Buch
Eine abgelegene militärische Forschungsstation sendet einen verzweifelten Notruf, der mit einer verwirrenden Forderung endet: Tötet uns alle!
Militärisches Personal der nächstgelegenen Basis dringt in die Forschungsstation ein und stößt nur noch auf Leichen. Doch nicht nur die Wissenschaftler sind tot, sondern jedes Lebewesen innerhalb von 75 Quadratkilometern wurde ausgelöscht: jedes Tier, jede Pflanze, jedes Insekt, selbst Bakterien. Das Land ist völlig steril – und die Zone weitet sich aus!
Um das Unausweichliche zu verhindern müssen Commander Grayson Pierce und die Sigma-Force eine Bedrohung erforschen, deren Ursprung weit in der Vergangenheit liegt – als die Antarktis noch grün war und das Leben an sich auf der Erde noch auf Messers Schneide stand …
Autor
Der New-York-Times-Bestsellerautor James Rollins hat einen Doktorgrad in Tiermedizin. Als begeisterter Höhlenforscher und ebenso eifriger Taucher ist er häufig unter Wasser oder unter der Erde anzutreffen. Er wohnt in den Bergen der Sierra Nevada in Kalifornien, USA.
Von James Rollins bei Blanvalet erschienen:
Sigma-Force:
Der Genesis-Plan, Feuermönche, Sandsturm, Der Judas-Code, Das Messias-Gen, Feuerflut, Mission Ewigkeit, Das Auge Gottes, Projekt Chimera
Die Bruderschaft der Christuskrieger:
Das Evangelium des Blutes, Das Blut des Verräters, Die Apokalypse des Blutes
Außerdem:
Sub Terra, Im Dreieck des Drachen, Das Flammenzeichen, Operation Amazonas, Das Blut des Teufels,
Indiana Jones und das Königreich des Kristallschädels
Besuchen Sie uns auch auf www.facebook.com/blanvalet und www.twitter.com/BlanvaletVerlag
James Rollins
Projekt Chimera
Roman
Aus dem Englischen
von Norbert Stöbe
Die englische Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel »The 6th Extinction« bei William Morrow, New York.
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
1. Auflage
Copyright der Originalausgabe © 2014 by Jim Czajkowski
Published in agreement with the author, c/o Baror International, Inc. Armonk, New York, U.S.A.
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2018 by Blanvalet Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: © Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com (© Paolo Sartorio, © diuno, © andrey polivanov, © Maxim Blinkov, © ssguy, © Michal Zduniak, © Deviney Designs, © Michal Zduniak)
Redaktion: text in form / Gerhard Seidl
HK · Herstellung: sam
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN: 978-3-641-21424-1
V002
www.blanvalet.de
Für David,
der dafür sorgt, dass ich trotz Höhenflügen den Kontakt mit dem Boden nicht verliere … keine leichte Aufgabe!
VORBEMERKUNG ZUM HISTORISCHEN HINTERGRUND
IM LAUF DER Geschichte erfährt das Wissen ein ständiges Auf und Ab. Was gewusst wurde, wird wieder vergessen und scheint manchmal jahrhundertlang verloren, bis es irgendwann neu entdeckt wird.
Vor Jahrtausenden studierten die alten Maya die Bewegungen der Sterne und entwickelten einen Kalender, der für die Dauer von zweitausendfünfhundert Jahren sämtliche Tage erfasste. Dies war eine astronomische Meisterleistung, die viele Jahrhunderte lang unübertroffen blieb. In der Blütezeit des Byzantinischen Reichs änderte sich die Kriegsführung dramatisch mit der Erfindung des Griechischen Feuers, einer Brandwaffe, die mit Wasser nicht gelöscht werden konnte. Das Rezept für das entflammbare Gebräu ging im zehnten Jahrhundert verloren und wurde erst um 1940 herum als Napalm wiederentdeckt.
Weshalb ging dieses Wissen in der Antike verloren? Ein Beispiel datiert aus dem ersten oder zweiten Jahrhundert, als die berühmte Bibliothek von Alexandria niedergebrannt wurde. In der ungefähr 300 v. Chr. in Ägypten gegründeten Bibliothek gab es angeblich über eine Million Schriftrollen, ein Wissensdepot ohne Beispiel. Es zog Gelehrte aus der ganzen bekannten Welt an. Der Grund für die Zerstörung liegt im Dunkeln. Einige geben Julius Cäsar die Schuld, der angeblich den alexandrinischen Hafen in Brand setzen ließ; andere machen marodierende arabische Eroberer verantwortlich. Sicher ist nur, dass die Flammen einen gewaltigen Wissensschatz zerstörten, im Lauf der Zeiten gesammelte Erkenntnisse, die unwiederbringlich verloren gingen.
Manche Geheimnisse aber lassen sich nicht begraben. Dies ist die Geschichte eines der dunklen Geheimnisse, die so gefährlich sind, dass sie nie vollständig vergessen wurden.
VORBEMERKUNG ZUM WISSENSCHAFTLICHEN HINTERGRUND
DAS LEBEN AUF diesem Planeten war schon immer ein Balanceakt – ein kompliziertes Geflecht von Wechselwirkungen, das erstaunlich fragil ist. Entfernt man genügend viele Schlüsselkomponenten oder verändert sie auch nur, franst das Gewebe aus und löst sich auf.
Ein solcher Kollaps – oder ein solches Artensterben – ereignete sich in der geologischen Vergangenheit unseres Planeten fünf Mal. Die erste Katastrophe betraf gegen Ende des Perm Land und Meer und löschte neunzig Prozent aller Spezies aus, was um ein Haar das Ende allen Lebens auf der Erde bedeutet hätte. Die fünfte und bislang letzte Katastrophe ließ die Saurier aussterben, leitete die Ära der Säugetiere ein und veränderte die Welt für immer.
Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, eine solche Katastrophe zu erleben? Einige Wissenschaftler glauben, dass wir bereits bis zum Hals im sechsten Artensterben stecken. Pro Stunde werden drei Spezies ausgelöscht, über ein Jahr dreißigtausend. Am schlimmsten dabei ist, dass die Aussterberate kontinuierlich steigt. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt sind fast die Hälfte aller Amphibien, ein Viertel aller Säugetiere und ein Drittel alle Korallenriffe von der Auslöschung bedroht. Sogar ein Drittel aller Nadelbäume ist gefährdet.
Weshalb ist das so? In der Vergangenheit wurden Artensterben von plötzlichen Klimaveränderungen, Verschiebungen der Plattentektonik oder im Falle der Dinosaurier möglicherweise durch einen Asteroideneinschlag ausgelöst. Die meisten Wissenschaftler glauben, dass die gegenwärtige Krise eine einfachere Erklärung hat: den Menschen. Weil wir die Ökologie missachten und die Umwelt verschmutzen, ist die Menschheit die treibende Kraft hinter dem massenhaften Verlust an Vielfalt. Einem im Mai 2014 veröffentlichten Bericht der Duke University zufolge sterben Spezies inzwischen tausend Mal schneller aus als vor dem Erscheinen des modernen Menschen.
Weniger bekannt ist eine neue Gefahr für das Leben auf der Erde, die aus der fernen Vergangenheit herrührt und das gegenwärtige Artensterben noch weiter zu beschleunigen und uns an den Rand der Apokalypse zu bringen droht.
Diese Bedrohung ist nicht nur real – sie entsteht in diesem Moment in unserem eigenen Hinterhof.
Auslöschung ist die Regel.
Überleben ist die Ausnahme.
Carl Sagan, The Varieties of Scientific Experience (2007)
27. Dezember, 1832
An Bord der HMS Beagle
WIR HÄTTEN DIE Warnung beherzigen sollen …
Charles Darwin schaute auf die mit schwarzer Tinte auf die weißen Seiten seines Tagesbuchs geschriebenen Worte nieder, doch er sah nur Rot. Trotz des kleinen Kanonenofens fröstelte er in der Kälte, die ihm bis ins Mark drang – eine Kälte, die vermutlich nie mehr ganz verschwinden würde. Er sprach lautlos ein Gebet und dachte daran, dass sein Vater ihn gedrängt hatte, ein Theologiestudium zu beginnen, nachdem er die Medizinerausbildung abgebrochen hatte.
Vielleicht hätte ich auf ihn hören sollen.
Stattdessen hatte er der Lockung ferner Küsten und wissenschaftlicher Entdeckungen nachgegeben. Fast auf den Tag genau vor einem Jahr hatte er seine Anstellung als Naturkundler auf der HMS Beagle angetreten. Im zarten Alter von zweiundzwanzig war er bereit gewesen, sich einen Namen zu machen und die Welt kennenzulernen. So war er hier gelandet, und jetzt klebte an seinen Händen Blut.
Er schaute sich in der Kabine um. Als er an Bord gekommen war, hatte man ihm ein Quartier im Kartenraum des Schiffs zugewiesen, ein beengtes Gemach, das beherrscht wurde von dem großen Tisch in der Mitte, der vom Besanmast durchstoßen wurde. Er nutzte jeden freien Winkel – Schränke, Bücherregale, sogar das Waschbecken – als Arbeitsfläche und provisorisches Museum für die gesammelten Artefakte und Proben. Er hatte Knochen und Fossilien zusammengetragen, Zähne und Muscheln, sogar konservierte Exemplare ungewöhnlicher Schlangen, Eidechsen und Vögel. Neben seinem Ellbogen lag ein Brett mit aufgespießten Käfern von enormer Größe, mit Hörnern, die an das afrikanische Nashorn erinnerten. Neben dem Tintenfass waren Gläser mit getrockneten Pflanzen und Samen aufgereiht.
Hilflos ließ er den Blick über seine Sammlung schweifen – der fantasielose Captain FitzRoy bezeichnete sie als nutzlosen Plunder.
Vielleicht hätte ich das alles nach England schicken sollen, bevor die Beagle von Feuerland aufgebrochen ist …
Bedauerlicherweise war er wie der Rest der Besatzung zu sehr von den Erzählungen der Wilden des Archipels, den eingeborenen Feuerländern des Yaghanstamms, in Anspruch genommen gewesen. Die Legenden der Stammesleute handelten von Ungeheuern, Göttern und Wundern, die jede Vorstellung sprengten. Diese Erzählungen hatten die Beagle in die Irre und um die Spitze von Südamerika herumgeführt, über das aufgewühlte Meer bis zu dieser erstarrten Einöde am Ende der Welt.
»Terra Australis Incognita«, murmelte er vor sich hin.
Das berüchtigte Unbekannte Südland.
Er zog eine Landkarte aus dem Durcheinander auf seinem Schreibtisch hervor. Vor neun Tagen, kurz nach dem Erreichen von Feuerland, hatte Captain FitzRoy ihm diese französische Karte aus dem Jahr 1583 gezeigt.
Es handelte sich um eine Darstellung des unerforschten Kontinents am Südpol der Erdkugel. Die Karte war offensichtlich ungenau und berücksichtigte nicht die Tatsache, dass Sir Francis Drake, ein Zeitgenosse des Kartografen, bereits das Eismeer entdeckt hatte, das Südamerika von diesem unbekannten Land trennte. Obwohl man die Karte schon vor zweihundert Jahren gezeichnet hatte, war dieser unbewohnbare Kontinent noch immer ein Geheimnis. Nicht einmal der exakte Küstenverlauf war bekannt.
War es da verwunderlich, dass ihre Fantasie entflammte, als einer der Feuerländer, ein knochiger alter Mann, der Besatzung der soeben eingetroffenen Beagle ein erstaunliches Geschenk machte? Das Schiff hatte in der Nähe der Wulaiabucht geankert, wo der gute Reverend Richard Matthews in seiner Mission viele Wilde bekehrt hatte und sie in den Grundlagen des Englischen unterrichtete. Der alte Mann, der ihnen das Geschenk überreichte, war der Sprache des Königs nicht mächtig, doch es bedurfte auch keiner Erläuterung.
Die primitive Landkarte, gezeichnet auf einem Stück gebleichter Seehundhaut, stellte die Küste des südlich gelegenen Kontinents dar. Das allein war schon reizvoll genug, doch die Geschichten, welche die Übergabe begleiteten, steigerten ihr Interesse noch mehr.
Einer der Feuerländer – der getauft war und den anglisierten Namen Jemmy Button trug – erläuterte ihnen die Geschichte der Yaghan. Er behauptete, die Stämme lebten hier schon seit siebentausend Jahren, eine erstaunliche Zeitspanne, die ungläubiges Staunen hervorrief. Des Weiteren hob er die nautischen Fähigkeiten seines Volkes hervor, was schon eher glaubhaft schien, da Charles in der Bucht mehrere ihrer größeren Segelschiffe gesehen hatte. Sie waren zwar von primitiver Bauart, aber durchaus seegängig.
Jemmy erklärte, die Karte sei das Ergebnis der mehrtausendjährigen Erkundung des großen Kontinents im Süden, und sie werde von Generation zu Generation weitergereicht und immer wieder verbessert, wenn neue Erkenntnisse über das geheimnisvolle Land hinzukämen. Außerdem erzählte er von großen Tieren und außergewöhnlichen Schätzen, von brennenden Bergen und unendlich viel Eis.
Seine erstaunlichste Behauptung tönte in Charles’ Kopf wider. Er hatte sie in sein Tagebuch eingetragen, und jetzt vernahm er Jemmys Stimme: Zu einer Zeit, die längst den Schatten anheimgefallen ist, hatte sich das Eis von den Tälern und Bergen zurückgezogen – so berichteten unsere Ahnen. Es gab große Wälder und viel jagdbares Wild, doch in der dunklen Tiefe spukten Dämonen, welche die Herzen der Unvorsichtigen verzehrten …
Ein gellender Schrei ertönte an Deck und erschreckte Charles so sehr, dass er Tinte auf der Seite verschmierte. Er verkniff sich einen Fluch, denn die Angst des Rufers war nicht zu überhören gewesen, und erhob sich.
Offenbar waren die letzten Seeleute von der schrecklichen Küste zurückgekehrt.
Er ließ Tagebuch und Feder liegen, stürzte zur Kabinentür und eilte den kurzen Gang entlang und den Niedergang hoch.
»Vorsichtig!«, knurrte FitzRoy. Der Captain stand an der Steuerbordreling; sein Rock war aufgeknöpft, die Wangen über dem angegrauten Bart waren gerötet.
Charles trat aufs Mitteldeck hinaus und blinzelte in die Mittsommersonne. Die bitterkalte Luft schmerzte in Nase und Lunge. Eisnebel hing über dem schwarzen Wasser rund um das vor Anker liegende Schiff, Reling und Segel waren eisverkrustet. Der Atem der Besatzungsmitglieder, die dem Befehl ihres Captains Folge leisteten, dampfte.
Charles eilte nach Steuerbord und half den anderen, ein Besatzungsmitglied von einem Walboot hochzuhieven, das mittschiffs angelegt hatte. Der Verletzte war von Kopf bis Fuß in Segeltuch eingewickelt und wurde an Tauen hochgezogen. Er stöhnte laut. Charles half mit, den armen Kerl über die Reling zu heben und aufs Deck zu legen.
Es war Robert Rensfry, der Bootsmann.
FitzRoy rief nach dem Schiffsarzt, doch der Doktor war unter Deck und kümmerte sich gerade um die beiden Rückkehrer des ersten Landausflugs. Beide würden den nächsten Sonnenaufgang nicht mehr erleben, denn sie hatten furchtbare Verletzungen davongetragen.
Was aber war mit diesem Mann?
Charles kniete neben dem Verletzten nieder. Weitere Seeleute kletterten an Bord. Der letzte war Jemmy Button, aschfahl und aufgebracht. Der Feuerländer hatte sie davor gewarnt hierherzukommen, doch man hatte seine Ängste als Aberglaube abgetan.
»Habt ihr es geschafft?«, fragte FitzRoy seinen Stellvertreter, als er Jemmy an Bord half.
»Aye, Captain. Wir haben alle drei Schwarzpulverfässer am Eingang deponiert.«
»Gut gemacht. Sobald das Walboot gesichert ist, wenden wir die Beagle. Backbordkanonen bereit machen.« FitzRoy richtete den Blick besorgt auf den Verletzten, der vor Charles auf den Decksplanken lag. »Wo bleibt nur der verfluchte Bynoe?«
Wie aufs Stichwort trat Benjamin Bynoe, der hagere Schiffsarzt, aus dem Niedergang und kam herbeigeeilt. Seine Arme waren bis zu den Ellbogen blutverschmiert, auch seine Schürze war beschmutzt.
Charles bemerkte den stummen Blickwechsel zwischen Captain und Arzt. Der Doktor schüttelte zwei Mal den Kopf.
Die anderen beiden Männer waren offenbar gestorben.
Charles richtete sich auf und machte Platz.
»Auspacken!«, befahl Bynoe. »Ich will mir seine Verletzungen ansehen!«
Charles trat an die Reling und stellte sich neben FitzRoy. Der Captain blickte schweigend durchs Fernrohr Richtung Land. Als das Stöhnen des Verletzten lauter wurde, reichte er es Charles.
Er setzte das Fernrohr ans Auge und stellte es auf die Küste scharf. Bläuliche Eiswände rahmten die schmale Bucht ein, in der sie geankert hatten. Dichter Nebel verdeckte die Sicht aufs Ufer, doch es war nicht der Eisnebel, der über dem Meer hing und die umliegenden Eisberge einhüllte. Es war Schwefeldampf, der Brodem der Hölle, der einem Land entstieg, das ebenso wundersam wie monströs war.
Ein Windstoß klärte vorübergehend die Sicht auf einen Schwall von Blut, das von einer Eisklippe herabstürzte. Es teilte sich in mehrere Bäche und Rinnsale auf, die aussahen, als sickerten sie aus der dämonischen Tiefe hervor.
Charles wusste, das war kein Blut, sondern Wasser, das von verschiedenen Stoffen und Mineralien in den Tunneln rot gefärbt wurde.
Trotzdem hätten wir die Warnung beherzigen sollen, dachte er. Wir hätten den unterirdischen Gang nie betreten dürfen.
Er richtete das Fernrohr auf die Höhlenmündung und die drei ölgetränkten Fässer. Trotz all des Grauens, das einem den Verstand zu rauben drohte, war er nach wie vor ein Mann der Wissenschaft, ein Wahrheitssucher, und wenngleich er sich gegen das, was ihnen drohte, hätte auflehnen sollen, hielt er den Mund.
Jemmy trat zu ihnen und flüsterte in seiner Muttersprache heidnische Beschwörungen. Der bekehrte Wilde reichte dem Engländer nur bis an die Brust, doch seine Willenskraft strafte seiner geringen Größe Lügen. Der Feuerländer hatte wiederholt versucht, die Besatzung zu warnen, doch niemand wollte auf ihn hören. Trotzdem hatte der treu ergebene Eingeborene die leichtsinnigen Briten in ihr Verderben begleitet.
Charles legte die Finger um die auf der Reling ruhende dunkle Hand des Mannes. Ihre Hybris und Gier hatten nicht nur unter der Besatzung Opfer gefordert, sondern auch unter Jemmys Stammesgenossen.
Wir hätten niemals hierherkommen dürfen.
Und doch hatten sie es leichtsinnigerweise getan – waren, von den wilden Geschichten über den unbekannten Kontinent verleitet, von der geplanten Route abgewichen und hatten sich nach Süden locken lassen. Die größte Versuchung aber war von einem Symbol ausgegangen, das sie auf der alten Landkarte der Feuerländer vorgefunden hatten. Die Bucht war mit mehreren Bäumen markiert, dem Versprechen von Leben. In der Absicht, den geheimen Garten an dieser Eisküste zu erkunden und das jungfräuliche Land für die Krone zu reklamieren, hatte die Beagle darauf Kurs genommen.
Zu spät hatten sie die wahre Bedeutung der Markierung begriffen. Am Ende war die ganze Unternehmung in Grauen und Blutvergießen gemündet, eine Reise, die mit aller Einverständnis aus den Aufzeichnungen getilgt werden würde.
Niemand darf je hierher zurückkehren.
Und für den Fall, dass es doch jemand tat, wollte der Captain dafür sorgen, dass er nichts vorfinden würde. Das, was hier verborgen war, durfte nicht hinaus in die Welt.
Als der Anker eingeholt war, begann das Schiff, sich langsam zu drehen. Das Rigg knackte laut, von den Segeln ging ein Eisschauer nieder. FitzRoy hatte sich bereits entfernt, um nach den Kanonen zu sehen. Die HMS Beagle gehörte zur Königlichen Marine und war eine Slup der Cherokee-Klasse, ursprünglich ausgestattet mit zehn Kanonen. Zwar hatte man das Kriegsschiff zum Expeditionsschiff umgebaut, doch es verfügte noch immer über sechs Kanonen.
Ein Schrei lenkte Charles’ Aufmerksamkeit zurück an Deck, zu dem Mann, der sich auf dem Segeltuch wand.
»Haltet ihn fest!«, rief der Schiffsarzt.
Charles ging hinüber, packte Rensfry bei der Schulter und drückte ihn nieder. Dabei machte er den Fehler, dem Bootsmann in die Augen zu sehen. Schmerz und Flehen lagen darin.
Der Mann bewegte die Lippen. »… macht das raus …«
Der Arzt hatte Rensfrys schwere Jacke geöffnet und schnitt ihm mit dem Messer das Hemd auf. Sein Bauch war blutverschmiert, die Wunde faustgroß. Plötzlich lief eine Art Wellenbewegung durch den Bauch, wie von einer im Sand vergrabenen Schlange.
Rensfry bäumte sich auf und krümmte gequält den Rücken. Ein gepresster Schrei kam aus seinem Mund. Er wiederholte seine Bitte.
»Macht das raus!«
Bynoe zögerte nicht. Er schob die Hand in die Wunde, hinein in den dampfenden Bauch. Der Arm verschwand bis zum Unterarm darin. Trotz der Eiseskälte rollten dem Arzt Schweißtropfen übers Gesicht. Den Arm bis zum Ellbogen in der Wunde versenkt, suchte er umher.
Ein lauter Knall ließ das Schiff erzittern. Noch mehr Raureif regnete auf sie herab.
Dann ein zweiter und ein dritter Knall.
Aus der Ferne, vom Ufer her, ertönte eine noch lautere Antwort.
An beiden Seiten brachen gewaltige Eiswände vom Ufer ab und stürzten ins Meer. Gleichwohl setzten die Bordkanonen ihr Zerstörungswerk fort und feuerten Kartätschen und Kanonenkugeln ab.
Captain FitzRoy wollte kein Risiko eingehen.
»Zu spät«, sagte Bynoe schließlich und zog den Arm aus der Wunde. »Wir sind zu spät gekommen.«
Erst jetzt bemerkte Charles, dass der Bootsmann, den er festhielt, sich nicht mehr regte. Mit toten Augen blickte er in den blauen Himmel auf.
Er setzte sich aufs Deck und rief sich Jemmys Worte über den verfluchten Kontinent in Erinnerung: In der dunklen Tiefe spukten Dämonen, welche die Herzen der Lebenden verzehrten …
»Was sollen wir mit dem Toten machen?«, fragte einer der Seeleute.
Bynoe schaute zur Reling, zum aufgewühlten Eismeer. »Bestattet ihn darin, zusammen mit dem, was sich in ihm befindet.«
Charles hatte genug gesehen. Während das Schiff auf den Wellen schaukelte und die Kanonen donnerten, trat er zurück, als die anderen Rensfrys Leichnam hochhoben. Feige schlich er in seine Kabine, ohne der Wasserbestattung des Bootsmanns beizuwohnen.
Das Feuer im kleinen Ofen war fast erloschen, doch nach der Eiseskälte im Freien fand er es in der Kabine trotzdem stickig. Er ging zum Schreibtisch, riss die Seiten, an denen er gearbeitet hatte, aus dem Tagebuch und warf sie in die Glut. Er schaute zu, wie das Papier sich kräuselte, schwarz färbte und zu Asche wurde.
Erst dann trat er vor den Kartentisch, auf dem noch die Landkarten ausgebreitet waren – darunter auch die alte Karte der Feuerländer. Er nahm sie in die Hand und blickte auf die verfluchten Bäume, mit denen die Bucht markiert war. Sein Blick wanderte zu den Flammen, die frisch aufgelodert waren.
Er tat einen Schritt auf den Ofen zu, dann hielt er inne.
Mit kalten Fingern rollte er die Landkarte zusammen und drückte sie mit beiden Fäusten platt.
Ich bin immer noch Wissenschaftler.
Mit schwerem Herzen wandte er sich vom Feuer ab und versteckte die Karte zwischen seinen persönlichen Habseligkeiten. Ein ganz unwissenschaftlicher Gedanke kam ihm in den Sinn.
Gott steh mir bei …
TEIL 1
DUNKLE GENESIS
1
27. April, 18:55 PDT
Mono Lake, Kalifornien
»DAS SIEHT JA hier aus wie auf dem Mars.«
Jenna Beck lächelte, als sie diese häufig geäußerte Beschreibung des Mono Lake aus dem Mund eines weiteren Touristen vernahm. Während die letzte Besuchergruppe des Tages noch ein paar Fotos machte, wartete sie neben ihrem weißen Ford-Pick-up F-150, auf dessen Türen der Stern der Ranger des California State Park prangte.
Sie drückte sich die steife Hutkrempe in die Stirn und schaute Richtung Sonne. In einer Stunde würde es dunkel werden, und das schräg einfallende Licht verwandelte den See in einen in Blau- und Grüntönen schimmernden Spiegel. Große Stalagmiten aus zerklüftetem Kalkstein, Tufa genannt, breiteten sich wie ein versteinerter Wald am Südufer des Sees bis ins Wasser hinein aus.
Das Ganze wirkte schon sehr fremdartig – doch der Vergleich mit dem Mars traf es nicht. Sie klatschte sich mit der Hand auf den Arm und zerquetschte eine Mücke, die bewies, dass es in der öden Schönheit des Talkessels noch Leben gab.
Auf das Klatschen hin blickte die andere Fremdenführerin – eine ältere Frau namens Hattie – in ihre Richtung und lächelte mitfühlend, fasste es aber auch als Hinweis auf, ihren Vortrag zu beschleunigen. Hattie war eine eingeborene Kutzadika’a, die dem Volk der nördlichen Paiute angehörten. Sie war Mitte siebzig und wusste mehr über den See und seine Geschichte als jeder andere im Becken.
»Der See«, fuhr Hattie fort, »ist angeblich siebenhundertsechzigtausend Jahre alt, doch einige Wissenschaftler halten es auch für möglich, dass er schon vor drei Millionen Jahren entstanden ist. Damit wäre er einer der ältesten Seen der Vereinigten Staaten. Seine Fläche beträgt hundertachtzig Quadratkilometer, die Tiefe aber nur etwa dreißig Meter. Gespeist wird er von einer Handvoll Bächen und Flüssen, besitzt aber keinen Abfluss und verliert Wasser nur durch die Verdunstung an heißen Sommertagen. Deshalb ist der Salzgehalt drei Mal so hoch wie der des Meeres, und der pH-Wert liegt bei zehn. Damit ist er so alkalisch wie Lauge.«
Ein spanischer Tourist schnitt eine Grimasse und fragte in stockendem Englisch: »Gibt es in dem lago … dem See auch Leben?«
»Keine Fische, falls Sie das meinen, aber Leben gibt es.« Hattie deutete auf Jenna, denn das war ihr Spezialgebiet.
Jenna räusperte sich und schritt durch die Gruppe der Touristen; die Hälfte waren Amerikaner, die anderen kamen aus Europa. Gelegen zwischen dem Yosemite-Nationalpark und den Geisterstädten des historischen Bodie-Nationalparks, lockte der See eine erstaunliche Anzahl von Besuchern an.
»Das Leben findet immer einen Weg, Umweltnischen zu besetzen«, setzte Jenna an. »Der Mono Lake stellt da keine Ausnahme dar. Trotz des lebensfeindlichen hohen Gehalts an Chloriden, Sulfaten und Arsen besitzt er ein komplexes Ökosystem, das wir durch Naturschutzmaßnahmen zu erhalten suchen.«
Jenna kniete am Ufer nieder. »Das Leben im See beginnt mit der Winterblüte einer einzigartigen laugenresistenten Alge. Wäre es jetzt März, würde Ihnen der See wie grüne Erbsensuppe vorkommen.«
»Weshalb ist er jetzt nicht grün?«, fragte ein junger Mann, der seiner Tochter die Hand auf die Schulter gelegt hatte.
»Das liegt an den kleinen Laugengarnelen, die hier leben. Sie sind kaum größer als ein Reiskorn und fressen sämtliche Algen. Dann dienen die Garnelen dem am weitesten verbreiteten Jäger des Sees als Nahrung.«
Im Knien schwenkte sie den Arm über den Boden und scheuchte eine Wolke von Kriebelmücken auf. Sie sirrten empört.
»Gruselig«, sagte ein mürrischer Teenager mit gerötetem Gesicht, der dennoch näher trat, um besser sehen zu können.
»Keine Sorge. Die beißen nicht.« Jenna winkte einen acht- oder neunjährigen Jungen zu sich heran. »Aber sie sind einfallsreiche kleine Jäger. Schau mal.«
Der Junge kam ängstlich näher, gefolgt von seinen Eltern und den anderen Touristen. Jenna klopfte neben sich auf den Boden, und als der Junge sich hingehockt hatte, zeigte sie auf das seichte Wasser. Zahlreiche Mücken wuselten darin umher, eingeschlossen in kleine, silbrige Luftblasen.
»Das sieht so aus, als würden sie tauchen!«, sagte der Junge und grinste breit.
Jenna lächelte, erfreut über das kindliche Erstaunen angesichts dieses kleinen Naturwunders. Das war einer der schönsten Aspekte ihres Berufs: Freude bereiten und Menschen zum Staunen bringen.
»Wie gesagt, das sind einfallsreiche kleine Jäger.« Sie richtete sich auf und machte den anderen Touristen Platz. »Und die Laugengarnelen und Kriebelmücken ernähren wiederum Hunderttausende von Schwalben, Tauchern und Seemöwen, die sich hier angesiedelt haben.« Sie zeigte am Ufer entlang. »Und wenn Sie dorthin schauen, können Sie an der großen Tufa sogar ein Fischadlernest erkennen.«
Als sie zurücktrat, wurde geknipst.
Sie hätte sich noch weiter über die miteinander verwobenen Lebensgemeinschaften des Mono Lake auslassen können. Sie hatte gerade mal an der Oberfläche des außergewöhnlichen Ökosystems des Laugensees gekratzt. Hier gab es alle möglichen seltsamen Spezies und Anpassungen, besonders im Schlamm am Grund des Sees, wo exotische Bakterien unter Bedingungen lebten, die jeder Logik spotteten, in einer giftigen, sauerstofflosen Umgebung, in der es eigentlich kein Leben hätte geben dürfen.
Und doch gab es welches.
Das Leben findet immer einen Weg.
Das war zwar ein Zitat aus Jurassic Park, doch ihr Biologieprofessor an der California Polytechnic State University hatte ihr den gleichen Gedanken eingeimpft. Eigentlich hatte sie den Doktor in Ökologie machen wollen, doch die Arbeit im Park, wo sie aktiv dazu beitragen konnte, das fragile Gewebe des Lebens zu erhalten, das von Jahr zu Jahr immer weiter ausfranste, hatte sie mehr gereizt.
Sie ging zu ihrem Pick-up zurück und wartete auf das Ende der Tour. Hattie würde die Gruppe mit dem Bus nach Lee Vining bringen, und Jenna würde ihr mit dem Wagen folgen. Sie freute sich bereits auf die Spareribs, die im Diner Bodie Mike’s serviert wurden. Durch das offene Wagenfenster leckte ihr eine feuchte Zunge über den Hals. Sie langte hinter sich und kraulte Nikko hinter dem Ohr. Offenbar war sie nicht die Einzige, die Hunger hatte.
»Wir sind hier gleich fertig, Nikko.«
Der klopfende Schwanz gab ihr Antwort. Der vier Jahre alte Sibirische Husky war ihr ständiger Begleiter, ein ausgebildeter Rettungshund. Er streckte die Nase aus dem Fenster, legte ihr den Kopf auf die Schulter und seufzte schwer. Seine Augen – das eine weißblau, das andere nachdenklich braun – waren sehnsuchtsvoll auf die Berge gerichtet. Hattie hatte ihr einmal gesagt, einer Eingeborenenlegende zufolge könnten Hunde mit verschiedenfarbigen Augen Himmel und Erde gleichzeitig sehen.
Ob das stimmte oder nicht, im Moment wirkte Nikkos Blick eher erdverbunden. Als ein Kaninchen über einen mit verdorrtem Gebüsch bestandenen nahen Hang sauste, sprang er auf.
Sie lächelte, als das Kaninchen im Schatten verschwand.
»Ein andermal, Nikko. Beim nächsten Mal erwischst du es.«
Der Husky war zwar ein ausgebildeter Arbeitshund, aber immer noch ein Hund.
Hattie sammelte die Touristen ein und geleitete sie zum Bus. Unterwegs las sie ein paar Nachzügler auf.
»Und die Indianer haben die Mückenlarven tatsächlich gegessen?«, fragte der rothaarige Teenager.
»Wir haben sie Kutsavi genannt. Frauen und Kinder haben die Puppen von den Steinen aufgelesen, in Webkörben gesammelt und später geröstet. Sie gelten immer noch als Spezialität, eine ganz besondere Leckerei.«
Hattie zwinkerte Jenna im Vorbeigehen zu.
Jenna verkniff sich ein Grinsen, als der Junge angewidert das Gesicht verzog. Diese Information zur Verflechtung des Lebens mitzuteilen hatte sie Hattie überlassen.
Während die Touristen in den Bus stiegen, öffnete Jenna die Wagentür und kletterte hinein. Als sie saß, quäkte das Funkgerät.
Nanu?
Sie nahm das Gerät aus der Halterung. »Was gibt es, Bill?«
Bill Howard war der Disponent und ein enger Freund. Bill war Mitte sechzig und hatte sie unter seine Fittiche genommen, als sie im Park angefangen hatte. Das war drei Jahre her. Inzwischen war sie vierundzwanzig und hatte in ihrer Freizeit den Bachelor in Umweltwissenschaften gemacht. Sie waren unterbesetzt und überarbeitet, doch in den drei Jahren hatte sie die Stimmungen des Sees, der Tiere und sogar die ihrer Kollegen lieben gelernt.
»Das weiß ich nicht genau, Jen, aber ich hatte gehofft, du könntest mal eben nach Norden fahren. Ein unvollständiger Notruf wurde an uns weitergeleitet.«
»Erzähl mir mehr.« Die Ranger schützten nicht nur den Park, sondern waren auch vereidigte Polizeibeamte. Ihre Aufgaben umspannten ein weites Feld, angefangen von Verbrechensermittlung bis zur medizinischen Notversorgung.
»Der Anruf kam von außerhalb von Bodie«, erklärte Bill.
Sie runzelte die Stirn. Außerhalb von Bodie gab es nichts, bloß eine Handvoll alte Goldgräberstädte und ein paar aufgegebene Bergwerke. Das hieß, abgesehen von …
»Er kam von der militärischen Forschungseinrichtung«, bestätigte Bill.
Scheiße.
»Worum ging’s?«, fragte sie.
»Ich habe mir die Aufzeichnung angehört. Zu hören war nur Geschrei. Keine einzelnen Worte. Dann brach der Anruf ab.«
»Das kann alles Mögliche bedeuten.«
»So ist es. Vielleicht wurde der Anruf zufällig ausgelöst, aber es sollte doch jemand vorbeischauen und mal nachfragen.«
»Und derjenige bin dann wohl ich.«
»Tony und Kate sind draußen am Yosemite, da gab’s eine Beschwerde wegen ungebührlichen Verhaltens aufgrund von Trunkenheit.«
»In Ordnung, Bill. Ich mach das. Ich melde mich, sobald ich das Tor erreicht habe. Gib mir Bescheid, wenn du mehr erfährst.«
Der Disponent bestätigte und unterbrach die Verbindung.
Jenna wandte sich an Nikko. »Die Rippchen müssen wohl noch warten, großer Bursche.«
19:24
»Beeilung!«
Vier Stockwerke unter der Erde stürmte Dr. Kendall Hess die Treppe hoch, auf den Fersen gefolgt von seiner Systemanalytikerin Irene McIntire. Auf jedem Treppenabsatz blinkten rote Warnleuchten. Eine Sirene gellte.
»Ebene vier und fünf haben wir verloren«, keuchte sie hinter ihm. Auf ihrem tragbaren Biomessgerät behielt sie die Gefahrenlage im Auge.
Die Schreie, die sie verfolgten, waren eigentlich Warnung genug.
»Es ist bestimmt schon in den Atemwegen«, sagte Irene.
»Wie konnte das passieren?«
Seine Frage war rhetorisch gemeint, doch Irene beantwortete sie trotzdem.
»Das ist eigentlich ausgeschlossen, solange kein schwerwiegender Fehler im Labor vorkommt. Aber das habe ich überprüft …«
»Das war kein Laborfehler«, sagte er schärfer als beabsichtigt.
Er ahnte den eigentlichen Grund.
Sabotage.
Zu viele Firewalls – elektronischer und biologischer Natur – hatten versagt. Da musste Absicht dahinterstecken. Jemand hatte das Sicherheitsleck absichtlich hervorgerufen.
»Was sollen wir tun?«, fragte Irene flehentlich.
Es gab nur noch eine Möglichkeit, eine letzte Sicherheitsinstanz: die Bekämpfung des Feuers mit Feuer. Möglicherweise aber würde das mehr Schaden als Nutzen anrichten. Als er einen Moment lang den gedämpften Schreien lauschte, die aus der Tiefe aufstiegen, traf er eine Entscheidung.
Sie hatten die oberste Ebene erreicht. Da sie nicht wussten, was sie erwartete, und weil er Sabotage für wahrscheinlich hielt, fasste er Irene beim Ellbogen und hielt inne. Auf ihrem Handrücken und am Hals bildeten sich bereits Blasen.
»Sie müssen zum Funkgerät gehen. Setzen Sie einen Notruf ab. Für den Fall, dass ich scheitere.«
Oder falls ich die Nerven verliere, Gott steh mir bei.
Sie nickte, versuchte, ihrer Panik Herr zu werden. Was er von ihr verlangte, würde vermutlich ihren Tod zur Folge haben. »Ich werd’s versuchen«, sagte sie mit angstvollem Blick.
Voller Bedauern riss er die Tür auf und versetzte ihr einen Schubs in Richtung Funkraum. »Laufen Sie!«
19:43
Der Wagen bog rumpelnd von der geteerten Straße auf die Schotterpiste ab.
Jenna fuhr schnell und brauchte weniger als zwanzig Minuten für die Strecke vom Mono Lake bis zu dem in einer Höhe von zweitausendvierhundert Metern gelegenen Bodie-Nationalpark. Doch sie wollte nicht zum historischen Park. Ihr Ziel lag noch höher und abgelegener.
Während die Sonne hinter dem Horizont versank, bretterte sie über die dunkle Piste. Kiesel ratterten gegen die Radkästen. Nur wenige Menschen außer den Polizeikräften wussten von der militärischen Forschungsstation. Sie war in kurzer Zeit und unter strenger Geheimhaltung errichtet worden. Das Baumaterial und die Arbeitskräfte hatte man mit Militärhubschraubern herangeschafft, sämtliche Baumaßnahmen waren von Rüstungsfirmen durchgeführt worden.
Trotzdem waren einige Informationen durchgesickert.
Die Einrichtung gehörte zum U. S. Development Test Command, einer Erprobungseinrichtung für militärische Güter, und stand irgendwie mit den Dugway Proving Grounds in Verbindung. Sie hatte die Einrichtung gegoogelt, und was da zu finden war, hatte ihr nicht gefallen. Dugway war zuständig für die Erprobung nuklearer, chemischer und biologischer Waffen. In den Sechzigern des zwanzigsten Jahrhunderts waren Tausende Schafe im näheren Umkreis verendet, nachdem Nervengas ausgetreten war. Seitdem dehnte sich die Einrichtung immer weiter aus. Inzwischen nahm sie eine Fläche von fast viertausend Quadratkilometern ein und war damit doppelt so groß wie Los Angeles.
Weshalb haben sie dann diese neue Einrichtung hier im Nirgendwo gebaut?
Natürlich kursierten Gerüchte. Angeblich nutzten die Militärwissenschaftler die verlassenen Bergwerke, weil es zu gefährlich gewesen wäre, ihre Forschungen in der Nähe einer Großstadt wie Salt Lake City durchzuführen. Es gab auch noch wildere Theorien, wonach hier geheime extraterrestrische Studien durchgeführt wurden – vielleicht deshalb, weil Area 51 inzwischen zur Touristenattraktion geworden war.
Bedauerlicherweise erhielt diese Mutmaßung Nahrung, als eine Gruppe von Wissenschaftlern zum Mono Lake reiste und Proben am Grund des Sees entnahm. Der Gruppe gehörten Astrobiologen der NASA-Abteilung für Raumfahrtwissenschaft und Technologie an.
Wonach sie suchten, war jedoch alles andere als extraterrestrisch gewesen. Vielmehr ausgesprochen terrestrisch. Jenna hatte im Bodie Mike’s eine kurze Unterhaltung mit Dr. Kendall Hess geführt, einem herzlichen, grauhaarigen Biologen. Offenbar kehrte jeder Besucher des Mono Lake mindestens einmal in dem Diner ein. Bei einer Tasse Kaffee erzählte er ihr, die Forschergruppe interessiere sich für Extremophile, jene seltenen Bakterien, die in einer toxischen, lebensfeindlichen Umgebung lebten.
Diese Untersuchungen dienen dazu, die Bedingungen für die Entstehung von Leben auf fremden Welten zu erforschen, hatte er erklärt.
Allerdings hatte sie gespürt, dass er etwas zurückhielt. In seiner Miene hatten sich Vorsicht und Erregung widergespiegelt.
Andererseits war dies nicht die erste geheime Militärstation am Mono Lake. Im Kalten Krieg hatte die Regierung in der Gegend mehrere Einrichtungen für die Waffenerprobung errichtet und verschiedene Forschungsprojekte durchgeführt. Der berühmteste Strand des Sees – Navy Beach – war nach einer Anlage an dessen Südufer benannt.
Was machte ein Geheimlabor mehr da schon aus?
Nachdem sie sich noch ein paar Minuten lang hatte durchrütteln lassen, bemerkte sie einen Zaun, der sich über die Hänge zog. Kurz darauf schwenkten die Scheinwerfer über ein verwittertes, von Kugeln durchsiebtes Schild am Straßenrand.
SACKGASSE
ZUTRITT VERBOTEN
REGIERUNGSEIGENTUM
An dieser Stelle versperrte normalerweise ein Tor die Durchfahrt, doch jetzt stand es offen. Sie bremste argwöhnisch ab und hielt an. Die Sonne war inzwischen hinter den Bergen verschwunden, und Zwielicht hüllte die wogenden Wiesen ein.
»Was meinst du, Nikko? Wenn sie das Tor offen lassen, kann von unbefugtem Zutritt doch keine Rede sein, oder?«
Nikko legte den Kopf schief, die Ohren fragend aufgestellt.
Sie nahm das Funkgerät in die Hand und funkte die Parkverwaltung an. »Bill, ich bin jetzt am Tor.«
»Gibt es Probleme?«
»Kann ich von hier aus nicht erkennen. Aber jemand hat das Tor offen gelassen. Was soll ich tun, was meinst du?«
»In der Zwischenzeit habe ich ein paar Anrufe bei militärischen Einrichtungen gemacht. Zurückgerufen hat niemand.«
»Dann bin ich also auf mich allein gestellt.«
»Wir haben keine Befugnis …«
»Tut mir leid.« Sie drehte den Frequenzschalter hin und her. »Ich versteh dich nicht, Bill.«
Sie schaltete das Gerät ab und drückte es in die Halterung.
»Was ich sagen wollte … wir haben den ganzen weiten Weg zurückgelegt, nicht wahr, Nikko?«
Dann wollen wir mal sehen, was die ganze Aufregung soll.
Sie fuhr los und näherte sich einer Ansammlung beleuchteter Gebäude auf der nächsten Erhebung. Es gab ein paar Wellblechhütten und hastig errichtete Betonbunker. Vermutlich waren die Gebäude nur die Spitze der unterirdischen Pyramide, zumal die Dächer mit Satellitenschüsseln und Antennen gespickt waren.
Nikko knurrte leise, als ein gedämpftes Knattern hörbar wurde.
Sie bremste und schaltete instinktiv die Scheinwerfer aus, denn sie vertraute ihrer eigenen Intuition ebenso sehr wie der ihres Hundes.
Hinter den Wellblechhütten gelangte ein kleiner schwarzer Helikopter in Sicht, der so hoch stieg, dass er die letzten Sonnenstrahlen auffing. Sie hielt den Atem an und hoffte, dass die Besatzung von der Sonne zu sehr geblendet würde, um sie im Schatten auszumachen. Was ihr die Nackenhaare sträubte, war der Umstand, dass der Vogel keinerlei Kennzeichnung aufwies. Er war raubvogelhaft schlank und sah nicht nach Militär aus.
Als der Helikopter sich entfernte, über die Hügel schwenkte und davonflog, atmete sie auf.
Das Krächzen des Funkgeräts ließ sie zusammenzucken. Sie nahm es aus der Halterung.
»Jenna!«, sagte Bill aufgeregt. »Bist du auf dem Rückweg?«
Sie seufzte. »Noch nicht. Ich dachte, ich warte erst mal ab, ob mir jemand am Tor Hallo sagt.«
Das war gelogen, aber besser als die Wahrheit.
»Dann mach, dass du von dort verschwindest!«
»Weshalb?«
»Ich habe gerade einen Anruf reinbekommen, der vom Militär weitergeleitet wurde. Von jemandem auf dem Gelände. Hör zu …« Nach einer kurzen Pause hörte sie die leise Stimme einer Frau, die offenbar in Panik war. »Hier spricht Sierra, Victor, Whiskey. Es gibt einen Ausbruch. Notfallmaßnahmen sind eingeleitet. Egal was passiert: Tötet uns … tötet uns alle.«
Jenna blickte zu den Gebäuden hinüber – als die Hügelkuppe auf einmal eine Wolke aus Feuer und Rauch ausstieß. Der Boden bebte, der Wagen wurde durchgerüttelt.
Oh Gott …
Sie schluckte mühsam, damit sie wieder Luft bekam, dann legte sie den Rückwärtsgang ein und gab Gas.
Eine Rauchwand wogte ihr hinterher.
Sie ahnte, dass sie auf keinen Fall mit der Wolke in Berührung kommen durfte. Sie dachte an die Schafe, die in der Nähe von Dugway umgekommen waren. Ihre Bedenken erwiesen sich als berechtigt, als ein Kaninchen aus der Rauchwand hervorkam. Nach ein paar Sätzen fiel es unter Krämpfen auf die Seite.
»Achtung, Nikko!«
Im Rückwärtsgang war sie nicht schnell genug, deshalb schleuderte sie herum, dass der Kies spritzte – dann bretterte sie durchs offene Tor. Im Rückspiegel sah sie die herandrängende Wolke.
Etwas Schwarzes klatschte gegen die Motorhaube. Ihr stockte der Atem.
Eine Krähe.
Die pechschwarzen Flügel flatterten, dann rutschte der Vogel von der Haube.
Nikko winselte.
Ihr war auch danach, doch im Geiste hörte sie noch immer die letzten Worte der bedauernswerten Frau.
Tötet uns … tötet uns alle …