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Inhalt

Titel

Impressum

Die Außenseiterin

April

Freestyle

Wo ein Wille ist

Tom

Heavy Metal

Die große Show

Die Party

Charlie

Rührei mit Tränen

Ein Verdacht

Die Übergabe

Merles Geheimnis

Kribbeln im Bauch

Ausritt mit Herzklopfen

Ella packt aus

Kopfschmerzen

Ein rostiger Nagel

Aufgeschoben ist nicht aufgehoben

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Als Ravensburger E-Book erschienen 2013

Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbH.
© 2013 Ravensburger Verlag GmbH

Umschlaggestaltung: init.büro für gestaltung, Bielefeld unter Verwendung eines Fotos von istockphoto/Debi Bishop
Lektorat: Emily Huggins

Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH

ISBN 978-3-473-47283-3

www.ravensburger.de

Die Außenseiterin

Als Myriam ihr das Zaumzeug über die Ohren schieben wollte, warf Camilla unwillig den Kopf zurück. Sie schnaubte und versuchte sich in der engen Box abzuwenden.

„Ruhig, schschsch!“ Myriam kraulte die Freibergerstute zwischen den Ohren, bis sich das Pferd ein wenig entspannte.

„Bist du so weit?“, fragte Hannah über die Abtrennung der Boxen hinweg. Myriams beste Freundin hatte ihren Wallach Acapulco schon vor fünf Minuten gesattelt, während Camilla noch nicht einmal aufgezäumt war.

„Ich komm gleich. Nur noch einen Moment“, gab Myriam zurück, ohne sich umzuwenden.

„Ich warte draußen auf dich“, sagte Hannah.

Myriam hörte, wie Acapulcos Hufe über die Stallgasse klapperten. Dann schlug die Tür zu. Sie war allein.

Allein mit Camilla, die sich eng an die Abtrennung ihres Verschlags drängte.

„Was ist los, Camilla?“, fragte Myriam. „Wir kennen uns doch schon so lange. Du weißt, dass du keine Angst vor mir haben musst.“ Ihre Stimme klang weinerlich, unsicher. Das war ganz schlecht. Wenn man ein Pferd beruhigen wollte, musste man Selbstsicherheit und Stärke vermitteln, auch wenn man sich gerade nicht danach fühlte.

Das hatte Myriam in den letzten Monaten doch gelernt. Neben einigen anderen Dingen.

Energisch schob sie die Erinnerungen weg und zog das Zaumzeug mit Nachdruck über Camillas Kopf. Die Fuchsstute bleckte die Zähne.

„Ruhig, Camilla“, sagte Myriam noch einmal. Diesmal klang ihre Stimme fester.

Camilla zögerte einen Moment. Dann senkte sie den Kopf.

Die anderen Pferdemädchen saßen bereits im Sattel, als Myriam die Stute endlich aus dem Stall führte. Die anderen – das waren Hannah und ihre Klassenkameradinnen Tori, Sina, Ayla und Juliana. Sie gingen alle aufs Friederike-Fliedner-Gymnasium. Bisher waren sie in der 7a gewesen, aber nach den Ferien würden sie in die achte Klasse wechseln.

Bis es so weit war, war es glücklicherweise noch lange hin. Vor ihnen lagen sechseinhalb herrliche Wochen ohne Hausaufgaben, Arbeiten und Tests. Sechseinhalb Wochen, in denen sich die Freundinnen voll und ganz auf das konzentrieren konnten, was wirklich wichtig war: die Sunshine Ranch. Vor fünf Jahren hatte die Amerikanerin Sue den verfallenen Pferdehof gekauft und zu einem Tierparadies umgebaut. Inzwischen gab es nicht nur zehn Pferde und ein Fohlen auf der Ranch, sondern auch den Esel Fritz, die Hängebauchschweine Horst und Klothilde, die Ziege Ilka und zahllose Gänse, Enten und Hühner. Nicht zu vergessen Washington und Heinrich. Die beiden Hunde der Ranch trotteten gerade aus der Scheune.

„Wie wär’s mit einem kleinen Ausritt, ihr beiden?“, rief Juliana ihnen zu.

Washington würdigte die Mädchen keines Blickes. Stattdessen schleppte sich der riesige Neufundländer in den Schatten vor der Scheune, ließ sich zu Boden plumpsen und schloss die Augen. Er hasste Ausritte. Manchmal zwang ihn Sue, sie zu begleiten, dann trabte er widerwillig neben ihr und dem Pferd her. Aber freiwillig? Niemals!

Der zottelige Heinrich, der dem Verwalter der Ranch gehörte, trippelte dagegen aufgeregt hin und her. Er warf den Mädchen auf den Pferden sehnsüchtige Blicke zu. Aber seinen Freund Washington verlassen? Das ging auch nicht …

„Können wir?“, fragte Tori und schob ungeduldig eine weißblonde Haarsträhne unter ihren Helm.

Myriam schwang sich in den Sattel und nickte. „Klar.“

Hintereinander trabten die sechs vom Hof, Tori an der Spitze, Myriam als Letzte.

Als sie die Wiese vor dem Wald erreicht hatten, ließ Hannah sich zurückfallen und lenkte Acapulco neben Camilla. „Schön hier, was?“

Myriam lächelte.

Es war nicht nur schön, es war geradezu traumhaft. Die Sonne fiel durch die Blätter der Buchen am Waldrand und malte ein flirrendes Muster auf das Gras.

Myriam lehnte sich nach vorn und atmete Camillas vertrauten warmen Geruch ein. Sie schloss die Augen und lauschte dem gleichmäßigen Schnauben der Stute, dem dumpfen Geräusch der Hufe auf dem Trampelpfad, dem Vogelgezwitscher im Wald. Auf der Wiese summten Bienen und Hummeln. Es war wie Musik.

„Schade, dass Hannes nicht mitkommen konnte!“, rief Tori über die Schulter zurück. „Hast du schon was von ihm gehört, Hannah?“

„Noch nicht“, gab Hannah zurück. „Und du? Hat Jonas sich bei dir gemeldet?“

„Nee. Aber sie sind ja erst heute Morgen aufgebrochen.“

Jonas war Toris Freund und seit Kurzem waren auch Hannes und Hannah ein Paar. Die Jungen waren in den ersten Ferienwochen auf einer Freizeit mit ihrem Fußballverein.

„Und? Blutet euch das Herz?“, fragte Ayla spöttisch. „Zwei Wochen ohne eure Liebsten, wie sollt ihr das bloß aushalten!“

„Ach Quatsch.“ Hannah lachte. „Meine Allerliebsten sind doch hier.“

„Genau. Solange wir fünf zusammen sind, ist alles perfekt“, stimmte ihr Tori zu.

„Sechs“, korrigierte Hannah sie sofort und wurde rot. Myriam fragte sich, ob es Ärger oder Verlegenheit war.

„Äh, natürlich.“

Weil Tori vorne ritt, konnte Miriam ihren Gesichtsausdruck nicht sehen, aber sie war überzeugt davon, dass sie eine Grimasse zog.

Tori hatte sich nicht versprochen, da war sich Myriam sicher. Tori hatte genau das gemeint, was sie gesagt hatte. Myriam zählte nicht mehr. Sosehr Myriam sich auch bemühte, sie gehörte nicht mehr richtig dazu.

Myriam zog die Schultern zusammen und machte sich ganz steif. Wenn Tori dabei war, war es immer am schlimmsten. Die anderen Pferdemädchen ignorierten Myriam manchmal, aber zumindest ließen sie sie in Ruhe. Tori jedoch konnte es einfach nicht lassen, ihre Giftpfeile auf Myriam abzufeuern.

Fräulein Wunderbar nannte sie Myriam hinter ihrem Rücken, weil Myriam in der Schule die Klassenbeste war. Na und? Ihr letztes Zeugnis hätte eben einen Schnitt von 1,0 gehabt, wenn sie die beiden Arbeiten zum Schluss nicht völlig verhauen hätte. Na ja, verhauen war vielleicht der falsche Ausdruck. Aber eine Zwei minus in Mathe und eine Drei plus in Latein waren für Myriams Verhältnisse katastrophale Noten. Schuld an den schlechten Noten war natürlich nur das blöde Turnier gewesen. Das Turnier, wegen dem Myriam es sich mit allen verscherzt hatte …

Myriam schüttelte den Kopf und verdrängte die unschönen Gedanken. Wenigstens Hannah hielt nach wie vor treu zu ihr. Die Freundin schaute sie von der Seite an und lächelte ihr zu. Myriam lächelte zurück und beschloss nicht zum ersten Mal, Toris Sticheleien keine Aufmerksamkeit zu schenken.

Auf einer Lichtung im Wald machten sie Rast. Tori hatte einen Kuchen mitgebracht. Ayla holte Saftpäckchen aus der Tasche und verteilte sie. Sina zauberte vier kleine Geburtstagskerzen hervor und steckte sie in den Schokoladenkuchen.

„Ich weiß, es müssten eigentlich dreizehn sein“, entschuldigte sie sich, während Tori die Kerzen anzündete. „Aber mehr hab ich nicht gefunden. Immerhin ist es eine Kerze für jedes Jahr der Sunshine Ranch. Happy birthday, Ayla!“

„Herzlichen Glückwunsch!“, „Alles Gute!“, riefen die anderen durcheinander.

Aylas Geburtstag war gestern gewesen, aber da hatte sie nur mit ihrer Familie gefeiert. Heute waren endlich die Pferdemädchen an der Reihe.

„Du musst die Kerzen auspusten“, sagte Tori, nachdem sie Ayla gratuliert hatten. „Und dir dabei etwas wünschen.“

Ayla fixierte die Kerzen aus schmalen Augen. „Also gut.“

Dann blies sie die Backen auf und pustete wie ein Weltmeister. Drei Kerzen gaben sofort den Geist auf, die vierte flackerte noch einmal auf, bevor sie ebenfalls erlosch.

„Super!“, meinte Tori. „Hoffentlich hast du dir keinen Blödsinn gewünscht.“

„Nö!“ Ayla strahlte.

„Und?“, fragte Tori neugierig.

„Verrat ich doch nicht“, sagte Ayla. „Sonst geht es nicht in Erfüllung.“

„Wir haben natürlich auch ein Geschenk für dich“, warf Juliana ein. „Hoffentlich gefällt es dir, wir haben alle zusammengelegt.“ Sie zerrte ein großes rundes Paket aus ihrem Rucksack.

„Ein Fußball“, sagte Ayla sofort. „Ein zarter Wink mit dem Zaunpfahl, dass ich mit dem Reiten aufhören soll.“

Die anderen lachten. „Nun pack doch mal aus!“, rief Sina.

Es war ein schwarzer Military-Reithelm, wie ihn auch Sina, Tori und Juliana trugen. Hannah und Myriam hatten das Modell in Grau. Nur Ayla war bisher mit einem ziemlich abgeschabten englischen Samthelm geritten. Spießerhut, nannte sie ihn spöttisch.

Ihrer türkischen Familie war Aylas Reitbegeisterung ein Dorn im Auge. Aylas Eltern akzeptierten zwar inzwischen, dass Ayla jede freie Minute auf der Sunshine Ranch verbrachte, aber sie waren nicht bereit, auch nur einen Cent in ein schickes Reiteroutfit zu investieren.

„Hurra!“, jubelte Ayla. „Endlich bin ich keine hässliche Außenseiterin mehr, sondern eine von euch.“

„Das warst du doch schon immer“, sagte Juliana. „Auch wenn dein Reithelm eine Zumutung war, das muss ich zugeben.“

Myriam hatte das Gefühl, dass sie sie dabei spöttisch ansah. Und dass auch Tori und Sina ihr einen hämischen Seitenblick zuwarfen. Dabei hatte sie ohnehin schon lange begriffen.

Die Außenseiterin in der Gruppe – das war sie selbst.

April

Der Schokoladenkuchen duftete verlockend, doch nach zwei Bissen hatte Myriam genug. Ihr war plötzlich schlecht.

„Ich kann nicht mehr“, sagte sie leise zu Hannah. „Möchtest du den Rest?“ Aber Hannah unterhielt sich gerade mit Sina und hörte ihre Frage nicht.

Myriam zerkrümelte den Kuchen in kleine Stücke und verteilte ihn so unauffällig wie möglich hinter ihrem Rücken auf der Wiese. Wenn Tori, die den Kuchen gebacken hatte, das sah, wäre der Teufel los. Trotzdem hätte Myriam beim besten Willen keinen Bissen mehr runtergebracht.

Das war oft so in letzter Zeit. Ob sie nach dem Stalldienst zusammen Eis essen gingen oder am Wochenende auf der Ranch gegrillt wurde, sobald sie mit den anderen zusammensaß, verlor Myriam schlagartig den Appetit.

Noch vor einem halben Jahr hatte Myriam richtig dazugehört. Aber dann hatte sie alles aufs Spiel gesetzt – und verloren. Hannah hatte ihr verziehen, das wusste Myriam. Aber die anderen, allen voran Tori und Sina, konnten einfach nicht vergessen, wie Myriam sich verhalten hatte.

Und daran wird sich nie etwas ändern, dachte sie düster.

Seit mehr als vier Jahren war Myriam schon Pferdemädchen auf der Sunshine Ranch. In der dritten Klasse hatten sie und Hannah mit dem Reitunterricht bei Sue begonnen. Kurz danach hatte Sue Camilla gekauft und Myriam hatte die Verantwortung für die Stute übernommen. Seitdem fütterte, pflegte und ritt sie die Freibergerstute, mistete ihre Box aus und kraulte ihre Mähne. In den Ferien brachte sie die Stute morgens auf die Weide und führte sie abends wieder zurück in den Stall.

Offiziell gehörte Camilla Sue, aber eigentlich war sie Myriams Pferd. Und dennoch hatte Myriam sie vor fünf Monaten im Stich gelassen. Genau genommen hatte sie die ganze Ranch im Stich gelassen.

Damals war Myriam auf die bescheuerte Idee gekommen, auf einer benachbarten Ranch zu trainieren. Sie hatte davon geträumt, als Turnierreiterin ganz groß rauszukommen. Dann waren ihre Träume in sich zusammengebrochen. Heute gab es die andere Ranch nicht mehr. Und Myriam war wieder zurück auf Sunshine.

„I’m so happy that you’re back!“, hatte Sue bei ihrer ersten Reitstunde gejubelt. „Ich freue mich so.“

Aber die anderen Mädchen freuten sich nicht und sie konnten Myriam auch nicht so einfach verzeihen. Das Rad ließ sich nicht zurückdrehen. Was geschehen war, war geschehen.

„Hab ein bisschen Geduld“, versuchte Hannah sie zu trösten, wenn sie mitbekam, dass Myriam traurig war. „Bald ist Gras über die ganze Sache gewachsen. In ein paar Wochen denkt keiner mehr daran.“ Das hatte sie allerdings schon vor zwei Monaten zu Myriam gesagt. Und Myriam hatte nicht den Eindruck, dass seitdem irgendetwas besser geworden war.

Vielleicht sollte ich das Reiten ganz aufgeben, dachte Myriam. Anfang des Jahres hatten ihre Eltern in Erwägung gezogen, für einige Zeit nach Tokio zu ziehen, weil Myriams Vater ein attraktives Jobangebot von einer japanischen Bank bekommen hatte.

„Ist mir egal, was ihr macht“, hatte Myriam damals verkündet. „Aber ich komm auf keinen Fall mit.“

Inzwischen war der Plan wieder vom Tisch. Nun tat es Myriam leid, dass sie das Ganze so vehement abgelehnt hatte. Vielleicht wäre das ja die Lösung ihres Problems gewesen. Am anderen Ende der Welt noch mal neu anzufangen.

„Ist das Leben nicht super?“, seufzte Sina glücklich. Sie verschränkte die Arme im Nacken und ließ sich nach hinten ins Gras fallen.

„Es wäre super“, stöhnte Tori. „Wenn ich nur nicht in diese blöde Ferienanlage müsste.“

Ihre Eltern hatten zwei Wochen Familienurlaub auf Mallorca gebucht und Tori musste wohl oder übel mit. „Was soll ich denn auf Malle, wenn ich hier alles habe, was das Herz begehrt?“, jammerte Tori zum x-ten Mal.

„Ist doch erst zum Ferienende“, tröstete Ayla sie. „Bis dahin hast du noch vier Wochen Spaß.“

Ayla selbst war hochzufrieden, dass ihre Familie in diesem Jahr zum ersten Mal nicht in die Türkei fuhr. Ihre ältere Schwester hatte gerade ihr erstes Kind bekommen, deshalb blieben ihre Eltern in Deutschland.

„Vielleicht bist du ja noch froh, wenn du abhauen kannst“, sagte Sina zu Tori. „Heute kommt diese amerikanische Tussi an. Und was Sue bisher über sie erzählt hat, klingt nicht unbedingt prickelnd.“

Sue war am Nachmittag zum Flughafen gefahren, um ihre vierzehnjährige Nichte abzuholen. April kam aus Sues Heimat Kalifornien und wollte die Sommerferien bei ihrer Tante verbringen. In den letzten Wochen hatten die Pferdemädchen Sue immer wieder über April ausgefragt. Und Sina hatte Recht: Was Sue über April berichtet hatte, war wenig vielversprechend.

„Das arme Mädchen hat es wirklich nicht leicht“, hatte Sue gesagt. „Ihre Mutter, also meine Schwester, ist völlig überdreht. Ständig jettet sie in der Welt herum, statt sich um ihre Tochter zu kümmern. Und Larry, ihr Vater, verdient einen Haufen Kohle und versucht sich mit teuren Geschenken aus der Verantwortung zu stehlen. April ist manchmal ein bisschen unvernünftig und kindisch. Aber sie meint es nicht so.“

„Wenn man es in Klartext übersetzt, heißt das doch: launisch, verwöhnt und arrogant“, hatte Tori hinterher kommentiert. „Eine Zicke.“

„Die Zicke ist ja zum Glück nicht unser Problem“, sagte Ayla jetzt und nahm sich noch ein Stück Schokoladenkuchen.

„Ich befürchte doch“, widersprach Juliana. „Sue erwartet schließlich, dass wir uns um April kümmern.“

„Boah.“ Sina, die immer noch auf dem Rücken lag, schloss genervt die Augen. „Also, ich spiel bestimmt nicht das Kindermädchen für eine bescheuerte amerikanische Schnepfe.“

„Das war’s“, jammerte Tori. „Erst kann ich mich wochenlang mit diesem verwöhnten Gör herumärgern und dann auf zum Familienurlaub nach Mallorca. Wo bleibt da die Erholung?“

„Jetzt wartet erst einmal ab“, wandte Hannah ein. „Noch hat keine von uns diese April gesehen. Vielleicht ist sie total nett.“

Die anderen lachten spöttisch. Nur Myriam lachte nicht. Bei Hannahs Worten war ihr plötzlich bewusst geworden, dass sie sich nichts sehnlicher wünschte, als dass ihre Freundin falsch lag. Dass Sues Nichte wirklich so schlimm war, wie die anderen befürchteten. Vielleicht sogar noch schlimmer. Wenn April die Pferdemädchen von morgens bis abends mit ihren Launen und Sonderwünschen nervte, würden sie ihre Abneigung gegen Myriam endlich wieder vergessen.

Diese Amerikanerin, stellte Myriam fest, war vielleicht ihre letzte Hoffnung.

Auch wenn sie skeptisch waren, konnten die Pferdemädchen es kaum erwarten, Sues Nichte endlich kennenzulernen. Doch als sie wieder auf den Hof kamen, war von Stefans Mercedes noch nichts zu sehen.

„Die sind doch gleich nach dem Mittagessen losgefahren“, wunderte sich Sina. „Inzwischen müssten sie längst da sein.“

„Der Flug muss Verspätung haben“, vermutete Tori.

Sie sattelten die Pferde ab, rieben sie trocken und brachten sie zur Weide hinter dem Reitplatz.

„So langsam wird’s aber Zeit.“ Juliana warf einen Blick auf ihre Uhr. „Es ist schon nach sechs. Ich muss um sieben zu Hause sein.“

„Ich auch“, sagte Ayla. „Aber ich will April unbedingt noch sehen. Sonst kann ich heute Nacht vor Neugier nicht schlafen.“

Ihr Wunsch erfüllte sich nicht. Sue, Stefan und April kamen erst um halb acht auf der Ranch an, lange nachdem Ayla und Juliana aufgebrochen waren.

Nur Tori, Sina und Hannah hatten bis zuletzt ausgeharrt. Und Myriam natürlich. Schließlich war April ihre letzte Hoffnung.

Eine Hoffnung, die im selben Moment zerplatzte, in dem Sues Nichte aus dem Wagen stieg. April war schlank und groß und hübsch. Sie hatte rotblonde Locken, wild und leuchtend wie die ihrer Tante. Auf Nase und Wangen tanzten winzige Sommersprossen. Und als sie jetzt lächelnd auf die Mädchen zukam, sah man, dass ihre großen weißen Schneidezähne ein bisschen schief standen. Sie überkreuzten sich leicht, ein winziger Schönheitsfehler, der April nur noch bezaubernder machte.

„Hi! You must be the girls!“ Sie strahlte.

„Deutsch, April!“, rief Sue dazwischen. „Du bist schließlich hier, um dein Deutsch zu verbessern!“

April zog eine niedliche Grimasse. „Okay“, sagte sie. „Ich versuch’s. Aber mein Deutsch ist total schlecht.“

Versuks sagte sie anstelle von versuch’s und schleckt statt schlecht. Und dabei lächelte sie so süß, dass sogar Tori zurücklächelte, obwohl sie sich doch fest vorgenommen hatte, die Amerikanerin ganz furchtbar zu finden.

Wie fröhlich und vergnügt April wirkte! Dabei musste sie stundenlang im Flieger gesessen haben. Aber das schien sie nicht im Mindesten mitgenommen zu haben.

„I’m April“, stellte sie sich vor. „Ich meine natürlich, ich bin April“, fügte sie mit einem schuldbewussten Seitenblick auf Sue hinzu.

„Ich heiße Tori“, erwiderte Tori. „Das ist Sina. Und das ist Hannah.“

Klar, dass sie Myriam gar nicht erst erwähnte. „Ich heiße Myriam“, stellte Myriam sich selbst vor.

„Hi! Nice to meet you!“ April schien schon wieder vergessen zu haben, dass sie Deutsch sprechen sollte.

„Warum kommt ihr überhaupt so spät?“, fragte Sina Sue.

„It’s just ridiculous!“ Vor Empörung fiel Sue jetzt selbst ins Amerikanische. Sie warf genervt beide Arme nach oben.

„Zuerst hatte der Flieger Verspätung“, antwortete Stefan, der Verwalter der Ranch, der seit ein paar Wochen Sues Freund war. Ächzend wuchtete er einen riesigen Schrankkoffer aus dem Kofferraum. „Und dann fehlte auch noch das halbe Gepäck. Wir mussten eine Suchmeldung aufgeben. Der ganze bürokratische Kram dauerte Stunden.“

„Das halbe Gepäck?“ Sina blickte verwirrt auf den immensen Koffer.

Ein Koffer ist angekommen“, erklärte Sue. „Aber die anderen beiden sind verschwunden. Keiner weiß, wo sie gelandet sind.“

Sollte das ein Witz sein?

„Was? Du hast drei Koffer dabei?“, fragte Tori April.

„Und mein Pferd“, ergänzte April. „Aber Charlie haben sie glücklicherweise nicht verloren. Wir holen ihn morgen am Flughafen ab.“

„Haha“, sagte Tori. „Guter Witz.“

„Nichts haha“, entgegnete Sue. „Das ist typisch für meine Schwester. Sally hat entschieden, dass April für ein ganzes Jahr in Deutschland bleiben soll. Sie hat nur leider vergessen, mir ihren Entschluss mitzuteilen. Es mussten ja auch so viele andere Dinge vorbereitet werden.“

„Das ist ja …“ Jetzt fehlten sogar Tori die Worte.

„Great, isn’t it?“, meinte April. „Der wahre Grund für den Wirbel ist, dass sich meine Mutter vor ein paar Wochen in diesen neuen Kerl verknallt hat. Und der hat keinen Bock auf eine nervige Teenagertochter. Also musste ich weg.“

„Da kam die Tante in Deutschland gerade recht“, sagte Sue.

„Und jetzt?“, fragte Sina entgeistert.

„Bin ich eben hier“, erklärte April.

„Und natürlich bleibst du hier“, sagte Sue und umarmte ihre Nichte. „Das ist ja kein Problem. Ich hätte es nur gerne vorher gewusst.“

„Aber dann … musst du doch auch zur Schule gehen“, meinte Tori.

„Stimmt. Das alles zu organisieren, ist ganz schön kompliziert“, sagte Sue. „Besonders jetzt, in den Ferien. Es wäre sehr viel einfacher gewesen, wenn ich es vorher gewusst … Ach, ist ja auch egal. Ich freu mich wirklich, dass du da bist, April.“

„Und ich freu mich auch“, sagte April strahlend. „I’m very happy to be here.“

Dieses Lächeln. Man konnte gar nicht anders, als sich mit ihr zu freuen. Selbst Myriam, die sich so sehr gewünscht hatte, dass April zickig, eingebildet und absolut unsympathisch wäre, war bezaubert.