April
Der Schokoladenkuchen duftete verlockend, doch nach zwei Bissen hatte Myriam genug. Ihr war plötzlich schlecht.
„Ich kann nicht mehr“, sagte sie leise zu Hannah. „Möchtest du den Rest?“ Aber Hannah unterhielt sich gerade mit Sina und hörte ihre Frage nicht.
Myriam zerkrümelte den Kuchen in kleine Stücke und verteilte ihn so unauffällig wie möglich hinter ihrem Rücken auf der Wiese. Wenn Tori, die den Kuchen gebacken hatte, das sah, wäre der Teufel los. Trotzdem hätte Myriam beim besten Willen keinen Bissen mehr runtergebracht.
Das war oft so in letzter Zeit. Ob sie nach dem Stalldienst zusammen Eis essen gingen oder am Wochenende auf der Ranch gegrillt wurde, sobald sie mit den anderen zusammensaß, verlor Myriam schlagartig den Appetit.
Noch vor einem halben Jahr hatte Myriam richtig dazugehört. Aber dann hatte sie alles aufs Spiel gesetzt – und verloren. Hannah hatte ihr verziehen, das wusste Myriam. Aber die anderen, allen voran Tori und Sina, konnten einfach nicht vergessen, wie Myriam sich verhalten hatte.
Und daran wird sich nie etwas ändern, dachte sie düster.
Seit mehr als vier Jahren war Myriam schon Pferdemädchen auf der Sunshine Ranch. In der dritten Klasse hatten sie und Hannah mit dem Reitunterricht bei Sue begonnen. Kurz danach hatte Sue Camilla gekauft und Myriam hatte die Verantwortung für die Stute übernommen. Seitdem fütterte, pflegte und ritt sie die Freibergerstute, mistete ihre Box aus und kraulte ihre Mähne. In den Ferien brachte sie die Stute morgens auf die Weide und führte sie abends wieder zurück in den Stall.
Offiziell gehörte Camilla Sue, aber eigentlich war sie Myriams Pferd. Und dennoch hatte Myriam sie vor fünf Monaten im Stich gelassen. Genau genommen hatte sie die ganze Ranch im Stich gelassen.
Damals war Myriam auf die bescheuerte Idee gekommen, auf einer benachbarten Ranch zu trainieren. Sie hatte davon geträumt, als Turnierreiterin ganz groß rauszukommen. Dann waren ihre Träume in sich zusammengebrochen. Heute gab es die andere Ranch nicht mehr. Und Myriam war wieder zurück auf Sunshine.
„I’m so happy that you’re back!“, hatte Sue bei ihrer ersten Reitstunde gejubelt. „Ich freue mich so.“
Aber die anderen Mädchen freuten sich nicht und sie konnten Myriam auch nicht so einfach verzeihen. Das Rad ließ sich nicht zurückdrehen. Was geschehen war, war geschehen.
„Hab ein bisschen Geduld“, versuchte Hannah sie zu trösten, wenn sie mitbekam, dass Myriam traurig war. „Bald ist Gras über die ganze Sache gewachsen. In ein paar Wochen denkt keiner mehr daran.“ Das hatte sie allerdings schon vor zwei Monaten zu Myriam gesagt. Und Myriam hatte nicht den Eindruck, dass seitdem irgendetwas besser geworden war.
Vielleicht sollte ich das Reiten ganz aufgeben, dachte Myriam. Anfang des Jahres hatten ihre Eltern in Erwägung gezogen, für einige Zeit nach Tokio zu ziehen, weil Myriams Vater ein attraktives Jobangebot von einer japanischen Bank bekommen hatte.
„Ist mir egal, was ihr macht“, hatte Myriam damals verkündet. „Aber ich komm auf keinen Fall mit.“
Inzwischen war der Plan wieder vom Tisch. Nun tat es Myriam leid, dass sie das Ganze so vehement abgelehnt hatte. Vielleicht wäre das ja die Lösung ihres Problems gewesen. Am anderen Ende der Welt noch mal neu anzufangen.
„Ist das Leben nicht super?“, seufzte Sina glücklich. Sie verschränkte die Arme im Nacken und ließ sich nach hinten ins Gras fallen.
„Es wäre super“, stöhnte Tori. „Wenn ich nur nicht in diese blöde Ferienanlage müsste.“
Ihre Eltern hatten zwei Wochen Familienurlaub auf Mallorca gebucht und Tori musste wohl oder übel mit. „Was soll ich denn auf Malle, wenn ich hier alles habe, was das Herz begehrt?“, jammerte Tori zum x-ten Mal.
„Ist doch erst zum Ferienende“, tröstete Ayla sie. „Bis dahin hast du noch vier Wochen Spaß.“
Ayla selbst war hochzufrieden, dass ihre Familie in diesem Jahr zum ersten Mal nicht in die Türkei fuhr. Ihre ältere Schwester hatte gerade ihr erstes Kind bekommen, deshalb blieben ihre Eltern in Deutschland.
„Vielleicht bist du ja noch froh, wenn du abhauen kannst“, sagte Sina zu Tori. „Heute kommt diese amerikanische Tussi an. Und was Sue bisher über sie erzählt hat, klingt nicht unbedingt prickelnd.“
Sue war am Nachmittag zum Flughafen gefahren, um ihre vierzehnjährige Nichte abzuholen. April kam aus Sues Heimat Kalifornien und wollte die Sommerferien bei ihrer Tante verbringen. In den letzten Wochen hatten die Pferdemädchen Sue immer wieder über April ausgefragt. Und Sina hatte Recht: Was Sue über April berichtet hatte, war wenig vielversprechend.
„Das arme Mädchen hat es wirklich nicht leicht“, hatte Sue gesagt. „Ihre Mutter, also meine Schwester, ist völlig überdreht. Ständig jettet sie in der Welt herum, statt sich um ihre Tochter zu kümmern. Und Larry, ihr Vater, verdient einen Haufen Kohle und versucht sich mit teuren Geschenken aus der Verantwortung zu stehlen. April ist manchmal ein bisschen unvernünftig und kindisch. Aber sie meint es nicht so.“
„Wenn man es in Klartext übersetzt, heißt das doch: launisch, verwöhnt und arrogant“, hatte Tori hinterher kommentiert. „Eine Zicke.“
„Die Zicke ist ja zum Glück nicht unser Problem“, sagte Ayla jetzt und nahm sich noch ein Stück Schokoladenkuchen.
„Ich befürchte doch“, widersprach Juliana. „Sue erwartet schließlich, dass wir uns um April kümmern.“
„Boah.“ Sina, die immer noch auf dem Rücken lag, schloss genervt die Augen. „Also, ich spiel bestimmt nicht das Kindermädchen für eine bescheuerte amerikanische Schnepfe.“
„Das war’s“, jammerte Tori. „Erst kann ich mich wochenlang mit diesem verwöhnten Gör herumärgern und dann auf zum Familienurlaub nach Mallorca. Wo bleibt da die Erholung?“
„Jetzt wartet erst einmal ab“, wandte Hannah ein. „Noch hat keine von uns diese April gesehen. Vielleicht ist sie total nett.“
Die anderen lachten spöttisch. Nur Myriam lachte nicht. Bei Hannahs Worten war ihr plötzlich bewusst geworden, dass sie sich nichts sehnlicher wünschte, als dass ihre Freundin falsch lag. Dass Sues Nichte wirklich so schlimm war, wie die anderen befürchteten. Vielleicht sogar noch schlimmer. Wenn April die Pferdemädchen von morgens bis abends mit ihren Launen und Sonderwünschen nervte, würden sie ihre Abneigung gegen Myriam endlich wieder vergessen.
Diese Amerikanerin, stellte Myriam fest, war vielleicht ihre letzte Hoffnung.
Auch wenn sie skeptisch waren, konnten die Pferdemädchen es kaum erwarten, Sues Nichte endlich kennenzulernen. Doch als sie wieder auf den Hof kamen, war von Stefans Mercedes noch nichts zu sehen.
„Die sind doch gleich nach dem Mittagessen losgefahren“, wunderte sich Sina. „Inzwischen müssten sie längst da sein.“
„Der Flug muss Verspätung haben“, vermutete Tori.
Sie sattelten die Pferde ab, rieben sie trocken und brachten sie zur Weide hinter dem Reitplatz.
„So langsam wird’s aber Zeit.“ Juliana warf einen Blick auf ihre Uhr. „Es ist schon nach sechs. Ich muss um sieben zu Hause sein.“
„Ich auch“, sagte Ayla. „Aber ich will April unbedingt noch sehen. Sonst kann ich heute Nacht vor Neugier nicht schlafen.“
Ihr Wunsch erfüllte sich nicht. Sue, Stefan und April kamen erst um halb acht auf der Ranch an, lange nachdem Ayla und Juliana aufgebrochen waren.
Nur Tori, Sina und Hannah hatten bis zuletzt ausgeharrt. Und Myriam natürlich. Schließlich war April ihre letzte Hoffnung.
Eine Hoffnung, die im selben Moment zerplatzte, in dem Sues Nichte aus dem Wagen stieg. April war schlank und groß und hübsch. Sie hatte rotblonde Locken, wild und leuchtend wie die ihrer Tante. Auf Nase und Wangen tanzten winzige Sommersprossen. Und als sie jetzt lächelnd auf die Mädchen zukam, sah man, dass ihre großen weißen Schneidezähne ein bisschen schief standen. Sie überkreuzten sich leicht, ein winziger Schönheitsfehler, der April nur noch bezaubernder machte.
„Hi! You must be the girls!“ Sie strahlte.
„Deutsch, April!“, rief Sue dazwischen. „Du bist schließlich hier, um dein Deutsch zu verbessern!“
April zog eine niedliche Grimasse. „Okay“, sagte sie. „Ich versuch’s. Aber mein Deutsch ist total schlecht.“
Versuks sagte sie anstelle von versuch’s und schleckt statt schlecht. Und dabei lächelte sie so süß, dass sogar Tori zurücklächelte, obwohl sie sich doch fest vorgenommen hatte, die Amerikanerin ganz furchtbar zu finden.
Wie fröhlich und vergnügt April wirkte! Dabei musste sie stundenlang im Flieger gesessen haben. Aber das schien sie nicht im Mindesten mitgenommen zu haben.
„I’m April“, stellte sie sich vor. „Ich meine natürlich, ich bin April“, fügte sie mit einem schuldbewussten Seitenblick auf Sue hinzu.
„Ich heiße Tori“, erwiderte Tori. „Das ist Sina. Und das ist Hannah.“
Klar, dass sie Myriam gar nicht erst erwähnte. „Ich heiße Myriam“, stellte Myriam sich selbst vor.
„Hi! Nice to meet you!“ April schien schon wieder vergessen zu haben, dass sie Deutsch sprechen sollte.
„Warum kommt ihr überhaupt so spät?“, fragte Sina Sue.
„It’s just ridiculous!“ Vor Empörung fiel Sue jetzt selbst ins Amerikanische. Sie warf genervt beide Arme nach oben.
„Zuerst hatte der Flieger Verspätung“, antwortete Stefan, der Verwalter der Ranch, der seit ein paar Wochen Sues Freund war. Ächzend wuchtete er einen riesigen Schrankkoffer aus dem Kofferraum. „Und dann fehlte auch noch das halbe Gepäck. Wir mussten eine Suchmeldung aufgeben. Der ganze bürokratische Kram dauerte Stunden.“
„Das halbe Gepäck?“ Sina blickte verwirrt auf den immensen Koffer.
„Ein Koffer ist angekommen“, erklärte Sue. „Aber die anderen beiden sind verschwunden. Keiner weiß, wo sie gelandet sind.“
Sollte das ein Witz sein?
„Was? Du hast drei Koffer dabei?“, fragte Tori April.
„Und mein Pferd“, ergänzte April. „Aber Charlie haben sie glücklicherweise nicht verloren. Wir holen ihn morgen am Flughafen ab.“
„Haha“, sagte Tori. „Guter Witz.“
„Nichts haha“, entgegnete Sue. „Das ist typisch für meine Schwester. Sally hat entschieden, dass April für ein ganzes Jahr in Deutschland bleiben soll. Sie hat nur leider vergessen, mir ihren Entschluss mitzuteilen. Es mussten ja auch so viele andere Dinge vorbereitet werden.“
„Das ist ja …“ Jetzt fehlten sogar Tori die Worte.
„Great, isn’t it?“, meinte April. „Der wahre Grund für den Wirbel ist, dass sich meine Mutter vor ein paar Wochen in diesen neuen Kerl verknallt hat. Und der hat keinen Bock auf eine nervige Teenagertochter. Also musste ich weg.“
„Da kam die Tante in Deutschland gerade recht“, sagte Sue.
„Und jetzt?“, fragte Sina entgeistert.
„Bin ich eben hier“, erklärte April.
„Und natürlich bleibst du hier“, sagte Sue und umarmte ihre Nichte. „Das ist ja kein Problem. Ich hätte es nur gerne vorher gewusst.“
„Aber dann … musst du doch auch zur Schule gehen“, meinte Tori.
„Stimmt. Das alles zu organisieren, ist ganz schön kompliziert“, sagte Sue. „Besonders jetzt, in den Ferien. Es wäre sehr viel einfacher gewesen, wenn ich es vorher gewusst … Ach, ist ja auch egal. Ich freu mich wirklich, dass du da bist, April.“
„Und ich freu mich auch“, sagte April strahlend. „I’m very happy to be here.“
Dieses Lächeln. Man konnte gar nicht anders, als sich mit ihr zu freuen. Selbst Myriam, die sich so sehr gewünscht hatte, dass April zickig, eingebildet und absolut unsympathisch wäre, war bezaubert.