Inhalt

Titel

Widmung

Schattensprache – Terminologie

Prolog

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

Epilog

Impressum

JACQUELYN FRANK

SHADOWDWELLERS

TRACE

Roman

Ins Deutsche übertragen von
Beate Bauer

Für meinen Vater.

Du hast mich gerettet, wenn ich es am dringendsten brauchte,

hast mich vor den schlimmsten Schurken bewahrt,

dann verlangt, dass ich mich selbst rette,

als ich zu lange Ausschau hielt nach jemandem,

der mich rettet.

Du bist mein wahrer Held.

Schattensprache – Terminologie

Bedenken Sie, dass keine Übersetzung ganz genau ist. Diese dient dazu, ein paar grundlegende Begriffe zu vermitteln.

Aiya: Ausruf der Frustration oder der Verärgerung (Oje! Oh ja! Oh nein! etc.)

Ajai: (Das J wird ausgesprochen wie in déjà-vu.) Mein Herr, Meister

Anai: Meine Dame, Mein Fräulein

Bituth amec: Hurensohn (oder stärker)

Drenna: Dunkelheit. Der Gott/die Göttin der Dunkelheit

Frousi: Eine Segmentfrucht, die nur in der Dunkelheit wächst. Sie ist reich an Wasser und Pflanzenproteinen, was sie zu einer guten Energiequelle macht

Jei li: (ungefähr) Geliebte/r, Liebste/r, Schatz

K’jeet: Ein Nachthemd, Kaftan

K’yan: Schwester (religiös)

K’yatsume: Euer Hoheit (weiblich), Meine Königin

M’itisume: Euer Hoheit (männlich), Mein König

M’jan: Bruder, Vater (religiös)

Paj: Leichte Seiden- oder Baumwollhose mit engen Bündchen an den Knöcheln, wird traditionell unter einem Rock getragen, der mit der Bewegung des Körpers mitschwingt

Sua vec’a: Halt! Lass das! Hör auf damit!

Die Namen:

GuinKillian

AcadianXenia

RikaMalaya

Prolog

Ashla Townsend hatte Angst, am Silvesterabend Auto zu fahren. Weil das allgemein bekannt war, fragte sie sich nun ungefähr zum sechzigsten Mal fassungslos, wieso man sie trotzdem für diesen Abend als Fahrerin bestimmt hatte.

Nicht, dass sie sich unbedingt betrinken wollte, doch sie schreckte zurück, wenn sie sich vorstellte, dass sie mit zahllosen Zechern auf der Straße unterwegs war, die sich nicht die Zeit genommen hatten, einen fähigen Fahrer zu bestimmen.

»Ashla, Süße, entspann dich!«, schalt Diana Quaid sie verständnisvoll vom Beifahrersitz aus. Mit den Fingerspitzen berührte sie beruhigend die Hand, mit der Ashla das Lenkrad umklammerte.

»Ich entspann mich, wenn wir gesund und munter wieder zu Hause sind«, bemerkte Ashla mit einem nervösen Blick in den Rückspiegel des SUV auf die vier anderen Mitfahrer. Sie hatten sich schließlich von der aufgekratzten Stimmung auf der Party, die sie besucht hatten, wieder erholt, und Cristine, ihre jüngere Schwester, war sogar an der Brust ihres mit einem Smoking bekleideten Freundes eingeschlafen. »Wir hätten an Silvester nicht so weit rausfahren sollen. Oder wir hätten uns zumindest ein Zimmer in dem Hotel nehmen sollen.«

»Ach, komm schon!«, stöhnte Diana und verdrehte die Augen. »Wie hätten wir denn da nicht hingehen können? Das war eine einmalige Gelegenheit! Im Theodore Hotel mit lauter fürchterlich reichen Menschen zu feiern? Das ist eine der heißesten Partys im Dreiländereck. Und der Typ, der dir die Einladungen gegeben hat, steht total auf dich. Er hat so oft mit dir getanzt, dass du deine Schuhe einsargen lassen kannst.«

»Pass auf, was du sagst!« Ashla musste trotzdem grinsen. »Die haben dreihundert Dollar gekostet.«

»Und sind jeden Cent wert.« Diana kicherte. »Du hast total heiß ausgesehen. Der Typ hat dich um Mitternacht einfach gepackt, damit er dich küssen kann.«

Ashla wurde rot bei der Erinnerung und hielt den Blick starr auf die Straße gerichtet, als sie an die besitzergreifenden Hände von Samuel Benson um ihre Taille dachte und wie er sie an sich gezogen hatte, um sie zu küssen. Das mitternächtliche Ritual hatte es ihm erlaubt, die üblichen Regeln für Dates zu brechen, und er hatte das gnadenlos ausgenutzt. Ashla war überrascht gewesen von ihrer Bereitschaft, ihm nachzugeben. Sams Kuss war intensiv und äußerst geschickt gewesen. Kein vollkommen unangenehmes Erlebnis, und jetzt, wo sie darüber nachdachte, eines, das zu wiederholen sie nicht abgeneigt war.

»Es war nur ein Kuss«, bemerkte sie laut und zuckte mit einer Schulter. »Ein sehr netter Kuss. Es ist nicht so, dass die Erde deswegen gebebt oder die himmlischen Chöre gesungen hätten.«

»Mein Gott! Ashla, also wirklich, du bist so so…!«

Diana kam nicht mehr dazu, die Frustration über ihre Freundin in Worte zu fassen. Der entgegenkommende Lastwagen, der plötzlich auf ihre Fahrspur geriet, stieß frontal mit neunzig Meilen die Stunde mit ihnen zusammen und tötete sie auf der Stelle.

1

Ashla stand zitternd in den dunklen Straßen des Times Square.

Sie hatte sich schon beinahe an das fehlende Licht gewöhnt, und sogar an die gespenstische Stille in einer Stadt, die stets von Lärm erfüllt gewesen war, doch woran sie sich nicht gewöhnen konnte, war, dass es überhaupt keine Menschen gab.

Wie lange war sie schon in dieser surrealen, postapokalyptischen Version von New York? Eine Woche? Oder drei? Sie hatte den Überblick verloren. Eine der bevölkerungsreichsten Städte Amerikas, und sie war noch keiner Menschenseele begegnet.

Ashla hatte nur noch eine vage Vorstellung davon, wann das alles angefangen hatte und wie und warum die Welt sich in eine so bizarre und öde Landschaft verwandelt hatte, doch sie erinnerte sich noch daran, dass ihre erste Reaktion nackte Panik gewesen war. Sie wusste noch genau, wie sie überallhin gerannt war, wo eigentlich Kollegen, Freunde oder auch Verwandte sein sollten.

Queens. Die Bronx. Östliches Long Island. Und schließlich Manhattan.

Doch da war niemand.

Oh, alles funktionierte. Die U-Bahn. Autos. Maschinen. Alles war so, als würden die normalen Bewohner jeden Augenblick zurückkommen und weitermachen wie vorher. Nur dass ein paar Dinge fehlten. Es gab keinen Fernsehempfang. Glühbirnen, Neonlichter und überhaupt jede Art von Beleuchtung funktionierte nicht. Das hatte sie am Anfang wirklich verrückt gemacht. Das fehlende Licht hatte die großen Plätze in der Stadt irgendwie klaustrophobisch und lähmend wirken lassen. Das war Gott sei Dank besser geworden, nachdem ihre Augen sich überraschend schnell an die völlige Dunkelheit gewöhnt hatten. Sie hatte sich sogar daran gewöhnt, dass immer Nacht war und dass es nie Tag wurde, wie es eigentlich sollte.

Alles war jedenfalls besser geworden, als sie aufhörte, nach Gründen dafür zu suchen, warum es wohl keine Sonne gab.

Noch so eine seltsame Sache war das mit dem Essen. Das Essen war immer frisch zubereitet, füllte sich irgendwie von selbst auf, so als würden unsichtbare Angestellte noch immer ihren täglichen Pflichten nachgehen. Sie sah nie, wie es passierte, es passierte einfach.

Sie war zu dem Schluss gekommen, dass es am besten war, wenn sie nicht zu viel Zeit damit verbrachte, darüber nachzudenken. Sie bekam keine Antworten, und sie erschreckte sich damit nur selbst zu Tode. Sie fand keine Erklärung für diese und für viele andere unnormale Dinge, und sie war das panische Herzrasen leid, das sie jedes Mal überfiel, wenn sie über ihre düstere Umgebung nachdachte. Stattdessen lernte sie, manche Dinge zu genießen wie Essen, das sie noch nie probiert hatte, oder sich in Häuser in Chinatown zu schleichen, einfach um zu sehen, wie anders sie waren.

Ein Licht gab es allerdings. Das Mondlicht. Es war das Einzige, was Erleichterung in diese dunkle Welt brachte. Der zunehmende Mond, der immer größer wurde, verströmte immer mehr wunderbar blasses Licht auf die Welt um sie herum. Ashla machten nicht einmal die unheimlichen Schatten etwas aus, die in langen schwarzen und grauen Streifen auf die Erde fielen. Sie wusste ja schon, dass niemand sich darin versteckte.

Ihre Wirklichkeit blieb vollkommen menschenleer, so wie es schon den größten Teil des Monats gewesen war. Oder waren es zwei Monate? Oder noch mehr? Selbst die Zeit schien aufgegeben zu haben in dieser leblosen Ödnis, die keinen Sinn ergab. Und sie selbst hatte anscheinend ebenfalls aufgegeben und sich schließlich gelöst von der überwältigenden Trauer über geliebte Menschen, die sie verloren hatte, und sogar ihre wütende Verzweiflung über eine plötzlich sinnlos gewordene Welt überwunden. Jetzt streifte sie einfach durch New York und das restliche Dreiländereck und versuchte sich ein bisschen die Zeit zu vertreiben.

Bis zu diesem Zeitpunkt war ihr nicht bewusst gewesen, wie elementar wichtig die Gegenwart von anderen Menschen für das Wohlergehen war.

Eine Weile hatte es sogar Spaß gemacht, Wege entlangzugehen und Plätze aufzusuchen, die normalerweise streng bewacht wurden, und die verborgene Funktionsweise von Dingen zu untersuchen, nach denen sie sich noch nie gefragt hatte. Zumindest war es so lange unterhaltsam gewesen, bis sie in einer U-Bahn-Station gestürzt war und ihr der Gedanke kam, dass ihr niemand zu Hilfe kommen würde, wenn sie schwer verletzt wäre; niemand würde sie zur Behandlung in ein Krankenhaus bringen; niemand würde sich darum kümmern, dass sie nicht allein in einem dunklen, gefliesten Tunnel vor Hunger und Durst krepierte.

Seit diesem Panikanfall war sie nicht mehr im Untergrund gewesen. Oberirdisch war es vielleicht nicht weniger gefahrvoll, doch es war nicht so beengt, und sie zog Trost aus allem, was nur möglich war. Doch Ashlas Gefühl von Sicherheit oben auf den Straßen war relativ. Sie war zwar sicher vor dunklen und unheimlichen unterirdischen Gefahren, aber sie fühlte sich noch einsamer, wenn Gebäudetürme über ihr aufragten und ihr das Gefühl gaben, dass sie winzig klein war und am Grund eines riesigen verlassenen Canyons stand. Sie musste gegen die wachsende Furcht ankämpfen, dass irgendwann womöglich etwas passieren würde und sie nicht wüsste, wie sie sich selbst helfen sollte.

Und dann, wenn sie einen ganz schlechten Moment hatte, erinnerte sie sich manchmal nicht einmal mehr an die Namen der Menschen, die sie kannte. Dann wurde ihr richtig angst und bange. Dann fürchtete sie, dass sie einfach den Verstand verloren hatte. Welche Erklärung sollte es sonst geben? Wie sollte sie sonst ihre geliebte Schwester Cristine vergessen? Oder ihre Brüder Malcolm und Joseph? Ihre Eltern. Es erschreckte sie, wenn sie sich vorstellte, dass irgendetwas sie dazu bringen konnte, zu vergessen, wie es gewesen war, unter der Fürsorge ihrer Mutter aufzuwachsen.

Es tröstete sie, dass sie sich am heutigen Tag an alles erinnern konnte, und sie versuchte, nicht an den nächsten Tag zu denken.

Von dem allen abgesehen

New York City war ihr Spielplatz.

Saks. Barneys. Macy’s. Bloomies. Schon richtig, dass es unterhaltsamer gewesen wäre, wenn es ein wenig Beleuchtung gegeben hätte, damit sie etwas sehen konnte, doch sie glich es dadurch aus, dass sie in der Nähe der Fenster blieb, durch die das Mondlicht hereinfiel. Sie ging hinein, wenn ihr der Sinn danach stand, und wieder hinaus, ohne etwas zu bezahlen. Jeden Tag suchte sie sich ein neues Geschäft aus, wo sie sich einkleidete. Sie vertrieb sich die Zeit in Kaufhäusern und ließ sich im Diamond District überwältigen, doch jetzt zog es sie zurück zu den Retro-Läden, die sie schon immer so gemocht hatte. Sie liebte die unbezahlbaren erlesenen Kleider, Spitze und Perlen und die von Hand gefertigten Teile, die in der modernen Welt so selten waren. Also machte sie sich auf den Weg zu ihrem Lieblingsgeschäft und schlüpfte bald in ein elfenbeinfarbenes Kleid mit Empire-Taille im Stil von Jane Austen. Es hatte ein Unterkleid aus Seide und gehäkelte Spitze darüber in einem perfekten Cremeton. Es war einzigartig, zart und wunderschön, und der Stil versetzte sie in eine Zeit, in der sich Männer für die Ehre einer Frau duelliert hatten.

Auf einmal hörte sie den Nachhall von Metall, das gegen Metall klirrte.

Nach der langen Stille war sie so überrascht von dem Geräusch, dass sie sich an die Wand presste und sich dort zusammenkauerte und mit keuchendem Atem und klopfendem Herzen eine volle Minute ausharrte, bis sie den Mut aufbrachte, sich ans Fenster zu schleichen.

»Wahrscheinlich ist irgendetwas heruntergefallen. Oder umgekippt. Du bist wirklich eine Idiotin«, schalt sie sich selbst atemlos.

Das klang einleuchtend, bis zu dem Moment, als sie das zweite Klirren von Metall auf Metall hörte, und der Klang in der düsteren Welt und in den leeren Straßen widerhallte. Die Situation wurde ihr klar, als sie das harte Geräusch schneller Schritte hörte, die auf sie zukamen, und sie bemühte sich, sich zu verstecken und gleichzeitig zu sehen, was vor sich ging.

Sie entdeckte die dunklen Umrisse eines Mannes, kurz bevor ein zweiter Mann sich auf ihn stürzte und sie gemeinsam in ihre Richtung flogen. Ashla duckte sich mit einem Aufschrei und hatte kaum die Arme schützend erhoben, als die beiden in einem Scherbenregen durch die Glasscheibe krachten. Regale und Tische zerbrachen, als die beiden stattlichen Männer dagegenprallten. Ausgerechnet ein Schwert schlitterte über den Boden aus Hartholz und blieb vor Ashlas nackten Füßen liegen.

»Ach ja, Ash, jetzt bist du auf jeden Fall geliefert«, murmelte sie, während sie auf die Waffe hinunterstarrte. Ein Schwert. Keine Uzi. Keine Handfeuerwaffe. Ein Schwert. Ashla erkannte allmählich, dass sie sich auf ihre Fantasie nie verlassen hatte, bis sie verrückt geworden war. Jetzt musste sie sich eingestehen, dass das Schwert ein netter Anschlag auf ihre kleine Fantasiewelt war. Genau wie die Männer übrigens.

Erschrocken sah sie zu, während sich die beiden auf einem Meer aus Scherben wälzten. Sie waren beide dunkelhäutig. Der Größere der beiden trug das lange Haar zu einem Zopf geflochten, der schwarz schimmerte in dem schwachen Mondlicht, das in den Laden fiel. Seine Kleidung spannte über seinem muskulösen Körper, als würden die Nähte einem Test unterzogen. Die schwarze Jeans lag eng an muskulösen Oberschenkeln an, und er stemmte seine Füße mit den Motorradstiefeln in den Boden. Seine Schultern wölbten sich unter dem dunkelgrauen Frackhemd, und eine Art Halskette baumelte beinahe höhnisch an der Wange des unterlegenen Gegners, während sie um das verbliebene eine Schwert kämpften.

»Gib auf!«, spie der brutale Kerl seinem Widersacher unter sich ins Gesicht. »Du weißt, dass ich gewinne!«

»Eher küsse ich die Sonne«, war die heisere, angestrengte Antwort des schlankeren Mannes. Es stimmte, wie Ashla besorgt feststellte, dass der andere im Vorteil war, schon allein wegen seiner beeindruckenden körperlichen Erscheinung. Der andere trug das Haar im Nacken und an den Ohren kurz geschoren, doch am Oberkopf war es ein bisschen länger und ließ einen spitzen Haaransatz erkennen, als es nach hinten fiel.

Die Linie seines Haaransatzes ließ sein eckiges Kinn und seine vorstehenden Wangenknochen ausgesprochen exotisch erscheinen. Der Ebenholzschimmer seiner zerzausten Haare warf Schatten auf die dunklen Augen, sodass seine Züge gefährlich wirkten. Der Eindruck verstärkte sich, als er seinen Gegner belustigt angrinste, was seinen Kampf um die Waffe Lügen strafte. »Gib auf, Baylor! Du kannst nicht gewinnen. Heute nicht«

Die Feststellung war eher eine Ankündigung, denn ein Knie fuhr zwischen Baylors aufgestützten Beinen hoch und traf ihn so hart, dass er einen Salto über den Kopf des anderen hinweg machte. Baylor knallte mit dem Rücken auf den Boden, was ihm ein überraschtes Keuchen entrang. Befreit von seinem Gegner rappelte der andere sich hoch, taumelte aber nur gegen einen Ladentisch. Das Schwert hielt er schlaff in der Hand, wobei die Spitze den Boden berührte. Er fuhr sich mit dem breiten Handrücken an die Nase, die blutete, wie Ashla bemerkte. Trotz seiner Entschlossenheit und seines Draufgängertums war selbst ihr klar, dass er entkräftet war und dass er einiges abbekommen hatte.

Trotz seiner dunklen Hautfarbe konnte sie die Schwellung und Färbung frischer Prellungen im Gesicht und auf den Fingerknöcheln erkennen.

Der mit dem Namen Baylor lag stöhnend auf dem Boden und versuchte sich von dem kräftigen Tritt in die Hoden zu erholen, der schmerzhafter gewesen sein musste, als wenn eine Frau ihn verabreicht hätte. Die meisten Männer hätten dieses Manöver als schmutzigen Trick betrachtet, doch der erschöpfte Mann hatte eindeutig jede Möglichkeit gegen den Koloss Baylor nutzen müssen, und Ashla machte es ihm überhaupt nicht zum Vorwurf, dass er auf eine so brutale Taktik zurückgegriffen hatte.

»Du wagst es deine Leute zu hintergehen«, keuchte der stehende Mann mühsam. Er presste einen Arm an den Körper, anscheinend unter Schmerzen, und Ashla überraschte sich bei dem sorgenvollen Gedanken, dass er sich eine oder gar mehrere Rippen gebrochen haben könnte. Sie kannte ihn doch gar nicht, oder den Grund, weshalb sie kämpften. Warum also, fragte sie sich, sollte sie um die eine Seite mehr besorgt sein als um die andere?

»Es gab eine Zeit, da hat man dich für den Verräter gehalten, Ajai Trace«, knurrte Baylor. »Die Geschichte wird von Siegern geschrieben.«

Baylor rollte sich stöhnend und schnaufend auf alle viere, wobei seine Bewegungen anscheinend Schmerzen in seinen Zeugungsorganen hervorriefen. Er blickte auf, und Ashla starrte plötzlich in tiefe, bedrohlich blickende Augen. Doch so finster der Blick anfänglich auch gewesen sein mochte, viel schlimmer war das nachfolgende Grinsen, bei dem er seine Zähne zeigte.

»Sieh an. Was haben wir denn da?«

Bei der spöttischen Bemerkung zuckte Ashla zusammen, doch aus irgendeinem Instinkt heraus packte sie mit zitternden Fingern den Griff des Schwerts zu ihren Füßen. Sie wollte es nicht benutzen, nur sie wollte sichergehen, dass es außerhalb seiner Reichweite war. Ihr Blick wanderte zu dem anderen Mann, und sie war überrascht und unbeschreiblich dankbar, dass er sich ganz aufgerichtet hatte und, als hätte er überhaupt keine Schmerzen mehr, rasch sein eigenes Schwert aufhob und entschlossen zwischen Baylor und sie trat.

»Komm schon, Trace«, sagte Baylor gedehnt, als der andere mit der Spitze seines Schwerts sein vorspringendes Kinn berührte. Eine falsche Bewegung, und sein Kopf würde sich von seinem Hals verabschieden. »Schau mal, die Furcht in ihren Augen. Schau nur, wie die Verlorene zittert. Kapierst du nicht? Das heißt, sie kann uns sehen.«

Trace war sich ziemlich sicher, dass es sich um irgendeinen Trick handelte. In seiner Welt wussten alle, dass die Verlorenen einen Schattenbewohner nicht sehen konnten. Es gab eine Ausnahme, doch die erforderte eine Zeremonie und einen Priester, und es musste einen verdammt guten Grund dafür geben, diese Art von Kontakt herzustellen, und es war aberwitzig zu glauben, dass er von allein zustande kam. Trace hatte die zusammengekauerte Verlorene entdeckt, kurz nachdem sie durch das Fenster hereingestürzt waren. Ihre Reaktion in dem Moment war nachvollziehbar. Sie konnte sie ja nicht sehen, doch mit Sicherheit das Fenster, das auf sie zuflog.

Trace warf einen kurzen Blick rechts neben sich und verschaffte sich einen Eindruck von dem weiblichen Wesen. Es war unmöglich, sie zu übersehen, wirklich. Sie war alles, was seine Leute nicht waren. Hellhäutig. Blond. Weiß gekleidet. Ängstlich. Er konnte nicht anders, als sie erneut anschauen, um eine bessere Vorstellung davon zu bekommen, wie hellhäutig und blond sie aussah. Selbst ihre Augen waren von einem so hellen Blau, wie er es noch nie gesehen hatte.

Und sie starrten ihn direkt an.

Groß, angsterfüllt, doch eindeutig auf ihn gerichtet.

»Unmöglich«, brummte er laut.

»Ha! Der Beweis für deine idiotische Sturheit«, spottete Baylor.

»Halt deine hinterhältige Klappe, mein Freund!«, knurrte Trace wütend und benutzte die Klinge seines Schwerts an Baylors Hals, um ihn dazu zu zwingen, sich aufrecht auf die Fersen zu hocken. Obwohl er gehorchte, schnitt die scharf geschliffene Klinge in seine Haut, und Blut lief ihm über den breiten Hals. Was Trace betraf, so hatte sich seine Stimmung von dem Groll darüber, dass er verraten worden war, in rasende Wut verwandelt. »Glaubst du wirklich, dass es so endet? Glaubst du wirklich, ich nehme dich einfach in Gewahrsam und überlasse es meinen Regenten, über dein Schicksal zu bestimmen? Nachdem du mir bis hierher gefolgt bist und mir etwas von Intrigen und Aufruhr ins Ohr geflüstert hast, um die Regenten gegeneinander auszuspielen? Eine Schwester gegen ihren Bruder? Oh nein, Baylor«, versicherte Trace mit einer Stimme, in der ein bedrohlicher Unterton mitschwang, »ich bin der Wesir unseres Großkanzlers, und ich berate ihn, doch während ich dich öffentlich hängen würde, um ein abschreckendes Beispiel zu geben, sieht Tristan nicht, was für eine Bedrohung du in Wirklichkeit bist.«

»Seine Hoheit«, fuhr er verbittert fort, »überschätzt leider ihre Macht und ihre Stärke. Eine Schwäche, die nur die Zeit heilen kann. Und dann ist da noch sein unerschütterliches Vertrauen in die Loyalität seiner Schwester, weswegen er über Intriganten wie dich nur lacht. Ein Fehler, den viele junge Herrscher machen. Er vergisst, dass Stimmen wie deine immer das Gehör der Unzufriedenen und Abtrünnigen finden, ob sie nun erfolgreich sind mit ihren Zielen oder nicht.

Der Regent ist noch viel zu jung, um sich einer solchen Herausforderung zu stellen, und unsere Friedensbemühungen mit den anderen Schattenwandlern lenken ihn ab, sodass er es nicht bemerkt. Also nein«, versicherte Trace dem vor ihm knienden Mann, »das hier wird nicht freundlich enden. Es wird damit enden, dass mein Schwert diese aufrührerischen Stimmbänder durchtrennt, damit nicht einmal ein Flüstern deiner fehlgeleiteten Worte zu irgendeinem Schattenbewohner dringen kann.«

»Es ist gegen das Gesetz, dass ein Schattenbewohner einem anderen das Leben nimmt!«, brachte Baylor ihm schnaubend in Erinnerung. »Ein Gesetz, das du erlassen hast, wenn ich dich daran erinnern darf! Wie soll dieses politische System jemals stabil werden, wenn sich nicht einmal die eigenen Gesetzgeber an ihre Regeln halten?«

»Zitiere mir nicht meine eigenen Gesetze, Verräter«, zischte Trace durch die zusammengebissenen Zähne und verstärkte den Druck auf die Klinge, bis Baylor protestierend krächzte. »Oder hast du vergessen, dass ein Angriff auf jemanden aus der Regierung als Akt des Verrats und als Kriegserklärung betrachtet wird? Im Krieg wird das Recht nach Lage der Dinge und nach Prüfung der Sachlage aufgehoben.« Trace beugte sich vor, um ihm aus nächster Nähe in die Augen zu schauen. »Hast du den Dolch vergessen, den du mir gerade eben in den Rücken gestoßen hast?«

Das Aufstöhnen des Mädchens auf dem Boden war unüberhörbar, und Trace erhielt den Druck auf seine Klinge aufrecht, während er zu ihr hinübersah. Ihre Augen glitten tatsächlich über seinen Rücken, so als suchte sie nach dem Dolch, den er gerade erwähnt hatte.

Heilige Dunkelheit, Baylor hatte recht! Die Verlorene konnte ihn sehen! Sie konnte alles hören, was sie sagten. Es war ganz und gar unmöglich, sagte ihm sein Verstand, und doch

Trace wandte den Blick ab. Er hatte keine Zeit, sich ablenken zu lassen.

Er wusste, dass Baylor sich nicht um irgendeine Verlorene scherte, die irgendetwas wahrnahm. Er benutzte sie nur, um Zeit zu gewinnen und einen Ausweg zu suchen. Wenn Trace noch länger wartete, würde er ihn am Ende noch fertigmachen. Er packte den Griff seines Katana noch fester und stemmte die Beine gegen die zunehmende körperliche Schwäche. Er sah, wie Baylor seinen Körper ebenfalls anspannte, um sich aus seiner Lage zu befreien. Doch Trace wusste, dass Baylor darauf wartete, dass er das Schwert zurückzog, um auszuholen, und diesen Vorteil wollte er ihm nicht verschaffen, auch wenn es seine Aufgabe erschwerte und sie im Grunde grausamer machte.

Trace atmete einmal tief durch, und mit einem wilden Schrei, wie um seiner Wut Luft zu machen, warf er sich mit seinem ganzen Gewicht auf das Schwert. Es war die äußerst gründliche Pflege, die den entscheidenden Teil ausmachte. Bevor Baylor auch nur ein kleines bisschen zurückzucken konnte, fuhr das scharf geschliffene Schwert ihm ins Fleisch und durchtrennte lebenswichtige Adern. Ein Aufstöhnen drang gurgelnd aus der Kehle des Verräters, als der begriff. Baylors Hände umklammerten in einer letzten Gegenwehr das Schwert, was nur dazu führte, dass es ihm bis auf den Knochen in die Handflächen schnitt.

Trace wollte die Klinge herausziehen und zurückweichen, wollte den Körper dort zu Boden sinken lassen, wo er war, als sich seine Beine plötzlich in Gummi verwandelten und sämtliche Muskeln den Dienst versagten. Er fiel auf die Knie. Hart. Sein Griff um das Schwert löste sich, und einen Augenblick später stürzte er selbst auf den harten Holzboden.

Er wusste, dass das an seinem eigenen Blutverlust lag. Im Grunde war er überrascht, dass er so lange ausgehalten und den Kampf mit einem Wüstling wie Baylor überhaupt gewonnen hatte. Trace musste zugeben, dass es die nackte Angst gewesen war, die ihn getrieben hatte. Er hatte gefürchtet, dass Baylor Erfolg damit haben könnte, einen Keil zwischen die Regentschaft aus Bruder und Schwester zu treiben. Er hatte um das Volk der Schattenbewohner gebangt, falls Baylor das tat.

Obwohl er bemerkte, dass ihm die Sinne schwanden, spürte Trace auf seinen Schultern das Zittern warmer Hände, die ihn, mit seinem Gewicht kämpfend, vorsichtig umdrehten. Goldenes Haar, das auf seiner Haut kitzelte wie Federn, umgab den Kopf der Frau wie ein Heiligenschein, als sie sich über ihn beugte. Der Schnitt war so kurz, dass es ein Herrenschnitt hätte sein können, stellte er benommen fest. Warum sollte eine so schöne Frau mit Haaren in einer so erstaunlichen Farbe diese abschneiden wollen? Er hatte die Menschen noch nie verstanden, nicht einmal, als sie noch keine Verlorenen waren. Und Frauen erst recht nicht, egal welcher Rasse. Die Chancen, dass er begriff, was hier vor sich ging, standen ziemlich schlecht.

»Ich w-will Ihnen helfen«, stammelte sie und beugte sich über ihn, um sein Gesicht in ihre sanften Hände zu nehmen. Als ihre Handflächen unter seiner Nase vorbeistrichen, wurde Trace von einem warmen, süßen Duft liebkost. Wie Geißblatt und Flieder. Eine weitere Anomalie, wie er feststellte, weil die Verlorenen keinen Geruch und keine Körperwärme haben durften. Das waren Merkmale von lebenden Menschen. Die Verlorenen waren eben verloren; Seelen ohne körperliche Eigenschaften. Doch selbst wenn er nur halluzinierte, warum sollte er sich so etwas einbilden? Trace glaubte nicht, dass seine Vorstellungskraft ohne Weiteres den Duft von Flieder und Mensch erzeugen konnte.

Trace wurde plötzlich aus seinen Gedanken gerissen, als etwas an seinen Kleidern zerrte. Mühsam öffnete er seine schweren Lider und versuchte den Blick auf die Frau zu richten, die sich bemühte, ihm das Hemd auszuziehen.

»Lassen Sie mich! Es geht mir gut«, murmelte Trace.

Na ja, das stimmte nicht ganz, aber viel hätte sie sowieso nicht tun können. Er wollte einfach eine Weile seine Ruhe haben. Nur so lange, bis er wieder Luft schöpfen konnte und genug Kräfte gesammelt hatte, um in die andere Sphäre zu wechseln.

Trace verschwendete keinen Gedanken daran, dass er sich etwas vormachte und dass er sich tatsächlich in Lebensgefahr befand. Und er blendete auch das Wissen aus, dass Bewusstlosigkeit ihn aus seinem körperlosen Zustand reißen könnte, und selbst seine schmerzbetäubten Sinne warnten ihn, dass im Lichtreich noch immer Tageslicht herrschte. Wenn er den festen Zugriff auf die sichere Dunkelheit des Schattenreichs verlor, würde er binnen Sekunden bei lebendigem Leib verbrennen.

So viel zu der Vorstellung, dass seine Spezies unsterblich war. Er hatte das Wort unsterblich in diesem Zusammenhang nie verstanden. Ihre lange Jugend und die Zähigkeit seiner Spezies bescherten ihnen vielleicht ein langes Leben und machten es schwer, sie zu töten, doch im Augenblick war er der lebende Beweis dafür oder besser: der sterbende, dass es Sterblichkeit sehr wohl gab. Durch Verbluten, durch eine Hinrichtung oder durch die Einwirkung von Sonnenlicht wäre auch seine Gattung vom Aussterben bedroht.

Trace wusste, dass die Verlorene nicht viel für ihn tun konnte. Er wusste nicht einmal, weshalb er sie überhaupt spüren konnte. Die Kleine zitterte außerdem wie Espenlaub. Nur zu verständlich, wenn man bedachte, was sie gerade miterlebt hatte, doch nichts, was ihn dazu bringen könnte, Vertrauen in sie zu setzen. Er war nicht gerade bekannt dafür, Vertrauen in unberechenbare Frauen zu setzen.

Trace bündelte seine letzten Kräfte; es reichte gerade dazu, dass er den Vorteil nutzen konnte, dass sie Angst hatte. Er schoss zu ihr hoch, wobei sie einen Schrei ausstieß, riss sie zu Boden und rollte sich mit seinem ganzen Gewicht auf sie, sodass sie sich nicht mehr bewegen konnte. Ihre zu Fäusten geballten kleinen Hände trommelten gegen seine Brust, und instinktiv stemmte sie die Fersen in den Holzboden. Das gab ihm unerwartet einen angenehmen Halt für seine Hüften auf weichen, in Seide gehüllten Oberschenkeln.

Er fand es seltsam provozierend, wie sie unter ihm strampelte und nach Luft rang. Das eng anliegende Abendkleid, das sie trug, betonte noch die perfekte Symmetrie ihrer sich hebenden und senkenden Brüste. Ihre Haut verströmte den süßen und unschuldigen Duft nach zarten Blüten und nach Frühlingswärme und hüllte ihn ein. Zu seinem Erstaunen wurde ihm jetzt erst bewusst, dass er tatsächlich eine echte Frau unter sich festhielt. Das war nicht nur ein Geist, eine verlorene Seele. Sie fühlte sich nach weichem Fleisch und warmem Blut an, genauso lebendig wie er vorerst jedenfalls. So, wie er sie festhielt, war sie trotz seiner schwindenden Kräfte hilflos und verletzlich, und es lag etwas zutiefst Ursprüngliches in dieser Situation, die ihm Schockwellen der Lust über die Haut jagte.

Der Gedanke war tatsächlich sexuell, bemerkte Trace und lachte in sich hinein. Ausgerechnet jetzt! Hier war er nun, an der Schwelle zum Tod, und konnte nur daran denken, wie zart und hilflos diese kleine blonde Maus war und wie unglaublich verführerisch sie das machte.

Sein Ziel war es gewesen, sie durch sein Verhalten zu Tode zu erschrecken, damit sie schreiend davonrannte und ihn in Ruhe sterben ließ. Doch seine Wünsche änderten sich schlagartig, und plötzlich war er intensiv mit dem goldenen Schimmer ihres blonden Haars beschäftigt.

Er streckte die Hand danach aus und spielte mit einer der seidenweichen Locken zwischen seinen Fingern.

»Es ist immer wieder faszinierend, wie die Farbe sogar im Dunkeln leuchtet«, murmelte er und stellte fest, dass auch die Beschaffenheit ihres Haars übernatürlich fein war, beinahe so zart wie Spinnweben.

»Bitte tun Sie mir nicht weh«, stammelte sie mit klappernden Zähnen. »Ich ich kann Ihnen helfen!« Ihre Angst war gleichzeitig verwirrend und rührend, doch noch viel mehr war es ihr Angebot, ihm zu helfen. Trace nahm an, dass sie mit ihm feilschte, dass sie ihm etwas anbot, um für ihn nützlich zu sein, damit er ihr nicht wehtun würde. Das war ziemlich schlau von ihr.

»Wie nennt man dich?«, wollte er plötzlich wissen, und die strengen Worte standen in krassem Gegensatz zu den Fingern, die noch immer sanft ihr Haar liebkosten.

»Ashla«, sagte sie gehorsam.

Ihre Nachgiebigkeit verblüffte ihn. Wäre sie eine Schattenbewohnerin gewesen, hätte er bereits ein paar hübsche Beulen, ganz zu schweigen von dem Klingeln in seinen Ohren aufgrund der üblen Beschimpfungen. Trace war nicht gewöhnt an solche Frauen. Sie schien recht zerbrechlich zu sein. So klein wie ein Kind. Und doch

»Ashla. Du musst hier weg. Verstehst du? Das ist im Augenblick kein sicherer Ort.« Er flüsterte aus mehr als einem Grund. Es war möglich, dass Baylor sich mit anderen verabredet hatte, und sie konnten jederzeit auftauchen, doch die Bedrohung für Ashla war unmittelbarer. Trace drückte eine Handfläche gegen den Holzboden, um sich abzustützen, was ihm aber nur mühsam gelang. Doch es genügte, um einen anerkennenden Blick auf ihre Rundungen zu werfen.

Heilige Dunkelheit, stöhnte er bei sich, ich verliere wohl den Verstand! Eine Folge des Blutverlusts. Was sonst? Was sollte das lüsterne Verlangen sonst bedeuten, das ihn durchfuhr? Die Intensität, mit der es sich seines bereits geschwächten Körpers bemächtigte, machte ihn schwindlig, und er bemerkte, wie der Raum sich zu drehen begann.

»Du musst gehen«, krächzte er und rollte sich mit letzter Kraft von ihr herunter. Er wollte sie auf keinen Fall unter sich begraben, falls er bewusstlos wurde oder starb. Das kleine, scheue Reh würde eine so schauerliche und gefährliche Erfahrung wahrscheinlich nicht überleben.

Er streckte sich neben ihr auf dem Fußboden aus und schloss die Augen, als sich alles um ihn herum drehte wie wahnsinnig. Verdammt, dachte er verbittert, das ist wirklich eine unangenehme Art zu sterben! Ganz zu schweigen von dem enttäuschenden Ausgang seines Kampfs mit Baylor und von der Tatsache, dass er seine Regenten nicht vor drohender Gefahr warnen konnte und wohl niemals erfahren würde, was es mit dieser Frau auf sich hatte, die ihn so sehr reizte und faszinierte, dass es sich anfühlte wie eine wahre Tragödie.

* * *

Ashla wollte seinem Befehl, zu gehen, nur zu gerne folgen. Sie wollte so schnell und so lange rennen, bis sie die ganze Welt hinter sich gelassen hätte und wieder an einen normalen Ort gelangte, der ihr vertraut war und den sie sich so sehnlich herbeiwünschte.

Trotzdem brachte sie es nicht über sich, ihn einfach so zurückzulassen. Er war verwundet, und zwar schwer. Es gab nicht viele Dinge, in denen sie gut war, doch sie hatte die Fähigkeit ihm zu helfen, wenn es nötig war.

»Ich lasse Sie hier nicht ohne jede Hilfe zurück«, sagte sie mit einer Entschlossenheit, von der beide wussten, dass sie sie nicht empfand. Sie hob das Kinn und begegnete seinem Blick in der Hoffnung, überzeugender zu wirken.

Er lachte in sich hinein, ein kehliger Laut, der auf unheimliche Weise zu der facettenreichen Dunkelheit seiner Augen passte, als er sie anblickte. »Es gibt keine Hilfe. Das wirst du gleich feststellen«, sagte er.

Seine düsteren Worte drangen kaum zu ihr durch. Sie war einen Moment lang gefangen davon, auf welch wundersame Weise seine Iris beinahe mit der dunklen Tiefe seiner Pupillen verschwamm, nur dass so etwas wie Sternenlicht in diesen dunklen Punkten zu blitzen schien, und die Farbe von schwarzem Kaffee darum herum, so glänzend wie sorgfältig geschliffene Steine. Es war ihr nicht möglich, den Blick abzuwenden, bis die langen, rußfarbenen Wimpern sich schlossen.

Ashla schüttelte ihre Lähmung ab.

»Wer weiß, Sie könnten recht haben«, murmelte sie, während sie sich über ihn beugte. »Das liegt vielleicht daran, dass Sie herumgelaufen sind und Köpfe abgehackt haben. Und ich bin der Dummkopf, der Ihnen zu helfen versucht, damit Sie wieder stark genug sind, um Ihr Furcht einflößendes Schwert zu heben und und«

Die Andeutung war klar. Sie brauchte es gar nicht auszusprechen. Es hätte Trace sowieso nicht berührt, was ein Geist von ihm dachte, doch aus irgendeinem Grund war der Geschmack, den ihre Bemerkung auf seiner Zunge hinterließ, bitter.

»Hör mal«, knurrte er schwer atmend und entrüstet, »ich habe dir gesagt, dass ich dir nichts tun würde.«

»Das ist das, was die bösen Kerle den dummen Frauen in den ganzen dummen Filmen immer erzählen, und am Schluss sind sie tot oder noch schlimmer. Deshalb nehme ich an, dass ich wirklich ziemlich dumm bin.« Sie schob den Stoff seines zerrissenen Hemds zurück und wurde aschfahl im Gesicht, als sie sah, wie schwer seine Schnittwunden und seine Verletzungen waren, die ihm Baylor und auch die geborstene Fensterscheibe beigebracht hatten. »Oh Gott, ich«, krächzte sie leise und wollte instinktiv die Hand vor den Mund schlagen, als sie plötzlich die Blutspuren von seinen Wunden auf ihren Handflächen und Unterarmen sah, und sie hielt mitten in der Bewegung inne. Der rostige Geruch von frischem Blut musste eine Sekunde später zu ihr gedrungen sein, denn sie drehte sich jäh von ihm weg und erbrach sich heftig.

Zu Trace’ Überraschung wandte sie sich wieder zu ihm um, nachdem sie sich einigermaßen gefangen hatte. Sie ergriff ein paar Kleidungsstücke von den nebenstehenden Tischen, um damit das Blut auf seiner Brust abzuwischen. Dann presste sie den Stoff auf die schlimmsten sichtbaren Wunden, während sie sich fortwährend dicke Tränen aus dem Gesicht wischte. Es war, als würden ihre Gefühle und ihre Handlungen völlig unabhängig voneinander ablaufen. Etwas trieb ihn dazu, ihr schlankes Handgelenk zu packen und es festzuhalten, auch wenn sie darüber heftig erschrak. Tränen liefen ihr über die Wangen, und ihre sorgenvollen Augen zuckten hoch, um ihn anzuschauen.

»Du musst das nicht tun. Du hast alles Recht der Welt, Angst zu haben vor dieser fremden Welt, von der du zweifellos kaum etwas begreifst. Diese Verletzungen sind außerdem harmlos. Den tödlichen Stoß habe ich in den Rücken bekommen, und dagegen kann man nichts mehr tun. Das andere ist nebensächlich. Hör zu!« Trace drückte sanft die bemerkenswert kleine Hand, die er hielt, und die Vorstellung überkam ihn, er könnte die kleinen Knochen zerbrechen, wenn er zu fest zudrückte. Die Frauen in seiner Welt waren kräftig und stark, robust und furchtlos. Er hätte nicht gedacht, dass er je mit einer Frau zu tun haben würde, die so zart war. »Es gibt nichts, was du hier noch tun könntest.«

Doch sie schüttelte heftig den Kopf. Ihre Dickköpfigkeit verschlug ihm die Sprache. Was bildete sie sich bloß ein? Es war nur logisch, dass sie aus ihrer Sicht nicht wissen konnte, wer von den kämpfenden Männern der gerechtere und ehrenwertere war, und dass sie sich wahrscheinlich in Schwierigkeiten brachte. Sie stand Todesängste aus in seiner Nähe und wollte nichts mit seinem blutigen, durchlöcherten Körper zu tun haben, und trotzdem wollte sie sein Angebot, sie solle hier aufhören, nicht annehmen. Sie wollte ihn nicht allein lassen.

Die Frau war wirklich eine Idiotin.