Cover
J. R. Ward: Vampirschwur. Ein Black Dagger-Roman.

DANKSAGUNG

Ein großes Dankeschön allen Lesern der Bruderschaft der Black Dagger und ein Hoch auf die Cellies!

Vielen Dank für all die Unterstützung und die Ratschläge an: Steven Axelrod, Kara Welsh, Claire Zion und Leslie Gelbman.

Danke auch an alle Mitarbeiter von NAL – diese Bücher sind echte Teamarbeit!

Danke an Lu und Opal sowie an unsere Cheforganisatoren und Ordnungshüter für alles, was ihr aus reiner Herzensgüte tut! Und ich danke Ken, der mich erträgt, und Cheryle, Königin der virtuellen Autogrammstunde.

Alles Liebe an D – ich bin dir unendlich dankbar für so vieles … aber ganz besonders für Kezzy. So sexy waren Skittles noch nie.

Und auch an Nath liebe Grüße, weil er mir immer beisteht und dabei stets geduldig und freundlich bleibt.

Danke, Tantchen LeE. Alle lieben dich – und die Liste wird immer länger, nicht wahr?

Danke auch an Doc Jess, dem klügsten Menschen, dem ich je begegnet bin – ich bin so ein Glückspilz, dass du es mit mir aushältst. Und an Sue Grafton und Betsey Vaughan, die meinen Exekutivausschuss vervollkommnen.

Nichts von alledem wäre möglich ohne: meinen liebevollen Ehemann, der mir mit Rat und Tat zur Seite steht, sich um mich kümmert und mich an seinen Visionen teilhaben lässt; meine wunderbare Mutter, dir mir mehr Liebe geschenkt hat, als ich ihr je zurückgeben kann; meine Familie (die blutsverwandte wie auch die frei gewählte) und meine liebsten Freunde.

Ach ja, und an die bessere Hälfte von WriterDog, wie immer.

Die Autorin

J. R. Ward begann bereits während des Studiums mit dem Schreiben. Nach dem Hochschulabschluss veröffentlichte sie die BLACK DAGGER-Serie, die in kürzester Zeit die amerikanischen Bestsellerlisten eroberte. Die Autorin lebt mit ihrem Mann und ihrem Golden Retriever in Kentucky und gilt seit dem überragenden Erfolg der Serie als Star der romantischen Mystery.

 

Ein ausführliches Werkverzeichnis aller von J. R.Ward im Wilhelm Heyne Verlag erschienen Bücher finden Sie am Ende des Bandes.

1

GEGENWART,
AQUEDUCT RENNBAHN IN QUEENS, NEW YORK

 

»Ich würde Ihnen gern einen blasen.«

Dr. Manny Manello wandte den Kopf nach rechts zu der Frau, die gesprochen hatte. Es war natürlich nicht das erste Mal, dass er diese Worte in genau dieser Kombination hörte, und die Lippen, die sie geformt hatten, enthielten bestimmt genug Silikon, um ein angenehmes Polster zu bieten. Dennoch kam das Angebot reichlich überraschend.

Candace Hanson lächelte ihn an und rückte mit manikürter Hand ihren Jacky-O-Hut zurecht. Offensichtlich hielt sie die Kombination von ladylike und vulgär für verführerisch – und vielleicht wirkte sie auf manche Kerle ja tatsächlich so.

Verflucht, zu einem anderen Zeitpunkt wäre er womöglich auf dieses Angebot eingegangen, treu nach dem Motto Warum auch nicht. Aber heute verbuchte er es lieber unter Nein danke.

Nicht im Geringsten irritiert durch seine fehlende Begeisterung beugte sie sich vor und gewährte ihm Einblick auf zwei Brüste, die dem Gesetz der Schwerkraft nicht nur widersprachen, sondern ihm regelrecht den Stinkefinger zeigten, seine Mutter beleidigten und ihm auf die Schuhe pissten. »Ich wüsste da einen geeigneten Ort.«

Das glaubte er ihr aufs Wort. »Das Rennen geht gleich los.«

Sie zog eine beleidigte Schnute. Oder vielleicht sahen ihre Lippen auch immer so aus, seit sie sie aufspritzen hatte lassen. Lieber Himmel, vor zehn Jahren hatte sie wahrscheinlich ein frisches Gesicht gehabt, doch jetzt verliehen ihr die Jahre eine Patina der Verzweiflung – zusammen mit den üblichen altersbedingten Fältchen, gegen die sie offensichtlich ankämpfte wie ein Preisboxer.

»Dann eben danach.«

Manny wandte sich wortlos ab und fragte sich, wie sie eigentlich in den Bereich für Pferdehalter gelangen hatte können. Wahrscheinlich hatte sie sich ins Getümmel gemischt, als nach dem Satteln auf der Koppel alle hier hochgedrängt waren – und zweifelsohne war sie es gewohnt, sich an Orte zu begeben, an denen sie streng genommen nichts zu suchen hatte: Candace war eine von diesen gesellschaftlichen Erscheinungen in Manhattan, die sich nur durch den fehlenden Zuhälter von einer Prostituierten unterschieden, und in vielerlei Hinsicht war sie wie eine Wespe – wenn man sie lange genug ignorierte, landete sie am Ende woanders.

Oder auf jemand anderem, in ihrem Fall.

Manny hob den Arm, damit sie nicht noch näher an ihn heranrücken konnte, lehnte sich an das Geländer seiner Loge und wartete darauf, dass man sein Mädchen auf die Rennbahn brachte. Sie hatte einen Randplatz zugewiesen bekommen, doch das war nicht weiter schlimm: Sie bevorzugte es, nicht im Feld zu laufen, und eine etwas längere Strecke war noch nie ein Problem für sie gewesen.

Die Pferderennbahn Aqueduct in Queens, New York, war nicht ganz so schick wie Belmont oder Pimlico oder die ehrwürdige Mutter aller Rennbahnen, Churchill Downs. Aber sie war auch keine schlechte Adresse. Das Areal verfügte über eine Sandbahn von etwas über einer Meile, außerdem noch eine Rasenbahn und eine kurze Strecke. Insgesamt fasste sie an die neunzigtausend Zuschauer. Das Essen war mies, aber niemand kam wirklich zum Essen hierher. Es gab auch ein paar größere Rennen, so wie das heutige: Beim Wood Memorial Stakes Rennen ging es um ein Preisgeld von 750 000 Dollar, und da es im April abgehalten wurde, bot es einen guten Richtwert für Teilnehmer am Triple Crown …

O ja, da war sie. Da war sein Mädchen.

Als sich Mannys Augen auf GloryGloryHallelujah hefteten, wurden der Lärm der Leute, das grelle Tageslicht und die tänzelnde Silhouette der anderen Pferde in den Hintergrund gedrängt. Er hatte nur noch Augen für seine wundervolle schwarze Stute. Die Sonne blitzte auf ihrem Fell, ihre superschlanken Beine bogen sich, die zarten Hufe hoben sich elegant aus dem Staub der Rennbahn empor und senkten sich wieder. Bei ihrer Risthöhe von fast eins achtzig wirkte der Jockey auf ihrem Rücken wie eine kleine zusammengekauerte Mücke, und der Größenunterschied spiegelte auch das Machtverhältnis wider. Sie hatte vom ersten Tag ihres Trainings an keinen Zweifel daran gelassen: Die nervigen kleinen Menschlein musste sie vielleicht tolerieren, aber sie durften lediglich mitreiten. Glory bestimmte. Ihr dominantes Temperament hatte ihn bereits zwei Trainer gekostet. Und der dritte machte auch schon einen etwas frustrierten Eindruck, aber auch nur, weil seine Herrschsucht gerade mit Hufen getreten wurde: Glorys Zeiten waren hervorragend – sie hatten bloß leider nichts mit ihm zu tun. Manny kümmerte es nicht, ob das Ego von diesen Männern einen Knacks abbekam, die ihr Geld mit dem Herumkommandieren von Pferden verdienten. Sein Mädchen war eine Kämpfernatur, sie wusste, was sie tat. Er hatte kein Problem damit, ihr freien Lauf zu lassen und genussvoll zuzusehen, wie sie ihre Widersacher zermalmte.

Während seine Augen auf ihr ruhten, erinnerte er sich an den miesen Kerl, dem er sie vor etwas mehr als einem Jahr abgekauft hatte. Die zwanzig Riesen waren geschenkt gewesen angesichts ihrer Abstammung, allerdings auch wiederum ein Vermögen, betrachtete man ihr Temperament und die Tatsache, dass damals unklar war, ob man sie zum Rennen zulassen würde. Sie war ein widerspenstiger Jährling, kurz davor, auf die Strafbank verwiesen zu werden oder, schlimmer noch, als Hundefutter zu enden.

Aber er hatte Recht behalten. Solange man Glory ihren Willen ließ und ihr nicht die Show stahl, war sie sensationell.

Als die Pferde auf die Startboxen zukamen, verfielen ein paar von ihnen in den Trab, aber sein Mädchen blieb ruhig, als wüsste sie, dass es sinnlos war, ihre Energie schon vor dem Rennen auf diesen Quatsch zu verschwenden. Und ihre Gewinnchancen gefielen ihm, trotz der Startposition, denn dieser Jockey da auf ihrem Rücken war ein Star: Er wusste ganz genau, wie er mit ihr umgehen musste, und in dieser Hinsicht trug er mehr zu ihren Erfolgen bei als die Trainer. Seine Taktik war es, dafür zu sorgen, dass sie den besten Weg aus dem Feld erkannte, und sie dann frei wählen und loslegen zu lassen.

Manny stand auf und umklammerte das Eisengeländer vor ihm, genau wie der Rest der Zuschauer, die sich von ihren Sitzen erhoben und unzählige Ferngläser gezückt hatten. Als er sein Herz klopfen spürte, war er froh, denn wenn er nicht gerade im Fitnesscenter war, fühlte er seinen Herzschlag in letzter Zeit so gut wie gar nicht. Im vergangenen Jahr hatte sich sein Leben schrecklich taub angefühlt, und das war vielleicht ein Grund dafür, warum ihm diese Stute so wichtig war.

Vielleicht war sie alles, was er noch hatte.

Aber darüber würde er sich jetzt nicht den Kopf zerbrechen.

An den Startboxen entstand nun großes Geschiebe: Wenn man versuchte, fünfzehn aufgedrehte Pferde mit Beinen wie Schläger und Adrenalindrüsen, die wie Haubitzen feuerten, in klitzekleine Metallkäfige zu zwängen, verschwendete man am besten keine Zeit. Binnen einer Minute waren die Pferde in den Boxen, und die Rennbahnhelfer rannten zu den Geländern.

Herzschlag.

Gong.

Peng!

Die Tore öffneten sich, die Menge grölte, und die Pferde schossen hervor wie aus Kanonenrohren. Die Bedingungen waren perfekt. Trocken. Kühl. Schnelle Bahn.

Nicht dass das sein Mädchen gekümmert hätte. Sie würde durch Treibsand rennen, wenn es sein müsste.

Die Vollblüter donnerten vorbei, das vereinte Hämmern ihrer Hufe und die treibende Stimme des Sprechers peitschten die Stimmung in den Tribünen bis zur Ekstase auf. Doch Manny blieb ganz ruhig, seine Hände hielten das Geländer vor ihm umfasst, und seine Augen blieben auf dem Feld, während die Pferde in einem dichten Gedränge aus Rücken und Schweifen die erste Kurve nahmen.

Auf der Leinwand sah er alles, was er sehen musste. Seine Stute war Vorletzte, sie lief fast schon im leichten Galopp, während der Rest nach vorne preschte – verdammt, ihr Nacken war noch nicht einmal voll ausgestreckt. Der Jockey jedoch machte seine Sache gut, drückte sie weg vom Geländer, ließ ihr die Wahl, hinter dem Feld die Seite zu wechseln oder mitten hindurchzubrechen, wenn sie so weit war.

Manny wusste genau, was sie vorhatte. Wie eine Abrissbirne würde sie zwischen den anderen Pferden durchpflügen.

Das war so ihre Art.

Und tatsächlich, als sie an der gegenüberliegenden Geraden ankamen, legte sie los. Sie senkte den Kopf, der Hals streckte sich, und ihre Sätze wurden allmählich länger.

»Ja, verdammt«, flüsterte Manny. »Du schaffst es, mein Mädchen.«

Als Glory in das dicht gedrängte Feld vorstieß, zog sie wie der Blitz an den anderen Pferden vorbei, und sie legte nun derart an Geschwindigkeit zu, dass man sie kennen musste, um zu wissen, dass sie es absichtlich tat: Es reichte ihr nicht, sie alle zu schlagen, sie musste es auf der letzten halben Meile tun und es den Bastarden zum spätestmöglichen Zeitpunkt zeigen.

Manny stieß ein kehliges Lachen aus. Sie war wirklich eine Lady ganz nach seinem Geschmack.

»Himmelherrgott, Manello, schauen Sie sich das an.«

Manny nickte, ohne den Kerl anzusehen, der ihm ins Ohr gebrüllt hatte, denn an der Spitze der Herde wendete sich soeben das Blatt: Der führende Hengst verlor an Schwung und fiel zurück, weil seinen Beinen der Sprit ausging. Daraufhin trieb ihn der Jockey an und peitschte sein Hinterteil – womit er den gleichen Effekt erzielte wie jemand, der ein Auto mit leerem Tank beschimpft. Der Hengst in zweiter Position, ein großer Fuchs mit schlechten Manieren und einem Schritt so lang wie ein Fußballfeld, nutzte die Verlangsamung sofort aus, während der Jockey ihm seinen Willen ließ.

Eine Sekunde lang rannten die beiden Kopf an Kopf, bevor der Fuchs die Führung übernahm. Aber dabei sollte es nicht lange bleiben. Mannys Mädchen wählte diesen Moment, um sich zwischen einer Gruppe von drei Pferden durchzufädeln und sich von hinten an ihn dranzuhängen, so dicht wie ein Aufkleber an der Stoßstange.

Ganz genau, Glory war in ihrem Element, die Ohren flach am Kopf, die Zähne gebleckt.

Sie würde sie alle abhängen. Und es war unmöglich, nicht an den ersten Samstag im Mai zu denken, an dem das Kentucky Derby stattf…

Es ging furchtbar schnell.

Alles war aus und vorbei … und zwar im Bruchteil einer Sekunde.

Der Hengst rammte Glory absichtlich in die Flanke und schleuderte sie durch seine brutale Attacke ins Geländer. Glory war groß und stark, aber einem Angriff wie diesem war sie nicht gewachsen, nicht bei einer Geschwindigkeit von vierzig Meilen die Stunde.

Einen Herzschlag lang war sich Manny sicher, sie würde sich fangen. Obwohl sie strauchelte, war er überzeugt, dass sie ihren Tritt wiederfinden und diesem schamlosen Biest Manieren beibringen würde.

Doch sie stürzte. Direkt vor den drei Pferden, die sie soeben noch überholt hatte.

Sofort kam es zum Gemetzel, Pferde scherten wild aus, um dem Hindernis auszuweichen, Jockeys gaben ihre gebeugte Rennhaltung auf, in der Hoffnung, nicht vom Pferd zu fallen.

Alle schafften es. Bis auf Glory.

Als ein Raunen durch die Menge ging, sprang Manny nach vorne, raus aus der beengten Tribüne, über Zuschauer und Sitze und Absperrungen hinweg, bis er unten an der Rennstrecke war.

Über das Geländer. Über die Bahn.

Er rannte zu ihr, jahrelange sportliche Betätigung trug ihn in halsbrecherischer Geschwindigkeit zu der Szenerie, die ihm das Herz brach.

Sie versuchte sich aufzurappeln. Gesegnet sei ihr großes, wildes Herz, sie kämpfte, um wieder hochzukommen, die Augen auf das Feld geheftet, als wäre es ihr vollkommen schnuppe, dass sie verletzt war, und als wollte sie nichts anderes als die einholen, die sie im Staub zurückgelassen hatten.

Leider hielt ihr Körper andere Pläne für sie bereit: Als sie sich so abmühte, schlackerte das rechte Vorderbein unter dem Knie derart, dass Manny gar nicht unbedingt seit Jahren Orthopäde hätte sein müssen, um zu erkennen, dass sie in Schwierigkeiten steckte.

In großen Schwierigkeiten.

Als er bei ihr eintraf, war der Jockey bereits in Tränen aufgelöst. »Dr. Manello, ich habe versucht – o Gott …«

Manny kam im Sand schlitternd zum Stehen und stürzte sich auf die Zügel, während die Veterinäre angefahren kamen und ein Sichtschutz um den Unglücksort errichtet wurde.

Als die drei uniformierten Männer auf sie zukamen, wurden Glorys Augen wild vor Schmerz und Verwirrung. Manny tat sein Bestes, um sie zu beruhigen, und erlaubte ihr, den Kopf zu schütteln, so viel sie wollte, während er ihren Hals streichelte. Tatsächlich wurde sie ruhiger, als man ihr eine Spritze gab.

Zumindest hörte das verzweifelte Strampeln auf.

Der Chefveterinär musterte das Bein mit einem fachmännischen Blick und schüttelte den Kopf. Was in der Universalsprache der Welt der Pferderennen bedeutete: Das Tier muss eingeschläfert werden.

Manny fuhr den Mann an. »Denken Sie nicht einmal im Traum daran. Schienen Sie den Bruch, und schaffen Sie sie rüber nach Tricounty, und zwar sofort. Ist das klar?«

»Sie wird kein Rennen mehr laufen – das sieht mir ganz nach einem Mehrfach…«

»Schaffen Sie mein verdammtes Pferd von dieser Bahn, und bringen Sie sie nach Tricounty …«

»Sie ist es nicht wert …«

Manny packte den Tierarzt am Kragen und zerrte diesen Mann der einfachen Lösung an seine Brust, bis sich ihre Nasen berührten. »Tun Sie es! Sofort!«

Einen Moment lang herrschte Fassungslosigkeit, als wäre es für den kleinen Scheißer etwas ganz Neues, so unsanft angepackt zu werden.

Und nur damit es zwischen ihnen keine Missverständnisse gab, knurrte Manny: »Ich werde mein Pferd nicht aufgeben – aber ich habe gute Lust, Sie fallen zu lassen. Und zwar auf der Stelle.«

Der Tierarzt wich zurück, als wüsste er, dass er drauf und dran war, sich eine ordentliche Tracht Prügel einzuhandeln. »Okay … okay, schon gut.«

Manny würde nicht zulassen, dass er Glory verlor. In den letzten zwölf Monaten hatte er um die einzige Frau getrauert, die ihm je etwas bedeutet hatte, an seinem Verstand gezweifelt und angefangen, Scotch zu trinken, obwohl er das Zeug immer gehasst hatte.

Wenn Glory jetzt ins Gras biss … dann blieb ihm nicht mehr viel im Leben, so viel stand fest.

2

CALDWELL, NEW YORK
TRAININGSZENTRUM DER BRUDERSCHAFT

 

Verdammtes … Feuerzeug … So ein Scheißding …

Vishous stand im Flur vor dem medizinischen Versorgungsbereich der Bruderschaft mit einer selbst gedrehten Zigarette zwischen den Lippen, während sein Daumen ein verdammtes Hochleistungstraining absolvierte. Doch egal, wie lange er an dem kleinen Rädchen des Feuerzeugs herumfummelte, es entstand nichts, was man eine Flamme hätte nennen können.

Tschick. Tschick. Tschick …

Voller Abscheu schleuderte er das Schrottteil in den Papierkorb und machte sich an seinem bleigefütterten Handschuh zu schaffen. Er riss das Leder von seiner Hand und starrte auf die leuchtende Handfläche, beugte die Finger und drehte das Handgelenk.

Das Ding war halb Flammenwerfer, halb Atombombe, fähig, jedes Metall zu schmelzen, Stein in Glas zu verwandeln oder Flugzeug, Zug und Auto zu Kebab zu verarbeiten, sollte ihm der Sinn danach stehen. Außerdem ermöglichte es seine Hand ihm, mit seiner Shellan zu schlafen, und sie war eine von zwei Dingen, die ihm seine göttliche Mutter vermacht hatte.

Meine Fresse, und der Scheiß mit dem zweiten Gesicht war fast so spaßig wie die Nummer mit dem Todeshändchen.

Er führte die tödliche Waffe an sein Gesicht und beugte sich mit dem Ende seiner selbst gedrehten Zigarette darüber, aber nicht zu nah, sonst hätte er seine wertvolle Nikotinquelle geopfert und mit lästiger Fummelei eine neue zusammenbasteln müssen. Wofür ihm schon an guten Tagen die Geduld fehlte, aber in einem Moment wie diesem …

Ah, was für ein herrlicher Zug.

Er lehnte sich an die Wand, stemmte die Springerstiefel aufs Linoleum und rauchte. Der Sargnagel half zwar nicht sonderlich gegen den Frust, aber wenigstens schien ihm das Rauchen ein angenehmerer Zeitvertreib als die andere Möglichkeit, die seit zwei Stunden in seinem Kopf herumspukte. Während er seinen Handschuh wieder zurechtzupfte, hatte er gute Lust, irgendetwas mit Hilfe seiner »Gabe« in Brand zu stecken.

Befand seine Zwillingsschwester sich wirklich auf der anderen Seite dieser Wand? In einem Krankenbett … gelähmt?

Verflucht nochmal … mit dreihundert Jahren zu erfahren, dass man eine Schwester hatte …

Echt klasse, Mom. Herzlichen Dank auch.

Und er hatte geglaubt, er hätte die Probleme mit seinen Eltern abgearbeitet. Andererseits war auch nur einer von ihnen tot. Wenn sich die Jungfrau der Schrift ein Beispiel an Bloodletter nehmen und abtreten würde, könnte er vielleicht wieder ins Lot kommen.

Doch so, wie die Dinge standen, weckte diese neueste Enthüllung aus der Klatschpresse, gekoppelt mit Janes sinnlosem Ausflug in die Menschenwelt in ihm die Lust auf …

Tja, lieber nicht davon reden.

Er zog sein Handy raus. Prüfte es. Steckte es zurück in die Lederhose.

Verdammt, das war so typisch. Jane setzte sich etwas in den Kopf und vergaß darüber alles andere.

Selbstverständlich war er selbst keinen Deut besser, aber in einem derartigen Moment hätte er eine kurze Mitteilung durchaus zu schätzen gewusst.

Verdammte Sonne. Hielt ihn gefangen. Könnte er bei seiner Shellan sein, dann hätte dieser »geniale« Manuel Manello nicht den Hauch einer Chance, die Sache abzublocken. V würde ihm einfach eins überbraten, ihn in den Escalade verfrachten und samt seiner talentierten Hände hierherkarren, damit er Payne operierte.

Seiner Meinung nach war der freie Wille ein Privileg und kein Grundrecht.

Als er die Zigarette zu Ende geraucht hatte, drückte er sie an der Schuhsohle aus und schnippte den Stummel in den Müll. Er hatte Durst, einen Riesendurst – allerdings nicht auf Limonade oder Wasser. Eine halbe Kiste Grey Goose hätte ihm etwas Linderung verschafft, aber mit ein bisschen Glück würde er in Kürze im OP assistieren, und dafür musste er nüchtern bleiben.

Sobald er zurück in den Untersuchungsraum kam, verspannten sich seine Schultern, seine Kiefer klebten aufeinander, und für einen Sekundenbruchteil wusste er nicht, wie viel mehr er noch verkraftete. Wenn ihn eines mit Garantie umhauen würde, dann wäre es ein weiterer Haken von seiner Mutter, doch diese letzte Lüge war schwer zu übertreffen.

Leider gab es im Leben keine Tilt-Funktion, die das Spiel unterbrach, wenn der Flipper zu sehr schwankte.

»Vishous?«

Beim Klang der leisen, tiefen Stimme schloss er kurz die Augen. »Ja, Payne.« Er wechselte in die Alte Sprache und beendete den Satz: »Ich bin’s.«

Er trat an die Transportliege in der Mitte des Zimmers und nahm die übliche Kauerstellung auf dem Rollhocker daneben ein. Ausgestreckt unter mehreren Decken lag Payne, mit fixiertem Kopf und einer Halskrause vom Kinn bis zum Schlüsselbein. Eine Infusionsnadel verband ihren Arm mit einem Beutel, der an einem Stahlständer hing, unten führten Schläuche zu einem Katheter, den Ehlena gelegt hatte.

Obwohl der geflieste Raum hell und sauber glänzte und die medizinische Ausstattung ungefähr so furchteinflößend war wie Teller und Tassen in einer Küche, hatte er das Gefühl, als steckten sie beide in einer schmuddeligen Höhle umzingelt von Grizzlys.

Viel besser wäre es gewesen, er hätte losziehen und den Wichser töten können, der seine Schwester in diese Lage gebracht hatte. Das Dumme war nur … dann hätte er Wrath umlegen müssen, und das wiederum wäre extrem ungut gewesen. Dieser riesige Kerl war nicht nur sein König, sondern auch ein Bruder … und dann war da noch der klitzekleine Unterschied, dass der Kampf, der Payne in diese Lage gebracht hatte, in gegenseitigem Einvernehmen stattgefunden hatte. Diese Übungskämpfe, die sich die beiden in den vergangenen zwei Monaten geliefert hatten, hatten sie beide in Form gehalten – und natürlich hatte Wrath keine Ahnung gehabt, gegen wen er da kämpfte, weil er blind war. Dass sie eine Frau war? Was soll’s. Die Sache hatte auf der Anderen Seite stattgefunden, und da drüben gab es keine Männer. Aber weil der König nicht sehen konnte, war ihm entgangen, was V und allen anderen jedes Mal ins Auge sprang, wenn sie diesen Raum betraten: Paynes langer schwarzer Zopf hatte exakt die gleiche Farbe wie Vishous’ Haar, sie hatte genau den gleichen Teint, und sie war gebaut wie er: groß, schlank und muskulös. Aber die Augen … Scheiße, die Augen.

V rieb sich das Gesicht. Ihr Vater, Bloodletter, hatte zahllose Bastarde gezeugt, bevor er in einem Scharmützel mit Lessern getötet wurde, damals noch im Alten Land. Diese unbedeutenden Gespielinnen betrachtete V allerdings nicht als Verwandte.

Mit Payne war das anders. Sie beide hatten dieselbe Mutter, und die war nicht irgendein liebes Mütterchen. Es handelte sich um keine Geringere als die Jungfrau der Schrift. Die ultimative Mutter ihres Volkes.

Dieses Miststück.

Paynes Blick streifte V, und es schnürte ihm die Kehle zu. Ihre Augen waren weiß wie Eis, genau wie die seinen, und auch den dunkelblauen Rand um die Iris sah er jede Nacht im Spiegel. Auch die Intelligenz … der wache Geist in diesen arktischen Tiefen war das Pendant zu dem, was unter seiner Schädeldecke brodelte.

»Ich kann nichts fühlen«, sagte Payne.

»Ich weiß.« Kopfschüttelnd wiederholte er: »Ich weiß.«

Ihr Mund verzog sich, als hätte sie unter anderen Umständen vielleicht gelächelt. »Sprich die Sprache, die dir am liebsten ist«, sagte sie mit leichtem Akzent. »Ich beherrsche … viele.«

Genau wie er. Was hieß, dass er in sechzehn verschiedenen Sprachen unfähig war, eine angemessene Antwort zu formulieren. Mann.

»Hast du von … deiner Shellan gehört?«, fragte sie schleppend.

»Nein. Möchtest du noch eine Schmerztablette?« Sie klang schwächer als vor seiner Raucherpause.

»Nein, danke. Davon wird mir … schummrig.«

Es folgte längeres Schweigen.

Das sich noch mehr in die Länge zog.

Und noch mehr.

Himmel, vielleicht sollte er ihre Hand halten … schließlich fühlte sie oberhalb der Hüfte alles. Ja, aber was konnte er ihr aus der Abteilung tröstende Hand schon anbieten? Die linke zitterte, und die rechte wäre tödlich gewesen.

»Vishous, die Zeit arbeitet …«

Als seine Zwillingsschwester den Satz in der Luft hängen ließ, beendete er ihn für sie im Kopf: … gegen uns.

Wie sehr er sich wünschte, dass sie sich irrte. Aber wie bei einem Schlaganfall oder Herzinfarkt verschenkte man bei einer Verletzung der Wirbelsäule mit jeder Minute, die der Patient nicht behandelt wurde, Chancen auf eine Rettung.

Dieser Mensch war hoffentlich so genial, wie Jane behauptete.

»Vishous?«

»Ja?«

»Wäre es dir lieber gewesen, ich wäre nicht hierhergekommen? «

Vishous runzelte die Stirn. »Was redest du da für einen Unsinn? Natürlich will ich dich bei mir haben.«

Während er nervös mit dem Fuß zu wippen begann, fragte er sich, wie lange er noch bleiben musste, bevor er die nächste Raucherpause würde einlegen können. Er konnte kaum atmen, derart gezwungen, tatenlos herumzusitzen, während seine Schwester litt und ihm von den vielen Fragen fast der Schädel platzte. Tausende Wies und Warums schwirrten in seinem Kopf umher, aber er konnte die Fragen nicht aussprechen. Payne machte den Eindruck, als könnte sie jeden Moment vor Schmerz ins Koma fallen, also war jetzt wohl kaum der richtige Zeitpunkt für einen Kaffeeklatsch.

Scheiße, Vampire mochten ja blitzschnell heilen, aber sie waren alles andere als unsterblich.

Am Ende verlor er seine Zwillingsschwester noch, bevor er sie richtig kennengelernt hatte.

Bei diesem Gedanken warf er einen Blick auf den Monitor, um sich die Vitalzeichen anzusehen. Die Angehörigen seines Volkes hatten von Natur aus einen niedrigeren Blutdruck, aber ihrer bewegte sich bei knapp über null. Ihr Puls ging langsam und unregelmäßig. Deshalb hatte man das Pulsoxymeter auch ausschalten müssen, weil es sonst ständig Alarm geschlagen hätte.

Als sich ihre Augen schlossen, fürchtete er, es könnte das letzte Mal sein, und was hatte er für sie getan? Sie beinahe angeschrien, als sie ihm eine Frage gestellt hatte.

Er beugte sich zu ihr hinab und kam sich vor wie ein Arschloch. »Halte durch, Payne. Ich beschaffe dir, was du brauchst, aber du musst durchhalten.«

Die Lider seiner Schwester hoben sich, und sie blickte ihn starr an, da man ihren Kopf fixiert hatte. »Ich bereite dir nichts als Probleme.«

»Mach dir um mich keine Sorgen.«

»Aber ich habe mein Leben lang nichts anderes getan.«

V runzelte erneut die Stirn. Ganz offensichtlich war diese Geschwistergeschichte nur für ihn etwas Neues, und er musste sich fragen, wie zur Hölle sie von ihm erfahren hatte können.

Und was sie wusste.

Scheiße, ein weiterer Grund, sich zu wünschen, er hätte etwas konventionellere Vorlieben gehegt.

»Du bist dir so sicher bei diesem Heiler, den du suchen lässt«, murmelte sie.

Ähm, tja, eigentlich nicht. Für ihn stand nur eines fest: Wenn dieser Bastard sie sterben ließ, würde es heute Nacht ein Doppelbegräbnis geben – vorausgesetzt, von dem Menschen war hinterher noch etwas übrig, das man begraben oder verbrennen konnte.

»Vishous?«

»Meine Shellan vertraut ihm.«

Paynes Augen schweiften nach oben und verharrten dort. Betrachtete sie die Decke? Die Untersuchungslampe, die über ihr hing? Etwas, das für ihn unsichtbar war?

Schließlich bat sie ihn: »Willst du mich nicht fragen, wie lange ich bei unserer Mutter in Gewahrsam war?«

»Bist du dir sicher, dass du die Kraft dafür hast?« Als ihre Augen wütend aufblitzten, hätte er fast gelächelt. »Also gut, wie lang?«

»Was für ein Jahr schreiben wir hier auf der Erde?« Als er es ihr sagte, weiteten sich ihre Augen. »Fürwahr. Nun, es waren Jahrhunderte. Mahmen hat mich … Hunderte von Lebensjahren gefangen gehalten.«

Vishous spürte, wie die Spitzen seiner Fänge vor Wut prickelten. Diese Mutter … er hätte wissen müssen, dass der kürzlich mit ihr geschlossene Friede nicht von Dauer sein würde. »Jetzt bist du frei.«

»Bin ich das?« Sie blickte hinunter auf ihre Beine. »Ich könnte es nicht ertragen, im nächsten Gefängnis zu enden.«

»Das wirst du nicht.«

Doch nun wurde ihr eisiger Blick durchdringend. »Ich kann so nicht leben. Verstehst du, was ich sage?«

Vishous gefror das Blut in den Adern. »Hör zu, ich werde diesen Arzt hierherschaffen und …«

»Vishous«, unterbrach sie ihn heiser. »Im Ernst, ich würde es tun, wenn ich könnte, aber ich kann es nicht, und ich habe sonst niemanden, an den ich mich wenden könnte. Verstehst du mich?«

Als er ihr in die Augen blickte, wollte er am liebsten schreien. Sein Magen verkrampfte sich, und Schweiß trat auf seine Stirn. Er war ein geborener und gelernter Killer, aber diese Fertigkeit wollte er doch nicht gegen sein eigenes Blut richten. Nun, ausgenommen das ihrer Mutter natürlich. Und vielleicht hätte er es noch bei seinem Vater getan, nur dass der Kerl von selbst gestorben war.

Okay, kleine Korrektur: Seiner Schwester hätte er niemals etwas angetan.

»Vishous, verstehst du …«

»Ja.« Er blickte auf seine verfluchte Hand und beugte die Finger. »Ich hab’s kapiert.«

Tief in seinem Inneren setzte sich ein Rädchen in Bewegung. Vishous kannte dieses Vibrieren, es hatte ihn den größten Teil seines Lebens begleitet – dennoch traf es ihn nun völlig unvorbereitet. Seit Jane und Butch in sein Leben getreten waren, hatte er dieses Gefühl nicht mehr gehabt, und es jetzt wieder zu spüren, war für ihn … die nächste verfluchte Katastrophe.

In der Vergangenheit hatte es ihn ernsthaft aus der Bahn geworfen und zu Hardcoresex und gefährlichen Randerfahrungen getrieben.

Und zwar in Schallgeschwindigkeit.

Paynes Stimme wirkte schwach. »Und, wie lautet deine Antwort?«

Verdammt, er hatte sie gerade erst kennengelernt.

»Ja.« Er betrachtete seine tödliche Hand. »Ich werde mich um dich kümmern. Sollte es tatsächlich so weit kommen.«

 

Payne blickte aus dem Käfig ihres bleiernen Körpers, doch das düstere Profil ihres Zwillingsbruders war alles, was sie sehen konnte. Sie hasste sich dafür, ihn in diese scheußliche Lage zu bringen. Seit ihrer Ankunft auf dieser Seite hatte sie versucht, einen anderen Plan herauszuarbeiten, eine andere Möglichkeit zu finden, eine andere … irgendwas.

Aber was sie wollte, konnte sie sich wohl kaum von einem Fremden erbitten.

Andererseits war auch er für sie fast noch ein Fremder.

»Danke«, sagte sie. »Mein Bruder.«

Vishous nickte nur einmal und blickte dann wieder starr vor sich hin. Wenn man ihn leibhaftig vor sich hatte, war er so viel mehr als die Summe seiner Gesichtszüge und die enorme Größe seiner Gestalt. Bevor sie von ihrer Mahmen gefangen genommen worden war, hatte sie ihn lange in den sehenden Wassern der geweihten Auserwählten beobachtet. Sie hatte bei seinem ersten Erscheinen im seichten Wasser erkannt, was er war – sie hatte ihn gesehen und sich selbst erblickt.

Was hatte er für ein Leben führen müssen. Angefangen mit dem Kriegslager und der Brutalität ihres Vaters … und jetzt das.

Unter der Fassade seiner scheinbaren Gelassenheit kochte er. Sie spürte es bis in die Knochen, die Verbindung zwischen ihnen verschaffte ihr Einblicke in sein Inneres, die über das hinausgingen, was ihre Augen sahen: Rein äußerlich schien er gefasst. Wie bei einer Ziegelmauer waren die einzelnen Elemente ordentlich und fest vermörtelt. Darunter jedoch brodelte es … und der sichtbare Beweis war seine rechte Hand. Aus dem Handschuh leuchtete ein heller Schein hervor … und er strahlte immer greller. Ganz besonders, nachdem sie ihm gerade diese Frage gestellt hatte.

Ihr wurde bewusst, dass das hier womöglich die einzige Zeit war, die ihnen gemeinsam vergönnt war, und ihre Augen füllten sich erneut mit Tränen.

»Du bist mit dieser Heilerin verbunden?«, flüsterte sie.

»Ja.«

Erneut folgte Schweigen, und sie wünschte, sie hätte ihn in ein Gespräch verwickeln können. Aber es wurde nur zu deutlich, dass er ihr lediglich aus Höflichkeit antwortete. Und doch glaubte sie ihm, als er behauptete, froh zu sein, sie hier zu haben. Er schien ihr nicht die Sorte Mann zu sein, die log – nicht aufgrund seiner Moralvorstellungen oder weil es ihm die Höflichkeit gebot, sondern eher, weil ihm für eine derartige Anstrengung die Zeit und der Antrieb fehlten.

Paynes Augen schweiften wieder zu dem Ring aus hellem Feuer, der über ihr hing. Sie wünschte, er würde ihre Hand halten oder sie sonst irgendwie berühren, aber sie hatte sich schon mehr als genug von ihm erbeten.

Also lag sie auf der Transportliege, und alles an ihrem Körper fühlte sich falsch an, schwer und gewichtslos zugleich. Ihre einzige Hoffnung ruhte auf den Krämpfen, die in ihre Beine fuhren und bis in die Füße zu spüren waren, so dass sie zuckten. Sicher war das ein Zeichen, dass noch nicht alles verloren war, redete sie sich ein.

Doch noch während sie unter diesem Gedanken Zuflucht suchte wie unter einem Schirm, meldete sich eine leise, ruhige Stimme in ihrem Kopf, die ihr sagte, dass ihr theoretisches Gebilde dem Regen nicht standhalten würde, der über dem kümmerlichen Rest ihres Lebens hing: Denn obgleich sie ihre Hände nicht sah, spürte sie doch das kühle, weiche Laken und die glatte Kälte der Liege, wenn sie darüberfuhr. Doch wenn sie ihren Füßen das Gleiche befahl, dann war es, als triebe sie im stillen, lauen Wasser des Badebeckens auf der Anderen Seite, umfangen von einer unsichtbaren Umarmung, in der man nichts spürte.

Wo blieb nur dieser Heiler?

Die Zeit … sie verstrich.

Aus qualvollem Warten wurde unerträgliches Sehnen. Ihre Kehle war wie zugeschnürt, und sie wusste nicht, ob es an ihrem Zustand lag oder an der Stille in diesem Raum. Fürwahr, ihr Bruder und sie waren beide stumm – nur aus völlig unterschiedlichen Gründen: Sie spazierte wacker ins Nichts, während er kurz davor stand, zu explodieren.

Da sie sich irgendeine Form der Ablenkung erhoffte, murmelte sie: »Erzähl mir von diesem Heiler.«

Ein kühler Windhauch wehte ihr ins Gesicht, und der Duft von dunklen Gewürzen ließ sie darauf schließen, dass es sich um einen männlichen Heiler handelte.

»Er ist der Beste«, murmelte Vishous. »Jane schwärmt von ihm und lobt ihn in den höchsten Tönen.«

Vishous schien weniger begeistert von diesem Heiler, aber männliche Vampire duldeten nun einmal keine Konkurrenten in der Nähe ihrer Shellans.

Aber wer aus dem Volk der Vampire mochte es sein, überlegte sie. Der einzige Heiler, den Payne in den Wassern gesehen hatte, war Havers. Und den hätte man doch wohl nicht erst suchen müssen, oder?

Vielleicht gab es einen anderen, den sie noch nicht erblickt hatte. Schließlich hatte sie nicht allzu viel Zeit damit verbracht, den Ereignissen auf der Erde zu folgen, und wenn sie ihrem Bruder glauben durfte, waren zwischen ihrer Gefangennahme und ihrer Freilassung viele, viele Jahre vergangen, also …

Plötzlich schwappte eine Welle der Erschöpfung über sie hinweg, spülte alle Gedanken fort und sickerte bis in ihr Mark, so dass sie noch schwerer auf die Transportliege gedrückt wurde.

Doch als sie die Augen schloss, ertrug sie die Dunkelheit nicht. Panisch riss sie die Lider wieder hoch. Während ihre Mutter sie in diesem scheintoten Zustand gehalten hatte, war sie sich ihrer tristen, unbegrenzten Umgebung und den sich dahinschleppenden Momenten und Minuten nur allzu bewusst gewesen. Diese Lähmung hier glich zu sehr dem Zustand, unter dem sie jahrhundertelang gelitten hatte.

Und das war der Grund, weswegen sie Vishous diese schreckliche Bitte vorgebracht hatte. Sie wollte nicht auf diese Seite gekommen sein, nur um noch einmal das zu erleben, wovor sie so verzweifelt hatte fliehen wollen.

Tränen verschleierten ihr die Sicht und brachten die helle Lichtquelle zum Flackern.

Wie sehr sie sich doch wünschte, ihr Bruder würde ihre Hand halten.

»Bitte weine nicht«, sagte Vishous. »Weine … nicht.«

Sie war überrascht, dass es ihm aufgefallen war. »Natürlich, du hast Recht. Weinen hilft nicht.«

Sie bemühte sich, wieder Fassung zu erlangen, aber es war ein qualvoller Kampf. Obwohl ihr Wissen von der Heilkunst begrenzt war, konnte man sich mit den Mitteln einfacher Logik zusammenreimen, was ihr bevorstand: Da sie von höchster Abstammung war, hatte die Regeneration ihres Körpers bereits in dem Moment begonnen, in dem sie sich im Kampf mit dem Blinden König verletzt hatte. Doch der schnelle Heilungsprozess, der ihr normalerweise das Leben gerettet hätte, verschlimmerte in diesem Fall ihre Lage – und das vermutlich auf Dauer.

Gebrochene Wirbelsäulen, die von selbst wieder zusammenwuchsen, taten dies nämlich selten auf die richtige Weise, und die Lähmung ihrer Unterschenkel war der untrügliche Beweis dafür.

»Warum betrachtest du immerzu deine Hand?«, fragte sie, den Blick noch immer auf das Licht gerichtet.

Einen Moment lang herrschte Schweigen. Aufs Neue. »Was glaubst du denn, warum ich es tue?«

Payne seufzte. »Ich kenne dich, mein Bruder. Ich weiß alles über dich.«

Als er darauf nichts erwiderte, schien ihr die Stille fast so gesellig wie die Inquisitoren im Alten Land.

Was hatte sie hier nur angezettelt?

Und wo würden sie enden, wenn all das vorüber war?