um dort auf irgendwelchen besonders begnadeten Wiesen irgendwelche Schmetterlinge zu fangen, die sich darauf kaprizieren, just und nur dort ihr Dasein hinzubringen, und die deshalb noch immer nicht in die ihnen gebührende Klasse der wissenschaftlichen Schmetterlingsordnung eingetragen waren. Stilpe-Vater hätte aber nicht mit der Seelenruhe, die zu einem solchen Geschäfte nötig ist, in das ferne Land ziehen können, wenn er seinen Sohn nicht in männlicher striegelnden Händen gewußt hätte, als es die der guten Stilpe-Mama waren. Denn es muß gesagt werden, daß Mama Stilpe kein eigentliches Talent für Knabenerziehung besaß. Sie war, eine liebe, nette und hübsche Frau übrigens, zu sanftlebig dazu und hatte das, für andere Kinder vielleicht recht passende, auf Willibald angewandt aber nicht ganz richtige Prinzip, lediglich mit Bonbons zu erziehen.

Sie handelte dabei nicht nach irgend einer pädagogischen Schulmeinung, sondern ganz instinktmäßig. Da sie nämlich selber eine Liebhaberin von Konfitüren aller Art war, so hatte sie die Bemerkung gemacht, daß nichts auf ihre Psyche so beruhigend, begütigend, ja im eigentlichsten Sinne bessernd und, wenn die Bonbons besonders auserlesen waren, erhebend wirkte, als die linde sich lösende Süßigkeit dieser Konditorerzeugnisse, und sie meinte nun, es müsse das bei dem noch naiveren Kontakt zwischen der kindlichen Zunge und Seele im Kindesalter erst recht so sein.

In den einzelnen Fällen hatte es auch immer den Anschein, als ob sie recht hätte. Der kleine Willibald, so hatte man ihn in der Taufe benannt, reagierte wie ein Engel auf Bonbons. Aber von der höheren Betrachtungswarte der väterlichen Kritik aus machte es sich bald bemerkbar, daß das Allgemeinbild der Willibaldschen Entwickelung sich nicht völlig so süß ausnahm wie die einzelnen Reaktionserscheinungen. Kurz gesagt: Willibald war außerhalb der jeweiligen Bonbonwirkungen eine beträchtliche Range.

Der andre Grund zur Überführung des jungen Knaben ins Freimaurerinstitut lag mehr auf wissenschaftlichem Gebiete.

Wenn jemand einen Sohn bekommen hat, so meldet sich, kaum daß die erste Windel trocken geworden ist, die ernste Frage: Was soll der Junge werden? Ist es erstaunlich, daß Stilpe-Vaters Antwort darauf mit der Sicherheit einer Reflexbewegung lautete: ein Lepidopterologe? Diese Antwort ist durchaus begreiflich. Stilpe senior empfand wie jeder Vater seinen Sohn als eine Fortsetzung seiner selbst; was lag da näher, als daß er in ihm auch den zukünftigen Fortsetzer seiner Lebensaufgabe sah? Und nun konnte er sich zwar sagen, daß er selbst schon manchen Schmetterling zur Ehre der Wissenschaft aufgespießt hatte, aber die sattsam bekannte Bescheidenheit unsrer exakten Wissenschaftler erfüllte ihn doch zu sehr, als daß er nicht auch hätte hinzufügen müssen: Es giebt immer noch unaufgespießte Schmetterlinge genug, ja übergenug. Welch ein lieblicher Gedanke aber, daß der Sohn die Schmetterlinge einregistrieren wird, die einzuregistrieren dem Vater von einem neidischen Schicksale versagt gewesen!

Indessen: Stilpe-Vater war ein starker Geist und wußte die Subjektivität des väterlich Angenehmen von der Objektivität der Pflichten zu trennen. Er sagte sich: Man muß alle Thüren offen lassen und bis zu dem Zeitpunkt warten, wo man aus den Schritten des jungen Menschen ungefähr ersehen kann, zu welchen er sich am fügsamsten leiten lassen wird. Nur nicht schieben und stoßen! Er war durch seinen Beruf an zartere Hantierung gewöhnt.

Daher gab er denn seinen Sohn, als der im lateinfähigen Alter war (ach, wie bald ist das ein Deutscher!), nicht mit plumper Hast auf ein Gymnasium, sondern richtete sein Augenmerk auf eine Anstalt, die beide Wege, den in die Humaniora, und den in die Realistika, offen ließ. Eine solche Anstalt war das Freimaurerinstitut. Im Allgemeinen mehr den realistischen Disziplinen des menschlichen Wissens gewidmet, besaß es doch auch eine Selekta für die unter seinen Zöglingen, die es nach den Reizen des klassischen Altertums oder wenigstens nach den Laufbahnen gelüstete, die nur der lateinisch und griechisch geaichte Jüngling betreten darf.

So ward Willibald, als er acht Jahre alt war, in die Zöglingsschaar des Freimaurerinstitutes eingereiht.

Acht Jahre alt! Mit Bonbons erzogen! Sehr eigensinnig! Sehr zart! Sehr blaß! Und nun plötzlich unter dem Glassturz zärtlichster Bemutterung hervorgezogen und einer Knabenstriegelungsanstalt überantwortet, die geradezu spartanischen Erziehungsgrundsätzen huldigte . . .!

Oh mein kleiner Willibald, was wirst du erleben müssen! Wehe, die Zeit der Bonbons ist vorüber.

Willibald erhielt die Nummer 171, als er ins Institut eintrat. Man schrieb sie ihm mit Tinte in die Wäsche, nähte sie ihm in die Kleider, klebte sie ihm in Stiefel und Mütze; sie stand auf seinem Kleider- und Bücherschrank, sie stand auf seinem Bette, sie stand auf seinem Waschbecken, seinem Stiefelwichsplatz, seinem Seifenkasten; und auch auf dem hölzernen Gewehre stand sie, mit dem er exerzierte. Denn es wurde exerziert in diesem Institute, exerziert unter der Leitung zweier schnauzbärtiger ehemaliger Unteroffiziere, die auch sonst als Knabendresseure einen wichtigen Platz im Erziehungsplane dieser martialischen Anstalt hatten.

Man kann daraus erkennen, wie eminent modern die Anlage dieses pädagogischen Institutes war. Sie ging nicht aufs Sentimentale, sondern aufs Robuste aus, sie wollte nicht Romantiker erziehen, sondern Realisten, sie wusch die jungen Häute nicht mit Mandelmilch, sondern mit Bimsteinseife. Wie in den meisten dieser Internate, so lebte auch in ihr das bewährte Staffelprinzip des Lebens, das sich in Kürze so darstellen läßt: Die Unteren sind die Fußschemel der Oberen, und keiner kommt ungetreten in die Höhe. So erfüllen diese Anstalten aufs Vollkommenste den erzieherischen Zweck, aufs Leben vorzubereiten. Denn sie nehmen es in seiner ganzen Rohheit vorweg. Der Spaltpilz des Illusionismus wird mit kräftiger Hand ausgemerzt, und die bedenkliche Neigung mancher jungen Seelen ins Optimistische wird durch reichlich und konsequent applizierte Blitzgüsse weggeschreckt.

So redet unsere erwachsene Philosophie. Aber, liebe Leute, so ein kleiner Junge von acht Jahren . . . Mein Gott, woher soll der erwachsene Philosophie haben? Er begreift mit nichten die Heilsamkeit des lebensvorbildlichen Getretenwerdens, er versteht ganz und gar nicht, wie wertvoll es ist, sich die junge Haut durch Schinden abhärten zu lassen, ihm fehlt jeder Sinn für das realistisch Tüchtige dieser ganzen Methode. Er fühlt sich einfach kreuzunglücklich. Er denkt an Muttern und weint.

So auch Willibald.

Was hat der arme kleine Kerl geheult unter seiner Bettdecke! Und wie hat er manchmal mit den Zähnen geknirscht vor Ingrimm, wenn ihn die Oberen drangsalten, ihn, den »Battling«. So wurden nämlich die Kleinen genannt.

Die Battlingschaft war bitter wie die Rekrutenzeit. Ach nein: Wohl bitterer noch. Denn, was so eine junge Seele empfindlich ist, das kann sich ein erwachsenes Gehirn manchmal gar nicht mehr vorstellen.

Deshalb wird es gut sein, ich lasse den Battling selber reden.



Drittes Kapitel.

Die Briefe des Battlings.


Liebste Mamma!

Du hast mir gesagt, das ich Dir gleich schreiben sol, wie mir es gefellt im Institut. Es gefellt mir gar nicht. Die Jungens sind furchbar grob und haun mich immer und nenen mich Badling. Sie sagen, ich wär ein dumes Gescheeche. Ich mag nicht mer dableiben und wil wieder nach Leisnig. Ach, liebste Mamma, ich weine die ganze Nacht und dan kommen sie und haun mit einem Rohrstock auf die Bettdecke, die dinne ist. Und früh läßt mich der Schüsseloberst den Zucker karieren beim Kaffe und Mittags der Schisselvice den Braten, wen's welchen gibt. aber's giebt blos einmal welchen. Ach liebste Mamma kom doch gleich und hol mich ab. Sonst lauf ich dervon.

Mit herzliche Grüße

Dein
Dich liebender Sohn
Willibald Stilpe.

Meine liebe gute Mamma!

Du denkst, ich liege Dir was for, aber es ist doch alles war was ich Dir geschrieben habe. Gestern haben sie mich wieder das Fleisch wollen karieren lassen. Da hab ich gesagt ich sags dem Lehrer, da haben sie mich untern Tisch gesteckt und gesagt ich soll die Wacht am Rhein singen und sie wollen den Takt treten mit den Beinen, und haben mich auch getreten. Aber gesungen hab ich nicht. Ach meine liebe gute beste Mama, schick mir doch eine Kiste mit Wurst und Gänsefett, daß ich auch was hab auf die trockenen Dreierbrotchen, die wir zum Frihstick kriegen, und ich dem Schisseloberst was abgeben kann, daß er mich nicht immer den Zucker frih karieren läßt.

Mit herzlichen Grüßen

Dein Dich liebender Sohn
Willbald Stilpe.

Ich hab einen Freund, der heißt auch Willi, er sitzt neben mir in der Klasse. Dem wil ich auch Wurst geben, weil er mir auch Wurst gibt.

Meine allerliebste gute Mamma!

Ich liege Dir ganz gewiß nichts vor. Wenn ich in die Ferien komme will ich Dir schon zeigen, was ich für blaue Flecke hab, und einen ganzen Bischel Haare hat mir Einer ausgerissen, wo ich gar nichts gemacht hatte. Blos, weil ich ihm die Stieweln nicht butzen wollte. Und den Lehrern darf man nichts betzen, dann krigt man blos noch mehr Keile, und die Lehrer thun den Großen doch nichts. Wenn ein Battling betzt, missen ihn auch die andern Battlinge mit verhauen, und er darf auch nicht mitspielen.

Die andern Jungens krigen alle Taschengeld für wenn die Obstfrau kommt. Die kommt zweimal in der Woche und hat viele schöne Sachen, Johannisbrot und Äpfel und Birn und Mispeln, aber Blockzucker darf sie nicht haben. Du darfst mir aber das Geld nicht selber schicken, sondern dem Herrn Inspektor Teurig, der giebt mir dann jede Woche zwanzig Fenge.

Es grüßt Dich Dein

Dich liebender Sohn
Willibald Stilpe.

Mein Freund Rammer läßt Dich auch grüßen.

Liebe, gute, allerliebste Mama!

Ich bedanke mich sehr schön für die große Kiste. Ich habe der ganzen Schissel Leberwurst und Pfannkuchen gegeben und stehe jetzt sehr gut beim Schisselobersten und den andern. Du schreibst, ich soll Dir schreiben, was ich den ganzen Tag mache. Das will ich thun. Also paß auf: Um fünf Uhr frih klingelt eine Klingel am obern Schlafsaal und dann schreien die beiden Herrn Inspektoren: Aufstehn! Aufstehn! Die erste Abteilung sich da zuhalten! Die erste Abteilung sind nämlich die Battlinge. Wir springen nun schnell aus den Betten raus und rennen in den Stiefelwichssaal und wichsen unsre Stiesel an den Beinen ohne Ausziehn sehr blank. Dann rennen wir in den Waschsaal, wo jeder sein Waschbecken hat, aber nicht aus Borzelan, sondern zum Umkippen aus Blech. Die Herren Inspektoren passen auf, daß wir die Hemden runterziehn und nicht so spritzen. Das Wasser ist wie Eis, und die Seife hat jeder in einem Schiebekasten bei sich, wo sich auch der Waschlappen und die Kämme aufhalten. Dann rennt jeder in den Kammsaal und kämmt seine Haare. Ich hab einen Scheitel machen missen links aber ohne Bomade, mit Wasser. Wenn Einer Läuse hat, so nennen sie ihn Lausewenzel. Es kommt beim Haareschneiden raus und ist eine große Schande und wird mit Essig gewaschen. Ich dachte schon, ich hätte welche, weil michs immer picken that, aber ich hatte keine. Mein Freund Rammer hat mal welche gehabt, aber dann hat er beim Haareschneiden immer gebetet Lieber Gott gieb das ich keine Läuse hab, und dann hat er keine mer gehabt.

Ich muß nun schließen, weil es gleich zum Bettegehn klingelt.

Es grüßt und küßt Dich

Dein Dich treu liebender
Sohn
Willibald Stilpe.

Meine gute liebe allerbeste Mama!

Der Herr Inspektor hat mir gesagt, das Du Taschengeld fir mich geschickt hast. Das hat aber der Schisselvice gehehrt, und da hat er mir gesagt, ich solls keim sagen und soll ihm finf Pfenge borgen. Das ist aber verboten; aber ich muß ihm doch borgen, weil er mich sonst am Sonntag das Apfelmus karieren läßt und selber ißt.

Nun will ich fortfahren, was ich thu, wenn ich meine Haare gekämmt hab. Dann gehts nauf in die Arbeitszimmer und wird die Schulsachen nochmal durchgegangen. Wenn alle Abteilungen mit Wichsen und Waschen und Kämmen fertig sind wird angetreten und die Herren Inspektoren sehen Einen an, ob man reine gewaschen ist und auch die Stiewelsohlen ganz sind, besonders hinter den Ohren, wo sich manchmal Schmutz befindet und man dann karieren muß. Dann singen wir in der Aula Nun danket alle Gott oder andere schöne Gesangbuchslieder und ein Herr Lehrer betet ein Gebet, was er grade auswendig kann. Dann gehts zum Kaffetrinken, wo immer jede Schissel, welche aus vier Jungens besteht und einen Schisseloberst, Schisselvice, Schisselterz und Schisselschund hat, eine Kanne Kaffe krigt und jeder drei Eckchen Semmel und zwei Stikchen Zucker. Der Zucker wird gewöhnlich in die Semmeln nein gebohrt und dann gedunkt, das schmeckt wie Kuchen. Die Schisselschunds krigen aber nicht immer alle zwei Stikchen Zucker, weil manchmal welche fehlen. Wenn Kaffe getrunken ist, ist eine Arbeitsstunde, wo Schularbeiten gemacht werden. Ein Herr Lehrer paßt auf, das keiner abschreibt. Manche Jungen schreiben aber doch ab. Ich wage mirs nicht.

Nun lebe wol meine liebe gute Mamma, mein Nachbar schubt mich immer daß ich Messerspießen soll mit ihm. Das ist ein sehr schönes Spiel. Auch Federtippens wird gespielt. Ich habe drei Goldhahnfedern gewonn, eine ganz neue dabei.

Es grüßt und küßt Dich Dein

treuer Sohn
Willibald Stilpe.

Liebe Mama!

Du weißt nicht, was Blockzucker ist? Ich werde es Dir erklären. Das sind rote oder gelbe oder weiße Tafeln, und die roten schmecken nach Himbeer, die gelben nach Apfelsine und die weißen nach Citrone. Die roten schmecken am schönsten. Wenn man eine Tafel kauft, das kostet zehn Pfennige, und jede Tafel hat fünf Abteilungen zum Abrechen. Nicht wahr, jede Abteilung müßte doch blos zwei Pfennige kosten? Kostet aber einen Dreier. Rammer sagt, im Biedchen draußen kostet eine Tafel iberhaupt blos fünf Pfennige. Aber die Jungens, die blos in die Schule kommen hier und zu Hause wohnen, die bringen sie mit und sagen, sie kosten zehn Pfennige. Wenn ein Junge kein Geld hat, so kann er auch seinen Braten dervor geben. Vor Schweinebraten krigt man zwei Stückchen, aber vor Rinderbraten blos eins, das heißt, weißt Du, das ist blos bei den Battlingen. Die Großen kriegen schon mehr. Nun weißt Du, was Blokzucker ist.

Ich will Dir nun schreiben, was nach der Arbeitsstunde frih kommt. Da kommt die Schule. Rechnen ist sehr schwer hier, weil der Lehrer, den die Jungens Buschklepper nennen, so ein eklicher Fritze ist. Das sagen alle. Biblische Geschichte ist sehr schön, aber im Lateinischen sind die Verba schwer zum abwandeln. Ich will aber doch in die Selekta. Die Selekta darf abends eine Stunde länger aufbleiben. Geographie ist sehr ausgedehnt. In der Geschichte gefallen mir die alten Germanen vortrefflich gut. Aber die Römer siegen immer. Naturgeschichte ist sehr mies, weil sie auch der Buschklepper hat. Nicht wahr, liebe Mama, die Menschen legen keine Eier. Rammer sagt, sie legten welche. Dann kommt das Mittagessen. Erst betet einer komm Herr Jesu sei unser Gast und segne was Du uns bescheret hast, und wenns alle ist, betet wieder einer Wir danken Dir Herr Jesu Christ, das Du unser Gast gewesen bist. Aber er ist natürlich nicht wirklich da, sondern man muß sich ihn selber denken. Es giebt meistenteils Rindfleisch mit Gemiese, und Brot kann sich jeder nachholen, wenn er noch nicht satt ist. Ich hole mir immer welches. Bier giebts keins, blos Wasser. Wir haben einen neuen Schüsseloberst. Das ist der schönste Junge im ganzen Kasten und ein Serbe. Er ist sehr gut und macht seine Witze. Gestern sagt er zu mir: Du, Schund, jetzt laß ich Dichs Wasser karieren. Da haben wir aber alle gelacht. Er heißt Miokovitsch. Ist das nicht ein schöner Name? Wenn ich groß bin, geh ich mit ihm nach Serbien. Er kann den Ball übern Thurm pritschen. Auch die Riesenwelle kann er. Er hat aber auch schon beinah einen Schnurbart. Ich hab ihn furchtbar gern. Liebe Mama, die Kiste ist schon lange alle.

Es grüßt und küßt Dich

Dein Dich vielmals liebender Sohn
Willibald Stilpe No. 171.

Liebe gute Mamma!

Der Schisseloberst hat gestern dem Terz eine Schelle neingehaun. weil er mich geknufft hat. Schick mir doch Pfannkuchen in der Kiste. Er ißt sie furchtbar gerne. Denke Dir nur: sein Vater ist Feldherr der Serbier. Ich hab sein Bild gesehen. Es ist keine Sohle. Überhaupt: Miokovitsch schwindelt nicht. In seinem Photographiealbum hat er auch viele furchtbar schöne Bilder von Mädchens. Die Großen nennen ihn alle den schönen Mio. Dem seine Muskeln solltest Du mal sehen, liebe Mamma! Sie sind so dick wie meine Waden. Er braucht sich auch keinen Scheitel zu machen, weil er Locken hat. Niemals läßt er mich karieren, denn er ist überhaupt sehr edelmütig. Seine serbischen Briefmarken krieg ich alle. Er kann furchtbar turnen. Gestern ist er in der Nacht ausgestiegen und am Blitzableiter nunter geklettert. Weil ich gerade an dem Fenster liege, hab ichs gesehen. Daß Du nicht petzt, hat er gesagt, und ich solls auch keinem Jungen sagen; ich sags gewiß keinem. Er ist erst nach einer Stunde wieder gekommen, und da war er so lustig, daß er mir einen Kuß gegeben hat. Ich weiß auch, warum er nunter geklettert ist. Er hat sich einen Strauß geholt. Den ganzen Tag hat er ihn immer in seiner Tasche gehabt. Mir gefellts jetz ganz gut hier. Liebe Mamma, schick doch ja recht viele Pfannkuchen.

Es grüßt Dich Dein treier

Sohn Willibald Stilpe.

Liebe Mamma!

Weil Du schreibst, daß ich Dir nicht geschrieben habe, was wir nach dem Essen thun, so will ich es schreiben. Da wird exeziert. Das ist sehr mühsam und mit Grobheit verbunden, weil die Herren Inspektoren so schreien müssen und sich ärgern, wenn die Jungens alles falsch machen, was natürlich ist, denn wenn man es noch nicht kann, so ist es sehr schwer. Ich möchte lieber bei den Tromlern sein, und Miokovitsch will schon dafür sorgen. Dann werden die Kleider ausgekloppt und vorgezeigt. Der Inspektor kloppt auf die Hosen, und wenn Staub kommt, so wirds aufgeschrieben, und wer drei Mal angeschrieben ist, der darf nicht mit spielen später. Bei manchen kloppt der Inspektor aber leise und bei manchen derb. Dann ist wieder Schule. Hernach aber giebts Vesperbrot und dann dürfen wir drei Stunden spielen. Räuber und Dragoner ist das Schönste. Ich hab einen Versteck, den keiner rauskrigt. Da können sie lange suchen, wenn ich durchs Fenster in den Badebassin krauche. Pritschball ist auch sehr schön, aber die Pritschen sind so lang, daß man oft vorbeihaut, und dann brillen die andern. Die Seite, wo Miokovitsch ist, gewinnt immer. Er hat die schwerste Pritsche, aber er macht selten mit. Überhaupt ist er oft nicht da, wenn gespielt wird. Ich hab ihn mal gefragt, warum er immer nicht da ist. Da hat er gesagt: Du bist neugierig, Schund, aber wenn du's niemand sagst, will ich Dir's verraten. Aber er hat mich blos verulken wollen, denn es ist doch Unsinn, daß er auf dem Mond spazieren geht. Solche Witze macht er immer.

Liebe Mama, warum schickst Du die Pfannkuchen nicht.

Es grüßt Dich Dein

teurer Sohn
Williwitsch.

Liebe, gute Mama!

Ich habe furchtbar lachen müssen, weil Du schreibst, ob es nicht recht wehthut, wenn der Herr Inspektor auf die Hosen kloppt. Du denkst wol, wir haben sie an, wenn er kloppt? Nein, das sind die andern, die erste Garnitur, die gekloppt werden. Nun will ich aber endlich schreiben, was abends gemacht wird. Da wird erstens Abendbrot gegessen, wobei auch Biertrinken stattfindet. Es ist aber natürlich blos einfaches. Dazu giebt es Brot und Butter oder Fett. Fett ist mir lieber, denn die Butter ist sehr häufig ranzig. Viele Jungens schmieren sie dann untern Tisch oder schnippen sie mit dem Messer an die Decke. Dann fällt sie manchmal nächsten Tag in die Suppe. Weshalb es ein Unfug ist und man Schellen kriegt, wenns gemerkt wird. Natürlich wagen sichs blos die Großen. Im Winter soll die Butter auch von vielen Jungens gesammelt werden und sie machen dann abends auf dem Ofen im Arbeitszimmer Butterbäbe draus mit geriebenen Brot. Das muß fein schmecken. Dann gehts wieder naus zum Spielen und dann ist Arbeitsstunde oder Selbstbeschäftigung, wobei Briefe geschrieben werden oder sonst welcher Unsinn gemacht wird, weil kein Inspektor dabei ist. Dann gehts um Neune schlafen, wobei das Schnarchen durch Anspritzen beseitigt wird. Miokowitsch klettert jetzt egal zum Fenster nunter. Mit Rammern bin ich schiech, weil er sagt, Miokowitsch wär ein Schlowake. Ich brauch überhaupt keinen Freund, weil mich Miokowitsch zu seinem Leibschund ernannt hat. Deshalb heiß ich auch Williwitsch.

Dein Dich liebender
Sohn
W. St.

Liebe Mama!

Schiech sein ist, wenn man mit Einem nicht mehr Freund ist. Leibschund ist kein Schimpfname sondern sehr ehrenvoll.

Wie's am Sonntage zugeht, das ist sehr langweilig, wenn man niemand in der Stadt hat, zu dem man Urlaub kriegt. Weißt Du denn gar niemand, wo ich hingehen kann? Früh gehen wir in die Kirche. Da haben wir einen besondern Platz und alle Bänke sind furchtbar bekritzelt, wo die Freimaurer sitzen. Die meisten Jungens nehmen sich Bücher zum Lesen mit. Ich sitze aber so nahe beim Inspektor. Zu Mittag gibts Kompot und abends Thee und Käse. Wenn schönes Wetter ist wird Spaziergang gemacht. Es ist aber ledern, weil man so zwei und zwei in einer Reihe geht. Und ich muß mit Rammern gehn, mit dem ich schiech bin. Er will immer zu reden anfangen, aber fällt mir gar nicht ein. Er soll erst sagen, daß Miokowitsch kein Schlowake ist.

Liebe Mama, ich danke recht schön für die Pfannkuchen, aber es waren sechs ungefüllte dabei.

Es grüßt und küßt Dich

Dein teurer Sohn
Williwitsch.



Viertes Kapitel

Man hat, denk ich, aus den Briefen des Battlings ersehen, daß Klein-Willibald, nicht ohne instinktive Lebenskunst, es verstanden hat, aus dem sauren Apfel, in den zu beißen er gezwungen war, nach Möglichkeit Süßes zu saugen. Er hat unbewußt nach einem Rezept gehandelt, das auch Erwachsenen häufig probat erscheint zur Aufhöhung des Lebens: er hat sich einen kleinen Heroënkult eingerichtet. Und, wie klug der kleine Bursche doch war! Er blieb nicht in der Ferne stehen und schwärmte platonisch, sondern er begab sich frohgemut und entschlossen in die Klientele seines Idols.

Die Gelegenheit, jetzt schon zu konstatieren, wohin sich das Häkchen krümmen will, wäre günstig, aber ich möchte dem Leser auch etwas zu thun geben und überlaß es also ihm, nachzumessen. Nur bitte ich, sich nicht gleich ein Schema zu machen. Des Menschen Seele ist manchmal schwankender als der Gang eines Betrunkenen durch einen Sturzacker. Aber: wie Sie wollen!

An mir ist es, weiter zu erzählen und zu sagen, daß Jung-Stilpe allmählich aus dem Stande eines Battlings in den nächst höheren eines Quarks emporrückte. Das heißt: Er wurde nun nicht mehr bloß geschunden; er durfte auch selber ein bischen mitschinden.

Es wäre nur menschlich gewesen, wenn er sich in diesem Zustande wohler befunden hätte, als in dem vorigen. Aber es war nicht so. Am Selberschinden fand er wenig Geschmack, und so entging ihm die tröstliche Genugthuung, die nicht blos im Freimaurerinstitut in Dresden-Friedrichstadt den meisten Menschen das Geschundenwerden erträglicher macht. Er hatte keinen Sinn für das Wohlthuende, das in der Möglichkeit liegt, von oben empfangene Püffe nach unten weiter zu geben.

Es thut mir leid, aber ich muß es feststellen: Er dokumentierte damit einen betrüblichen Mangel an Begabung für realistischen Lebensverstand. Die Strafe für diesen Defekt konnte nicht ausbleiben: Er fühlte sich jetzt elender als früher. Denn, während er sich die jetzt offenstehende Gelegenheit der Ableitung nach unten entgehen ließ, verringerte sich doch nicht seine Empfindlichkeit für die Stöße von oben. Im Gegenteil: Er empfand sie viel peinlicher. Denn er hatte an Kritik zugenommen. Die Großen standen ihm jetzt näher, und so erkannte er, daß allerlei Dinge an ihnen waren, die sie eigentlich nicht berechtigten, die Kleinen stolz und schlecht zu behandeln. Er sah, daß es keineswegs alle Helden waren wie der gepriesene Mio, es entging ihm vielmehr nicht, daß es unter ihnen Burschen von unzweifelhaft gemeinen Qualitäten gab. Von diesen sich schinden zu lassen, das hielt schwer und that ungemein weh.

Es kam für Jung-Stilpe die Zeit der ersten Zweifel an der zweckmäßigen und gerechten Einrichtung dieser Welt. Zehn Jahre erst alt, und schon mußte er an allerlei Warums nagen.

Warum darf mich Börner knuffen, da er doch unter den Großen als Feigling verachtet ist?

Warum darf mich Roscher Dummer Quark nennen, da es doch allgemein bekannt ist, daß er der Dümmste in seiner Klasse ist?

Warum darf ich den Bodemann nicht wieder ohrfeigen, da er doch schwächer ist, als ich?

Alles blos, weil ich noch ein Quark bin?

Ja, zum Teufel, warum thun sich die Quarks nicht zusammen und wehren sich? Wenn sie alle zusammenstünden und vielleicht noch die Battlinge heranzögen, so müßten sie die Großen, die ja viel weniger sind, unterkriegen!

Aber auf dieses Warum wußte er die Antwort. Die Quarks waren, bis auf wenige, zu denen er gehörte, Memmen, Gesindel. Sie machten es mit den Battlingen nicht besser, als die Großen mit ihnen, und untereinander knufften und pufften sie sich noch mehr, als sie von den Großen geknufft und gepufft wurden. Ganz sicher, wenn er es sich etwa einfallen ließe, gegen die Großen aufzumucken: Die meisten Keile würde er von den Quarks kriegen.

Das war eine böse Situation für den kleinen Stilpe, um so böser, als Mio ins Land seiner Väter zurückgekehrt war.

Die Umstände, unter denen sich dies Ereignis vollzogen hatte, waren nicht ganz normaler Natur: Herr Mio war geschaßt worden.

Warum? Der kleine Stilpe hörte was läuten, aber nicht zusammenschlagen. Es ging ein Munkeln durch die Jungens, als ob ganz Unerhörtes sich begeben hätte. Mio hatte etwas völlig Unsagbares gethan, etwas, wofür den Quarks und gar den Battlingen die Begriffe fehlten.

Gewiß etwas Großartiges, dachte sich Stilpe, und sein Held erschien ihm nun im Zauber des Geheimnisvollen noch gewaltiger. Ihn selber hatte er wohl gefragt, aber es war ihm wieder die Antwort vom Monde geworden:

– Die Pauker wollen nicht, daß man auf dem Mond spazieren geht und vorzüglich nicht mit ihren Töchtern.

Mit ihren Töchtern? Auf dem Monde? Welche furchtbaren Geheimnisse! Dem kleinen Stilpe rollte es gruselig, aber warm übers Rückenmark.

Er fühlte: Der Mond war blos ein Symbol, so wie der Herr Jesus Christ als Mittagsgast, aber die Töchter der Pauker, die waren reell gemeint.

Himmel, wer das Symbol vom Monde ergründen könnte?

Eine Paukerstochter fragen?

Pfui, wer wird sich mit Mädchen einlassen!

Jung-Stilpe war noch im Alter des Jungenstolzes, der im Mädchen etwas befleckend untergeordnetes sieht. Mädchen! Das kam noch weit hinter den Battlingen. Was das für jämmerliche Dinger sind! Höchst feige Geschöpfe. Also kein standesgemäßer Umgang für ritterliche Enkel der alten Germanen.

Aber Mio war trotzdem mit solchen Dingern »auf dem Mond spazieren gegangen«? Konnte Mio, der Held, etwas Unritterliches thun? Nie! Es mußte vielmehr etwas höchst Ritterliches gewesen sein.

Wer weiß: Vielleicht war eben das Spazierengehen auf dem Monde das einzig Ritterliche, das man mit diesen Wesen thun konnte.

Wenn man nur erst wüßte, was es wäre!

Mio hatte, als der kleine Willibald durchaus wissen wollte, was unter dem Mondspazierengehen zu verstehen sei, die Schonung seines Schnurrbartes gestrichen und mit einem sonderbaren Lächeln gesagt: Williwitsch, wenn ich dir das erkläre, schassen sie dich auch. Warte noch, bis dir so was wächst, und dann wirst du's von selber erfahren.

Mein Gott, wie geheimnisvoll! Es hing also mit dem Schnurrbart zusammen! Für Quarks war demnach der Mond durchaus unerreichbar, denn ein Quark mit einem Schnurrbart war undenkbar. Man mußte mindestens ein Strunk werden. Aber auch unter den Strunks war ein Schnurrbart, d. h. die erste Andeutung eines Anfluges davon, ein unerhörtes Wunder. Fliczek war der einzige unter den Strunks, der so etwas wie einen Flaum auf der Oberlippe hatte.

So wurde Fliczek das Idol.

Willibald machte sich an ihn heran. Er opferte Hekatomben von mütterlichen Pfannkuchen, ihn zu gewinnen. Schließlich gelang es ihm mit einem Osterfladen. Aber Fliczek war kein Held, kein Mio. Er aß den Osterfladen und würdigte Willibald seines Umgangs, aber es stellte sich heraus, daß dieser schnurrbärtige Strunk vom Monde einstweilen nicht viel mehr wußte als der schnurrbartlose Quark.

Also hing es vom Schnurrbart allein nicht ab.

Da wurde Willibald selber ein Strunk. Zwölf Jahre war er nun alt. Die Periode der wesentlich körperlichen Schindung mit Ohrenlangziehen, Andenhaarenreißen, Schellenkriegen war im allgemeinen vorüber. Die Drangsale fingen an, hauptsächlich seelischer Natur zu werden. Die Strunks, die nur die Großen noch über sich hatten, wurden von diesen nicht geprügelt, sondern verhöhnt.

So ein Strunk, das ist wohl was! Bildet sich vielleicht ein, daß er schon ein Großer ist? So ein Jämmerling! Hat noch kurze Hosen an und thut sich dicke! Vielleicht, weil er Selektaner ist? Weil er seinen Namen mit griechischen Buchstaben in alle Bücher schreibt? Ist was Rechtes! Ist doch noch ein kleiner Junge, mit dem man lange noch nicht über Alles reden kann.

Aber immerhin kamen die Selektaner unter den Strunks schon mit den Großen in einige Berührung. Da sie mehr Schularbeiten zu machen hatten, als die übrigen, durften sie mit den Großen eine Stunde länger aufbleiben. Diese Arbeitsstunde wurde, da die Inspektoren im Schlafsaal sein mußten, nicht ständig überwacht. Es kam nur zuweilen der Direktor, um nachzusehen, ob die Stunde nicht etwa ausgedehnt wurde, und um nachzuriechen, ob nicht geraucht worden war. Aber, wenn der Direktor Kegelabend hatte, war man sicher. Dann rauchte alles, auch die Strunks. Es gab sogar eine Wasserpfeife! Und wer gut turnen konnte, kletterte die Mauer hinan, ließ sich auf den Briefrasten hinab, sprang auf die Straße, lief ins Böhmische Brauhaus und holte Bier.

Ha, was für Gelage! Richtige, große Deckelgläser schwang man, und Lagerbier war drin! Da wurden die Großen vertraulicher. Aber Alles durften die Strunks doch nicht mitmachen. So, wenn ein Nachtscheuern war und die Dienstmädchen in den Corridors herumkicherten. Dann kicherten die Großen draußen mit, aber die Strunks mußten im Hofe und Garten Posten stehen.

Zweifellos: Das hing mit dem Monde zusammen. Freilich nicht im hohen Sinne des Miokowitsch! Der hätte nie mit Dienstmädchen gekichert, die den Scheuerlappen in Händen hatten.

So kam Jung-Stilpe ins dreizehnte Jahr, und seine Sehnsucht war vergeblich hinter dem Monde her und was dessen tiefster Sinn eigentlich wäre.

In der Schule ging alles passabel, bis aufs Rechnen; seine Mitstrunks achteten ihn als einen, der alles Verbotene kühn und heiter mitmachte und nie petzte, aber enge Freunde hatte er keine, weil er, wie die andern sagten, zu eingebildet war. In der That hielt er sich für reichlich dreimal so gescheid wie alle übrigen, wenn auch nicht gerade in den Fächern, die auf dem Stundenplane standen.

Daß er sich auch in die spezifische Geheimkunst der Knabeninstitute einführen ließ, bedarf nicht besonderer Erwähnung. Er übte sie aber noch ohne jene Perspektive, die erst aus der Erkenntnis vom Wesensunterschiede der Geschlechter erwächst. Indessen: Es liegt in der Natur dieser bedenklichen Kunst, daß sie den Hunger nach jener bedenklichen Erkenntnis weckt. Oh, die Augen Willibalds damals! Was wollten sie nur, daß sie zuweilen so weit offen und starr waren, glühten und glosten, flackerten und sich weiteten . . .?

Wirklich, meine werten Herren Pädagogen, es genügt nicht, mensa abzufragen und den Jungens auf den Zahn zu fühlen, ob der peloponnesische Krieg fest sitzt, – Sie müßten ihnen auch manchmal in die Augen sehen. Sie, die Sie mit unfehlbarer Sicherheit jedes Jota subscriptum aufstöbern, das zuviel geschrieben wird, sehen Sie denn nicht, daß da unten in diesem Auge ein häßlicher Wurm sitzt? Umgotteswillen, rotten Sie diesen Wurm aus, Herr Professor, er ist viel bedenklicher als zehn falsche Jota subscripta. Aber es ist mehr dazu nötig, als rote Tinte, und der Rohrstock thuts freilich nicht. Denken Sie blos an sich, und was alles Ihnen der Wurm weggefressen hat! Wie? Sie verbitten sich diese Verdächtigung? Ja, dann freilich!

Jung-Stilpe also, dreizehn Jahre alt, war bereits wurmstichig. Werden wir uns wundern, daß er in puncto puncti frühreif ward? Nun, es giebt viele solche Wunderkinder. Wir wollen uns nicht anstellen, als fänden wir das so verwunderlich. Oder wollen wir doch? Schön, wem es würdig dünkt, der thue seinem Herzen keinen Zwang an und entrüste sich. Hier stehe ich mit meiner ganzen Breitseite; es haben viele faule Äpfel Platz.

Also: Jung-Stilpe suchte mit sonderbaren Blicken nach jener Perspektive, die ihm noch fehlte. Da kam das, was wir den Zufall nennen, und was unsre Vorvordern den Teufel genannt haben, riß den Nebel entzwei und sagte leise und mit infam linder Stimme: Bitte, da!

Es kam so: Der Direktor hatte wieder einmal Kegelabend, und die Selektaner thaten sich gütlich an Alkohol und Nikotin. Sie waren alle bei einander, nur Einer fehlte, der mit dem Schnurrbart, Wenzel Fliczek.

Sie sitzen alle recht sorglos und im süßen Genusse des Verbotenen bei einander, da thut sich die Thüre auf und Fliczek schreit herein: Fenster auf! Lichter aus! Der Alte kommt übern Hof!

Dann, wie die Lichter ausgelöscht sind, flüstere er leise zu jemand Unsichtbarem hinter ihm: Schnell, da 'nein, unters Katheder!

Willibald war gerade daran, als Letzter zum Fenster hinauszuspringen. Da, aber, wie eigen das war, drehte es ihn um.

Was denn nur? Unters Katheder!

Er duckte sich dort in die Ecke.

Da, wie es raschelt! Und neben ihm, hart neben ihm drückt sich was Weiches.

Gott oh Gott! Was mag das sein! Wie warm! oh, und wenn tausend Direktoren kämen!

Die süße Angst!

– Wer bist denn Du?

– Sei doch stille! Der Direktor . . .!

Herrgott, wie weich und warm!

– Rem! Hm! Rem! – Es kommt den Gang herauf. Die Thüre schlägt.

– Rem! Hm! Rem! – Jetzt ist er wohl im Zimmer? Ja. man hört ihn ja schnaufen.