Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter www.dnb.de abrufbar.

© 2016 Helmut Borth

(www.meckpress.de)

Titelgestaltung, Satz und Layout:

Felizita Bologna (www.bologna-artwork.com)

Herstellung und Verlag:

BoD Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN 978-3-7412-7759-7

Inhalt

Die Legende von Mudder Schulten

Den Bekanntheitsgrad einer Mudder Schulten würde sich mit Sicherheit jeder Politiker wünschen. Es gibt wohl keinen Neubrandenburger, der die Mutter Courage seiner Heimatstadt nicht kennt. Mecklenburgs Nationaldichter Fritz Reuter verhalf ihr zu ihrem (literarischen) Ruhm. Der Bildhauer Wilhelm Jaeger stellte die einfache Frau aus dem Volk auf einen Denkmalsockel.

Doch die im Buch beschriebene und in Stein gehauene Szene, in der die resolute Bäckersfrau Dörchläuchting Adolph Friedrich IV. von Mecklenburg-Strelitz mitten auf dem Markt und vor dem Palais des Herzogs die Brötchenrechnung präsentiert, gab es gar nicht. Das „impertinente Frauensmensch“, wie Reuters Dörchläuchting sie bezeichnet, ist Ausdruck der dichterischen Freiheit.

Die Wahrheit liest sich anders. Der ehrsame Meister selbst nahm sich der Sache mit der Rechnung an und nicht seine Frau. Er drückte sie dem Herzog auch nicht persönlich in die Hand. Er schickte die Rechnung über 21 Taler und zwei Schilling am 17. März 1771, zusammen mit einem untertänigsten Gesuch um Begleichung, nach Neustrelitz.

Jacob Hinrich Schultz, bei Reuter Bäcker Schultsch oder Christian Schultz, wollte nach gut dreieinhalb Jahren endlich das Kümmelbrot bezahlt haben, dass er von Oktober 1766 bis August 1767 auf „Ordre des Herrn Hauptmann Kahlden zur herzoglichen Tafel gebacken“ hatte. Der Hof verweigerte die Auszahlung des Betrages mit der Begründung, dass der Hauptmann (von) Kahlden nicht autorisiert gewesen sei, namens des Hofes Aufträge auszulösen. Ob der aus Woldegk stammende Bäcker, der am 10. Oktober 1755 in der Marienkirche die 28-jährige Christine Dorothea Zillmann geheiratet hatte, letztlich auf seiner Forderung sitzen blieb, ist nicht belegt. Überliefert sind nur Rechnung und Begleitschreiben, die einmal als Leihgabe des Neustrelitzer Hauptarchivs für eine Ausstellung nach Neubrandenburg kamen und heute zur Schriftensammlung des Regionalmuseums gehören. Das sind die beiden bislang einzig bekannten Schriftstücke des Vorgangs, über den es im Staub der Akten des Landeshauptarchivs Schwerin vielleicht doch noch einen Hinweis geben mag. 1934 wurden die Neustrelitzer Archivbestände dort eingeliefert.

Die originale Brotrechnung der Bäckerei Schultz

Die beiden Schriftstücke müssen Fritz Reuter, der von 1856 bis 1863 die sieben schaffensreichsten Jahre seines Lebens in Neubrandenburg verbrachte, irgendwie, vielleicht über den Chronisten Franz Boll, der zu seinem Freundeskreis zählte, bekannt geworden sein. Nach seinem Umzug nach Eisenach verarbeitete Mecklenburgs Goethe die Episode in seiner Humoreske „Dörchläuchting“ und schuf mit ihr das Bild der stämmigen resoluten Mudder Schulten, der einfachen Bürgersfrau, die den Mut aufbrachte, sich der Obrigkeit entgegenzustellen.

So sah Hermann Lüders 1872 die Geschichte von Mudder Schulten.

Die reale Christine Dorothea Schultz wurde am 14. Februar 1727 in Neubrandenburg als Tochter des Fleischermeisters Zillmann geboren. Sie starb 1802 mit 75 Jahren. Ein Jahr hat sie ihren Mann überlebt, der mit 80 das Zeitliche segnete. Das Ehepaar, das seine Bäckerei im Haus Nr. 187 auf der Westseite des Marktes betrieb, etwa in Höhe des Eingangs zum Marktplatzcenter, starb ohne leibliche Kinder zu hinterlassen. Ein 1756 geborener Sohn war früh verschieden. Das Erbe der beiden traten zwei Pflegekinder an, die auch die Bäckerei übernahmen.

Der Reuterbrunnen vor dem Rathaus

Das herzogliche Palais auf dem Markt, vor dem Fritz Reuter die berühmteste Szene seiner Erzählung platzierte, wurde erst ab 1775 gebaut. Ihm gegenüber, im Schatten des 1945 zerstörten Rathauses, fand am 31. März 1923 ein Brunnen seinen Platz, auf dessen Sockel Mudder Schulten prangt, die Dörchläuchting ihre Backwarenrechnung präsentiert.

Der Reuterbrunnen 1954 vor der Ruine des Rathauses.

Foto: Bundesarchiv/Klein

Auftraggeber für das Denkmal war der Kaufmann Hermann Carstens, Inhaber des Modehauses H. C. Nahmacher, der es anlässlich des 100-jährigen Firmenjubiläums stiftete. Ihm war als erstem Unternehmer der Wert Mudder Schultens als Werbeträgerin bewusst geworden. Er nahm einfach Reuter beim Wort: „Schultsch, Bäcker Schultsch? De bringt uns in den Mund von frömde Lüd.“ Vom beauftragten Bildhauer Wilhelm Jaeger (1888–1979) wünschte er sich deshalb für seinen Reuterbrunnen ausdrücklich diese Szene.

Nur ein Jahr hatte der Bildhauer Zeit für diese große Arbeit. Aus einem 250 Zentner schweren Muschelkalk-Block aus Kirchheim bei Würzburg wurde das große Mittelteil herausgehauen und aus vier Blöcken von je einem Kubikmeter die Rohrdommeln und Hohlmuscheln, aus denen das Wasser in das Brunnenbassin schießt bzw. rinnt. Bis auf ein Drittel musste der Naturstein abgemeißelt werden, um die achteckige Säule mit der kreisrunden Platte, auf der die Figurengruppe stehen sollte, gestalten zu können. Da der Brunnen zum gewünschten Termin nicht ganz fertig wurde, er aber zum Jubiläumstag der Firma Nahmacher aufgestellt werden sollte, nahm für die Feierlichkeiten das von Wilhelm Jaeger geformte Gipsmodell den Platz auf der Brunnensäule ein. In Anwesenheit der Bürgermeister Prieß und Bruhns sowie der Stadtverordneten wurde der Brunnen dann der Öffentlichkeit übergeben.

Im Gegensatz zum herzoglichen Palais, zum Rathaus und auch der Bäckerei Schulz überstand der Reuterbrunnen, der seit Jahrzehnten den Namen Mudder Schultens trägt, unversehrt den Zweiten Weltkrieg. Im Zuge der Neugestaltung des Marktplatzes erhielt er 1961 einen neuen beziehungsreichen Platz auf den Wallanlagen, vis-à-vis des 1893 eingeweihten Reuter-Denkmals.

Neue Popularität erlangte Mudder Schulten als Ingeborg Schumacher, erste Direktorin der 1969 eröffneten Stadthalle, in das Kostüm der Bäckerin schlüpfte und sie so zum Leben erweckte. Auf vielen Veranstaltungen der Niederdeutschen Bühne verkörperte sie mit Lust und Liebe und im besten Plattdeutsch das literarische Vorbild und nahm dabei kein Blatt vor den Mund. Sogar von offizieller Seite wurde sie als Sympathieträgerin engagiert und warb zum Beispiel auf der Grünen Woche in Berlin für einen Besuch in ihrer Heimatstadt. Diese Rolle füllt nun Erika Pirwitz aus, die 2000 nach einer Vorstellung der Niederdeutschen Bühne im HKB angesprochen wurde, ob sie nicht bei Stadtfesten und Bürgerempfängen die Mudder Schulten geben würde. Ingeborg Schumacher war verstorben. Bei den Gelegenheitsaufritten blieb es nicht. Erika Pirwitz geleitet inzwischen seit Jahren als ausgebildete Stadtführerin als Mudder Schulten Einheimische und Gäste durch Neubrandenburg.

Ebenso große lokale Berühmtheit wie Ingeborg Schumacher als Mudder Schulten erlangte die Neubrandenburger Journalistin Jutta Schwenkler, die in der „Freien Erde“, dem Bezirksorgan der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, unter dem Pseudonym der forschen Bürgersfrau plaudernd, augenzwinkernd und satirisch regelmäßig ihren Kommentar zu lokalen Problemen in der Vier-Tore-Stadt kundtat.

Die Schulten’sche Prominenz nutzte auch der Bezirksverband der Journalisten, der ab 1980 mit Hilfe zahlreicher Zeitungsleser insgesamt neun jeweils gut 60 Seiten starke Kochbücher mit Rezepten aus Mecklenburg, Berlin und Karelien für das Einkochen, den Winter, für Feste und Feiern, für Fisch und Wild herausgab und zum alljährlichen Solidaritätsbasar der Journalisten zum Preis von 5 Mark das Heft in Stadt und Land verkaufte.

1983 erhielt dann das 1979 in Dienst gestellte jüngste Fahrgastschiff Neubrandenburgs den Namen Mudder Schultens und wurde von ihr in höchsteigener Person getauft. Der Ehre nicht genug, benannte die Stadt auf Grundlage des Beschlusses 42 der 8. Ratsversammlung vom 19. April 1979 auch eine Straße auf dem Datzeberg nach der Bäckersfrau aus Dörchläuchting, während eine zweite an Unkel Bräsig aus Reuters „Stromtid“ und eine dritte mit dem Namen „Uns Hüsung“ an des Dichters sozialkritisches Versepos „Kein Hüsung“ erinnert.

Nach der Wende entwickelte die Unternehmensgruppe Nordmann eine Produktlinie unter dem Namen Mudder Schulten, die zehn unterschiedliche Frucht- und Gemüsesäfte umfasst, die es in ganz Norddeutschland, unter anderem in den von ihr betriebenen Zisch-Getränkefachmärkten zu kaufen gibt. Und nach der Wende erhielten auch die 1986 eröffneten „Weinstuben am Wall“ den Namen, unter dem sie die Familie Wichmann bekannt gemacht haben: Mudder-Schulten-Stuben.

Übrigens: Mit den Schauspielern Marlis Hirche und Oliver Dassing als Mudder und Vadder Schulten hat es das Neubrandenburger Original zusammen mit ihrem „Gemahl“ sogar auf die Bühne geschafft. Theaterkritiker bezeichnen die zwei Künstler, die lange Jahre Ensemblemitglieder des legendären Kammertheaters in Neubrandenburg waren und die heute das Feuerwerktheater „Die Pyromantiker“ in Berlin betreiben, als die „nördlichsten Ableger der Commedia d’ell arte“.

Der Schöpfer des Brunnens, Wilhelm Jaeger, 1961 bei der Umsetzung seines Werkes

Die Mutter des Luisenkults

Caroline Friederike von Berg war nicht nur die beste Freundin von Preußens Königin Luise. Sie war auch sehr eng mit dem Herzoghaus Mecklenburg-Strelitz verbunden.

Seit über 200 Jahren wird im Schloss von Honzieritz der dort verstorbenen preußischen Königin Luise gedacht. Als sie 1810 in der Sommerresidenz ihres Vaters für immer die Augen schloss, stand an ihrem Todeslager auch Caroline Friederike von Berg. Sie hatte die Königin über Jahre mit guter Literatur versorgt, mit ihr diskutiert und versucht über sie Einfluss auf die preußische Politik zu nehmen. Dieser besten Freundin, die König Friedrich Wilhelm III. als „die höchst intrigante Frau von Berg“ bezeichnete, hatte Luise als einzigem Menschen ihre Liebe zu Zar Alexander gestanden. Zum 4. Todestag der Königin veröffentlichte Caroline Friederike von Berg bei Breitkopf und Härtel in Leipzig die 400-seitige Denkschrift „Louise Königin von Preußen. Der preußischen Nation gewidmet“. Es war die erste Luise-Biografie.

Als Caroline im März 1814 mit dem Schreiben begann, steckte Europa mitten in den Befreiungskriegen. Die Alliierten hatten Anfang des Jahres den Rhein überschritten und marschierten gerade auf Paris. Keine sechs Wochen später wurde Napoleon zur Abdankung gezwungen und nach Elba verbannt.

Caroline Friederike von Berg

Mit ihrer Denkschrift, die auch nicht den kleinsten Schatten auf die Monarchin mit Mecklenburg-Strelitzer Wurzeln fallen ließ, legte Caroline den Grundstein für den bis heute anhaltenden Luisenkult. Sie brachte in Bezug auf die verstorbene Königin das Wort „Engel“ ins Spiel und machte aus der unvollkommenen jungen Frau eine Ikone.

Die 1760 in Magdeburg geborene Autorin war aber nicht nur der 16 Jahre jüngeren Luise aufs Engste verbunden, deren Freundschaft sie über deren Geschwister Georg und Friederike gewann, mit denen sie sich zuerst anfreundete. Die Enkelin des preußischen Staats-, Kriegs- und Kabinettsministers Heinrich Graf von Podewils war 1779 mit dem uckermärkischen Adligen Karl Ludwig von Berg verheiratet worden. 19-jährig hatte sie dem um sechs Jahre älteren Mitglied des Halberstädter Domkapitels das Ja-Wort zu geben gehabt. Das junge Paar, dem 1800 eine Tochter geboren wurde, lebte abwechselnd im Berg’schen Domherrenhaus in Halberstadt, einem repräsentativen Anwesen mit dem Blick auf den Dom, und in Schönfeld bei Prenzlau. Beide Häuser haben die Zeit nicht überdauert.

In Halberstadt waren die Bergs Nachbarn des Dichters Johann Wilhelm Ludwig Gleim, der 1747 auf Vermittlung von Carolines Schwiegervater zum Domsekretär gewählt worden war. Christian von Berg war Königlich-Preußischer Geheimer Justizrat, Landvogt der Uckermark, Senior des Domstifts zu Halberstadt, Erbherr auf Schönfeld, Kleptow und Werbelow in der Uckermark sowie seit 1765 Erbpachtherr auf Krumbeck. Bis 1811 lag dieses preußische Gut als Exklave auf Mecklenburg-Strelitzer Grund und Boden.

Karl Ludwig von Berg

Das Krumbecker Küchen- und Wirtschaftshaus während der Restaurierung

1784 nahm Karl Ludwig von Berg das bis dahin vom Vater an einen Herrn Halling verpachtete Gut selbst in Bewirtschaftung. Er wollte sich und seiner kleinen Familie ein eigenes Heim schaffen, unabhängig vom tonangebenden Vater. Gleich im ersten Jahr stellte er die Feldwirtschaft um. Darüber hinaus vergrößerte er die Schafzucht. Er investierte in größere Wirtschaftsgebäude und legte den Plan zum Bau eines massiven Gutshauses vor. Bald darauf ließ Karl Ludwig von Berg das Haus auch bauen. Es war ein eingeschossiger Putzbau mit Mansardendach. An dessen rechter Seite schloss im Winkel von 90 Grad ein Küchen- und Wirtschaftsgebäude an, das zwischen 2009 und 2012 restauriert wurde. Für Krumbeck hatte der Bauherr eigens bis dahin hierzulande unbekannte amerikanische Nadelhölzer aus Samen ziehen lassen. 1792 legte er am neuen Wohnort auch noch eine Glashütte an.

„Das gute niedliche Weibchen, das in der großen berlinischen Welt erzogen ist“, wie der Dichter Gleim 1781 an seinen Freund Friedrich Jacobi schrieb, war keineswegs das scheue Reh, das sich in der Provinz verstecken lassen wollte. Caroline von Berg war vielmehr eine lesewütige, bildungshungrige und selbstbewusste junge Frau. Ihre Mutter – eine Geschiedene – spielte als Tochter des Ministers Podewils in Berlin eine bedeutende gesellschaftliche Rolle. Ihr Vater Johann August von Haeseler war königlicher Gesandter in Kopenhagen. Caroline war sich ihrer herausragenden Herkunft bewusst und legte Wert auf ihren Mädchennamen. Ihre Briefe unterschrieb sie mit Berg-Haeseler.

Caroline war kein Kind von Traurigkeit. In der höfischen Berliner Welt, in der sie groß wurde, waren Liebesaffären an der Tagesordnung. Caroline dürfte auch welche gehabt haben. Ihr vertrauter Freund, der Freiherr vom und zum Stein, den sie 1785 kennenlernte, als sie ihn an der Seite ihres Mannes in Nassau besuchte, deutet in seinen Papieren schamhaft Liebschaften an. Feindselig gegenüber Caroline eingestellt, streute der reformierte Pfarrer und Schriftsteller Johann Caspar Lavater mehr oder weniger deutlich Gerüchte über ihre Tugendhaftigkeit. Die griff wiederum ihr väterlicher Freund Gleim Ende Dezember 1795 in einem Brief an Carolines Mann auf. In dem beschwor er den Gatten, nichts auf die Gerüchte zu geben. Und erreichte damit das Gegenteil.