Inka Loreen Minden
BLUE MOON RISING
romantische Dystopie
mit einer erotischen Bonusstory
Dieser Roman erschien zuvor unter dem Titel: Blutflucht Evolution
Kate hat eine besondere Gabe – von der niemand etwas wissen darf. Denn Menschen wie sie werden von der Regierung verfolgt. Jahrelang führt sie ein Leben im Verborgenen, bis sie sich in Jack verliebt. Dieser verteufelt attraktive Fremde, der wie aus dem Nichts auftaucht, verwickelt Kate in ein gefährliches Abenteuer.
Beide werden zu Gejagten und müssen sich einer geheimen Untergrundbewegung anschließen. Gemeinsam kämpfen sie gegen einen mächtigen Pharmakonzern, der Jacks besondere Fähigkeiten für sich nutzen will. Doch während Kate das Werk ihrer ermordeten Eltern abschließen möchte, sinnt er insgeheim auf Rache. Das gefährdet nicht nur ihre Beziehung, sondern auch Jacks Leben …
Spannende, unterhaltsame Romantasy mit einem Hauch Erotik!
Info: Enthält eine erotische Bonusgeschichte.
ca. 300 Taschenbuchseiten Hauptstory
Achtung:
Dieser Roman erschien 2012 beim Elysion Books Verlag mit anderem Cover und unter dem Titel »Blutflucht: Evolution«!
Liebe Leserin, lieber Leser. Mit diesem Buch haltet ihr meinen Erstling in Händen, denn mit Kate und Jack begann für mich der Einstieg ins berufliche Schreiben. Geschrieben hatte ich schon immer, aber diesmal war es einfach anders.
Täglich haben mich die beiden im Jahre 2006 in meinen Gedanken begleitet und ich hatte die Welt eine Weile nur noch durch ihre Augen gesehen. Ich dachte, ich werde verrückt. Heute weiß ich, dass es ganz normal ist, als Autor eine Zeit lang mit seinen Figuren zu verschmelzen, um tief in ihre Welt eintauchen zu können.
Ich war fast noch eine Jugendliche, als ich dieses Buch begann (viel geschrieben hatte ich zuvor schon seit der ersten Klasse), und ich hatte als Arbeitstitel »Tiger oder die Mutantenverschwörung« gewählt. Ursprünglich wollte ich schon immer Jugendbuch-Autorin werden, aber es kam erst einmal alles anders, als gedacht. Ich merkte bald, dass sich Kate und Jack schnell näherkamen. Sie wollten mehr, als nur Küsse austauschen. Und so flossen nach und nach immer mehr prickelnde Szenen ein.
Unter dem Pseudonym »Loreen Ravenscroft« hatte ich den Roman ein paar Jahre später zu Ende geschrieben (es fehlte noch das letzte Viertel) und dem Elysion Books Verlag angeboten, bei dem er unter dem Titel »Blutflucht: Evolution« erschien. Nun habe ich die Rechte zurück und kann euch das Buch unter dem neuen Titel »Blue Moon Rising« (der damals mein Favorit war) und Cover präsentieren. Der »Blaue Mond« kommt in der Story immer wieder vor, in drei verschiedenen Variationen. Mehr möchte ich jetzt nicht verraten ;)
Außerdem hat mich die Bonusstory zur »Warrior Lover Serie« inspiriert, weil ich ursprünglich noch einen weiteren Teil schreiben wollte mit den Supersoldaten, die am Ende erwähnt werden. Aber die Story spann sich in meinem Kopf immer weiter und wurde zu etwas völlig Neuem, sodass »Blue Moon« ein Einzeltitel geblieben ist.
Hinweis:
Als ich das Buch geschrieben habe, waren die heute klassischen Smartphones und Tablets noch weitgehend unbekannt oder steckten mitten in der Entwicklung. Vieles, was mir damals, als ich es für die Story erfand, noch futuristisch erschien, ist heute normal. Insofern kann man das Buch jetzt fast nicht mehr als Dystopie bezeichnen. Unglaublich, in welch rasender Geschwindigkeit sich die Technik in wenigen Jahren weiterentwickelt hat.
Ich wünsche euch nun auf jeden Fall gute Unterhaltung mit meinem Erstling und Kate und Jacks Geschichte.
Happy Reading :)
Eure Inka
Alle Individuen, die über normabweichende physische und psychische Fähigkeiten verfügen, müssen sich bei MUTAHELP registrieren lassen. Zuwiderhandlung wird strafrechtlich verfolgt.
MUTAHELP
Wie so oft half ich meinem Onkel Sam am Freitagabend an der Bar aus. Seine urige Kneipe lag im Herzen von Greytown, und langsam füllte sich der kleine Raum mit Gästen, während die alte Jukebox schon ein zweites Mal dieselben Lieder rauf und runter dudelte. Viele Männer, die meisten von ihnen Fischer und Hafenarbeiter, suchten nach einem langen und harten Arbeitstag Ablenkung, was den Alkoholverbrauch enorm in die Höhe trieb. Jeweils in Gruppen zu vier bis sechs Leuten drängten sie sich um die Tische, spielten Karten oder klagten sich gegenseitig ihr Leid über die Missstände, die der Machtwechsel mit sich gebracht hatte. Ein fischiger Geruch klebte an ihren Stiefeln und Seetang an den Wachshosen. Ich konnte Fisch nicht ausstehen! Warum musste ich gerade in dieser heruntergekommenen Stadt leben?
Meine eigentliche Verdienstquelle bestand darin, ein paar Zimmer zwei Stockwerke über dieser Kneipe zu vermieten. Ein Schild an der Tür meiner Pension verriet den Leuten, dass sie mich, Kate McAdams, hier – mitten im Haufen grölender Männer – finden konnten, falls sie eine bescheidene, aber saubere Übernachtungsmöglichkeit suchten.
Das Geschäft lief einigermaßen. Viele, die neu in diese Stadt kamen, um Arbeit zu suchen, brauchten erst einmal einen Platz zum Schlafen. Es war schwer in diesen Zeiten, Arbeit zu finden, was nicht allein am Regierungswechsel lag. Das war es schon gewesen, als ich vor über zwei Jahrzehnten das Licht der Welt erblickte. Das war zu der Zeit, in der sich die Menschheit spaltete, denn die Welt hatte sich verändert und mit ihr ihre Bewohner.
Es gab die »Normalos« auf der einen Seite und eine ausgestoßene Minderheit auf der anderen: die Mutanten. Das waren Menschen, deren Eltern oder Großeltern sich genetischen Experimenten unterzogen hatten. Das illegale Geschäft mit der Gentechnik boomte damals. Die Ärzte versprachen mittels speziellen Therapien jede Krankheit heilen zu können.
Die Probanden, die sich den ersten Experimenten zur Verfügung gestellt hatten, waren gut bezahlt worden, daher hatten sich viele Freiwillige gemeldet. Doch der Eingriff in das menschliche Erbgut blieb nicht ohne Folgen. Die veränderten Gene mutierten bei einigen Menschen und wurden oft weitervererbt. Grässliche Missbildungen an Neugeborenen waren keine Seltenheit. Einige von denen, die nicht tot oder entstellt geboren wurden, entwickelten im Laufe des Lebens außergewöhnliche Fähigkeiten.
Manchen sah man nicht an, dass sie anders waren, so wie mir, weshalb ich dieses Geheimnis wie einen Schatz hütete. Außer mit meinen Eltern, Gott habe sie selig, und meinem lieben Onkel Sam, teilte ich dieses Geheimnis mit niemandem. Ich wollte einfach ein normales Leben führen – dazugehören. Insofern war es dann doch nicht so übel, in Greytown zu leben. Hier gab es viele Menschen wie mich, das spürte ich instinktiv.
Erneut öffnete sich die Tür und die zwei Jugendlichen, die hereinkamen – Pickelgesicht und Blondie, wie ich sie immer nannte –, rissen mich aus den Gedanken. Sie gingen auf die Bar zu, an der ich die meiste Zeit des Abends verbrachte. Ich hatte sie hier schon oft gesehen und konnte sie nicht ausstehen. Ständig machten sie mir gegenüber anzügliche Bemerkungen. Eben zwei Halbstarke, die gerade der Pubertät entwachsen waren und nicht wussten, wie sie mit ihren überkochenden Hormonen umzugehen hatten. Sie glaubten wohl, sie könnten damit einer jungen Frau imponieren.
Ich verstand sie irgendwie. Es war besonders für junge Menschen schwer, Arbeit zu finden. Die meisten hingen nur herum, stahlen oder betranken sich. Sie hatten nichts, womit sie sich beweisen konnten. Keine Perspektive, keine Zukunft.
Ich blieb wie immer freundlich und mixte ihnen ihre Drinks. Alles war an diesem Abend genauso wie an jedem anderen Freitagabend: die ewig gleiche, dröhnende Musik, von Zigaretten verqualmte Luft, dieselben Gesichter.
Meinem Onkel Sam half ich so gut es ging, denn schließlich war er nicht mehr der Jüngste. Einen weiteren Angestellten konnte er sich auf Dauer nicht leisten. Für meine Hilfe stellte er mir die fünf Zimmer über der Kneipe zur Verfügung. Die Mieteinnahmen durfte ich komplett behalten. Zum Glück hatte ich von meinen Eltern eine kleine Wohnung in der Nähe geerbt, weshalb mein knappes Einkommen gerade zum Leben reichte.
Es hätte mich auch schlimmer treffen können.
Ja, eigentlich ging es mir verdammt gut.
Ich träumte davon, wann ich endlich genug Geld auf der Seite hätte, um dieser trostlosen Stadt für einige Tage den Rücken kehren zu können, als sich wieder die Tür öffnete und ein weiterer Gast die Kneipe betrat.
Oh, mein Gott, was für ein attraktives Schnittchen!
Bei seinem Anblick hielt ich den Atem an und mein Magen wollte bis zu den Knien rutschen. Für einen Moment nahm ich fast nichts mehr um mich herum wahr. Vor Anspannung ballte ich die Hände zu Fäusten, wobei sich meine Fingernägel in meine Handflächen bohrten. Doch auch das registrierte ich kaum.
Ich hatte diesen Mann seit Wochen nicht mehr gesehen und die Hoffnung bereits aufgegeben, dass er sich hier noch einmal blicken lassen würde. In meinem Bauch breitete sich ein angenehmes Kribbeln aus. Schnell versuchte ich mich auf das Einschenken der Getränke zu konzentrieren, damit er mein rotes Gesicht nicht bemerkte. Zugleich verfluchte ich meine Schüchternheit. Er war mir schon einmal durch die Lappen gegangen. Ein zweites Mal wollte ich eine Chance nicht verspielen, falls sich überhaupt eine auftun würde.
Prüfend ließ er den Blick durch den dunstigen Raum gleiten. Der Mann war um einiges größer als ich und bestimmt ein paar Jahre älter. Sein dunkelbraunes Haar war zerzaust und hätte dringend einen Schnitt nötig gehabt. Seinen Bart hatte er auch schon mehrere Wochen nicht mehr rasiert und unter seinen Augen befanden sich dunkle Schatten. Überhaupt wirkte er ziemlich erschöpft und ausgebrannt.
Was war ihm bloß passiert?
Der wilde Anblick schockierte mich, unterschied er sich erheblich von seinem letzten Besuch. Seine Aura schien ebenfalls nicht mehr so hell zu strahlen wie bei unserer letzten Begegnung. Trotzdem machte er auf mich einen starken, fast schon animalischen Eindruck. Was wahrscheinlich an seinem gut gebauten Körper und den dunkelgrauen Augen lag, die etwas von einem lauernden Tier hatten. Nicht, dass ich jemals ein lebendes Raubtier gesehen hatte, außer kranke, streunende Hunde, die es irgendwie schafften, in dieser ausgemergelten Stadt zu überleben.
Als Kind hatte ich mit meinen Eltern ein Zoo-Museum besucht und dieser mysteriöse Mann erinnerte mich plötzlich an diesen exotischen Ausflug. Ein Beamer hatte einen scheinbar lebendigen, dreidimensionalen Tiger, der immer um die Besucher herumschlich, in den Ausstellungsraum projiziert. Ich war so fasziniert von der Schönheit und Geschmeidigkeit dieses Tieres gewesen, dass ich heute noch von diesem Tag träume. Genauso war es mir mit diesem Fremden ergangen.
Als er vor mehreren Wochen zum ersten Mal den Laden meines Onkels betreten hatte, war es sofort um mich geschehen gewesen. Doch die wenigen Male, die er bei mir an der Bar gesessen hatte, war er so still und verschlossen gewesen, dass wir kaum ein paar Worte gewechselt hatten.
Hoffentlich war er mittlerweile aufgetaut.
Heute trug er ein ärmelloses graues Shirt und an seinen braungebrannten Armen erkannte ich deutlich feine weiße Linien, die wie Narben aussahen. Ich erinnerte mich nicht, dass sie mir das letzte Mal schon aufgefallen wären. Seine Jeans hatten auch schon bessere Tage gesehen, trotzdem sah dieser Kerl in meinen Augen umwerfend gut aus, vor allem, wie sich der Stoff um seine Muskeln spannte. Keine Ahnung, warum gerade ich so auf ihn reagierte, denn von den wenigen Gästen, die sein Erscheinen überhaupt registriert hatten, erntete er nur abfällige Blicke.
Erneut bewunderte ich seinen gebräunten Teint, fand es aber ziemlich riskant, sich ungeschützt den krebserregenden Strahlen der Sonne auszusetzen. Wegen der zerstörten Ozonschicht war von einem längerer Aufenthalt unter freiem Himmel dringend abzuraten.
Als sein Blick auf mich fiel, glaubte ich, ein Lächeln auf seinen Lippen zu erblicken, woraufhin sofort meine Wangen in Flammen standen. Verflixte Schüchternheit!
Der Typ hatte aber auch einen sinnlichen Mund, Teufel noch mal!
Er schlenderte Richtung Bar, was meinen Puls zum Rasen brachte. Ich wollte ihm sofort seinen Lieblingsdrink mixen, zum einen, um mich von meiner Nervosität abzulenken, zum andern, da er nie etwas anderes getrunken hatte als einen Blue Moon. Mit zitternden Händen gab ich die Eiswürfel in den Shaker, mischte Gin, Blue Curacao und Ananassaft dazu – der leider kein natürlicher Fruchtsaft war, sondern aromatisiertes Wasser – und füllte alles mit Limonade auf.
Als mein Schwarm am Ende der Theke Platz nahm, reichte ich ihm wortlos das Longdrinkglas mit dem blauen Getränk, das ich fest umklammerte. Es grenzte an ein Wunder, dass es unter dem Druck meiner Finger ganz blieb. Langsam ließ ich es los.
Nachdem er mir ein kurzes Lächeln geschenkt hatte, das mein Herz erneut zum Hüpfen brachte, schlürfte er gedankenversunken seinen Cocktail. Schnell machte ich ihm einen Burger mit extra viel Fleisch drauf und schob ihm den Teller unter die Nase. Mein Schwarm sah so aus, als könnte er ihn dringend vertragen.
»Geht aufs Haus«, sagte ich und: »Schön, dass du wieder da bist.«
Was war nur in mich gefahren? Wieso war mir das rausgerutscht? Mein Gesicht glühte abermals und mein Atem stockte. Ich verklemmtes graues Mäuschen!
Dankend nahm er die Mahlzeit mit den Worten »Ja, das finde ich auch« entgegen, was ihn, seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, ebenfalls ein wenig verblüffte. Seine Blicke brannten auf meiner Haut wie Feuer. Hastig schaute ich weg.
Er hatte mit mir gesprochen! Und seine Stimme klang noch genauso erotisch wie bei unserer letzten Begegnung, beinahe wie ein Schnurren. Am liebsten wäre ich vor Freude in die Luft gesprungen! Jeder Nerv in mir pulsierte und kribbelte.
Kate, reiß dich zusammen, befahl ich mir in Gedanken. Dieser Mann würde sich niemals für so eine unscheinbare Frau, wie ich eine war, interessieren, schon gar nicht, wenn er wüsste, dass ich seine Gedanken lesen konnte – wenn ich wollte. Tief in meinem Inneren war ich ihm längst hoffnungslos verfallen.
Ein wenig träumen war ja wohl erlaubt.
Leider endete mein schöner Traum abrupt, als sich die zwei Halbstarken über ihn lustig machten.
»Hui, sieh an, die Bestie ist wieder da.« Blondie lachte.
»Rrr, er ist ein richtig wildes Tier«, sagte Pickelgesicht. »Heute noch nicht das Fell geleckt, was?«
Mein Traumtyp schenkte ihnen jedoch keine Beachtung. Stattdessen bestellte er einen weiteren Blue Moon und einen Burger. Heute lief alles friedlich ab, worüber ich froh war. Außerdem war ich überglücklich, weil mein »Tiger«, wie ich ihn in meinen Tagträumen manchmal nannte, da war und einige Worte mit mir gewechselt hatte. Und etwas Wildes und Animalisches hatte er definitiv an sich. Da musste ich Pickelgesicht und Blondie ausnahmsweise zustimmen. Nur dass mich diese Attribute eher anzogen als abschreckten.
Jeder, der anders war, wurde oft angepöbelt oder abschätzig angeschaut. Derjenige hätte ja ein Mutant sein können. Wenigstens war ich äußerlich normal. Mein Exfreund hatte mich sogar attraktiv gefunden, obwohl ich mich für zu dünn hielt. Ich liebte an mir bloß meine langen Haare.
Es gab mit Sicherheit viele Mutanten wie mich, die unerkannt bleiben wollten. Deswegen kannte die Regierung auch nicht ihre genaue Zahl. Bei einigen hatten sich bestimmte Bereiche des Gehirns so weiterentwickelt, dass sie nur mit Gedankenkraft Dinge bewegen oder zukünftige Ereignisse vorhersehen konnten. Im Grunde genommen konnte so ein Mutant alle möglichen Fähigkeiten entwickeln. Das führte zu einem immer größer werdenden Misstrauen in der Bevölkerung. Man wusste ja nie, wen man vor sich hatte – Mensch oder Mutant – und ob derjenige nicht gerade die eigenen Gedanken manipulierte.
Diese Ängste wurden geschürt, indem die Polizei in regelmäßigen Abständen angeblich gefährliche Mutanten verhaftete. Die Regierung unterteilte uns in drei Gruppen: Mutanten der Klasse EINS, die nur rein psychische Kräfte besaßen – zu denen durfte ich mich zählen –, Mutanten der Klasse ZWEI, die bloß physische Kräfte besaßen, und Mutanten der Klasse DREI, die sowohl körperliche als auch mentale Kräfte entwickelt hatten. Diese wurden am meisten gefürchtet, weshalb sie verpflichtet waren, sich bei einer eigens für sie ins Leben gerufenen Einrichtung – der MUTAHELP – zu melden, um sich registrieren zu lassen. Was natürlich die Wenigsten taten.
Die Regierung ließ längst alle Neugeborenen auf eventuelle genetische Abweichungen testen. Bekäme ich jemals ein Kind – wozu es natürlich erst eines Mannes bedurfte, eines Mannes wie ihn –, würde ich es wohl in einer Höhle zur Welt bringen müssen …
***
»Süße, kannst du Bier aus dem Keller holen?«, fragte mich Sam einige Zeit später. Das Geschäft lief heute gut, weshalb der Vorrat an Flaschen, die unter der Bar standen, knapp wurde.
Natürlich würde ich in den Keller gehen, darum brauchte mich Sam nicht zu bitten. Er hatte eine seltene Knochenkrankheit und daher eine steife Hüfte, was ihm das Treppensteigen sehr erschwerte. Ein kurzer Blick in sein stoppelbärtiges Gesicht, um dessen blassblaue Augen sich unzählige Fältchen zeigten, sagte mir, dass ihn sein Bein heute besonders schmerzte. Sam hatte die Kiefer aufeinandergepresst und die Brauen nach unten gezogen.
»Klar«, antwortete ich.
Dankbar lächelnd drehte er sich um und wandte mir seinen kahlen Hinterkopf zu, auf dem nur noch geschätzte zwanzig graue Härchen wuchsen.
Mein Herz verkrampfte sich, als ich ihn mir genauer anschaute, denn ich kann die Aura sehen, die jeden Menschen wie ein Leuchten umgibt. Sams Leuchten wurde von Jahr zu Jahr schwächer. Das war kein gutes Zeichen. Nichtsdestotrotz tat ich ihm immer gerne einen Gefallen, denn schließlich hatte ich es ihm zu verdanken, dass ich mein Geld nicht mit Betteln oder Schlimmerem verdienen musste. Dabei dachte ich an die armen Mädchen, die bei Einbruch der Dunkelheit an den Straßenlaternen standen, in der Hoffnung, irgendein reicher Kerl käme vorbei und würde eines Tages vielleicht mehr von ihnen wollen als nur ihren Körper.
Also ging ich an meinem »Tiger« vorbei, mit der Absicht, ihm einen unauffälligen Blick zuwerfen zu können. Ich konnte mich an ihm nicht sattsehen, auch wenn er gerade keinen ganz so appetitlichen Eindruck machte und der Bart störte. Ich mochte keine kratzigen Bärte, aber ich wusste ja, wie er darunter aussah. Nur deshalb war er für mich das Paradebeispiel eines Verführers: geheimnisvoll, gefährlich und atemberaubend männlich. Mein Puls raste, als ich neben ihm über die abgenutzte Holztreppe in den Keller verschwand.
Dort unten war es angenehm kühl, daher liebte ich diesen Ort. Die drückende Hitze der Kneipe und die schlechte Luft machten mir zu schaffen. Ich setzte mich auf die unterste Stufe, schloss die Augen und sog den Geruch von trockenem Holz, süßlichen Rattenködern und Alkohol in mich auf. Das erinnerte mich daran, Sam noch beim Reparieren des Kellerregals zu helfen. Das kleine Erdbeben letzte Woche hatte es umgeworfen. Es waren jedoch nur einige Flaschen zu Bruch gegangen. Immer häufiger bebte es und das machte mir Angst. Es war, als würde Mutter Erde ihre alte Haut mitsamt ihren »Parasiten« abstreifen wollen.
Plötzlich fiel oben die Tür zu, die ich immer offen ließ, wenn ich in den Keller ging, und das Stimmengewirr der Männer verstummte abrupt.
»Na, Zuckerpuppe, brauchst du Hilfe?«
Mein Herz setzte einen Schlag aus, nur um danach mit doppelter Wucht weiterzuhämmern. Ich sprang auf und wirbelte herum. Im gelben Licht der Glühbirne erkannte ich die zwei Halbstarken.
»Verzieht euch nach oben, ihr habt hier nichts verloren!«, entgegnete ich mit lauter Stimme. Mir wurde mulmig in der Magengegend. Diese zwei aufdringlichen Typen machten mich langsam wütend.
Ich versuchte, mich zwischen den beiden durchzudrängen, um nach oben zu kommen. Allerdings hatten sie sich nebeneinander auf eine der schmalen Stufen gestellt und ließen mich nicht vorbei.
»Doch, wir haben dich hier verloren, Sweety.« Der Braunhaarige mit dem leicht pickligen Gesicht grinste anzüglich und stieß mich gegen das Holzgeländer, das mir unangenehm in den Rücken drückte. Sein Atem stank nach Bier und Zigaretten, weshalb sich mein Magen noch mehr verkrampfte.
Da wurde oben die Tür aufgerissen. Hoffentlich würde Sam nichts passieren, dachte ich, denn gegen diese Jungs hätte er nicht viele Chancen. Dazu war er schon zu alt und krank. Es war jedoch nicht Sam – es war mein Schwarm.
Vor Überraschung erstarrte ich.
»Ab nach Hause mit euch, Zeit ins Bett zu gehen«, sagte er ruhig, aber mit Respekt einflößender Stimme. Dabei stemmte er die Hände lässig in die Hüften.
Mein Herz raste. Nicht nur, weil mir die Teens unheimliche Angst einjagten, sondern vor allem, weil mein namenloser Held einfach umwerfend aussah, wie er da oben auf den Stufen stand. Schmale Hüften, breite Schultern, durchtrainierte Arme – er vereinte alle Eigenschaften eines Traummannes. Zudem wirkte er auf seine Weise stark und irgendwie unverwundbar. Das lag wohl daran, dass ich ihn so unwiderstehlich fand.
Allerdings war er nur rein äußerlich ruhig. In seinem Inneren tobte ein Orkan und dessen Ausläufer wirbelten bis in meinen Kopf. Er war geladen wie ein Starkstromgenerator.
Die Jungs drehten sich zu ihm um und ich stieg die letzten zwei Stufen hinab, um mich aus der Schusslinie zu bringen. Ärger lag in der Luft.
»Was hast du gesagt, Biest?«, keifte ihn Blondie an. Sein mit Wasserstoff gebleichtes Haar hing ihm strähnig ins Gesicht. Es hatte etwas Feminines an sich und wäre beinahe schön gewesen, würde sich der junge Mann besser pflegen.
»Von einem Muti wie dir lassen wir uns nicht rumkommandieren!« Pickelgesicht fletschte die Zähne.
Mein Schwarm blieb weiterhin gelassen. Für diese Selbstbeherrschung bewunderte ich ihn.
»Macht keinen Ärger, Jungs, verschwindet einfach und lasst die Lady in Frieden.«
Wow, er hatte mich Lady genannt! Er sah nicht nur gut aus, sondern schien zugleich ein wahrer Gentleman zu sein. Wahrscheinlich der letzte seiner ausgestorbenen Rasse. Wieso setzte er sich für mich ein? In dieser Stadt – nein, auf der ganzen Welt – war es mittlerweile üblich, dass sich jeder nur um sich selbst kümmerte.
»Sieh mal an, das Biest hat ein Auge auf unsere Kate geworfen.« Blondie grinste böse. »Ich kann mir jedoch nicht vorstellen, dass sie sich von einem Mutanten-Schwanz vögeln …«
Weiter kam er nicht. Es war unglaublich, mit welcher Geschwindigkeit die Arme meines Retters nach vorne schossen. Gleichzeitig legten sich seine Hände um je einen Hals der Teens und drückten zu. Zwar sah ich ihre Gesichter nicht, da sie mir den Rücken zudrehten, doch ihre Wut, ihre Überraschung und ihre Angst schwappten in dunklen Wellen vor mein geistiges Auge. Sie sprachen kein Wort mehr, wenn man das gurgelnde Würgen nicht dazuzählte.
In diesem Moment blickte ich in die funkelnden Augen meines Schwarms. Seine Lider waren leicht zusammengekniffen. Auch er sah zu mir herunter. Daraufhin lockerte sich sein Griff, sodass die Jungs mehr Luft bekamen.
Immer noch die Hände an ihren Kehlen, drehte er sich mit den jungen Männern herum und drückte sie die Treppe nach oben in die lärmende Stube. Meine Knie zitterten und mein Herz raste, als ich ihnen folgte. Daher bekam ich mit, wie mein Held sie aus der Kneipe warf und etwas zu ihnen sagte, was ich nicht verstand. Energisch schlug er die Tür zu und ging zurück zur Bar. Ich hoffte, diese irren Typen so schnell nicht wieder zu sehen.
Einige Gäste hatten das Schauspiel beobachtet, dem Geschehen aber keine große Beachtung geschenkt. Selbst Sam hatte von alldem nichts mitbekommen, da er eine Diskussion mit zwei Männern an Tisch drei führte. Sam drehte sich um und rief über ihre Köpfe hinweg: »Kate, wo bleibt das Bier?«
Das hatte ich in all der Aufregung total vergessen!
»Kommt sofort!« Abrupt machte ich auf dem Absatz kehrt, lief zurück zur Kellertür und nahm gleich mehrere Stufen auf einmal. Mit so vielen Flaschen wie ich tragen konnte, eilte ich nach oben, um sie auf den Tisch der Männer zu stellen.
»Wurde ja auch Zeit«, murmelte Sam, aber nicht unfreundlich. Er konnte mir nie böse sein. Unter gerunzelter Stirn sah er mich an. »Schätzchen, du bist ja weiß wie die Wand. Geht es dir nicht gut?«
»Erzähl ich dir später«, sagte ich außer Atem. Sam konnte man nichts vormachen. Dafür kannte er mich zu gut.
Ich verschwand noch einmal im Keller, um diesmal eine ganze Kiste Bier heraufzuschleppen, die ich unter die Bar stellen wollte. Wegen meiner zierlichen Statur erwies sich das als wahrer Kraftakt.
»Warte, ich helfe dir«, drang auf einmal seine Stimme von hinten an mein Ohr.
Ich erschrak furchtbar und mein Herz klopfte mir bis zum Hals. Dass mir mein Schwarm in den Keller gefolgt war, hatte ich überhaupt nicht bemerkt. Wo war ich heute mit meinen Gedanken?
– Bei ihm natürlich, wo sonst.
»D-danke«, stammelte ich und drehte mich mit glühenden Wangen zu ihm um, »wegen vorhin.«
Ich konnte ihm kaum in die Augen sehen. Warum musste ich mich immer wie eine Idiotin benehmen, wenn ich mich zu jemandem hingezogen fühlte? Die roten Flecken in meinem Gesicht waren wahrscheinlich nicht zu übersehen. Wie peinlich! Ich führte mich wie ein verliebtes Schulmädchen auf. Doch er stand so nah bei mir, dass meine Fantasie Überstunden machte. Sollte ich es wagen, ihn zu küssen? Natürlich nicht! Das hätte ich mich niemals getraut, feige, wie ich war!
Auch er wirkte verlegen, denn er wippte leicht mit den Füßen auf und ab. Immer wieder streiften mich dabei seine intensiven Blicke.
Endlich brach er das peinliche Schweigen. »Ich habe gehört, du vermietest Zimmer. Ist noch eins für mich frei?«
»Ähm … ja.« Hastig schaute ich in eine andere Richtung. Es stand mir förmlich auf der Stirn geschrieben, wie unwiderstehlich anziehend ich ihn fand. Mein Herz machte erneut einen dieser Freudensprünge. Denn wenn er ein Zimmer brauchte, wollte er bestimmt länger in der Stadt bleiben!
Sicherheitshalber trat ich einen Schritt zurück, um seiner verwirrenden Nähe zu entkommen. Allein seine bloße Anwesenheit ließ mich keinen klaren Gedanken fassen.
Eine Weile standen wir nur da, er mit einer Kiste Bier in der Hand, so als ob sie nichts wiegen würde, und ich mit meinem Zeigefinger in meinen Haaren drehend. Diese unmögliche Angewohnheit hatte ich bereits als Kind gehabt. Schnell schnappte ich mir zwei Flaschen, damit ich nicht erneut in Versuchung kam. Mein Retter griff sich daraufhin eine zweite Kiste Bier und ging die Treppe hoch.
Er hielt mich jetzt bestimmt für ein naives Ding oder so etwas in der Art. Wie konnte man auch nur dermaßen peinlich sein? Die sterbend kleine Chance, dass er mich in irgendeiner Weise anziehend finden könnte, hatte ich wahrscheinlich soeben verspielt. Mist!
Nach einer kurzen Pause voller Selbstzweifel folgte ich ihm nach oben. Der Lärm und der Mief der Kneipe brachten mich in die Realität zurück. Apropos Realität: War dieser Mann wirklich echt? Oder existierte dieser Mr. Perfect nur in meiner Fantasie – die oftmals lebendiger war, als ich es mir wünschte?
Nachdem er die Kisten unter den Tresen gestellt hatte, kam er zu mir. Siedend heiß fiel mir wieder ein, dass er ja ein Zimmer wollte.
»Ich bin gleich zurück!«, rief ich Sam zu und verließ die Kneipe, meinen Helden an der Seite.
»Hier um die Ecke ist der Eingang«, erklärte ich ihm, als wir aus der Tür traten und die kühle Nachtluft mir eine Gänsehaut einbrachte. Wir sprachen ansonsten kein Wort und bogen in eine dunkle Seitengasse. Vor einem schlecht beleuchteten Hauseingang sperrte ich auf. Leider gab es keine direkte Verbindung von der Kneipe ins Treppenhaus.
Im zweiten Stock hatte ich ein »Büro«. Es war nur ein winziger Raum ohne Fenster und früher eine Abstellkammer gewesen, aber mehr Platz brauchte ich nicht, um die wenigen Zimmer zu vermieten, in denen kaum mehr als ein Bett stand.
Aus einer Schublade des Schreibtisches holte ich einen altmodischen Schlüssel – keine dieser zeitgemäßen Chipkarten – mit einem silbernen Anhänger, der die Zahl drei darstellte.
»Wie viele Nächte?«, fragte ich ihn.
»Keine Ahnung.« Er sprach ruhig, dennoch spürte ich seine Verlegenheit. Hier waren wir allein und das machte anscheinend nicht nur mich nervös, was ich gar nicht nachvollziehen konnte. Der Mann war der Frauenmagnet schlechthin. Er musste doch wissen, dass er unsereins extrem beeindruckte.
Nachdem ich ihm ein E-Pad sowie einen Senso-Pen gereicht hatte und hoffte, dass er meine zitternden Hände nicht bemerkte, zeigte ich ihm die Stelle, wo er unterschreiben sollte.
»Ich zahle eine Woche im Voraus, ist das okay?« Eindringlich blickte er mich an. Wow, seine Augen waren so grau!
Kein Wort wollte aus meinem Mund kommen, also nickte ich nur. Natürlich, im Voraus bezahlen war mehr als okay. Manchen Leuten musste ich wochenlang nachlaufen, um an mein Geld zu kommen.
Er legte ein paar zerknitterte Scheine auf den Tisch. Ohne nachzuzählen steckte ich sie ein und erinnerte mich daran, dass auch in diesem Staat die Ära des Bargelds bald endgültig vorbei war. Der Abschluss aller Geschäfte war in Zukunft ausschließlich mit Daumenscan zu tätigen, was es der Regierung ermöglichte, alle Aktivitäten jeder einzelnen Person zu überwachen. So weit war es in unserem Land schon gekommen. Ich fühlte mich wie in einem Gefängnis.
Ich warf einen kurzen Blick auf die Schreibtafel, bevor ich sie in der Schublade verschwinden ließ. Er hatte seinen Namen darauf geschrieben. Instinktiv wusste ich, dass es nicht sein richtiger war: Jack Sheridan.
Irgendetwas hatte er zu verbergen. Aber hatten wir das nicht alle? Selbst Sam verheimlichte mir etwas, das spürte ich deutlich. Bei meinem Onkel wollte ich allerdings nicht nachbohren und schon gar nicht meine Fähigkeit benutzen. Sam würde schon seine Gründe haben.
Plötzlich fühlte ich mich in Jacks Gegenwart leicht unwohl. Vielleicht lag es an den negativen Schwingungen, die er aussandte. Die Adjektive »geheimnisvoll« und »gefährlich«, die ich zuvor zur Beschreibung seines attraktiven Äußeren gebraucht hatte, bekamen jetzt einen düsteren Sinn.
Nachdem alle Formalitäten erledigt waren, brachte ich ihn zum Zimmer. »Die Dusche ist dort hinten.« Ich deutete ans andere Ende der Etage. Dann gab ich ihm den Schlüssel, wobei sich unsere Hände für einen kurzen Augenblick berührten.
Helles Licht blendet mich, neben mir stehen ein Mann und eine Frau in weißen Kitteln. Vergeblich zerre ich an den Fesseln, mein Herz klopft panisch und die Schmerzen in meiner Brust bringen mich fast um.
Kate – ihr Gesicht schwebt immer vor meinen Augen, sie gibt mir Kraft, das zu überstehen …
So plötzlich wie diese Vision gekommen war, war sie auch vorbei. Ich ließ mir trotz der nachklingenden Schmerzen in meiner Brust nichts anmerken, wie ich es immer tat, wenn ich Erinnerungsfetzen von anderen Personen aufschnappte – was wirklich völlig unbeabsichtigt geschah, falls mein Gegenüber es nicht beherrschte, seine Gedanken abzublocken.
Meine Gabe war nicht immer ein Segen.
»Frühstück bekommst du bei Sam in der Kneipe. Er hat morgens von halb sieben bis neun offen.« Wow, ich hatte mich weder versprochen noch gestottert! Und das, obwohl mich das gerade Gesehene mächtig aufwühlte, besonders, dass ich in Jacks Vision vorkam. Warum ausgerechnet ich? Und diese Schmerzen – ich hatte sie beinahe wirklich spüren können, als hätte mir jemand mit glühenden Klingen die Brust aufgeschlitzt!
Jack nickte, fuhr sich über das Gesicht und sperrte die Zimmertür auf.
»Gute Nacht, Jack. Und danke noch mal.« Hastig drehte ich mich um und ging. Plötzlich wollte ich weg von ihm. Ich musste erst verarbeiten, was ich gefühlt hatte. Oh Gott, seine Erinnerungen waren grauenhaft!
»Dir auch eine gute Nacht, Kate«, rief er mir nach und verschwand in seinem Zimmer.
Wer war der Mann? Warum kam ich in seiner unheimlichen Erinnerung vor?
Kurz vor der Haustür hörte ich wieder seine Stimme. Wie schaffte er es nur, sich so geräuschlos anzuschleichen? Mein Herz klopfte heftig, als ich zu ihm herumwirbelte, was ihn zum Schmunzeln brachte.
Oh Mann, diese Grübchen! Wenn der Kerl lachte, war er unwiderstehlich.
Sein Grinsen wurde noch breiter. »Keine Panik! Ich wollte dich nur fragen, ob du jemanden kennst, der Arbeit für mich hat? Ich würde gerne länger in der Stadt bleiben.«
Tief blickte er mir in die Augen. Sein Lächeln erzeugte ein angenehmes Gefühl in meiner Magengegend, weshalb mir leicht schwindlig wurde. Alles um mich herum schien auf einmal so unwirklich. Wie erstarrt schaute ich in sein wildes, wunderschönes Gesicht.
Es kam mir wie eine Ewigkeit vor.
Tief in seinem Inneren war er – trotz seiner äußerlichen Gelassenheit – wütend und verstört. Ich ignorierte diese Eingebung gleich wieder, denn so ein seltener Augenblick musste voll ausgekostet werden. Was hatte dieser Mann doch für sinnliche Lippen … und erst diese Augen … so grau wie ein wolkenverhangener Sturmhimmel. Sein Gesicht war ebenmäßig, das Kinn markant. Nur seine Nase war einen Tick zu lang, was seiner Schönheit keinen Abbruch tat – im Gegenteil. Sie machte sein Gesicht vollkommen. Mich befiel der Drang, diese Nase zu küssen, ebenso den herrlichen Mund, und meine Finger in seine Haare zu schieben. Wie würden sie sich anfühlen? Seidenweich oder eher störrisch?
Meine Angst vor Jack kam mir mit einem Mal lächerlich vor und mein Herz raste jetzt aus anderen Gründen. Vielleicht hatten sich zwei Erinnerungen überschnitten und er dachte gerade an mich, weil er mich attraktiv fand? Oder ich hatte einen Traum gesehen?
Fantasiere weiter, Kate …
Ob Jack ein Mutant war, der Frauen allein durch seinen Willen hörig machen konnte? Beinahe kam es mir so vor und ich hätte absolut nichts dagegen gehabt. Mein Körper stand in Flammen, alles kribbelte, jeder Nerv schwang wild hin und her. Was war nur los mit mir?
»Kate?«, fragte er nach einer Weile grinsend, was mich aus meiner Träumerei riss.
Ich Idiotin! Warum hatte ich mich nicht besser unter Kontrolle? Er hielt mich jetzt sicher für eine Frau mit dem Hirn einer Stechmücke. »Oh … ja … ich werde Sam fragen. Der kennt eine Menge Leute hier in der Stadt.«
»Danke«, antwortete er. »Noch mal gute Nacht.« Er zwinkerte mir zu und drehte sich um.
Da verschwand er – im Halbdunkel des Hausflures.
Regungslos blieb ich in der offenen Tür stehen und blickte ihm wie hypnotisiert nach, bis seine Silhouette mit der Dunkelheit verschmolz.
Ich glaube, ich habe mich schwer verliebt, dachte ich, als ich auf einer rosa Wolke zurück in Sams Kneipe flog. Sollte Jack doch von mir denken, was er wollte. In meinem Herzen würde er immer mein Traummann bleiben. Nur diese schreckliche Vision störte die Vollkommenheit ein bisschen – ein ganz kleines bisschen.
Am nächsten Morgen stand ich früher auf als gewöhnlich, obwohl ich nicht gut geschlafen hatte. Immerzu hatte ich an Jack denken müssen und an das, was ich gesehen hatte, als sich unsere Hände kurz berührten. Er musste etwas sehr Schreckliches erlebt haben. Hatten seine zahlreichen Narben etwas mit dieser Vision zu tun? Ich hoffte inständig, dass sich Jack bei Sam ein Frühstück gönnen würde, da ich ihn so schnell wie möglich wiedersehen wollte. Hastig schlüpfte ich in meine besten Jeans und in eine weiße Bluse. Sogar Lippenstift legte ich auf.
Auch heute schickte die Sonne ihre erbarmungslosen Strahlen auf die Erde, die Greytown bis zum Mittag in einen Glutofen verwandeln würden. Wäre da nicht die sanfte Brise, die stets vom Meer herauf wehte und die Stadt mit ihrem salzigen Hauch erfrischte. Leider brachte sie immer noch Asche mit sich. Vor Kurzem hatte es weit draußen auf dem Ozean einen Vulkanausbruch gegeben, gefolgt von einem Seebeben, das auch Greytown leicht durchgerüttelt hatte. Tagelang hatte der Berg Asche gespuckt, daher war es in der Stadt jetzt so staubig und viele Häuser nicht mehr bewohnbar. Gott sei Dank hatte der Tsunami uns verschont. Die Fischer, die ihr Zuhause auf dem Festland verloren hatten, lebten seitdem in den schwimmenden Fischaufzuchtstationen. Das Meer war ihre neue Heimat geworden.
Zum Glück war Sams Kneipe nur zwei Blocks von meiner Wohnung entfernt. Die wenigen Meter nahm ich im Laufschritt, weshalb ich schon kurze Zeit später atemlos in den Laden stürzte, in dem bereits vier Männer an ihrem Kaffee schlürften. Mein Onkel blickte mich irritiert an, die Brauen nach oben gezogen, und wollte sofort wissen, was ich um sieben Uhr morgens in seiner Kneipe zu suchen hatte.
»Ich konnte nicht mehr schlafen und da dachte ich, ich helfe dir ein bisschen mit dem Frühstück.« Das war immerhin nicht ganz geflunkert, hatte ich mich doch die halbe Nacht unruhig hin und her gewälzt.
Sam antwortete mir mit einem Ich-weiß-schon-was-mit-dir-los-ist-Lächeln, denn schließlich kannte er mich lange genug. Natürlich freute es ihn trotzdem, dass ich hier war.
Schnell belegte ich Sandwiches und machte neuen Kaffee. Jedes Mal, wenn die Tür aufging, schlug mein Herz schneller. Aber Jack kam nicht.
Als zwei Stunden später die letzten Gäste gegangen waren, half ich Sam beim Aufräumen. Da sagte er zu mir: »Du hast mich doch gestern gefragt, ob ich für deinen neuen Gast, diesen Jake …«
»Jack!«, unterbrach ich ihn, wobei mir fast ein Glas aus der Hand gefallen wäre.
»Ja, Jack, ob ich jemanden wüsste, der für ihn Arbeit hätte.«
»Jaa …?«, fragte ich bemüht beiläufig, während ich mit zitternden Händen die Spülmaschine einräumte.
»Ja, also, nachdem du mir gestern erzählt hast, wie er dir diese zwei aufdringlichen Teens vom Hals geschafft hat … also meiner Kate zu Hilfe geeilt ist … da hab ich gleich an Ron denken müssen.« Sam kratzte sich an seinem fast haarlosen Hinterkopf.
»Ron Williams?« Ich kannte Ron beinahe so lange wie ich bei meinem Onkel lebte. Sie waren gute Freunde, auch wenn sie sich nur selten sahen. Ron war am Hafen für das Verladen der Fracht zuständig.
»Ja, der kann nämlich immer starke Arme gebrauchen und außerdem schuldet er mir noch einen Gefallen. Ich habe Jack gleich heute Morgen zu ihm geschickt.«
»Er war schon hier?« Fast hätte ich Sam angesprungen! Warum hatte er mir das nicht früher erzählt? »Wann denn?« Hoffentlich bemerkte er meine Enttäuschung nicht.
»Er hat bereits vor meiner Tür gestanden, bevor ich die Kneipe geöffnet hatte. Scheint ein netter Kerl zu sein.« Er zwinkerte mir zu. Dieser alte Gauner wusste genau, was mit mir los war. Also hatte es mich wohl schwerer erwischt, als ich mir eingestehen wollte.
Sam kramte gähnend seinen Schlüssel aus der Hosentasche. »Jetzt werde ich mich aufs Ohr hauen. Heute Abend wird es wie immer spät.«
Gemeinsam verließen wir die Kneipe und ich begleitete ihn bis zu seiner Wohnung, die gleich im Stockwerk darüber lag.
»Schlaf gut, Onkelchen, bis heute Abend«, sagte ich und drückte ihm einen Kuss auf die Stirn. Diesen alten Mann liebte ich über alles. Er war der beste Freund, den ich mir auf dieser Welt wünschen konnte.
Ich war erst zehn Jahre alt gewesen, als meine Eltern bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen waren. Sam hatte mich bei sich aufgenommen – ich hatte zuvor schon unter der Woche bei ihm gewohnt, weil meine Eltern bis tief in die Nacht arbeiten mussten –, wobei er mir im Laufe der Jahre mehr als ein Ersatzvater geworden war. Vor allem war er ein besonders guter Zuhörer und wusste fast alles über mich. Doch jetzt war er alt und krank. Die viele Arbeit tat ihr Weiteres. Ich wollte mir nicht ausmalen, was werden sollte, wenn er nicht mehr da war.
Sam seufzte. »Was würde ich nur ohne dich machen?« Schlurfend verschwand er in seiner Wohnung.
Eine Etage höher schloss ich kurz darauf mein Büro auf. Jack war im Moment mein einziger Gast, weshalb ich nicht viel zu tun hatte. Mit einem frischen Handtuch und einer Flasche Wasser in den Händen marschierte ich zu Zimmer drei.
In dem kleinen Raum war es dunkel und stickig. Das einzige Fenster fand ich blind und zog das Rollo hoch, um staubige, aber angenehm kühle Morgenluft einzulassen. Die Bettlaken waren zerknittert; ansonsten war nicht zu erkennen, dass hier jemand wohnte. Ich erinnerte mich: Jack hatte keine Tasche bei sich gehabt. Merkwürdig. Wer kam ohne Gepäck in eine neue Stadt? Dieser Mann schien voller Rätsel zu sein.
Ich legte das saubere Handtuch auf den Nachttisch und stellte die Flasche daneben, denn eine andere Abstellfläche gab es in diesem Zimmer nicht. Als ich die zerwühlte Bettdecke ausschüttelte, flog ein Handtuch auf den Boden. Es war leicht feucht. Während ich es aufhob, stellte ich mir vor, wie Jack nach dem Duschen nackt in seinem Bett eingeschlafen war.
»Böses Mädchen.« Vor mich hingrinsend, hielt ich kurz die Bettdecke an meine Nase. Jacks männlicher Geruch hing überall in den Laken und drang in meine Lungen wie süßer Honig. So ein Mann wie Jack wäre genau das, was ich jetzt bräuchte, läge da nicht dieser dunkle und geheimnisvolle Schatten über ihm.
***
Als ich am Abend in Sams Kneipe kam, herrschte bereits reges Treiben. Die Samstagabende waren die anstrengendsten Tage des Monats. Die Leute ließen den letzten Arbeitstag der Woche immer mit viel Alkohol ausklingen. So mixte ich einen Drink nach dem anderen, sprang ständig in den Keller, um Nachschub zu holen, machte Burger und Sandwiches und bediente zwischendurch an den Tischen. Nach zwei Stunden war ich außer Atem und die Kleidung klebte mir am Körper.
»Einen Blue Moon und ein Sandwich, bitte«, vernahm ich plötzlich Jacks angenehme Stimme durch das Sprachgewirr der Gäste. Überrascht sah ich zu ihm auf.
Er hatte sich leicht über die Theke gelehnt, sein Gesicht nur wenige Zentimeter von meinem entfernt. Befreit vom dichten Bartwuchs, offenbarte es sich bestürzend schön. Mein Herz machte einen Sprung, nur um noch schneller zu schlagen, als es das in der Hektik des Abends sowieso schon tat. Ich dachte nur daran, wie furchtbar ich aussehen musste.
Jack machte auch keinen fitten Eindruck, schließlich hatte er den ganzen Tag mit Verladen von Fracht verbracht. In meinen Augen sah er jedoch wie immer umwerfend aus. Verdammt umwerfend sogar und obwohl er verschwitzt war, roch er unglaublich anziehend.
Pheromone …
Seine dunkelbraunen Haare waren genauso durcheinander wie gestern, aber es hatte noch immer den Anschein, als wäre sein attraktives Gesicht in den letzten Wochen um Jahre gealtert. Wie konnte das sein? Was war ihm zugestoßen? Seine Aura strahlte jedoch ein wenig heller als am Tag zuvor. Das war ein gutes Zeichen!
Ich mixte ihm schnell seinen Drink und machte ihm ein Sandwich. Tausend Gedanken schossen mir durch den Kopf, weshalb ich während meiner Arbeit ständig zu ihm sah. Ob er wirklich ein Mutant war, so wie es die Jungs gemeint hatten? Darüber hatte ich noch gar nicht richtig nachgedacht, weil es keine Auswirkungen auf meine Gefühle für ihn hätte. Schließlich gehörte ich selbst zu dieser »Gattung«. Seine unnatürlich schnellen Reflexe sprachen dafür, auch die Tatsache, dass er sich so lautlos und geschmeidig bewegen konnte. Und wenn ich in seine Augen sah, war ich mir diesbezüglich ziemlich sicher: Sie strahlten etwas Wildes und Aufregendes aus. Einen derart durchdringenden Blick hatte ich bei einem normalen Menschen noch nie gesehen.
Was mir mehr Sorgen bereitete, war das furchtbare Geheimnis, das er zu verbergen schien. Immer, wenn ich besonders nah bei ihm stand, spürte ich die Aura aus Schmerz, Angst und Wut. Diese Gefühle lagen wie ein unsichtbarer Mantel über seinen Schultern. Außerdem wirkte er traurig und müde. Aber unter all dem Schmerz verbarg er auch angenehme Gefühle, die sich verstärkten, wenn er mich ansah. Was mir wieder Hoffnung machte, dass es mit uns vielleicht doch noch klappen könnte.
Ob er eine Freundin hatte? Bis jetzt war er immer allein in der Kneipe erschienen, was nicht zwangsläufig bedeutete, dass er Single war, denn der Frauenanteil in Sams Laden war seit jeher gering. Das weibliche Geschlecht – mich eingeschlossen – zog es eher in Sallys Tea-House. Aber da er neu in der Stadt war, sich ein Zimmer gemietet und einen Aushilfsjob angenommen hatte, schloss ich daraus, dass er ungebunden war.
Wir sprachen den Abend über kaum miteinander, dafür war ich viel zu beschäftigt. Unsere Blicke begegneten sich dagegen ständig. Vielleicht war es nur Zufall, doch mein Gefühl sagte mir etwas anderes. Selbst Sam schien es zu bemerken, denn er blinzelte mir überirdisch oft zu, wobei er sein verschmitztestes Lächeln auflegte.
Dieser alte Gauner! Er wusste immer, was mit mir los war. Auch ich fühlte mich heute beschwingter als sonst. Umso trauriger war ich, als Jack knapp eine Stunde später die Kneipe verließ. Ich hatte so sehr gehofft, er würde bleiben bis der größte Trubel vorbei war und ich mehr Zeit hätte, mich mit ihm zu unterhalten. Doch er hatte einen anstrengenden und kräftezehrenden Tag gehabt. Er sah müde aus und wollte bestimmt nur noch schlafen. Wer konnte es ihm verdenken, fühlte ich mich auch gänzlich ausgelaugt.
Jack musste mein enttäuschtes Gesicht bemerkt haben, denn kurz bevor er die Tür öffnete, kam er zu mir zurück. Mein Herz sprang fast aus der Brust, als er sich lässig über die Theke lehnte. Ohne ihn aus den Augen zu lassen, schenkte ich schnell einem alten Mann seinen Drink ein und ging dann zu Jack rüber. Mein Gesicht war nur wenige Zentimeter von seinem entfernt, damit wir uns in dem Stimmengewirr besser verstanden. Diese Nähe machte meine Knie butterweich. Hätte ich nicht zur Hälfte auf der Theke gelegen, wäre ich wahrscheinlich auf meinem Hinterteil gelandet.
Als ich ihn schüchtern fragte: »Na, möchtest du vielleicht doch noch etwas trinken?«, sog ich den erregenden Duft seines verschwitzten Körpers in mich auf. Was stellte er nur für eine unwiderstehliche Verlockung dar!
»Danke, nein. Aber ich wollte dich fragen, ob du vielleicht Lust hättest, mir morgen die Stadt zu zeigen? Du hast doch morgen frei, oder?« Ein sanftes Lächeln huschte über sein Gesicht und seine Augen funkelten.