Inhalt

  1. Titel
  2. Zu diesem Buch
  3. Widmung
  4. Playlist
  5. Kapitel 1
  6. Kapitel 2
  7. Kapitel 3
  8. Kapitel 4
  9. Kapitel 5
  10. Kapitel 6
  11. Kapitel 7
  12. Kapitel 8
  13. Kapitel 9
  14. Kapitel 10
  15. Kapitel 11
  16. Kapitel 12
  17. Kapitel 13
  18. Kapitel 14
  19. Kapitel 15
  20. Kapitel 16
  21. Kapitel 17
  22. Kapitel 18
  23. Kapitel 19
  24. Kapitel 20
  25. Kapitel 21
  26. Kapitel 22
  27. Kapitel 23
  28. Kapitel 24
  29. Kapitel 25
  30. Kapitel 26
  31. Kapitel 27
  32. Danksagung
  33. Die Autorin
  34. Die Romane von Bianca Iosivoni bei LYX
  35. Impressum

BIANCA IOSIVONI

Der letzte erste Blick

Roman

Zu diesem Buch

Endlich frei! Emery Lance kann es nicht erwarten, ihr Studium in West Virginia zu beginnen. Hier kennt niemand ihre Geschichte. Niemand weiß, was zu Hause geschehen ist. Dafür nimmt sie auch in Kauf, dass die Situation im Wohnheim alles andere als ideal ist. Nicht nur treibt ihr Mitbewohner sie regelmäßig in den Wahnsinn (gut, vielleicht hätte sie ihm nicht gleich am ersten Tag die Nase brechen sollen), sein bester Freund Dylan Westbrook bringt ihr Herz mit einem einzigen Blick zum Rasen. Dabei gehört Dylan genau zu der Sorte Mann, von der Emery sich eigentlich unbedingt fernhalten wollte: zu gut aussehend, zu nett, zu lustig. Mal ganz davon abgesehen, dass er ihr bei jeder sich bietenden Gelegenheit irgendwelche Streiche spielt. Emery weiß, dass sie eigentlich alles versuchen müsste, um Dylan aus dem Weg zu gehen. Aber das ist leichter gesagt als getan. Denn plötzlich scheint er überall zu sein. Je mehr Zeit die beiden miteinander verbringen und je besser sie sich kennenlernen, desto näher kommen sie sich. Doch Emery ahnt nicht, dass Dylan etwas vor ihr verbirgt. Dass es einen Grund gibt, warum er ihre Nähe sucht. Und plötzlich ist es nicht mehr nur ihre Vergangenheit, die droht, ihr Herz für immer zu zerbrechen …

Für Yvonne

Playlist

Taylor Swift – I Knew You Were Trouble

Imagine Dragons – I’m So Sorry

Daya – Hide Away

Gentleman – You Remember

Fine Young Cannibals – She Drives Me Crazy

James Blunt – Bonfire Heart

John Denver – Take Me Home, Country Roads

Fun. feat. Janelle Monáe – We Are Young

Taylor Swift – Wildest Dreams

Ed Sheeran – Kiss Me

Maroon 5 – Animals

Taylor Swift – Style

Rihanna feat. Calvin Harris – We Found Love

Imagine Dragons – Dream

Taylor Swift – Out Of The Woods

Ht Bristol, Vincent Steele, Nine One One & Charlie Bannister – Bring Me Back To Life

Jaymes Young – I’ll Be Good

Sia – Big Girls Cry

Mika – Happy Ending

Rachel Platten – Fight Song

Taylor Swift – This Love

Mika – Kick Ass

Kapitel 1

Emery

»Es ist nicht gerade die feine Art, das erste Semester damit zu beginnen, jemandem die Nase zu brechen, Miss Lance.« Die Frau hinter dem Schreibtisch zog ihre randlose Brille ein Stück hinunter und warf mir einen tadelnden Blick zu. »Da stimmen Sie mir doch zu, nicht wahr?«

Nein, nicht wirklich. Genau genommen hätte es keine bessere Art gegeben, den ersten Tag meines neuen Lebens zu beginnen, als Mason Lewis eine reinzuhauen. Wobei ich ihm auch mein Knie in die Eier hätte rammen können. Das hätte diesem Vormittag die Krone aufgesetzt. Nachdenklich kratzte ich an dem verblassten Froschaufkleber auf meiner Umhängetasche. Ich hätte mir eine neue besorgen sollen, bevor ich hergekommen war, aber ich konnte mich einfach nicht von dem alten Ding trennen.

Ein Räuspern ließ mich aufblicken. Mrs Peterson sah mich auffordernd an. Oh, erwartete sie tatsächlich eine Antwort auf ihre rhetorische Frage?

Ich setzte ein Lächeln auf, das meine Highschoollehrer nie überzeugt hatte, doch vielleicht hatte ich hier mehr Glück. »Aber natürlich«, presste ich in der süßesten Stimme hervor, die ich aufbringen konnte.

»Schön.« Mrs Peterson öffnete eine Akte, auf der mein Name in großen schwarzen Buchstaben stand: Emery Lance. »Ihrer alten Schule zufolge ist dies nicht der erste Vorfall, bei dem Sie handgreiflich geworden sind.«

Verdammte Axt. Ich sank etwas tiefer in meinen Sessel. Da rutschte einem einmal die Hand aus, und schon landete es in der Schulakte. Dabei war das nur passiert, weil Stephen Merrick mich in der Mensa befummelt hatte.

Neben mir erklang ein Geräusch, das eine Mischung aus Schniefen und Schnauben war. Mason Lewis saß vornübergebeugt und versuchte sein Nasenbluten mit Toilettenpapier zu stoppen. Wenn er nicht gerade aussah wie ein abgeschlachtetes Schwein, war er ganz attraktiv. Millimeterkurzes Haar, groß, breitschultrig, tätowiert und mit einer offenen Sweatweste. Er war der Typ Mann, mit dem ich mich gut verstehen würde – müsste ich mir kein Zimmer mit ihm teilen.

Wer hatte sich das überhaupt ausgedacht? Klar gab es gemischte Wohnheime, sogar Badezimmer, die sich Jungs und Mädchen teilten. Aber wer steckte denn ein Mädchen zu einem wildfremden Kerl in ein Zimmer und zwang sie, für den Rest des Semesters zusammenzuwohnen? War doch klar, dass es dabei zu Unstimmigkeiten kam. Oder zu blutigen Auseinandersetzungen wie in unserem Fall.

»Mister Lewis hier soll Sie auf unangemessene Weise berührt haben«, sprach Mrs Peterson weiter. »Ist das korrekt?«

Auf unangemessene Weise? Nannte man das heutzutage so? Ich richtete mich wieder auf. »Er hat mir an den Hintern gegrapscht.«

»Gestreift!« Mason warf mir einen wütenden Blick zu. »Ich habe sie höchstens gestreift. Und es war unabsichtlich!«

»Ja, klar.« Ich drehte mich so zu ihm um, dass wir uns direkt in die Augen sehen konnten. Volle Konfrontation, kein Wegducken und Hinnehmen. Nie wieder. »Deine Hand hat sich nur zufällig zu meinem Hintern verirrt. Genauso zufällig, wie meine Faust deine Nase getroffen hat. Ach nein, höchstens gestreift.«

»Das genügt.« Mrs Peterson hob beide Hände wie ein Schiedsrichter und bedachte uns mit einem strafenden Blick. »An der Blackhill University dulden wir keine Gewalt. Nur in einer friedvollen, sicheren Umgebung können unsere Studenten ihr ganzes Potenzial entfalten und all das Wissen aufnehmen, das wir ihnen vermitteln. Es ist daher von größter Wichtigkeit …«

Ich klinkte mich in Gedanken aus und betrachtete meine geröteten Fingerknöchel. Inzwischen brannten sie, als hätte jemand Entwicklerflüssigkeit aus dem Fotolabor darauf geschüttet.

Ich konnte es kaum erwarten, endlich hier rauszukommen, mein neues Zimmer zu beziehen und meine Hand zu kühlen. Wäre da nicht dieser kleine Zwischenfall, der mich hierher gebracht hatte.

»Betrachten Sie dies als Verwarnung, Miss Lance«, beendete Mrs Peterson ihre Rede und faltete die manikürten Finger auf dem Schreibtisch.

»Das ist alles?«, rief Mason ungläubig. Der silberne Ring in seiner Unterlippe bebte. »Eine Verwarnung? Diese Furie hätte mich fast umgebracht!«

Angesichts des ganzen Blutes, das seit mehreren Minuten aus seiner Nase strömte, könnte das sogar stimmen. Ich erkannte meinen neuen Mitbewohner kaum wieder. Sein Gesicht war zur Hälfte unter Toilettenpapier verborgen, über seine Wange zog sich eine verschmierte rote Spur, und auch auf seinem gebräunten Unterarm waren dunkelrote Flecken zu sehen. Alles in allem könnte der Kerl einem Zombiefilm entsprungen sein. Sein tiefes Grollen würde dazu passen.

»Oh, bitte.« Mrs Peterson wedelte ungeduldig mit der Hand. »Sie haben eine angeknackste Nase, keinen Schädelbruch. Und hören Sie endlich auf, meinen Teppich vollzubluten.«

Ich presste die Lippen aufeinander, um mir mein Lachen zu verkneifen, aber mir entkam trotzdem ein glucksender Laut. Zwei Augenpaare richteten sich auf mich. Das eine forschend, das andere wütend.

Ich neigte den Kopf, bis mir mein eisblondes Haar vors Gesicht fiel und mein Grinsen verbarg. »Entschuldigung«, murmelte ich und tat, als würde ich meine pinkfarbenen Haarspitzen betrachten.

Damit schien sich Mrs Peterson zufriedenzugeben, obwohl Mason mich noch immer musterte, als wollte er mich eigenhändig aus dem Fenster werfen. Pech für ihn, dass sich das Büro der Hausverwaltung im Erdgeschoss befand.

»Bevor ich Sie beide entlasse, muss ich Ihnen noch eine Frage stellen.« Mrs Petersons ernster Blick wanderte zu mir.

Oh, oh. Ich kannte diesen Gesichtsausdruck. Ein Prickeln breitete sich in meinem Nacken aus, wie Ameisen, deren dünne Beinchen über meine Haut krabbelten. Ich unterdrückte den Impuls, mich zu schütteln, und setzte mich stattdessen auf. Schultern zurück, Rücken gerade, Kinn hoch erhoben. Zeig ihnen nicht, wie sehr sie dir zusetzen.

»Hat Mister Lewis Sie sexuell belästigt?«

»Was?«, schnappte er neben mir. Seine Fassungslosigkeit war nicht gespielt, genauso wenig wie das Entsetzen in seiner Miene. »So etwas würde ich nie tun!«

Es überraschte mich selbst am meisten, aber ich glaubte ihm. Mason war nicht wie die Jungs an meiner Highschool, die mir im letzten Jahr das Gefühl gegeben hatten, eine billige Schlampe zu sein. Das hier war nicht Montana. Ich war weit weg von zu Hause. Nur weil Mason und ich einen schlechten Start gehabt hatten, bedeutete das nicht, dass ich ihn für einen Sexualstraftäter hielt. Oder ihn mit meiner Aussage in den Augen der Welt zu einem machen wollte. Wenn es jemanden gab, der wusste, wie zerstörerisch Gerüchte sein konnten, dann ich.

»Nein«, antwortete ich ehrlich. »Es war ein Missverständnis«. Das sich hoffentlich geklärt hatte, nachdem ich ihm eine runtergehauen hatte.

Mrs Peterson fixierte uns einige Sekunden lang schweigend, dann schloss sie die Akten auf ihrem Tisch. »Gut. In dem Fall ist alles geklärt. Sie dürfen gehen.«

»Was ist mit dem Zimmer?«, fragte ich sofort. »Auch wenn es ein Missverständnis war, würde ich gern ein anderes zugewiesen bekommen.«

»Ich bin stark dafür«, brummte Mason und riss die letzten Blätter von der Klopapierrolle in seinen Händen, um sie gegen seine Nase zu pressen.

»Tut mir leid.« Scheinbar mitfühlend zog Mrs Peterson die Schultern hoch. »Das ist eine ungewöhnliche Situation, und ich bin sicher, bei der Einteilung ist jemandem ein Fehler unterlaufen. Aber eine Umsiedlung in ein anderes Zimmer oder Wohnheim ist zu diesem Zeitpunkt leider unmöglich, da zum Semesterbeginn nichts mehr frei ist. Sofern sich keiner von Ihnen eine Wohnung außerhalb vom Campus suchen möchte, müssen Sie fürs Erste miteinander auskommen.«

Wie bitte? Das war alles? Ich starrte die Frau hinter dem Schreibtisch an. Sie hatte gut reden, sie musste sich kein Zimmer mit irgendeinem Idioten teilen, dessen Hand sich aus Versehen zu ihrem Hintern verirrte.

»In ein paar Wochen kann das natürlich anders aussehen«, redete Mrs Peterson unbeirrt weiter. »Ich habe mir Ihre Handynummern und E-Mail-Adressen notiert und werde Sie informieren, sobald etwas frei wird.«

Als wäre damit die Welt wieder in Ordnung, stand Mrs Peterson auf, schüttelte uns die Hände und scheuchte uns aus ihrem Büro. Im Gang bog Mason sofort nach rechts ab und steuerte die Männertoilette an. Vermutlich, um sich eine neue Rolle Klopapier zu besorgen.

Ich blieb allein in dem kühlen Flur zurück. An einem College, das ich nicht kannte, in einer fremden Stadt in einem Bundesstaat, in dem ich nie zuvor gewesen war. Mit dem zweifelhaften Talent, mir gleich am ersten Tag Feinde zu machen. Großartig.

Schwüle Luft schlug mir entgegen, als ich aus dem Verwaltungsgebäude ins Freie trat. Es war Mitte August und deutlich wärmer als zu Hause in Missoula. Ich vermisste die schneebedeckten Berge in der Ferne, die ich jeden Tag und jede Nacht meines Lebens gesehen hatte. Mit einem Kopfschütteln wischte ich das aufkeimende Gefühl von Heimweh beiseite. Ich hatte mich bewusst dafür entschieden, so weit von zu Hause entfernt zu studieren, und würde sicher nicht beim ersten Zwischenfall einknicken. Nicht einmal, wenn ich einen Vermerk in meiner Akte bekam, noch bevor das Semester richtig begonnen hatte.

Langsam setzte ich mich in Bewegung. An diesem Samstagvormittag entdeckte ich nur vereinzelt andere Menschen auf dem Campus, aber mir gefiel die Stille. Ich war gut darin, allein zu sein. Das Einzige, was mir in diesem Moment fehlte, war meine Kamera, um die Eindrücke um mich herum einzufangen und für immer festzuhalten. Die Leute auf den Grünflächen wirkten so entspannt, während sie sich sonnten, ein Buch lasen oder in kleinen Gruppen zusammensaßen. Mit den Bäumen, die sie umgaben, und den roten Backsteingebäuden, die dazwischen aufblitzten, hatte das Bild etwas Überirdisches. Wie ein kleines Fleckchen Idylle fernab des Alltags.

Leider lag meine Kamera zusammen mit meiner Reisetasche auf dem Bett in Masons Zimmer. Korrigiere: in unserem Zimmer.

Wie auf Kommando vibrierte das Handy in meiner Tasche mit einer neuen Nachricht. Ich zog es hervor und entsperrte den Bildschirm mit einer Wischbewegung.

Na, schon jemandem das Leben schwer gemacht?

Zum ersten Mal an diesem Tag musste ich lächeln. Die Anspannung, die mich überkommen hatte, seit ich mein neues Zimmer betreten und Mason Lewis dort vorgefunden hatte, fiel von mir ab. Ich blieb mitten auf dem gepflasterten Weg stehen und tippte eine Antwort.

Mein neuer Mitbewohner hat eine blutige Nase. Zählt das?

Keine fünf Sekunden später vibrierte mein Handy erneut.

Er? Hat er dich angemacht? Ich würde ja zurückfahren und ihn für dich verprügeln, aber das kannst du anscheinend sehr gut allein, Schwesterchen.

Kein Smiley begleitete die Nachricht, aber ich erkannte Robs Sarkasmus trotzdem. Anders als unsere Eltern fand er meine Idee gut, weit weg von zu Hause zu studieren. Vor knapp einer Stunde hatten wir uns voneinander verabschiedet, nachdem er mich hier abgesetzt hatte. Seit wir beide den Führerschein hatten, machten wir jeden Sommer einen mehrtägigen Roadtrip. Diesmal waren wir von Montana nach West Virginia gefahren, wo ich am Montag mein Studium beginnen würde. Dass er sich jetzt schon meldete, um nachzufragen, wie es mir ging, war untypisch, aber nicht überraschend nach allem, was in den vergangenen Monaten vorgefallen war.

Du hast deine Pflichten als großer Bruder fürs Erste erfüllt. Trotzdem danke für das Angebot. Komm gut heim & grüß Bree von mir!

Damit packte ich mein Handy wieder ein, denn auch ohne nachzusehen wusste ich, dass die Nachricht von Rob die einzige war, die ich erhalten hatte. Und ich war dankbar dafür. Mit der neuen Nummer waren die Tage der zahllosen anonymen Meldungen und Hassnachrichten endlich vorbei. Nur meine Familie und Robs Freundin Bree wussten, wie sie mich erreichen konnten.

Ich setzte mich wieder in Bewegung und orientierte mich dabei an den beiden Backsteingebäuden, die hoch in den Himmel ragten. Mit jedem Schritt schlug meine Tasche gegen meine Hüfte, wie eine penetrante Erinnerung daran, dass das Ganze eine dämliche Aktion gewesen war. Nicht die, Mason die Nase zu brechen, denn das hatte er verdient. Aber hierherzukommen war möglicherweise nicht meine klügste Entscheidung gewesen.

Ich kannte niemanden. Anders als meine Kommilitonen, die in dieser Gegend aufgewachsen waren oder bereits Anschluss gefunden hatten, hatte ich die Einführungswoche, die in Wirklichkeit nur aus wenigen Tagen bestand, verpasst und war erst heute hier eingetroffen. Darum auch das letzte freie Bett im Wohnheim und dieser blutige Start mit Mason.

Egal. Es konnte nur besser werden. Außerdem war ich nicht hergekommen, um neue Fake-Freunde zu finden, die mich bei der erstbesten Gelegenheit fallen ließen, sondern um meinen Abschluss zu machen. Genau darauf würde ich mich konzentrieren: lernen, meine Prüfungen so gut wie möglich bestehen und die weltbesten Fotos schießen.

Ich ging am Gebäude für die öffentliche Sicherheit vorbei und überquerte die Straße. Vor mir erhob sich das erste von vier Wohnheimen, die gemeinsam eine Art grünen Innenhof bildeten. Hier war deutlich mehr los als bei der Verwaltung oder den einzelnen Fakultäten. Die meisten Erstsemester hatten ihre Zimmer bereits vor einigen Tagen bezogen, erst heute war der Einzugstag für die höheren Semester. Während ich über den Platz marschierte, entdeckte ich volle Kisten und Wäschekörbe und beobachtete, wie Mädchen einander kreischend um den Hals fielen und Jungs sich lässig per Handschlag begrüßten.

Eine zierliche Rothaarige zerrte einen überdimensionalen Rollkoffer hinter sich her und schleppte gleichzeitig eine unförmige Reisetasche. Selbst aus der Entfernung konnte ich erkennen, dass ihr die Tasche gleich runterfallen würde. Der Riemen rutschte von ihrer Schulter, und die Tasche krachte zu Boden. Das Klirren war bis hierher zu hören, genau wie ihr entsetzter Aufschrei.

Automatisch machte ich einen Schritt auf sie zu, um ihr zu Hilfe zu eilen, aber jemand anderes kam mir zuvor.

Wie aus dem Nichts tauchte ein großer Kerl mit kurzen braunen Haaren auf, redete mit dem Mädchen und hob ihre Reisetasche auf. Mit einem charmanten Lächeln entwand er auch den Koffergriff aus ihrer Hand. Das Mädchen wirkte erleichtert, wenn auch etwas verblüfft. Sie deutete auf eines der vier Gebäude, und Mr Unbekannt folgte ihr samt Gepäck in diese Richtung.

Einen Moment lang sah ich den beiden nach, dann zwang ich mich dazu, weiterzugehen. Es war nichts Besonderes gewesen. Nur eine nette Geste. Etwas Alltägliches. Doch nach meinem letzten Highschooljahr waren mir selbst diese selbstverständlichen Zeichen von Hilfsbereitschaft fremd geworden. Was sagte das über mich aus?

Ich beschleunigte meine Schritte, um endlich in mein neues Zimmer zu kommen und die Ruhe zu genießen, bevor Mason wieder reinplatzte. Doch dann trat mir plötzlich ein braunhaariges Mädchen in den Weg. Ich bremste abrupt ab. »Whoa, hey. Pass doch auf!«

»Hi!« Sie hatte sich ihr rot-schwarzes College-Shirt über dem Bauchnabel zusammengeknotet und strahlte mich trotz meiner schroffen Worte an. »Du bist ein Freshman, richtig?«

»Ähm.« Ich blinzelte irritiert. War das so offensichtlich?

»Perfekt. Hier.« Von irgendwoher zauberte sie einen bunten Flyer hervor und drückte ihn mir in die Hand. »Heute Abend findet die erste große Campusparty statt. Komm vorbei.«

Ich war noch immer überrumpelt, aber das schien das Mädchen nicht weiter zu stören. Sie griff nach meiner Hand und schüttelte sie eifrig. Ein scharfes Brennen zog sich durch meine Fingerknöchel, und ich zuckte zurück, doch das unangenehme Pochen blieb.

»Oh Gott, alles in Ordnung? Was ist mit deiner Hand?«

Ich wusste nicht, ob ihr Entsetzen echt oder nur gespielt war. Meiner Fähigkeit, andere Menschen einzuschätzen, vertraute ich schon lange nicht mehr.

»Nichts. Alles okay«, murmelte ich in dem Versuch, die Sache herunterzuspielen. Eine Partyeinladung? Ging in Ordnung. Das hier war schließlich ein College. Aber einem Mädchen, das ich gerade mal eine Minute kannte, von meiner Begegnung mit Mason zu erzählen? Definitiv nicht.

Sie schien nicht überzeugt zu sein, nickte jedoch und strahlte mich wieder an. »Dann sehen wir uns auf der Party.« Diesmal wirkte ihr Lächeln weniger aufgesetzt, sondern ruhiger. Ehrlicher. Aber was wusste ich schon?

Als ich weiterging, hörte ich noch, wie sie eine andere arme Seele mit exakt denselben Worten ansprach. Ich sollte den Flyer in den nächsten Papierkorb werfen … Stattdessen faltete ich ihn zusammen und schob ihn in meine hintere Hosentasche. Nur für den Fall, dass ich später doch noch Lust auf Gesellschaft verspüren sollte.

Ich betrat den Eingangsbereich meines Wohnheims durch eine breite Glastür. Beim ersten Mal war ich zu abgelenkt gewesen, um meine Umgebung wahrzunehmen. Als ich jetzt die Frau hinter dem langen Schreibtisch bemerkte, zog ich instinktiv die Schultern hoch. Sie trug einen Dutt und eine schmale Brille an einer Kette. Ihr gepunktetes Kleid wirkte wie aus den Fünfzigern, aber ihre Finger flogen überraschend schnell über die Tastatur. Ich hatte ihren Namen längst wieder vergessen, aber ich wusste, dass sie für Recht und Ordnung in diesem Wohnheim zuständig war. Schließlich war sie es gewesen, die Mason und mich zur Hausverwaltung geschleift hatte. Aber sie schien auch für die Organisation verantwortlich zu sein, denn bereits bei meiner Ankunft hatte sie mir eine Karte vom Campus und einen Gebäudeplan in die Hand gedrückt. Überflüssig, denn in diesem Haus konnte man sich wirklich nicht verlaufen.

Links von uns befanden sich die ersten Studentenzimmer, rechts der Computerraum, der Waschraum und ein Aufenthaltsraum mit Sofas und Sesseln, einem Fernseher sowie Billard- und Kickertisch. Aus dieser Richtung drangen helles Lachen, Anfeuerungsrufe und Schimpfworte, untermalt von Popmusik. Ich wandte mich ab und ging an der Empfangstheke vorbei, durchquerte einen schmalen Flur und nahm die Treppenstufen nach oben.

Mein Zimmer befand sich im zweiten Stock direkt neben dem Treppenhaus. Vor der Tür hielt ich einen Moment lang inne und starrte auf die kleinen Namenskärtchen daneben. M. Lewis. E. Lance. R. Bowers. A. Bowers.

Mein Blick blieb an den letzten beiden Namen hängen. Geschwister? Oder ein Pärchen, das direkt nach seinem Highschoolabschluss geheiratet hatte, um das Vorrecht zu nutzen, im Wohnheim zusammenwohnen zu dürfen?

Wer sie auch waren, ich konnte nur hoffen, dass ich mit den beiden einen besseren Start haben würde als mit Mason.

Ich zog meine Schlüsselkarte durch den Schlitz und öffnete die Tür zu meinem neuen Zuhause. Gemeinsam mit den Bowers teilten Mason und ich uns ein kleines Bad und ein Wohnzimmer. Eine Küche schien es in der Wohneinheit nicht zu geben, dafür standen ein Minikühlschrank und eine Mikrowelle in einer Ecke des Wohnzimmers. Vielleicht hätte ich doch den Wasserkocher mitnehmen sollen, den Mom mir hatte andrehen wollen.

Erst als ich die Tür zu meinem Zimmer geöffnet und festgestellt hatte, dass ich allein war, bemerkte ich, dass ich unbewusst die Luft angehalten hatte. Jetzt entwich sie mir in einem tiefen Seufzen. Meine Reisetasche lag noch immer auf dem Einzelbett, wo ich sie zurückgelassen hatte. Daneben die Laptop- und die Kamerataschen. Mehr hatte ich nicht mitgebracht und, bis auf ein paar wenige Kleidungsstücke, auch noch nicht ausgepackt.

Ich strich mir das Haar hinter die Ohren und zog die kleinere der beiden Kamerataschen zu mir heran. An meinem zwölften Geburtstag hatte Dad mir eine Polaroidkamera geschenkt. Vorher hatte ich mich nie groß für Fotografie interessiert, aber seit ich die Kamera das erste Mal in den Händen gehalten hatte, sah man mich kaum noch ohne. Als ich Dad Jahre später fragte, warum er sie mir geschenkt hatte, lächelte er nur und erklärte mir, dass ich ein gutes Auge besäße. Er als Architekt würde das wissen.

Mit den Fingern strich ich über das quietschgrüne Ding, das bereits zahlreiche Kratzer aufwies und eine kleine Delle rechts unten hatte, seit es mir bei einem Ausflug in den Bergen runtergefallen war. Trotzdem konnte ich mich nicht davon trennen, genauso wenig wie von den Bildern, die diese Kamera hervorbrachte. Manchmal kam es mir wie Zauberei vor. Ich war nur diejenige, die im richtigen Moment auf den Auslöser drückte.

Ich drehte mich um und stand nach zwei Schritten schon in der Mitte des Zimmers. Auf dem hellen Teppich waren deutlich mehrere kleine Blutstropfen zu sehen – eine Erinnerung an meine erste Begegnung mit meinem neuen Mitbewohner. Es mochte makaber sein, aber ich machte trotzdem ein Foto davon. Die Kamera summte, als sie mir das Bild ausgab. Ich schüttelte es, bis es klar wurde, dann zog ich eine Grimasse. »Willkommen an der Blackhill University«, murmelte ich.

»Ich glaube, das sollte mein Spruch sein«, ertönte eine tiefe Stimme von der Tür her.

Ich wirbelte herum, bereits eine scharfe Erwiderung parat, doch dann erstarben die Worte auf meinen Lippen. In der offenen Tür stand nicht Mason, sondern ein Fremder. Oder … fast Fremder. Wenn ich nicht völlig danebenlag, war das derselbe Kerl, der der Rothaarigen vorhin mit ihrem Gepäck geholfen hatte. Ich musterte ihn aus zusammengekniffenen Augen.

Eigentlich war ich nicht der Typ Mädchen, der auf ein schönes Gesicht hereinfiel. Nicht mehr. Aber – verdammt – dieser Kerl sah gut aus. Nicht auf eine frisch-aus-dem-Modelmagazin-entsprungene Art und Weise, denn dafür war sein Gesicht zu kantig. Er hatte eine starke Kieferpartie, die in einem krassen Kontrast zu seinen vollen Lippen stand.

Meine Fingerspitzen prickelten mit dem Drang, ein Foto von ihm zu schießen, um diese Gegensätze festzuhalten.

Wissend zog er die Mundwinkel in die Höhe. Scheiße. Man musste kein Genie sein, um zu bemerken, dass ich ihn anstarrte. Normalerweise würde ich ihm spätestens jetzt den passenden Konter auf seinen Spruch liefern, aber er starrte mich genauso an. So eindringlich, als hätte er alle Zeit der Welt und würde das auch ausnutzen.

Sein Blick tastete mich auf eine Weise ab, die die Raumtemperatur um ein paar Grad in die Höhe trieb. Als er wieder bei meinen Augen ankam, hatte ich das Gefühl, kaum noch Luft zu bekommen. Unwillkürlich zog sich mein Bauch zusammen. Wie zum Teufel konnte ein Fremder eine solche Wirkung auf mich haben? Auf die Entfernung war seine Augenfarbe nicht auszumachen, aber sie war deutlich heller als seine tief liegenden Brauen, die Bartstoppeln in seinem Gesicht und die kurzen braunen Haare.

Er kam einen Schritt näher. Wie in Zeitlupe breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus – und in seinen Augen leuchtete Erkenntnis auf. »Du bist das Mädchen, das Maze die Nase blutig geschlagen hat.«

Kapitel 2

Dylan

»Und du bist der Kerl, der anscheinend noch nie was von Privatsphäre gehört hat«, fauchte sie.

Shit. Das war der erste Gedanke, der in meinem Kopf auftauchte, als ich sie sah. Nicht scharf oder hübsch oder irgendein anderes nettes Adjektiv, sondern einfach nur Shit. Im selben Moment hätte jemand Taylor Swifts I Knew You Were Trouble anspielen können, und es hätte perfekt zur Situation gepasst. Denn dieses Mädchen bedeutete eindeutig Ärger.

Ich hatte mit vielen Antworten auf meinen Kommentar gerechnet, auch mit eisigem Schweigen. Was ich nicht erwartet hatte, nachdem ich die Nachricht von Mason bekommen und mich auf den Weg zu seinem Zimmer gemacht hatte, war seine neue Mitbewohnerin.

Im ersten Moment hatte sie ertappt gewirkt, beinahe so, als hätte ich sie bei etwas Verbotenem erwischt. Doch das kurze Aufblitzen von Verletzlichkeit in ihrem Gesicht war inzwischen verschwunden. Sie stand breitbeinig da, in einem bedruckten weißen Top, einer schwarzen Hose und pinkfarbenen Chucks. Dieselbe Farbe wie der untere Teil ihrer langen Haare. Sie wirkte zierlich, war aber nicht so klein wie erwartet, als ich das Zimmer betrat und näher kam. Vielleicht lagen zehn, zwölf Zentimeter zwischen uns. Mehr nicht.

Jetzt hatte sie sich zu ihrer vollen Größe aufgerichtet und die Hände in die Hüften gestemmt, als wollte sie mich eigenhändig rauswerfen. Angesichts ihrer geröteten Fingerknöchel und der Nachricht meines besten Freundes konnte ich mir das sogar lebhaft vorstellen. Ihre Fingernägel waren abwechselnd grün und pink lackiert, und sie trug einen Ring an ihrem Zeigefinger. Bei ihrem Auftreten und ihrem Aussehen hätte mich ein Totenkopf oder etwas in der Richtung nicht weiter überrascht, aber es war ein Gänseblümchen, das sich um ihren Finger wand.

»Ich bin Dylan«, sagte ich und zwang mich dazu, ihr wieder in die Augen zu sehen. Was nicht schwer war – sie waren dunkel geschminkt und von einem satten Blau, und ich ertappte mich dabei, wie ich einen weiteren Schritt auf sie zu machte, nur um ihre Augen aus der Nähe zu betrachten.

Sie zog die schmalen Brauen in die Höhe und reckte das Kinn vor. »Betrittst du immer die Zimmer fremder Mädchen, Dylan?«

»Nein«, erwiderte ich lächelnd. Aus irgendeinem Grund gefiel mir ihre angriffslustige Art. »Aber in diesem Fall mache ich eine Ausnahme.«

»Raus.« Mit der unverletzten Hand deutete sie an mir vorbei Richtung Tür.

Höchste Zeit, ein paar Dinge zu klären. Ich räusperte mich, weil meine Stimme plötzlich heiser klang. »Ich bin ein Kumpel von Mason, und das hier war eigentlich für ihn gedacht.« Wie zum Beweis hielt ich das Kühlpack in die Höhe, das meine Finger inzwischen schockgefroren hatte. »Aber ich schätze, du brauchst es dringender als er.«

Misstrauisch sah sie zwischen mir und der blauen Gelpackung hin und her, als wüsste sie nicht, was sie davon halten sollte. Ich nahm ihr die Entscheidung ab, indem ich nach ihrer rechten Hand griff und die Kühlkompresse vorsichtig auf ihre geröteten Fingerknöchel legte. Sie atmete scharf ein, zog ihre Hand jedoch nicht zurück.

»Sieh es als Friedensangebot, nachdem ich einfach das Zimmer eines fremden Mädchens betreten habe.« Ich zwinkerte ihr zu, doch sie starrte mich nur an, als könnte sie nicht fassen, was ich gerade tat. Dabei war es nur ein Kühlpack, kein Heiratsantrag.

»Ich brauche kein Friedensangebot«, sagte sie endlich, aber ihre Stimme klang längst nicht mehr so abgeklärt wie kurz zuvor. »Du hast schließlich keinen Krieg angefangen.«

Noch nicht. Der Gedanke tauchte so plötzlich in meinem Kopf auf, dass ich selbst überrascht war. Normalerweise weckten Mädchen nicht so schnell meine Aufmerksamkeit, schon gar nicht mit einem einzigen Blick aus misstrauischen blauen Augen. Ich hatte genug um die Ohren, um mich nicht kopfüber in etwas zu stürzen, das nur in einer Katastrophe enden konnte. Doch Masons neue Mitbewohnerin hatte etwas an sich, das einen Nerv bei mir traf. Ich kannte sie erst seit wenigen Minuten, und trotzdem hatte sie mir schon ihre aggressive, ihre misstrauische und, sicher nicht ganz freiwillig, auch ihre verletzliche Seite gezeigt. Ein wenig erinnerte sie mich an den ausgesetzten Hund, den ich letzte Woche vor der Tierklinik gefunden hatte. Er hatte wie verrückt gebellt, die Zähne gefletscht und mich angeknurrt. Aber hinter seiner Aggression lag nichts weiter als Angst.

»Danke.« Sie räusperte sich und befreite ihre Hand aus meinem Griff, behielt die Kühlkompresse aber bei sich. Gut so. Ihre Knöchel würden sonst noch mehr anschwellen und tagelang wehtun.

»Kein Problem. Maze kommt auch ohne aus.«

Ein kurzes Lächeln huschte über ihre Züge, dann war es wieder verschwunden, und sie wandte sich ab. Mit zwei Schritten war sie bei ihrem Bett und öffnete die Reisetasche mit einem leisen Surren. Daneben lag eine Polaroidkamera, wie ich sie noch von meiner Mom kannte. Fotografierte sie etwa mit dem Ding?

»Wenn du auf Mason warten willst …«, sie warf mir einen bedeutungsschweren Blick zu, »… kannst du das draußen tun.«

Da war sie wieder, die angriffslustige Seite an ihr, die mich förmlich dazu anstachelte, ihrer Bitte nicht nachzukommen. Ihrer Bitte? Wem wollte ich hier etwas vormachen? Das war ein klarer Befehl gewesen.

Statt ihm Folge zu leisten, ließ ich mich auf Masons Bett fallen, streckte die Beine aus und überkreuzte sie an den Knöcheln. Ein Glück, dass heutzutage alle rissige Jeans trugen. Dann fiel wenigstens niemandem auf, wie viele Jahrhunderte meine schon alt war.

»Ich warte lieber hier.«

Sie hielt mitten in der Bewegung inne, einen Kleiderstapel auf dem Arm. »Du weißt, dass ich dich rauswerfen lassen kann? Diese Fünfziger-Jahre-Frau unten in der Lobby wird sicher gern das Sicherheitspersonal rufen.«

»Mrs Glennard?« Ich musste mich zusammenreißen, um nicht laut aufzulachen. »Ganz bestimmt sogar.« Sie hasste mich, seit Maze und ich ihr Auto letztes Jahr an Halloween umdekoriert hatten.

Ich beobachtete, wie sie ihre Sachen in dem kleinen Schrank neben dem Schreibtisch verstaute. Dieser Raum war kaum größer als mein Einzelzimmer, wenn man ehrlich war, eher ein Schuhkarton. Das schien das Mädchen nicht weiter zu stören, genauso wenig wie das bisschen Ablagefläche. Wahllos stapelte sie ihre Klamotten aufeinander, ohne auf Farben, Stoffmuster oder sonst etwas zu achten, das anderen Frauen normalerweise so wichtig war. Interessant.

Seufzend blieb sie neben ihrer Reisetasche stehen, die Hände schon wieder in den Hüften. »Hör mal, ich will wirklich nicht unhöflich sein, aber ich bin gerade erst angekommen und wäre gern allein.«

Ich runzelte die Stirn. »Da hast du dir aber die falsche Wohnung ausgesucht.«

»Ich habe sie mir nicht ausgesucht, sie wurde mir zugeteilt.«

»Hast du Maze deshalb eine runtergehauen? Weil du dachtest, er wäre ein Perversling, der plötzlich in deinem Zimmer steht?« Also nicht viel anders als ich. Sehr beruhigend.

Sie warf mir einen vernichtenden Blick zu. »Er hat es verdient. Mehr sage ich nicht dazu.«

»Schon klar.« Abwehrend hob ich die Hände. »Du wirkst auf mich nur nicht wie jemand, der zuerst zuschlägt und danach Fragen stellt.«

»Der erste Eindruck kann täuschen.«

»Offensichtlich.«

Sie warf Socken und Unterwäsche in eine Schublade, dann wirbelte sie zu mir herum. »Willst du etwas Bestimmtes? Oder warum sitzt du immer noch hier herum?«

Mein Blick glitt einmal an ihr hinauf und hinunter. »Möchtest du eine ehrliche Antwort darauf?« Ich sah ihr wieder in die Augen. »Oder eine, die deinem Ego schmeichelt?«

»Die ehrliche. Ich will immer die ehrliche Antwort.«

Sie tat es schon wieder. Sie überraschte mich mit ihrer Reaktion und dem abgeklärten Ausdruck in ihrem Gesicht. Nach zwei Jahren an diesem College wusste ich, wie die typischen Erstsemester aussahen. Sie kamen mit glänzenden Augen und dem Glauben, die Welt im Sturm erobern zu können, hierher, weil die Realität sie noch nicht eingeholt hatte. Dieses Mädchen schien den Realitätscheck bereits hinter sich zu haben, und soweit ich das beurteilen konnte, war sie hart auf dem Boden der Tatsachen angekommen.

»Du bist heiß.«

Ein Kissen traf mich mitten im Gesicht.

»Ich wollte die ehrliche Antwort!«, rief sie.

Grinsend hob ich das Kissen auf und warf es zurück auf ihr Bett. »Das war die ehrliche Antwort. Was hast du erwartet? Ich bin ein Kerl und außerdem nicht blind.«

Bildete ich mir das ein, oder nahmen ihre Wangen die gleiche Farbe an wie ihre pinken Chucks? Bevor ich sichergehen konnte, kehrte sie mir erneut den Rücken zu.

»Westbrook!« Mason betrat das Zimmer mit einer finsteren Miene. »Machst du etwa die Tussi an, die mir jede Chance auf eine Karriere als Superstar versaut hat?«

»Hallo? Die Tussi steht genau hier!«

Ich versteckte mein Lachen hinter einem Husten. Dieses Mädchen brauchte keine Hilfe vom Sicherheitspersonal, um uns beide rauszuschmeißen, wenn sie es darauf anlegte.

»Ich weiß.« Ohne sie eines Blickes zu würdigen, schnappte sich Mason das Kühlpack von ihrem Bett und drückte es sich gegen die geschwollene Nase. »Die Frage ging an meinen Kumpel hier.«

Statt einer Antwort deutete ich auf seine kratzbürstige neue Mitbewohnerin. »Wie heißt sie?«

»Emery Lance.« Mason setzte sich mit einem tiefen Seufzen neben mich. Aufgrund der Kühlpackung klang seine Stimme undeutlich und nasal. »Auch bekannt als der Teufel aus Montana.«

»Montana, huh?«, wiederholte ich nachdenklich. »Ganz schön weit weg von zu Hause.«

»Sie hätte dort bleiben sollen.«

»Ich kann euch hören, Jungs.«

»Womit habe ich das verdient?« Theatralisch ließ Mason sich zurück in die Kissen fallen und rieb sich über die Stirn.

»Keine Ahnung, Mann. Aber mir gefällt diese neue Entwicklung.«

Mason grunzte. »Wärst du nicht im letzten Moment abgesprungen, hätte ich jetzt keine Nase in der Größe von Texas.«

Jedes bisschen Belustigung verflog. »Du weißt, wieso das mit dem Zimmer nicht geklappt hat.«

Von Mason bekam ich nur ein Brummen zu hören, dafür hob Emery den Kopf. Inzwischen hatte sie es sich im Schneidersitz auf ihrem Bett gemütlich gemacht, den aufgeklappten Laptop auf ihrem Schoß. »Warum nicht?«

Mason holte schon Luft, um zu antworten, hielt dann jedoch inne, als ich ihm einen drohenden Blick zuwarf. Die Wahrheit konnte ich Emery nicht erzählen. Für meinen Geschmack wussten ohnehin schon zu viele Leute davon. Also zuckte ich nur mit den Schultern und tischte ihr eine Ausrede auf. »Schlafstörung. Ich bin der schlechteste Mitbewohner, den du dir vorstellen kannst. Vor allem nachts.«

Sie kniff die Augen zusammen, als wüsste sie nicht so recht, ob sie mir das glauben konnte oder nicht. Irgendwie erwartete ich einen bissigen Kommentar darauf, stattdessen schwieg sie und wandte sich wieder ihrem Laptop zu. Vermutlich schrieb sie ihrem Freund zu Hause in Montana und klagte ihm ihr Leid.

Mit einem Ächzen hievte Mason sich hoch. »Heute Abend ist Party bei Luke und den anderen.«

War ja klar, dass er mich daran erinnerte, nachdem ich mir alle Mühe gegeben hatte, die ganzen WhatsApp-Benachrichtigungen zu ignorieren. Statt ihm zu antworten, sah ich wieder zu Emery. »Du solltest mitkommen. Das ist besser als die Erstsemesterpartys auf dem Campus.«

Misstrauisch zog sie die Brauen zusammen. »Gehst du hin?«

Bis eben hätte ich mit Nein geantwortet. Ich hatte weder Zeit noch Lust auf diese Veranstaltung. Aber wenn sie mich auf diese Weise musterte? Einer Herausforderung hatte ich noch nie widerstehen können. »Jetzt schon.«

»Super. Dann weiß ich genau, wie ich den Abend verbringen werde.« Um ihre Worte zu unterstreichen, schob sie den Laptop von ihren Beinen, zog ein Buch aus ihrer Reisetasche und legte sich damit der Länge nach hin. Frech. Und verflucht sexy.

»Sekunde mal.« Mason blieb auf dem Weg zur Tür stehen und drehte sich langsam zu uns um. »Wenn ich dich mit der Party nerve, lehnst du ab, aber wenn eine heiße Braut da ist, willst du plötzlich hingehen?«

Meine Aufmerksamkeit lag weiterhin auf Emery. Sie mochte zierlich sein, hatte jedoch genug Kurven, um einen Mann seinen eigenen Namen vergessen zu lassen. »Sieht ganz danach aus«, murmelte ich abgelenkt.

»Die heiße Braut kann euch noch immer hören …«

Das war mein Stichwort. Ich stand auf, aber statt Mason zu folgen und das Zimmer zu verlassen, blieb ich neben Emerys Bett stehen. Sie rührte sich nicht, ignorierte mich komplett und schien völlig von ihrem Buch gefesselt zu sein.

Als ob.

Ohne Vorwarnung beugte ich mich zu ihr hinunter und brachte meinen Mund nahe an ihr Ohr. »Fünfter Stock, zweite Tür links«, raunte ich. »Komm ab acht vorbei.«

Jeder Muskel in Emerys Körper schien sich anzuspannen, aber sie sprang nicht auf. Stattdessen drehte sie den Kopf, bis sie mir in die Augen sehen konnte – und ihre Lippen viel zu dicht vor meinen waren. Ihr Zögern war das einzige Zeichen dafür, dass die plötzliche Nähe sie ebenso wenig kalt ließ wie mich. Das und ihre Pupillen, die auf einmal so viel größer und dunkler wirkten.

»Du brauchst noch immer Nachhilfe in Sachen Privatsphäre, was?« In ihre Stimme hatte sich ein heiserer Unterton geschlichen, der ihre Abfuhr Lügen strafte.

Ich lächelte nur und richtete mich wieder auf. Meinetwegen konnte sie das letzte Wort behalten. Für den Moment.

Ich folgte Mason nach draußen und zog die Tür hinter mir zu. Inzwischen hatte er sich aufs Sofa im Wohnzimmer gelegt und drückte sich das Kühlpack gegen die Nase. Ich blieb neben ihm stehen.

»Brauchst du einen Arzt? Ein Krankenhaus? Die Notaufnahme?«

»Nein«, knurrte er undeutlich.

»Eine sexy Krankenschwester, die dich gesund pflegt?«

»Fick dich, Mann.«

Ich grinste. »Wie hast du dir das überhaupt eingebrockt?«

Über den Rand des Kühlpacks starrte er mich wütend an. »Warum glaubt jeder, es wäre meine Schuld?«

»Weil wir dich kennen. Also?« Ich ließ mich ihm schräg gegenüber in einen Sessel fallen.

Er gab einen undeutlichen Laut von sich und legte den Kopf wieder in den Nacken. »Ich konnte meine Klappe nicht halten und habe aus Versehen ihren Hintern mit meiner Hand gestreift.«

Zweifelnd zog ich die Brauen in die Höhe.

»Okay, okay. Es war ein Klaps auf ihren Hintern. Aber nur ganz kurz.«

Ja, klar. Kopfschüttelnd stand ich auf. »Mein Mitleid für dich ist gerade auf den Nullpunkt gesunken.« Und meine Bewunderung für Emery war deutlich gestiegen. Dieses Mädchen ließ sich eindeutig nichts gefallen. Mason würde noch seine helle Freude an seiner Mitbewohnerin haben.

»Kommst du trotzdem zur Party?«, rief er, als ich schon an der Tür war.

»Klar«, gab ich zurück. Es war die erste Feier des Semesters. Wenn ich mich auf dieser blicken ließ, konnte ich die restlichen getrost ausfallen lassen. Außerdem war der Gedanke, Masons neue Mitbewohnerin wiederzusehen, verlockender, als er sein sollte.

Emery

Mein Herz raste, als hätte ich jedes bisschen gesunden Menschenverstand verloren und wäre mit meinem Bruder joggen gegangen. Freiwillig. Es raste auch dann noch, als sich die Tür hinter Dylan und Mason schloss. Ich hörte ihre Stimmen nur noch gedämpft aus dem Wohnzimmer, aber nicht laut genug, um ein Wort zu verstehen. Musste ich auch nicht. Es war auch so klar, dass ich eines ihrer Gesprächsthemen sein würde.

Ich klappte das Buch zu, in dem ich keinen einzigen Satz gelesen hatte, und setzte mich auf. Mit einem Mal wünschte ich mir so heftig meine beste Freundin herbei, dass sich mein Magen vor Schmerz zusammenzog. Amy war noch immer die erste Person, die mir einfiel, um über so etwas wie meinen ersten Tag am College zu sprechen. Nur leider redete sie nicht mehr mit mir.

Ich starrte auf mein Smartphone. Keine neuen Nachrichten. Keine verpassten Anrufe.

Manchmal bereute ich es, mein Facebook-Profil deaktiviert und meine Accounts bei Twitter, Instagram, Tumblr und allen anderen Social-Media-Seiten gelöscht zu haben. Nicht, dass ich besonders scharf auf die Hassnachrichten von ehemaligen Mitschülerinnen, die zweideutigen Kommentare der Jungs meiner alten Schule oder die Beschwerdemails entsetzter Eltern wäre. Aber der Kontakt zu meinem alten Leben fehlte mir mehr, als ich für möglich gehalten hatte. Besonders der zu Amy.

Sie war meine beste Freundin gewesen, seit wir auf dem Spielplatz zusammen Matschkuchen gebacken hatten. Amy und Emery. Emery und Amy. So unterschiedlich wir waren, war sie doch immer an meiner Seite gewesen. Wir waren zusammen aufgewachsen, hatten gemeinsam für Boybands geschwärmt, beinahe gleichzeitig unsere erste Periode bekommen und die jeweils andere vorausgeschickt, wenn eine von uns auf einen Jungen stand.

Bis zu jenem Tag, an dem alles den Bach runtergegangen war und sie mich ebenso fallen gelassen hatte wie alle anderen. Im Schulflur hatte sie mich nicht einmal mehr angesehen und mich gemieden, als hätte ich eine ansteckende Krankheit. Bei der Erinnerung daran begannen meine Augen zu brennen.

Früher hatte ich geglaubt, dass Freundschaft und Liebe ewig hielten. Dass sie alles überstehen konnten. Doch inzwischen wusste ich, dass es nur eine Person gab, auf die ich mich immer und überall verlassen konnte: ich selbst.

Das Vibrieren in meiner Hand riss mich aus meinen Gedanken. Für einen kurzen Moment hoffte ich, dass es Amy war. Dass sie meine Eltern oder Rob nach meiner neuen Nummer gefragt hatte, weil sie mich ebenso sehr vermisste wie ich sie. Aber es war nicht ihre Nummer, die ich auf dem Display las, sondern der Name meiner Mutter.

»Hi Mom«, begrüßte ich sie und legte so viel Fröhlichkeit wie möglich in meine Stimme. Diese Frau besaß einen siebten Sinn, wenn es um die Probleme ihrer Kinder ging.

»Hallo Liebes. Hast du dich schon eingelebt? Dein Bruder hat geschrieben, dass er dich sicher abgeliefert hat.«

Typisch Rob. Immer der vorbildliche Sohn.

»Ja, alles bestens.« Ich ließ meinen Blick durch das Zimmer wandern. Bisher hatte ich keine Zeit gehabt, auf Details zu achten, weil ich zu sehr damit beschäftigt gewesen war, Mason eine reinzuhauen und mich anschließend mit seinem Freund herumzuärgern. Dylan. Ich ignorierte das kleine Kribbeln an Stellen in meinem Körper, wo es nichts zu suchen hatte. Ich war nicht hergekommen, um mich vom Charme irgendeines Kerls einlullen zu lassen. Noch dazu eines Kerls, der Mädchen ihre schweren Koffer hinterhertrug. Diesen Fehler hatte ich schon einmal gemacht und teuer dafür bezahlt.

»Wie ist deine neue Mitbewohnerin?«, fragte Mom weiter. »Hast du sie schon kennengelernt?«

Ich zog eine Grimasse. »Sie ist ein Er, und ja, wir haben uns schon kennengelernt.« Es gab keinen Grund zu lügen, wenn meine Mutter die Wahrheit ohnehin rausfinden würde.

»Was hast du angestellt?«

So wie jetzt. Statt sich darüber zu wundern, dass ich mir das Zimmer mit einem Jungen teilte, wollte sie sofort wissen, was ich ausgefressen hatte.

»Gar nichts«, behauptete ich. An der Wand neben Masons Bett hingen Bandposter. Imagine Dragons, Queen, Halestorm, Fall Out Boy und ein paar weitere, von denen ich noch nie etwas gehört hatte. Am Fußende lehnte ein Gitarrenkoffer. »Ich habe ihm vielleicht … unter Umständen … ein bisschen die Nase gebrochen.«

»Emery Lance! Du hast was getan?«

Beinahe hätte ich gelacht, aber nur, weil ich den Humor in der aufgebrachten Stimme meiner Mutter wahrnahm.

»Er hat mir auf den Hintern gehauen. Nach nicht mal fünf Minuten. Was hätte ich sonst tun sollen?«