Das Buch
Der Mond ist den Menschen zu einer zweiten Heimat geworden. Einer Welt voller Möglichkeiten, einem Ort, an dem Träume wahr werden – vorausgesetzt, man hat genug Geld. Wenn nicht, ist der Mond die Hölle. Das müssen auch die Mitglieder der Familie Corta auf schmerzliche Weise erfahren: Achtzehn Monate nach dem Tod der einflussreichen Matriarchin Adriana ist das Familienunternehmen ruiniert, ihr Sohn und Erbe Lucas ist spurlos verschwunden und die übrigen Cortas sind in alle Himmelsrichtungen verstreut. Die vier verbliebenen Drachen – wie die mächtigen Clans auf dem Mond genannt werden – haben sich Vermögen und Prestige der Familie untereinander aufgeteilt. Nur Lady Sun, die Ehrenpräsidentin der Taiyang, ist davon überzeugt, dass Lucas im Verborgenen versucht, die Corta Hélio Corporation wieder aufzubauen. Während der geflohene Erbe die gefährliche Reise zur Erde wagt, um dort nach Verbündeten zu suchen, erreichen auf dem Mond wechselnde Loyalitäten und politische Machenschaften einen neuen Höhepunkt, und schon bald droht zwischen den rivalisierenden Drachen ein offener Krieg auszubrechen …
Der Autor
Ian McDonald, 1960 in Manchester geboten ist langjähriger Fernsehredakteur und Schriftsteller. Im Alter von zweiundzwanzig verkaufte er seine erste Story, inzwischen zählt er zu den bedeutendsten Science-Fiction-Schriftstellern der Gegenwart. Viele seiner Werke wurden mit Genre-Preisen wie dem Hugo, dem Locus und dem Nebula Award ausgezeichnet. Der Autor lebt und arbeitet in Nordirland.
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Ian McDonald
LUNA
WOLFSMOND
Roman
Aus dem Englischen übersetzt
von Friedrich Mader
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Titel der englischen Originalausgabe
LUNA – WOLF MOON
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Deutsche Erstausgabe 06/2017
Redaktion: Tamara Rapp
Copyright © 2017 by Ian McDonald
Copyright © 2017 der deutschsprachigen Ausgabe by
Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: Das Illustrat GbR, München,
unter Verwendung eines Motivs von Gettyimages / malcolm park
Satz: Schaber Datentechnik, Austria
ISBN 978-3-641-19301-0
V001
www.diezukunft.de
INHALT
Karte
Nach dem Fall: Aries 2103
1 Virgo 2105
2 Virgo – Libra 2105
3 Aries 2103 – Gemini 2105
4 Libra 2105
5 Libra – Scorpio 2105
6 Gemini 2105
7 Libra – Scorpio 2105
8 Scorpio 2105
9 Leo – Virgo 2105
10 Scorpio 2105
11 Scorpio 2105
Personenverzeichnis
Glossar
Mondkalender
VORDERSEITE DES MONDES
Der Wolfsmond
Der Farmers’ Almanac leitet die Namen der Monde von den amerikanischen Ureinwohnern im heutigen Nordosten der USA ab.
Der Wolfsmond ist der Januar, in dem die Wölfe vor Hunger und Not heulen – der Mond der tiefsten Kälte und Finsternis.
NACH DEM FALL ARIES 2103
»Fliegt mich zur Erde«, keuchte Lucas Corta.
Besatzungsmitglieder schnallten ihn von der Mondloop-Gondel ab und schleppten ihn – hypoxisch, hypothermisch und dehydriert, wie er war – in die Schleuse.
»Sie sind an Bord des WTO-Cyclers Saints Peter and Paul, Senhor Corta.« Die Schleusenaufseherin schloss die Türen.
»Zuflucht«, flüsterte Lucas Corta, dann übergab er sich. In den fünf Stunden, die die Gondel zur Flucht aus dem zerstörten Imperium von Corta Hélio brauchte, hatte Lucas Corta an sich gehalten. Fünf Stunden, in denen gezielte Schläge sein Unternehmen draußen auf den Meeren von Luna zerstörten, eine Malware seine Finanzen einfror und die Mackenzies seine Stadt in Schutt und Asche legten. Fünf Stunden, in denen seine Brüder mit Messern das Haus Corta verteidigten und er über das Mare Fecunditatis floh, weg vom Mond, hinaus ins All.
Du musst das Unternehmen retten, hat Carlinhos gesagt. Hast du einen Plan?
Ich habe immer einen Plan.
Fünf Stunden, in denen er wie Sprengschutt hinausgewirbelt wurde ins All, weg von seinem vernichteten Reich. Dann endlich lösten die Berührung von Händen, die Wärme von Stimmen und die Stabilität eines Schiffs um ihn herum – keine Büchse aus Aluminium und Plastik, nein, ein richtiges Schiff – die bis zum Zerreißen gespannten Muskeln, und er kotzte sich die Seele aus dem Leib. Die WTO-Besatzung rückte mit tragbaren Allessaugern an.
»Es hilft, wenn Sie sich in diese Richtung orientieren, Senhor Corta.« Die Schleusenaufseherin wickelte eine Foliendecke um Lucas’ Schultern, und die Besatzungsmitglieder bugsierten ihn in den Aufzug. »Gleich bringen wir Sie wieder auf Mondschwerkraft.«
Lucas spürte, wie sich der Aufzug in Bewegung setzte und ihn die Rotogravitation an den Beinen packte. Erde, versuchte er zu sagen. Blut verklebte seine Kehle. In seiner Brust rasselten geplatzte Alveolen. Unten auf dem Mare Fecunditatis, als Amanda Sun alles tat, um ihn zu töten, hatte er Vakuum eingeatmet. Sieben Sekunden lang war er der nackten Mondoberfläche ausgesetzt. Ohne Schutzanzug. Ohne Luft. Ausatmen, die wichtigste Regel der Mondläufer. Die Lunge leeren.
Er hatte es vergessen, hatte alles vergessen bis auf die Luftschleuse des Mondloops, auf die er zusteuerte. Er hatte einen Lungenriss. Jetzt war er ein Mondläufer. Die Nadel hätte ihm zugestanden: Dona Luna, eine Gesichtshälfte schwarze Haut, die andere weißer Schädelknochen. Lucas Corta lachte und glaubte einen Augenblick lang, daran zu ersticken. Auf dem Aufzugboden zu seinen Füßen bildete sich eine Lache aus blutigem Schleim.
Er musste sich klar ausdrücken, damit ihn die Woronzow-Angestellten auch wirklich verstanden. »Fahrt mich runter auf Erdschwerkraft.«
»Senhor Corta …«, begann die Schleusenaufseherin.
»Ich will zur Erde«, keuchte Lucas Corta. »Ich muss runter zur Erde.«
Nur mit einer kurzen Hose bekleidet lag er im Diagnosebett der Bordklinik. Kurze Hosen hatte er schon immer gehasst. Lächerlich und kindisch. Er hatte sich geweigert, sie zu tragen, selbst wenn sie in Mode kamen, was bei dem schnellen Wechsel der Trends auf dem Mond unweigerlich der Fall war. Bloße Haut wäre besser gewesen. Er hätte die Nacktheit in Würde ertragen.
Die Frau stand am Fuß des Diagnosebetts. Sensorarme und Injektoren umgaben sie wie eine Gottheit. Sie war weiß, in mittleren Jahren, müde. Und hatte alles fest im Griff. »Ich bin Galina Iwanowna Wolikowa. Ich bin Ihnen als persönliche Ärztin zugeteilt.«
»Ich bin Lucas Corta«, krächzte er.
Dr. Wolikowas rechtes Auge flackerte, als sie das Patienten-Interface studierte. »Lungenkollaps. Multifokale zerebrale Mikroblutungen. Noch zehn Minuten, dann wären Sie wahrscheinlich an einem Gehirnhämatom gestorben. Schädigung der Augenhornhaut, innere Blutungen in beiden Augäpfeln, geplatzte Alveolen. Und ein gerissenes Trommelfell, das ich wieder geflickt habe.« Ein leises, knappes Lächeln dunkler Belustigung huschte über ihre Lippen.
Da wusste Lucas Corta, dass er mit ihr zusammenarbeiten konnte. »Wie lange …«, zischte er. In seinem linken Lungenflügel mahlten Glasscherben.
»Ich lasse Sie frühestens nach einer Umlaufbahn hier raus«, antwortete Dr. Wolikowa. »Und bitte nicht mehr sprechen.«
Eine Umlaufbahn: achtundzwanzig Tage. Als Junge hatte sich Lucas mit der Funktionsweise der Cycler befasst; wie sie mit minimalem Energieverbrauch ihre Bahnen um den Mond zogen, ihn zweimal berührten und dann wie von einer Schleuder katapultiert zurück Richtung Erde schossen. Das Ganze nannte sich Rückwärts-Orbit. Die zugrunde liegende Mathematik blieb Lucas verschlossen, aber weil es zum Geschäft von Corta Hélio gehörte, musste er wenigstens die allgemeinen Abläufe verstehen. Kreisläufe um den Mond und die Erde, während Erde und Mond ihre eigenen Zyklen um die Sonne beschrieben und die Sonne mit ihren Welten ihrem eine Viertelmilliarde Jahre dauernden Weg um das Zentrum der Galaxie folgte. Alles in Bewegung. Alles ein Teil des großen Tanzes.
Eine neue Gestalt am Fuß des Betts, kleiner und muskulöser als Dr. Wolikowa. »Kann er mich hören?« Die Stimme einer Frau, hell und musikalisch.
»Ja.«
»Und reden«, knirschte Lucas.
Die Gestalt trat ins Licht. Kommandantin Walentina Walerijewna Woronzowa war auf den zwei Welten bekannt, trotzdem stellte sie sich mit vollem Namen vor. »Willkommen an Bord von Saints Peter and Paul, Senhor Corta.«
Kommandantin Walentina Walerijewna Woronzowa war kräftig gebaut; Erdmuskeln, russische Wangenknochen, kasachische Augen. Und Zwilling: Ihre Schwester Jekaterina befehligte den Alexander Newski. Die beiden Kapitäninnen Woronzowa waren legendäre Frauen. Die erste Legende besagte, dass sie als identische Föten von verschiedenen Leihmüttern bei ungleicher Schwerkraft ausgetragen worden waren. Die eine geboren im Weltraum, die andere auf der Erde. Das zweite hartnäckige Gerücht drehte sich darum, dass sie eine innere Telepathie teilten, eine intime Identität jenseits von Kommunikation, egal, wie weit sie voneinander getrennt waren. Quantenmagie. Laut dem dritten Mythos schließlich wechselten sie sich regelmäßig heimlich beim Kommando der zwei WTO-Cycler ab. Von allen Legenden über die doppelten Kapitäninnen erschien Lucas Corta nur diese glaubhaft. Den Feind im Dunkeln tappen lassen.
»Wie ich höre, sind Sie noch nicht über die Situation auf dem Mond unterrichtet worden«, sagte Kommandantin Woronzowa.
»Bin bereit.«
»Das kann ich mir nicht vorstellen. Lucas, ich habe ganz schlimme Nachrichten für Sie. Sie haben alles verloren, was Sie kannten. Ihr Bruder Carlinhos ist tot. Er wurde bei der Verteidigung von João de Deus getötet. Boa Vista ist völlig zerstört. Und Rafael ist durch Dekompression gestorben.«
Fünf Stunden allein auf dem Transfer-Orbit eines Mondloops, konfrontiert mit der nackten Wand der Kapsel. Lucas’ Fantasie war in dunkle Gefilde abgeglitten. Er hatte den Tod seiner Familie gesehen, den Sturz seines Reichs. Die Nachrichten der Kommandantin kamen nicht unerwartet. Trotzdem trafen sie ihn so hart wie das Vakuum selbst.
»Dekompression?«
»Sprechen Sie lieber nicht, Senhor Corta«, mahnte Dr. Wolikowa.
»Mackenzie-Fechter haben die Oberflächenschleuse in die Luft gejagt«, fuhr Kommandantin Woronzowa fort. »Rafael hat alle rechtzeitig in die Schutzbunker gebracht. Wir glauben, dass er zum Zeitpunkt des plötzlichen Druckabfalls in der Siedlung nach Versprengten gesucht hat.«
»Wäre typisch für ihn. Edel und dumm. Was ist mit Luna? Robson?«
»Die Asamoahs haben die Überlebenden gerettet und sie nach Twé gebracht. Bryce Mackenzie hat beim Clavius-Gerichtshof bereits einen offiziellen Antrag auf Robsons Adoption gestellt.«
»Und Lucasinho?« Erst jetzt brachte er die Beherrschung von Muskeln und Gefühlen auf, die er brauchte, um den Namen auszusprechen, den er am liebsten gleich zu Anfang herausgeschrien hätte. Wenn Lucasinho tot war, würde er einfach aus diesem Bett aufstehen und durch die Luftschleuse nach draußen marschieren.
»Er ist in Sicherheit. In Twé.«
»Die Asamoahs waren immer vertrauenswürdig.« Dass es Lucasinho gut ging, war wie sonnenheiße Freude: Helium bei Fusionstemperatur.
»Ariel konnte mithilfe ihrer Leibwächterin nach Bairro Alto entkommen. Sie ist untergetaucht. Genauso wie Ihr Bruder Wagner. Er hat Zuflucht beim Meridian-Rudel gefunden.«
»Der Wolf und der Krüppel«, flüsterte Lucas. »Und das Unternehmen?«
»Robert Mackenzie betreibt bereits die Integration der Infrastruktur von Corta Hélio. Er hat Ihre früheren Arbeiter unter Vertrag genommen.«
»Sie wären dumm, wenn sie nicht darauf eingehen würden.«
»Sie gehen darauf ein. Er hat eine neue Tochtergesellschaft angekündigt: Mackenzie Fusible. Sein Enkel Juri Mackenzie ist der Präsident.«
»Nach den ersten zwei oder drei kann man Australier sowieso nicht mehr unterscheiden.« Lucas gluckste tief und blutig über seinen düsteren Witz. Witze schleuderten Staub ins Gesicht der überwältigenden Umstände. »Sie wissen sicher, dass es die Suns waren. Sie haben uns gegeneinander aufgehetzt.«
»Senhor Corta.« Dr. Wolikowas Ton wurde eindringlicher.
»Sie haben uns dazu gebracht, dass wir uns voller Begeisterung gegenseitig die Kehlen durchgeschnitten haben. Die Suns planen in Zeiträumen von Jahrzehnten.«
»Im Moment üben die Taiyang zahlreiche Optionen auf Grundstücke in der Äquatorzone aus«, erklärte Kommandantin Woronzowa.
»Sie wollen den ganzen Äquatorgürtel in eine Solarenergieanlage verwandeln«, zischte Lucas. Blutige Schlacke brach aus seiner Lunge. Maschinenarme putzten die rote Schmiere weg.
»Das reicht jetzt, Kommandantin Woronzowa«, sagte Dr. Wolikowa.
Die Kommandantin legte die Fingerspitzen an den Daumen und neigte den Kopf: eine lunare Verbeugung, obwohl sie von der Erde stammte. »Mein Beileid, Lucas.«
»Helfen Sie mir«, krächzte er.
»WTO Weltraum und WTO Erde halten Abstand von WTO Mond«, sagte Kommandantin Woronzowa. »In bestimmten Punkten sind wir äußerst anfällig. Der Schutz unseres Massebeschleunigers am Lagrange-Punkt 2 und unserer Abschussanlagen auf der Erde ist für uns von größter Bedeutung. Natürlich werden wir von den Russen, Chinesen und Indern mit argwöhnischen Blicken beobachtet.«
Wieder bewegten sich die Maschinenarme. Plötzlich spürte Lucas unter dem rechten Ohr einen Sprühstoß, scharf wie eine Nadel.
»Kommandantin Woronzowa, der Mond muss glauben, dass ich tot bin.«
Die Kommandantin, die Ärztin und die langsamen, andächtigen Arme des Medizingeräts verschwammen in einem weißen Nebel.
Er hätte nicht angeben können, wann er die Musik bemerkte. Er tauchte in sie hinein wie ein durch die Meeresoberfläche brechender Schwimmer. Sie umgab ihn wie Luft, wie Fruchtwasser, und er ruhte mit geschlossenen Augen atmend in ihr, zufrieden und schmerzlos. Die Musik war edel, vernünftig, geordnet. Irgendein Jazzstil, vermutete Lucas. Nicht seine Musik, keine Musik, die er verstand oder schätzte. Trotzdem erkannte er ihre Logik, die Muster, die sie in die Zeit malte. Lange lag er nur da und konzentrierte sich auf nichts anderes als auf die Musik.
»Bill Evans«, sagte eine Frauenstimme.
Lucas Corta schlug die Augen auf. Dasselbe Bett, dieselben Medizin-Bots, dasselbe gedämpfte Licht. Das Rauschen von Energie und Klimaanlage, an dem er erkannte, dass er sich nicht auf einer Welt befand, sondern auf einem Schiff.
Dieselbe Ärztin bewegte sich am Rand seines Gesichtsfeldes. »Ich habe Ihre neuronale Aktivität gesehen. Sie reagieren gut auf modalen Jazz.«
»Hat mir gefallen. Das können Sie jederzeit laufen lassen.«
»Tatsächlich?« Erneut hörte Lucas leise Belustigung in ihrer Stimme.
»Wie geht es mir, Dr. Wolikowa?«
»Sie waren achtundvierzig Stunden bewusstlos. Die schlimmsten Verletzungen habe ich behoben.«
»Vielen Dank.« Lucas machte eine Bewegung, um sich aufzusetzen. In ihm riss etwas, und Dr. Wolikowa eilte mit einem leisen Schrei an sein Bett.
Sanft drückte sie Lucas Corta auf die elastische Oberfläche zurück. »Sie müssen sich entspannen, Senhor Corta.«
»Ich muss arbeiten. Ich kann nicht ewig hierbleiben. Ich muss mein Unternehmen wiederaufbauen, und meine Mittel sind begrenzt. Und ich will zur Erde fliegen.«
»Sie sind auf dem Mond geboren. Sie können nicht zur Erde fliegen.«
»Es ist nicht unmöglich, Dr. Wolikowa. Es ist das Einfachste von der Welt. Nur mit tödlichen Folgen. Aber tödlich ist alles irgendwann.«
»Sie können nicht zur Erde.«
»Ich kann nicht zurück auf den Mond. Die Mackenzies würden mich umbringen. Hier kann ich auch nicht bleiben. Die Gastfreundschaft der Woronzows ist nicht grenzenlos. Helfen Sie mir, Dr. Wolikowa. Sie sind doch eine medizinische Spezialistin für Niedrigschwerkraft. Was sind meine Optionen? Rein hypothetisch.«
Ein neues Stück setzte ein, leichtfüßig und modal. Klavier, Bass und ein wisperndes Schlagzeug. Kleine Kräfte mit großer Wirkung.
»Hypothetisch könnte ein auf dem Mond geborener Mensch mit intensivem Training und medizinischer Unterstützung zwei Lunen unter Erdbedingungen überleben.«
»Wären auch vier Lunen möglich?«
»Das würde zunächst viele Lunen physischer Konditionierung voraussetzen.«
»Wie viele Lunen, Dr. Wolikowa? Rein hypothetisch natürlich.«
Er sah ihr Achselzucken und hörte ihr gereiztes Seufzen.
»Mindestens ein Jahr. Vierzehn, fünfzehn Lunen. Und selbst dann wären die Überlebenschancen beim Start nicht höher als fünfzig Prozent.«
Lucas Corta war kein Spieler. Er befasste sich mit Gewissheiten. Als Jonmu von Corta Hélio hatte er die Aufgabe, so lange zu verhandeln, bis aus Unsicherheiten Klarheiten wurden. Jetzt hingegen wurde er selbst von ehernen Gewissheiten bedrängt, und im Risiko lag seine einzige Hoffnung.
»Dann möchte ich Ihnen einen Plan vorlegen, Dr. Wolikowa.«