STEPHANIE BORGERT
Erfolg ist ein
Mannschaftssport
Das Playbook
für mehr Selbstorganisation
im Unternehmen
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© 2021 GABAL Verlag GmbH, Offenbach
Das E-Book basiert auf dem 2021 erschienenen Buchtitel »Erfolg ist ein Mannschaftssport« von Stephanie Borgert © 2021 GABAL Verlag GmbH, Offenbach.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN Buchausgabe: 978-3-96739-032-2
ISBN epub: 978-3-96740-039-7
Lektorat: Anke Schild, Hamburg
Umschlaggestaltung: Martin Zech Design, Bremen | www.martinzech.de
Autorenfoto: Jan Hillnhütter, Schifferstadt
Illustrationen: Sandra Schulze, Heidelberg | www.sandraschulze.com
Satz und Layout: Das Herstellungsbüro, Hamburg | www.buch-herstellungsbuero.de
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»Das Gleiche lässt uns in Ruhe, aber der Widerspruch ist es,
der uns produktiv macht.«
JOHANN WOLFGANG VON GOETHE
Vorwort
1. Eine Frage der Perspektive
2. Gemeinsam sind wir …
3. Wie aus einer Geschichte Wirklichkeit wurde: Ein Interview mit Martina Kornthaler von der Saubermacher AG
4. Organisieren
5. Ohne Konflikt keine Entscheidung
6. »Wir liefern nicht einfach Pflegeleistungen, wir lösen Probleme«: Ein Interview mit Jos de Blok von Buurtzorg
7. Führung ist Teamsache
8. Nachhaltig selbstorganisiert
9. Von hier nach morgen – den Übergang gestalten
10. »Von der Hierarchie zur Dezentralisierung«: Ein Interview mit Axel Kummer, Jana Schlecht und Michael Fleischmann von der metafinanz GmbH
Literaturempfehlungen
Über die Autorin
Ist nicht längst alles gesagt zu Agilität, Selbstorganisation und New Work? Die unzähligen Veröffentlichungen an jedem einzelnen Tag geben Tipps wie »So gelingt die Transformation wirklich« und »Selbstorganisation braucht Reife«. Nicht zu vergessen die vielen Methoden für Retrospektiven und Brainstormings. Es scheint doch alles da zu sein für ein gelingendes »Mehr an Selbstorganisation«. Viele Unternehmen schreiben Bücher über ihre Wandlung vom Command-and-Control-Saulus zum agilen Paulus. Und all die zertifizierten SCRUM-Master und Agile Coaches können doch nicht irren. Oder doch? Ist wirklich alles auf einem guten Weg?
Meine Beobachtung ist eine andere und dabei spreche ich den Menschen ihren guten Willen und ihr Engagement nicht ab. In Workshops mit agilen Teams oder auf Strategietagungen mit Führungsteams erlebe ich eine große Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Die Methoden sind verstanden, aber in der Tiefe ist Grundlegendes über die Zusammenarbeit in sozialen Systemen unklar und nicht durchdacht. Eine »neue Welt« zu schaffen gelingt nur, wenn die alte losgelassen wird. Dazu braucht es Beobachtung und Reflexion der individuellen und kollektiven Denkmuster, und zwar auf verschiedenen Ebenen.
Wenn Organisation betrachtet wird, gerät der Mensch aus dem Blick. Wird der Mensch fokussiert, bleiben Struktur und Bedingungen der Organisation außen vor. Im Team kommen beide Perspektiven zusammen. Team und damit Teamarbeit lassen sich nicht ohne Organisation und nicht ohne Menschen denken.
Bücher zu konkreten Organisationsmodellen und ihrem »Ausrollen«, Methoden und Checklisten für agiles Arbeiten und Ratgeber für Selbstorganisation gibt es ausreichend. Davon braucht es gerade nicht noch mehr, zumal ihre Inhalte nur auf einem bereiteten Boden Früchte tragen können. Deshalb entschied ich mich, ein grundlegendes Buch zu schreiben. Es enthält die wichtigsten Grundkenntnisse, die in jeder Organisation bekannt und eingeatmet sein sollten, bevor über mehr Selbstorganisation nachgedacht wird.
Was also erwartet Sie auf den folgenden Seiten? – Sichtweisen, Gedanken, Anregungen, Einladungen zur Reflexion, Irritation, Denken über das Denken.
Was Sie in diesem Buch nicht erwarten können: Rezepte, schnelle Erklärungen, Best Practice, Ratschläge und (vermeintlicher) Feenstaub.
Einige Wegweiser werden Ihnen auf der Reise durch die Kapitel immer wieder begegnen:
Einzelreflexion: Hier können Sie für sich persönlich reflektieren, »wie Sie ticken« – in Bezug auf Menschen, Teams, Organisation und Zusammenarbeit.
Teamreflexion / Teamübung: Auch als Team sollten Sie sich Ihrer Grundannahmen und mentalen Modelle bewusst sein. Einladungen zur gemeinsamen Reflexion finden Sie zu allen wichtigen Aspekten.
Philosophischer Impuls: Denken ist wichtig für lebhafte und erfolgreiche Zusammenarbeit. Dabei spielt das Wie des Denkens eine mindestens ebenso große Rolle wie das, was wir denken. Mögen diese Impulse Sie irritieren.
Genug der Vorrede, jetzt sind Sie dran. Ihnen wünsche ich viel Vergnügen, Anregung und Irritation bei der Lektüre.
Jeder Mensch entscheidet für sich, wie er oder sie die Welt sieht. Es mag noch immer Menschen geben, die in der Illusion verfangen sind, sie sähen die Welt so, wie die Welt ist. Den meisten ist jedoch klar, dass wir alle die Welt sehen, wie wir sie in unserem Kopf konstruieren. Nur bewusst ist uns diese Tatsache trotzdem nicht ständig. Und wenn es dann im Arbeitsalltag turbulent wird, Probleme oder Konflikte auftauchen, navigieren wir per Autopilot durch die Situation. Unsere Weltsicht hat entscheidenden Einfluss auf unser Denken, Handeln, Reagieren und Entscheiden. Sich seiner individuellen Lieblingsansicht bewusst zu werden, ist ein wichtiger Schritt in Richtung konstruktiver Zusammenarbeit mit anderen. Ein weiterer ist die Fähigkeit, zusätzliche Perspektiven einzunehmen. Dazu lade ich Sie im folgenden Kapitel ein. Denn wir alle sind auch Pippi Langstrumpf und machen uns die Welt, wie sie uns gefällt.
Was sehen Sie?
Schauen Sie sich die nachfolgende Grafik an, und halten Sie fest, was Sie dazu denken. Beachten Sie dabei Ihre genaue Formulierung. Die meisten Menschen sagen etwas wie »Es ist eine Ente« oder »Es ist ein Kaninchen«. Erst wenn die Dualität auffällt, kommt es zu Aussagen wie »Ich sehe es als …«. Das ist der Unterschied zwischen Wahrnehmung und Interpretation.
Die Grundhaltung, mit der ich dieses Buch schreibe und die ich Sie bitte einzunehmen, während Sie es lesen und durcharbeiten: Wir haben keinen direkten Zugriff auf die Realität, wir konstruieren sie. Objektive Betrachtung ist eine Illusion. Es ist vielmehr so, als existiere eine Art Linse zwischen uns (als Individuum) und der Realität. Diese Linse besteht aus unseren mentalen Modellen, also unseren Überzeugungen, Vorurteilen, Stereotypen und Erfahrungen. Und eben weil es diese Linse gibt, ist alles Interpretation und nicht »mein objektiver, klarer Blick aufs Geschehen«. So entstehen bei Begriffen wie »Selbstorganisation«, »Agilität«, »Führung« oder jedem beliebigen anderen verschiedenste Bilder in den Köpfen der Menschen. Und in keinem der beteiligten Köpfe existiert das einzig wahre Bild.
Unsere mentalen Modelle sind ebenso verschieden wie die entstehenden Bilder. Sie sind unsere Weltanschauung und sorgen dafür, dass wir bestimmte Aspekte fokussieren, andere ignorieren und Situationen in einer bestimmten Weise interpretieren. Wann immer wir an einen Punkt gelangen, an dem unsere Überzeugungen nicht zur (vermeintlichen) Realität passen, haben wir die Chance, zu lernen und unsere mentalen Modelle anzupassen. In dem großen Themenkomplex Zusammenarbeit, Selbstorganisation, Führung, Organisation erlebe ich, dass die alten, im Industriezeitalter geprägten Modelle noch immer quicklebendig sind und ihre Wirkung entfalten. An vielen Stellen ist es längst an der Zeit für ein Update. Der erste Schritt dabei ist es, sich die eigenen Überzeugungen, die eigene Linse also, bewusst zu machen.
MEHR SELBSTORGANISATION FÜHRT ZU …
Die IT-Verantwortlichen zweier großer Konzerne aus verschiedenen Branchen treffen sich zu einem Erfahrungsaustausch über ihre agile Transformation, die sie sehr unterschiedlich motiviert vor einiger Zeit begonnen haben. Mit dabei ist auch jeweils ein Vertreter des Betriebsrates. In der Diskussion wird schnell deutlich, dass in den Köpfen der beiden Herren völlig diverse Bilder über die Auswirkung von mehr Selbstorganisation existieren. Während der eine Betriebsrat sieht, dass mehr Mitbestimmung und stringente Prozesse zu einer guten Balance in der Arbeitsauslastung führen, liegt für den anderen darin eine sehr große Gefahr der Ausbeutung von Mitarbeitenden und hoher Krankenstände. So ist es nicht verwunderlich, dass in dem einen Fall der Betriebsrat die Transformation mitträgt und gestaltet, während er im anderen Fall als Bedenkenträger eher für Verlangsamung sorgt. Worüber reden diese beiden Herren dabei? Über ihre Erfahrungen nur bedingt, denn in beiden Fällen gibt es noch keine »verlässliche Wahrheit« über die jeweilige Wirkung von mehr Selbstorganisation und Mitbestimmung. Sie sprechen über ihre mentalen Modelle, ihre Sicht auf Arbeit, Menschen, Organisation, Mitbestimmung, Eigenverantwortung und all die anderen Aspekte, die hineinspielen. Es sind nicht Fakten und Objektivität, die ausgesprochen werden, sondern Perspektiven.
Der zweite wesentliche Schritt besteht darin, passende mentale Modelle zu gestalten. Dazu ist es notwendig, zu verstehen, wie wir Menschen aus den Informationen, die von der Realität als Feedback zu uns kommen, unsere Sichtweisen und Überzeugungen konstruieren. »DSRP« nennen das Derek und Laura Cabrera (Cabrera 2016). Es ist der kognitive Code, die Basis für den Vorgang der Modellbildung.
Distinctions: Wir unterscheiden Dinge, Informationen, Aspekte und so weiter voneinander.
Systems: Wir organisieren Informationen in Systemen und betrachten sie im Detail und im Ganzen.
Relationships: Die Beziehungen und Wechselwirkungen werden uns deutlich.
Perspectives: Wir betrachten Informationen aus unseren bevorzugten Blickwinkeln.
Auf diese Weise strukturieren wir das Feedback aus der Realität und geben der Information eine Bedeutung. Das geschieht unabhängig davon, ob es uns bewusst ist oder nicht. Beziehen wir DSRP in unsere Reflexion mit ein, dann denken wir über unser Denken nach. Metakognition ist für alle Menschen trainierbar (das Können steht außer Frage) und hilft uns, differenzierter zu denken, besser zu kommunizieren, passendere Entscheidungen zu treffen und in Teams erfolgreicher und stressfreier zu agieren. Sich des eigenen Denkens und der Konstruktion der subjektiven Realität bewusst zu sein, ist die Grundzutat für Systemdenken.
»Wir brauchen mehr Selbstorganisation!« So oder so ähnlich lautet die Formulierung vieler Verantwortlicher, wenn eine Auftragsanfrage bei mir eintrifft. »Was genau meinen Sie damit?«, hake ich nach. Dann bekomme ich häufig Antworten wie »Die Mitarbeitenden sollen mehr Eigenverantwortung zeigen, das große Ganze sehen«. – »Spannend, für was genau wäre das gut?« – »Na ja, wir verlieren Marktanteile, unsere Time-to-Market ist zu lang, unsere Projekte laufen immer wieder aus dem Budget …« Oder, oder, oder. Diese Dialoge wiederholen sich stetig mit wechselnden Schwerpunkten. Was sie gemeinsam haben, ist die Vermischung von Ursache, Problem, Diagnose und Lösung. Und, ganz wichtig, die Psychologisierung der Zusammenarbeit. Aber der Reihe nach:
Unabhängig davon, dass der Begriff »Selbstorganisation« zunächst erläutert und abgegrenzt werden muss, handelt es sich bei der obigen Aussage um eine für die Eigendiagnose als tauglich befundene Lösung. Die Sache hat aber mehrere Haken. Zum einen ist mehr Selbstorganisation für nichts eine Lösung. Sie ist ein Aspekt komplexer Systeme (Kapitel 4, Unterkapitel »Selbstorganisation«) und kann nicht »gemacht« werden. Zum anderen setzen viele Menschen sie mit Selbstmanagement gleich. Dürfen sich die Mitarbeitenden ihre Arbeitszeit selbst einteilen, so arbeiten sie selbstorganisiert? Mitnichten. Zudem ist die Aussage selbst so blasig, dass dahinter immer noch Weiteres steht. »Eigentlich wollen wir, dass …«
»Wir brauchen mehr Selbstorganisation, weil die Mitarbeitenden zu wenig Eigenverantwortung zeigen, ihre Ideen nicht einbringen, nur Dienst nach Vorschrift machen etc. pp.« Die Schwierigkeit an vielen solcher Diagnosen ist, dass sie selten das tatsächliche Problem adressieren und die Problematik auf die Menschen verschieben. Es entsteht leicht eine Psychologisierung ganzer Unternehmen, in denen immer alles konkreten Menschen zugeschrieben wird. Ja, Menschen handeln. Die meisten Probleme, vor allem die Dauerbrenner, sind jedoch strukturell bedingt und nicht durch die Persönlichkeit der Handelnden. Die so gestellten Diagnosen bringen dabei ein Denkmodell an die Oberfläche, das weithin verbreitet ist, nämlich, dass die Menschen (im Schwerpunkt die Mitarbeitenden) irgendwie verkehrt seien, repariert, vervollständigt, entwickelt oder umerzogen werden müssten.
Der Mensch im Allgemeinen und im Besonderen wird immer wieder in den Problemfokus gestellt. »Mit unseren Mitarbeitenden geht das nicht. Die wollen sich nicht verändern. Die können nicht ›agil‹.« So hat man stets lineare Kausalketten zur Verfügung und kann viel Zeit für das »Korrigieren« der Mitarbeitenden verwenden. Bei schneller, oberflächlicher Betrachtung der Vorgänge wird leicht ein Symptom zum Problem erklärt. Das hilft nur leider nicht bei der Problemlösung, denn ein echtes Problem kommt wieder, wenn es nicht ursächlich bearbeitet wird.
In der Komplexität unserer Organisationen ist es nicht immer leicht, eine Problemursache auszumachen. Oft kommen wir angesichts multikausaler Zusammenhänge nicht über die Arbeit mit Hypothesen hinaus. Und dann liegen Ursache und Wirkung zeitlich wie örtlich eher selten nah beieinander. Üblicherweise sind wir aber darauf gedrillt, schnell und eindeutig Ross und Reiter zu benennen, weshalb so oft das Postulat zu hören ist: »Wir brauchen mehr Selbstorganisation.«
Spinnen wir die Idee »Wir brauchen mehr …« weiter, dann wird also ein Unternehmen einige seiner Bereiche »selbstorganisiert aufstellen«. In der Praxis bedeutet das häufig, dass agile Methoden wie SCRUM eingeführt werden. Sonst ändert sich meist nichts. Der Appell lautet: Liebe Mitarbeitende, arbeitet jetzt agil, damit wir unsere Time-to-Market verbessern und wieder Marktanteile gewinnen. Die zweite Satzhälfte wird selten mitgeliefert, also verkürzt: Seid selbstorganisierter. Diese Erwartung stürzt alle Beteiligten in ein Dilemma.
Reflektieren Sie als Team gemeinsam kürzlich diskutierte Probleme, Projekte, Entscheidungen. Machen Sie sich Notizen dazu, was Sie als Problem benannt haben, welche Ursache Sie identifizierten und mit welcher Lösung Sie Abhilfe schaffen wollten. Notieren Sie Stichpunkte dazu auf Post-its. Hinterfragen Sie nun noch einmal Ihre Diagnose, indem Sie die aufgeschriebenen Aspekte in die Kategorien Symptom, Problem, Ursache, Lösung und Diagnose einteilen. Dieser Schritt sollte im Diskurs stattfinden, er sorgt oftmals für Erkenntnisse über die jeweiligen mentalen Modelle. Es gibt in dieser Reflexion kein Richtig oder Falsch. Es geht vielmehr darum, sich der schnellen und häufig unterkomplexen Betrachtung von Situationen bewusst zu werden und für die Zukunft ein genaueres Hinschauen zu trainieren.
Strukturen, Vorgaben, Prozesse, Regeln, die Art der Zusammenarbeit bleiben gleich; ändern soll sich das Verhalten der Mitarbeitenden – gegen das bestehende System. Wie wird das ausgehen? Meist werden die Menschen verunsichert und trauen sich schlichtweg nicht, ernsthaft agil zu arbeiten. Es entsteht Unruhe, und man beschäftigt sich mit sich selbst, was kaum der Time-to-Market zugutekommt. Zur Absicherung werden eventuell weitere Prozessschritte etabliert, neue Abstimmungsrunden festgelegt oder sonst wie ein Ausgleich zwischen nicht erfüllbarer Erwartung und Arbeitserfüllung geschaffen. Nach einer Weile folgt womöglich die nächste Diagnose: »Unsere Mitarbeitenden können ›agil‹ nicht!«
Tragisch, denn die Mitarbeitenden werden diffamiert und das eigentliche Problem wird nicht gelöst. Im Gegenteil, es kann sich sogar verstärken, indem die Unsicherheit der Menschen zu noch mehr Absicherung, Vorsicht und damit Verlangsamung führt. Ich persönlich mag an dieser Stelle die Frage: »Wie haben Sie das den Mitarbeitenden beigebracht?« Warum ist Dienst nach Vorschrift so beliebt? Weil es so stressfreier ist oder sicherer oder bequemer. Dann sind wir wieder an dem Punkt, die Struktur zu hinterfragen. Wenn es für die Menschen besser ist, sich so als anders zu verhalten, liegt der Grund in der Art, wie Zusammenarbeit verabredet ist. Das ist der Hebelpunkt, er liegt nicht in den Menschen selbst.
»Frau Müller kommt dauernd zu spät zum Daily. Ihr sind wir doch total egal. Sie ist halt ein Ego-Shooter.« »Unser Chef macht nie klare Ansagen. Er ist eben ein introvertierter, harmoniebedürftiger Mensch.« Diese Zitate aus der Rubrik Hobbypsychologie sind nur zwei Beispiele für das, was minütlich in unseren Organisationen geschieht. Ein Mensch verhält sich, ihm oder ihr wird ein Motiv und die entsprechende Persönlichkeit zugeschrieben. Und es ist in der Tat recht schwer, sich dem zu entziehen. Werden wir doch damit groß und üben die Psychologisierung in der Kaffeeküche ebenso wie am Stammtisch. »Dein Kollege hat heute unkonzentriert Tennis gespielt? Bestimmt belastet ihn Ärger mit dem Boss.« Jedes Team hat meist so viele Hobbypsychologen wie Mitglieder. Und das Spiel »Lass uns psychologisieren« macht ja mitunter auch Spaß, aber es verstellt uns den Blick auf Wesentliches. Es lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die einzelnen Menschen, weshalb Dynamiken, Wechselwirkungen und Strukturen weitgehend unbeachtet bleiben. Das ist nicht nur einfach schade, es ist ein Problem, denn die ewigen Versuche, die Menschen zu entwickeln, zu coachen, zu bilden, an Bord zu holen, einzunorden, zu motivieren und zurechtzustutzen, führen nicht zum Erfolg, wenn es darum geht, wie Zusammenarbeit stattfindet.
Die Psychologisierung verstellt uns den systemischen Blick. Fokussieren wir Individuen, schauen wir nicht auf das System. Somit entgehen uns weitere Lösungsmöglichkeiten, Ideen und Erkenntnisse. Deshalb ist es mein Anliegen, auch mit diesem Buch, den systemischen Blick auf Teams und Organisationen zu trainieren. Es geht um eine Sichtweise, nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Denken Sie an ein markantes Ereignis, beispielsweise einen Konflikt, zurück. Lassen Sie die Situation noch einmal vor Ihrem inneren Auge entstehen, und erinnern Sie sich, welche Gedanken Sie hatten. Wie haben Sie über die handelnden Personen gedacht? Welche Motive haben Sie ihnen zugeschrieben? Wie kamen Sie darauf? Auf Basis welcher Annahmen haben Sie die Situation und die Beteiligten beurteilt? Inwieweit haben Sie die Umstände berücksichtigt? Welche Glaubenssätze lagen Ihren Gedanken zugrunde?
Die stete Psychologisierung halte ich für eine der »Lösungen«, die das Problem verschlimmern, weshalb mir auch in diesem Buch das Denken in Systemen so wichtig ist. In den folgenden Kapiteln gilt durchgängig der Grundsatz: Wir betrachten Teams, Gruppen, Abteilungen, Bereiche, Organisationen als komplexe, soziale Systeme.
Setzen Sie bitte für einen Moment gedanklich die »Systembrille« auf und schauen Sie sich in Ihrem Alltag um. Welche Systeme identifizieren Sie? Eventuell arbeiten Sie in einem oder mehreren Teams, die zu Abteilungen gehören. Sie sind in einem Unternehmen angestellt, engagieren sich in einem Verein, haben einen Freundeskreis, eine Familie, Nachbarschaft. Alles soziale Systeme. Am Wochenende gehen Sie im Wald spazieren oder betrachten das Gewitter am Himmel, bevor Sie im Garten das Mobiliar von Spinnweben befreien. Sie agieren in und mit natürlichen Systemen. Dann sind da natürlich auch technische Systeme, die Sie verwenden oder bedienen. Sie fahren Auto, Bahn, nutzen Flugzeuge und sitzen vor Ihrem Rechner. Apropos Rechner, die meisten Organisationen sind längst nicht mehr nur soziale, sondern soziotechnologische Systeme. Rechner führen Prozessschritte autark durch oder bereiten Entscheidungen vor, was vorher den Menschen vorbehalten war. Sie werden viele Systeme entdecken, wenn Sie Ihr Augenmerk darauf richten.
Wir bewegen uns ständig in diversen Systemen, und wir lernen, wie jedes einzelne tickt, und stellen uns darauf ein. Sie stimmen vermutlich meiner Behauptung zu, dass auch Sie sich bei einer feuchtfröhlichen Feier anders verhalten als in der Vorstandssitzung oder in der Sauna. Warum ist das so? In jedem sozialen System gibt es Verabredungen darüber, was geht und was nicht, wie Dinge gehandhabt werden, was belohnt oder sanktioniert wird. Diese Verabredungen sind die Struktur eines Systems. Struktur bestimmt Verhalten! Das ist wohl eine der wesentlichsten Erkenntnisse, wenn Sie durch die »Systembrille« auf die Welt schauen. Gleichzeitig reicht diese eine Erkenntnis nicht, um Systeme zu verstehen. Aus diesem Grund kläre ich mit Ihnen in dem nun folgenden Crashkurs die wichtigsten Aspekte sozialer Systeme.
Wann ist etwas überhaupt ein System? Die kurze Antwort lautet: Sobald es Wechselwirkungen gibt.
Ein Haufen Hundeleckerli ist eine Sammlung; Sie können beliebige Elemente hinzugeben oder entfernen, es bleibt ein Haufen. Der Mensch an sich (hier die Hundebesitzerin) ist ein komplexes System. Der Hund ebenfalls. Beide Körper erfüllen einen übergeordneten Zweck, das Überleben. Sichergestellt wird dieser über die Wechselwirkungen der einzelnen Elemente wie Herz, Gehirn, Muskeln, Knochen, Lunge, Blutkreislauf (ein System im System) und die weiteren Organe und Elemente. Gehen wir mit unserem Blick eine Ebene höher, weg von den Körpern und hin zu dem Mensch-Hund-Gespann, sehen wir auch ein System. Hund und Mensch interagieren und stehen in Wechselwirkung zueinander.
Ein System besteht aus Elementen, die miteinander verknüpft sind. Die so entstehenden Wechselwirkungen sorgen dafür, dass ein bestimmtes Ziel oder ein bestimmter Zweck erreicht wird.
Nachfolgend einige wesentliche Punkte, die Sie über soziale Systeme wissen sollten:
• Die wichtigsten Facetten sind ihre Elemente, ihre Struktur und ihr Zweck.
Elemente können materieller und immaterieller Art sein. Die Struktur (also die Verknüpfungen) lässt sich nur mit guter Beobachtung verstehen.
Der Zweck ist ebenfalls nicht immer gleich offensichtlich und hat mit dem offiziell formulierten nicht unbedingt viel gemein.
»The purpose of a system is what it does.« (Stafford Beer)
• Soziale Systeme sind nicht sicht- oder anfassbar, was es herausfordernd macht, sie zu benennen.
• Durch die Verknüpfungen entsteht Dynamik und damit immer ein Faktor von Zeitdruck. Systeme entwickeln sich stetig weiter und warten auf nichts und niemanden.
• Intransparenz entsteht durch die Menge an Wechselwirkungen. Es ist nicht möglich, ein Team oder eine Organisation vollständig in all ihren Verknüpfungen zu beschreiben. Wir betrachten immer nur Ausschnitte.
• Systeme sind vergangenheits-orientiert. Das, was sich einmal bewährt hat, hat die Tendenz zur Verfestigung.
• Systeme können nicht zentral gesteuert werden. Ihr Regelungsmechanismus ist Feedback. Dabei geht es nicht darum, einem anderen Menschen per Ich-Botschaft eine Meinung kundzutun, sondern Dynamiken im System zu sehen (siehe das nächste Unterkapitel: »Beobachten und beschreiben«).
• Systeme verhalten sich häufig kontraintuitiv und reagieren zeitverzögert.
• Systeme sind operational geschlossen. Das bedeutet, dass ihre Struktur nur durch die eigenen Wechselwirkungen bestimmt ist. Ein »Durchgriff« von außen, der die interne Struktur (nicht zu verwechseln mit der formalen Struktur) ändert, existiert nicht. Systeme sind somit quasi auf Selbstorganisation angewiesen.
• Systeme sind selbstorganisiert. Der grundlegende Aspekt hierbei ist, dass solche Systeme durch die Wechselwirkung ihrer Elemente eine Ordnung entstehen lassen. Diese können sie auch bei Störungen von außen aufrechterhalten. Selbstorganisation kann nicht »gemacht« werden, aber die systeminhärente Selbstorganisation kann durch ein Zuviel an Bürokratie, Vorgaben, Kontrolle oder Prozesse behindert werden.
Sie beobachten, das Team tut es und die Organisation ebenfalls. Vor allem beobachten diese Systeme sich selbst und das, was sie tun. Das ist Beobachtung 1. Ordnung. »Beobachtung« bedeutet, zu unterscheiden und zu benennen; das ist die Operation des Beobachtenden. »Der Unterschied, der einen Unterschied macht« – so der Kybernetiker Gregory Bateson, der damit deutlich macht, dass der Unterschied beim Beobachter liegt. Ob eine Führungskraft, eine Kollegin oder ein externer Berater ein »agiles Team« beobachten, ändert am agilen Team per se nichts. Welche Rückschlüsse die jeweiligen Beobachter aus ihren Betrachtungen ziehen und welches Verhalten sie daraus ableiten, wirkt aber sowohl auf das Team als auch auf den Beobachtenden. Es lässt sich jedoch nie ausmachen, wie gut oder umfassend das Beobachten ist. Es entsteht immer ein blinder Fleck. Ein Team oder eine Organisation beobachten eben auf ihre Weise, systemgegeben. Im Laufe der Zeit etabliert sich ein begrenzter Blick auf die Welt, auf sich selbst und die Umwelt. Das, was beobachtet wird, kann benannt werden. Das, was nicht beobachtet wird, nicht.
Sie selbst sind just in diesem Moment ein Beobachtender 2. Ordnung, denn Sie lesen die hier aufgeschriebenen Ergebnisse meiner Beobachtungen. Ich schreibe über etwas, das für Ihren Arbeitsalltag relevant ist (sonst hielten Sie vermutlich dieses Buch nicht in den Händen), aber eben aus meiner Perspektive. Sie lesen in diesem Buch über Ihren Alltag mit einem anderen Blick, mit anderen Interpretationen und Schlussfolgerungen. Für Sie als Leser oder Leserin entsteht eine eigene Realität, die sich von Ihrer eigentlichen unterscheidet. Die Realität wird quasi gedoppelt, und das führt dazu, dass Ihre gewohnte infrage gestellt werden kann. Das, was für Sie bisher nicht hinterfragbar war, wird mit der Möglichkeit zur Veränderung versehen, allein dadurch, dass Sie meine Beobachtungen beobachten. Denn Sie werden irritiert und es taucht die Frage nach der »richtigen« Sichtweise auf. Die Irritation rüttelt an Ihren Vorurteilen und Überzeugungen, was zu Erkenntnissen, Aha-Erlebnissen und aktualisierten mentalen Modellen führen kann. Aber eben kann. Eine klare Ursache-Wirkungs-Relation lässt sich natürlich nicht aufmachen. Was Sie, liebe Leserinnen und Leser, als komplexe Systeme, die Sie sind, daraus machen, kann ich nicht vorhersagen. Warum aber ist es wichtig, den Prozess des Beobachtens hier zu erwähnen? Weil er immer stattfindet und enorm wichtig ist, wenn es darum geht, Systeme zu verstehen und passende Interventionen zu finden.
»Das Ideal der zweiwertigen Logik, wonach Aussagen entweder ›wahr‹ oder ›falsch‹ zu sein haben bzw. sind und etwas Drittes nicht möglich ist, ist ein typisches Landkartenphänomen, d. h. ein Merkmal des Zeichensystems, ein Artefakt, das durch den Beobachter produziert wird; die tatsächlich existierende Welt ist immer voller Widersprüche, Antagonismen, Unklarheiten, Vieldeutigkeiten und Oszillationen; daher ist Ambivalenz eigentlich die für Beobachter angemessene Normalverfassung; das macht es für den Beobachter nötig, immer wieder neu zu entscheiden, obwohl es keine sicheren Kriterien für die ›Richtigkeit‹ der Entscheidung gibt; das gilt für Entscheidungen über Beschreibungen von Phänomenen ebenso wie für Entscheidungen über ihre Erklärung und Bewertung und schließlich auch und vor allem für die daraus abzuleitenden Handlungskonsequenzen.« (Fritz B. Simon 2020, S. 116)
Um das Wie der Realitätskonstruktion geht es bei der Beobachtung 2. Ordnung, also bei dem, was Sie gerade tun, während Sie hier lesen. Sie erkennen meine Wirklichkeitskonstruktion und vollziehen meine Interpretationen nach. Es ist die zentrale Beobachterperspektive, wenn wir Organisationen beeinflussen wollen. Ohne Beobachtung (und Benennung) keine Hypothesen. Ohne Hypothesen keine Interventionen. Ohne Interventionen keine Irritation. Beobachten kann jeder, Beobachtete beobachten ebenfalls. Aber niemand hat den vollständigen Blick auf alles, wir betrachten immer nur Ausschnitte. Und dabei, das sei noch einmal deutlich erwähnt, sind alle Beobachtungen bzw. ihre Ergebnisse Konstruktionen. Sie sind unvollständig und subjektiv, also kritisierbar. Dieser Punkt lässt sich nicht auflösen, was aber auch nicht weiter schlimm ist. Lassen sich Beobachtungen so doch hervorragend für einen konstruktiven Diskurs nutzen.
Meiner Erfahrung nach können Menschen sehr gut Auskunft über das Was geben. Die Fakten und das Fachliche stehen in der Kommunikation miteinander klar im Vordergrund. Die Reflexion auf das Wie darf gerne noch mehr Übung bekommen. Man beginnt am einfachsten mit der Eigenreflexion als Übung zur Beobachtung.
Nehmen Sie sich zehn Minuten Zeit, um den Tag zu reflektieren. Holen Sie eine Situation, in der Sie sich geärgert haben, vor Ihr geistiges Auge. Empfinden Sie den Ärger noch einmal nach und schreiben Sie Ihre Gedanken, Empfindungen und Gefühle auf. Wechseln Sie nun gedanklich in die Position des Beobachters und dissoziieren Sie sich von der Situation. Dazu stellen Sie sich vor, Sie säßen im Kino und schauten die konkrete Situation als einen Kinofilm, der gerade vor Ihnen über die Leinwand flimmert. Was sehen Sie aus der Perspektive des Kinobesuchers? Was ist zu hören? Wie sehen Sie sich agieren? Schreiben Sie auch diese Betrachtung auf. Lesen Sie beide Versionen. Welche Unterschiede gibt es? Was fällt Ihnen auf?
Noch herausfordernder wird Beobachtung im und mit dem Team, denn die Struktur ist etabliert, und »die Menschen ticken so, wie sie eben ticken«. Dazu kommen die blinden Flecken (das, was sie nicht sehen) und die Tabus (das, was sie nicht aussprechen). Meiner Beobachtung nach bleiben deshalb viele Retrospektiven auf der Ebene des Was stecken. Für die Reflexion des Wie finden Sie in Kapitel 2 einige Impulse. Als »Grundlagenkurs« bietet es sich an, immer mal wieder auf die gemeinsame Kommunikation zu schauen.
Während einer Ihrer üblichen Besprechungen, in der eine Situation oder ein Problem erörtert wird, richten Sie Ihr Augenmerk auf die drei Aspekte Beobachtung, Interpretation und Bewertung. Notieren Sie, wenn nötig, was in Ihrer Diskussion in welche Rubrik fällt. Sprechen Sie häufig direkt in Bewertungen? Liefern Sie zu Ihrer Interpretation die jeweiligen Beobachtungen mit? Wofür ist das gut? Was wäre, wenn Sie anders miteinander sprächen?
Beobachtung 2. Ordnung ist das Argument für externe Beratung, denn andere Beobachtende bringen neue Sichtweisen und Blickwinkel mit und wissen durchaus die blinden Flecken zu benennen. Erlauben Sie mir an dieser Stelle einen Hinweis: So nützlich es für eine Organisation sein kann, die andere Perspektive des Beratenden zu hören, ist oft die Diskrepanz zwischen eigener Realität und fremder Perspektive so groß, dass spontane Abwehrreaktionen von Verstummen über Schulterzucken bis zu spontanem »Das geht bei uns eh nicht« zu erwarten sind. Es kann auch gut sein, dass die Beobachtung gesehen, aber noch nicht besprochen werden kann. Eine gute, mitunter vorsichtige Dosierung hilft hier mehr als das Brecheisen.
Wenn wir beobachten, dann bewerten wir auch, und zwar immer. Beobachtung ohne Bewertung gibt es nicht. Dieser Aspekt ist zentral. Zum einen ist Bewerten häufig negativ konnotiert, weil sofort die Bewertung von Menschen assoziiert ist. Zum anderen braucht es intelligente Bewertungsmuster, um gerade in Selbstorganisation absichtsvoll erfolgreich zu sein. In tradierten Unternehmen ist es eine wesentliche Aufgabe der Führungskräfte, Bewertung vorzuleben und vorzugeben. »Wir machen das jetzt so und so« ist nichts anderes als eine Bewertung. Auch das berühmte »Ich habe das mal vorgedacht« ist aktives Vorschlagen eines Bewertungsmusters, auch wenn der Nachsatz »entscheiden sollt ihr aber selbst« lautet. Fallen diese Vorgaben weg, muss ein Team selbstständig gute Bewertungsmuster finden. Ein Aspekt, der bei dem Ruf nach »mehr Selbstorganisation« gerne übersehen wird. Gleichzeitig ist der Punkt, an dem bewertet wird, die Quelle für Konflikte (siehe Kapitel 5).
Nach dem Beobachten kommt das Beschreiben und erst danach die Veränderung. Um ein System verändern zu können, müssen wir zunächst herausfinden, wie das System es schafft, so zu bleiben, wie es ist. Selbstverständlich können wir einfach über »mehr Selbstorganisation« sprechen und uns die Geschichte des eigentlichen Problems und unserer Lösungsidee erzählen. Dabei entsteht jedoch nur selten ein Systemverständnis, weil die Gedanken auf die vermeintliche Lösung gerichtet sind. Vorher sollten wir das System erkannt haben, zu verstehen versucht haben, wie es tickt.
Seit langer Zeit versuche ich, Menschen für die Arbeit mit Wirkungs- und Flussdiagrammen zu begeistern, weil sich damit vernetzte Systeme in ihrer Dynamik darstellen lassen. Und das Beste an ihnen: Man braucht meist nur einen Ausschnitt des Gesamtsystems zu modellieren, um die wichtigsten Einsichten zu gewinnen. An dieser Stelle werde ich mit Ihnen nun einen Superschnellkurs in der Erstellung von Wirkungsdiagrammen machen, damit Sie die Grammatik kennen.
Borgert, Stephanie: Unkompliziert!
Meadows, Donella: Die Grenzen des Denkens
Senge, Peter: Die fünfte Disziplin
Sherwood, Dennis: Einfacher managen
Es geht bei dieser Modellbildung immer darum, die Feedbackschleifen in einem System und seine Dynamiken zu begreifen. Unser Alltag ist voll von diesen Rückkopplungen, wir achten nur meist nicht darauf. Ob wir uns die Schuhe binden, joggen, die Zähne putzen oder ein Butterbrot schmieren, wir bewerkstelligen all das, weil es permanente Feedbackschleifen zwischen unserem Gehirn und den Körperteilen gibt. Feedback ist überall und es sorgt für Regelung. Wir erstellen hier ein simples Modell zum Thema »Kaffeeverbrauch im Büro«. Menschen trinken mitunter enorme Mengen Kaffee im Laufe ihres Arbeitstages. Weil er schmeckt, aber auch, weil er wach macht und die Leistungsfähigkeit steigert. An dieser Stelle widersprechen Sie eventuell und das ist in Ordnung. Es ist ein Modell, nicht die Wahrheit. Nehmen wir für den Moment an, dass es einen (zumindest empfundenen) Zusammenhang zwischen Kaffeekonsum und Leistungsfähigkeit gibt. Die Lesart des entsprechenden Wirkungsdiagramms lautet wie folgt:
Je mehr Kaffeekonsum, desto mehr Leistungsfähigkeit. Der Ursache-Wirkungs-Pfeil zeigt vom Kaffee zur Leistungsfähigkeit. Das Pluszeichen steht für »Je mehr von x, desto mehr y«. Nun stellt sich nach einer Zeit ein Gewöhnungseffekt ein, dem viele Menschen mit »mehr Kaffee« begegnen.
Je mehr Kaffeekonsum, desto mehr Gewöhnung. Je mehr Gewöhnung, desto mehr Kaffeekonsum. Der Doppelstrich auf dem Wirkungspfeil Gewöhnung – Kaffeekonsum steht für eine zeitliche Verzögerung, denn der Körper gewöhnt sich über die Zeit und nicht sofort. Nun ist eine Rückkopplungsschleife oder Feedbackschleife entstanden. Je mehr Kaffeekonsum, desto mehr Gewöhnung. Je mehr Gewöhnung, desto mehr Kaffeekonsum. Sie wirkt eskalierend und das ist eine Dynamik, die Sie alle bestens kennen: Wachstum. Nach diesem kleinen Modell würde es jetzt immer so weitergehen. Das geschieht in der Realität natürlich nicht, es gibt kein unendliches Wachstum.
Betrachten wir also weitere Elemente dieses Systems. Nervosität ist ein Effekt, der bei reichlich Kaffeekonsum häufig auftritt und dafür sorgt, dass der Mensch weniger Kaffee zu sich nimmt.
Je mehr Kaffeekonsum, desto mehr Nervosität (verzögert). Je mehr Nervosität, desto weniger Kaffeekonsum. Das Minuszeichen steht für »Je mehr von x, desto weniger y«. Diese zusätzliche Feedbackschleife wirkt balancierend. Generell gesprochen wirkt sie auf ein Ziel oder einen bestimmten Wert hin. Damit haben wir ein Beispiel für die Arbeit mit Wirkungsdiagrammen konstruiert, das die wichtigsten Erkenntnisse zusammenfasst:
• Unser Alltag ist voll von Feedbackschleifen, wir müssen sie nur erkennen.
• Feedbackschleifen wirken eskalierend oder balancierend, es gibt nur diese zwei Dynamiken.
• Wirkungsdiagramme sind Modelle und nicht die Wahrheit.
Gleichzeitig fehlt ein wichtiger Blickwinkel, denn so betrachten wir das Modell »Kaffeetrinken« rein statisch. Damit entgehen uns wieder wichtige Erkenntnisse über das System. Wollen wir die Dynamiken verstehen, dann brauchen wir den Blick über die Zeit. Wie aber verhält sich das System im zeitlichen Verlauf?
Schauen wir noch einmal auf die erste Feedbackschleife. Um dem Gewöhnungseffekt entgegenzuwirken, wird mehr Kaffee konsumiert. Es entstünde exponentielles Wachstum.
Nun wirkt aber die zweite Rückkopplungsschleife ausgleichend und damit entsteht ein klassisches Systemmuster, Oszillation nämlich.
Kapitel 8