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Robert Ludlum


BOURNE
Das Bourne-Ultimatum



THRILLER


Aus dem amerikanischen Englisch von Einar Schlereth und Jörn Ingwersen


Inhaltsverzeichnis
 
Das Buch
Der Autor
Widmung
Prolog
 
Kapitel 1.
Kapitel 2.
Kapitel 3.
Kapitel 4.
Kapitel 5.
Kapitel 6.
Kapitel 7.
Kapitel 8.
Kapitel 9.
Kapitel 10.
Kapitel 11.
Kapitel 12.
Kapitel 13.
Kapitel 14.
Kapitel 15.
Kapitel 16.
Kapitel 17.
Kapitel 18.
Kapitel 19.
Kapitel 20.
Kapitel 21.
Kapitel 22.
Kapitel 23.
Kapitel 24.
Kapitel 25.
Kapitel 26.
Kapitel 27.
Kapitel 28.
Kapitel 29.
Kapitel 30.
Kapitel 31.
Kapitel 32.
Kapitel 33.
Kapitel 34.
Kapitel 35.
Kapitel 36.
Kapitel 37.
Kapitel 38.
Kapitel 39.
Kapitel 40.
Kapitel 41.
Kapitel 42.
 
Epilog
Bonusmaterial
Titel
Copyright

Das Buch

In einem Vergnügungspark in Baltimore werden zwei Männer zu einem Schießstand gelockt. Als sie einander erkennen, ist es schon zu spät - die Falle hat zugeschnappt, ihre Deckung ist aufgeflogen. Die beiden Männer sind der Schlüssel zu David Webb, der glaubte, seine Vergangenheit als der legendäre Killer Jason Bourne hinter sich gelassen zu haben. Doch gnadenlos bricht sie nun erneut in sein beschauliches Leben ein. Sein alter Todfeind Carlos, der Schakal, hat ihn und seine Familie nach Jahren der Ruhe ausfindig gemacht. Wieder muss Webb die verhasste Rolle des Jason Bourne annehmen. Im Netz einer internationalen Verschwörung kämpft er in Washington, in der Karibik, in Paris und in der Sowjetunion für eine fast aussichtslose Sache - immer im Wettlauf mit dem Schakal, auf eine Konfrontation zu, die nur einer von beiden überleben kann.
 

Der Autor

Robert Ludlum erreichte mit seinen Romanen, die in mehr als 30 Sprachen übersetzt wurden, weltweit eine Auflage von über 300 Millionen Exemplaren. Robert Ludlum verstarb im März 2001. Die Romane aus seinem Nachlass erscheinen bei Heyne.
 
Im Anhang des Buches findet sich ein Werkverzeichnis aller lieferbaren Titel der BOURNE-Reihe.

Für Bobbi und Leonard Raichert, zwei der liebenswürdigsten Menschen, die unser Leben bereichert haben.
 
Danke

Prolog
Dunkelheit hatte sich über Manassas in Virginia gesenkt. Überall um ihn herum schien die Nacht mit Leben erfüllt, als Bourne durch den Wald kroch, der an das Anwesen von General Norman Swayne grenzte. Erschrockene Vögel flatterten auf aus ihren dunklen Verstecken, Krähen erwachten in den Bäumen, schlugen Alarm und schwiegen wieder, als wären sie von ihrem Mitverschwörer beruhigt worden.
Manassas! Hier war der Schlüssel zu finden. Der Schlüssel für die unterirdische Tür, die zum Schakal führen würde, dem Mörder, der David Webb und seine Familie unbedingt zerstören wollte... Webb! Aus dem Weg, David!, schrie Jason Bourne innerlich. Lass mich der Killer sein, der du nicht sein kannst!
Mit jedem Schnitt in den massiven, hohen Drahtzaun sah er das Unausweichliche klarer vor sich, und sein schwerer Atem und der Schweiß, der ihm aus seinem Haaransatz rann, bestätigten nur die harte Realität: Wie sehr er auch versuchte, seinen Körper in guter Form zu halten, er war mittlerweile fünfzig. Das, was er noch vor dreizehn Jahren in Paris getan hatte, als er den Schakal jagte, gelang ihm heute nicht mehr so spielend. Das war eine Tatsache, die er nicht vergessen, von der er sich aber auch nicht gefangen nehmen lassen durfte. Da waren Marie und die Kinder – Davids Frau, Davids Kinder -, und es gab nichts, was er nicht tun konnte, solange er es nur wollte! David Webb verschwand allmählich aus seiner Psyche, nur der Jäger Jason Bourne blieb in ihr zurück.
Er war durch. Er kroch durch die Maschen und stand auf. Instinktiv kontrollierte er seine Ausrüstung: Waffen – eine Automatic und eine CO2-Pfeilpistole, ein Zeiss-Ikon-Fernstecher, ein Jagdmesser. Das alles brauchte der Jäger, denn jetzt befand er sich hinter den Linien, in Feindesland, im Land jenes Feindes, der ihn zu Carlos, dem Schakal, führen würde.
Medusa. Das Bataillon der Bastarde von Vietnam, diese rohe, offiziell gar nicht existierende Ansammlung von Killern und Banditen, die unter Führung von Kommando Saigon durch die Dschungel von Südostasien streiften, die Todesschwadronen, die Saigon mehr geheime Nachrichten übermittelten als alle Such-und-Vernichtungstrupps zusammen. Jason Bourne hatte Medusa überlebt, den Namen David Webb nur noch in vager Erinnerung gehabt – den Namen eines Gelehrten, der einmal eine Frau und Kinder besessen hatte, alle ermordet.
General Norman Swayne hatte zur Elite von Kommando Saigon gehört, hatte als Verbindungs- und Versorgungsstelle von Medusa fungiert. Und jetzt gab es eine neue Medusa, eine andere, mächtige, die Verkörperung des Bösen, getarnt hinter Respektabilität. Ganze Bereiche des internationalen Wirtschaftsgeflechts nahm sie ins Visier und zerstörte und zerstörte – alles zum Wohle einiger weniger, alles finanziert mit den Profiten jenes Bataillons der Bastarde, roh, nicht sanktioniert. Diese moderne Medusa war die Brücke zu Carlos, dem Schakal. Der Mörder würde dem Angebot ihrer Schöpfer nicht widerstehen können, und beide Lager würden gemeinsam den Tod von Jason Bourne verlangen. So musste es einfach kommen! Und damit es so kommen konnte, musste Bourne erfahren, welche Geheimnisse sich hier auf diesem Grundstück, das General Swayne gehörte, verbargen. Swayne war der Kopf für die Versorgung im Pentagon, ein gehetzter Charakter mit einer kleinen Tätowierung am Unterarm. Ein Medusa-Mann.
Ohne Geräusch oder Vorwarnung jagte ein schwarzer Dobermann mit ungezügelter Kraft durchs Unterholz auf ihn los. Jason riss die CO2-Pistole aus dem Gürtel, und als der geifernde Kampfhund mit gefletschten Zähnen in ihn hineinschnellte, feuerte er auf seinen Kopf, und in Sekundenschnelle zeigte der Pfeil seine Wirkung. Bewusstlos fiel der Hund zu Boden.
Schneide ihm die Kehle durch!, brüllte es in Jason Bourne. Nein, entgegnete sein zweites Ich, David Webb. Der Mensch trägt die Schuld, nicht das Tier. Aus dem Weg, David!

1.
Das lärmende Durcheinander schien außer Kontrolle zu geraten, als die Menschenmenge sich durch den Vergnügungspark in der Randzone von Baltimore drängte. Die Sommernacht war heiß, und beinahe alle Menschen hatten schweißgebadete Gesichter, außer denen, die schreiend auf der Berg- und Talbahn in die Tiefe sausten, oder denen, die kreischend in Torpedoschlitten die schmalen, gewundenen Wasserläufe hinabjagten.
Die grellen, hektisch blinkenden Leuchtreklamen entlang des Mittelweges wurden von krächzenden Lauten emphatischer Musik begleitet, die aus zahllosen Lautsprechern dröhnte – Getragenes in presto und Märsche prestissimo. Budenverkäufer überschrien den Lärm und priesen in immer wiederkehrenden Sprüchen ihre Waren an. Vereinzelte Explosionen erhellten die Dunkelheit, wobei die Feuerwerkskörper in Millionen Funken auf einen nahe gelegenen See herabregneten. Leuchtkugeln zerbarsten in weiten Bögen von blendendem Licht.
 
Eine Reihe von Haut-den-Lukas-Geräten zog die Männer an, die mit verzerrtem Gesicht und heraustretenden Halsadern wütend immer wieder ihre Männlichkeit beweisen wollten, indem sie mit schweren Holzhämmern auf einen Bolzen schlugen; doch oft genug erreichten die roten Klöppel nicht den Gong. Gegenüber rammten die Leute auf dem Autoscooter unter drohendem Gebrüll ihre Nachbarfahrzeuge, wobei jede gelungene Attacke ein Triumph der Aggression war, und jeder Teilnehmer sich wie ein Kinostar fühlte, der allein gegen den Rest der Welt kämpft: Revolverkampf im O. K. Corral, um 21.27 Uhr, ein Kampf ohne Sinn und Verstand.
Ein Stück weiter stand ein Monument für den gewaltsamen Tod, eine Schießgalerie, die nur wenig Ähnlichkeit mit den Schießbuden auf Jahrmärkten und ländlichen Volksfesten hatte. Es war viel mehr ein Mikrokosmos des tödlichsten Arsenals an modernen Waffen.
Da gab es Imitationen der MAC-10 und Uzi-MPs, stahlblitzende Raketenwerfer und Antipanzer-Bazookas und schließlich noch die furchteinflößende Replik eines Flammenwerfers, der harte, gerade Lichtstrahlen durch wogende Schwaden dunklen Rauchs schickte. Und auch dort fanden sich wieder die schwitzenden Gesichter mit den besessenen Blicken und den angespannten Hälsen – Männer, Frauen und Kinder mit grotesken, völlig entgleisten Gesichtszügen, als ob jeder seine verhassten Feinde – Frauen, Ehemänner, Eltern und Kinder – vernichten wollte. Alle waren sie an jenem Abend in einen Krieg ohne Ende verwickelt, um 21.29 Uhr, in einem Vergnügungspark, dessen Hauptthema die Gewalt war. Der Mensch unverblümt und grundlos im Kampf gegen sich und alle seine Feinde, von denen der schlimmste die Furcht war.
Eine schlanke Figur hinkte mit einem Stock in der rechten Hand an einer Bude vorbei, wo wütende, erregte Kunden mit spitzen Pfeilen auf Ballons warfen, auf denen die Gesichter von Politikern zu sehen waren. Wenn die Gummiköpfe knallten, gab das Anlass zu heftigen Argumenten für oder gegen die schlaffen Überreste der politischen Abbilder und die pfeilschleudernden Henker. Der humpelnde Mann ging auf dem Mittelweg weiter und versuchte über die dahinschlendernde Menge hinwegzuschauen, als suche er in einem hektischen, überfüllten und unbekannten Stadtteil einen bestimmten Ort.
Er war zwanglos, aber adrett in ein Sporthemd und Jackett gekleidet, als ob die drückende Hitze auf ihn keine Wirkung hätte und das Jackett irgendwie dazugehörte. Er hatte das angenehme Gesicht eines Mannes in mittleren Jahren, war aber verhärmt durch vorzeitige Falten und starke Schatten unter den Lidern, was eher auf seine Art zu leben zurückzuführen war als auf sein Alter. Sein Name war Alexander Conklin, ehemaliger Offizier für Geheimoperationen bei der Central Intelligence Agency und jetzt im Ruhestand. Er hatte nicht den Wunsch gehabt, zu dieser Stunde an diesem Ort zu sein, und er hatte keine Ahnung, welches katastrophale Ereignis ihn hierher gebracht hatte.
Er näherte sich dem Pandämonium der Schießgalerie, als er plötzlich die Luft anhielt und regungslos stehen blieb. Seine Augen fixierten einen großen, kahlköpfigen Mann etwa in seinem Alter, der ein gestreiftes Leinenjackett über der Schulter trug. Morris Panov! Er näherte sich der Schießgalerie von der entgegengesetzten Richtung! Warum? Was war geschehen? Conklin drehte blitzartig den Kopf in alle Richtungen, ließ seine Augen über Gesichter und Körper hinweggleiten. Instinktiv wusste er, dass er und der Psychiater beobachtet wurden. Es war zu spät, um Panov zu hindern, den inneren Bereich des Treffpunktes zu betreten, aber vielleicht nicht zu spät, sie beide hier herauszubekommen!
Der CIA-Agent im Ruhestand griff nach seiner kleinen automatischen Beretta unter der Jacke und drängte rasch vorwärts. Mit seinem Stock hieb er links und rechts in die Menge, gegen vorstehende Kniescheiben, Bäuche und Brüste und Hintern, bis die verblüfften Bummler schockierte Schreie ausstießen, und es beinahe zu einem Tumult gekommen wäre. Er hechtete förmlich vorwärts, rammte mit seinem zarten Körper den verblüfften Doktor und schrie, das Geschrei der Menge übertönend, Panov ins Gesicht: »Was, zum Teufel, machst du denn hier?«
»Wahrscheinlich dasselbe, was du machst, David, oder sollte ich Jason sagen? So stand es im Telegramm.«
»Das ist eine Falle!«
Ein durchdringender Schrei übertönte den allgemeinen Lärm. Sowohl Conklin als auch Panov sahen zu der nur wenige Meter entfernten Schießgalerie hinüber. Eine beleibte Frau mit einem ausgemergelten Gesicht war in die Kehle geschossen worden. Die Menge drehte durch. Conklin wirbelte blitzschnell herum, um zu sehen, woher der Schuss gekommen war, aber die Panik war schon da. Er sah nur noch davonstürmende Menschen. Er packte Panov und schob ihn durch die schreiende, rasende Menge über den Mittelweg hinweg bis zu dem massiven Gerüst des Autoscooters am Ende des Parks, wo sich die Leute aufgeregt drängten.
»Mein Gott!«, schrie Panov. »War das für einen von uns beiden gedacht?«
»Vielleicht... vielleicht auch nicht«, antwortete der ehemalige CIA-Agent atemlos, als Sirenen und Trillerpfeifen in der Ferne ertönten.
»Du sagtest, es wäre eine Falle!«
»Weil wir beide ein verrücktes Telegramm von David bekommen haben, in dem er einen Namen benutzt, den er fünf Jahre lang nicht benutzt hat – Jason Bourne! Und wenn ich mich nicht irre, dann stand in deinem auch, dass wir ihn unter keinen Umständen zu Hause anrufen sollten.«
»Richtig.«
»Es ist eine Falle. Du kannst besser laufen als ich, Mo, also setz dich in Bewegung. Nichts wie raus hier, wie der Teufel, und find ein Telefon. Eine Telefonzelle, um keine Spuren zu hinterlassen!«
»Was?«
»Ruf ihn zu Hause an! Sag David, dass er Marie und die Kinder schnappen und verschwinden soll!«
»Und?«
»Jemand hat uns gefunden, Mo! Jemand, der hinter Jason Bourne her ist, jemand, der jahrelang nach ihm gesucht hat und nicht eher Ruhe gibt, bevor er ihn nicht im Visier seiner Flinte hat. Du warst für Davids verdammten Schädel verantwortlich, und ich habe in Washington Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um ihn und Marie lebend aus Hongkong herauszubekommen... Die Spielregeln sind verletzt worden, und man hat uns gefunden, Mo. Dich und mich! Die einzige offiziell registrierte Verbindung zu Jason Bourne, Adresse und Beschäftigung unbekannt!«
»Weißt du, was du da sagst, Alex?«
»Da kannst du Gift drauf nehmen... Es ist Carlos. Carlos, der Schakal. Verschwinde hier, Mo. Sieh zu, dass du deinen ehemaligen Patienten erwischst, und sag ihm, er soll abhauen!«
»Wohin soll er denn?«
»Ich habe nicht viele Freunde, schon gar keine, denen ich trauen kann. Aber du hast Freunde. Gib ihm den Namen von irgendjemanden, vielleicht von einem von deinen Ärztekumpeln, die dringende Anrufe von ihren Patienten bekommen, so wie ich dich immer angerufen habe. Sag David, er soll sich melden, wenn er in Sicherheit ist. Gib ihm einen Kode.«
»Einen Kode?«
»Jesses, Mo, benutze deinen Kopf! Einen Alias, einen Müller oder Meier...«
»Das sind ziemlich gewöhnliche Namen...«
»Dann Schickelhuber oder Moskowitz! Was du willst! Sag ihm nur, dass er uns wissen lässt, wo er ist.«
»Ich verstehe.«
»Und jetzt hau schnellstens ab, aber geh nicht nach Hause! Nimm ein Zimmer im Brookshire in Baltimore unter dem Namen... Morris, Phillip Morris. Ich treffe dich dann später dort.«
»Was wirst du tun?«
»Etwas, was ich hasse... Ich werde mir ein Ticket für einen der verfluchten Autoscooter kaufen. Niemand wird einen Krüppel in so einer Kiste beachten. Sie jagen mir zwar höllische Angst ein, aber es ist ein Ausweg, selbst wenn ich die ganze Nacht in dem verdammten Ding sitzen bleiben muss... Und jetzt verschwinde! Beeil dich!«
 
Der Wagen raste nach Süden über die Hügel von New Hampshire in Richtung Grenze von Massachusetts. Der Fahrer war von großer Gestalt mit einem scharf geschnittenen Gesicht. Seine Kinnbacken arbeiteten, und seine klaren, hellblauen Augen waren wütend. Neben ihm saß seine außergewöhnlich attraktive Frau. Ihre kastanienbraunen Haare leuchteten im Schein des Armaturenbretts rötlich. In ihren Armen hatte sie ein Kind, ein kleines Mädchen von acht Monaten; auf dem Rücksitz saß noch ein Kind, angeschnallt in einem tragbaren Kindersitz, ein blonder Junge von fünf Jahren, und schlief unter einer Decke.
Der Vater war David Webb, Professor für Orientalistik, aber früher einmal am berüchtigten Medusa-Projekt beteiligt, einer noch größeren Legende als Jason Bourne.
»Wir wussten, dass es mal passieren wird«, sagte Marie St. Jacques-Webb, Kanadierin von Geburt, von Beruf Ökonomin und durch Zufall Retterin von David Webb. »Es war nur eine Frage der Zeit.«
»Es ist wahnsinnig!«, flüsterte David, um die Kinder nicht aufzuwecken. »Alles ist streng geheim, im Archiv mit der höchsten Sicherheitsstufe und dem ganzen Zinnober! Wie nur konnte irgendjemand Alex und Mo finden?«
»Wir wissen es nicht, aber Alex wird sich auf die Suche machen. Es gibt keinen Besseren als Alex. Hast du selbst gesagt...«
»Jetzt ist er gezeichnet – er ist ein toter Mann«, unterbrach Webb sie grimmig.
»Das ist voreilig, David. ›Er ist der Beste, den es je gab‹, das waren deine Worte.«
»Das einzige Mal, wo er es nicht war, das war vor dreizehn Jahren in Paris.«
»Weil du besser warst...«
»Nein! Weil ich meine Rolle nicht kannte, und er operierte mit älteren Daten, von denen ich keinen blassen Schimmer hatte. Er nahm an, ich wäre da draußen, aber ich hatte keine Ahnung, also konnte ich nicht nach seinen Vorstellungen handeln... Er ist immer noch der Beste. In Hongkong hat er uns beiden das Leben gerettet.«
»Dann sagst du dasselbe, was ich auch sage, oder nicht? Wir sind in guten Händen.«
»In denen von Alex, ja. Nicht in denen von Mo. Der arme, nette Kerl ist praktisch schon tot. Sie werden ihn schnappen und knacken!«
»Er wird eher sterben, als dass er irgendjemanden Informationen über uns gibt.«
»Trotzdem haben wir keine Chance. Mit Amytal bringen sie ihn zum Sprechen, sein ganzes Leben werden sie auf Band haben. Dann killen sie ihn und nehmen meine Spur auf... das heißt unsere, und deshalb müssen du und die Kinder in den Süden, ganz in den Süden. Die Karibik.«
»Wir schicken die Kinder, Liebling. Ich bleibe.«
»Hör auf! Das haben wir abgesprochen, als Jamie geboren wurde. Deshalb haben wir uns den Platz dort unten besorgt, deshalb haben wir deinem jüngeren Bruder die Hölle heiß gemacht, dass er uns was besorgt. Und er hat es verdammt gut gemacht. Wir besitzen die Hälfte eines florierenden Hotels an einer Schlammstraße auf einer Insel, von der nie irgendjemand was gehört hat, bevor dieser kanadische Hansdampf mit seinem Wasserflugzeug dort gelandet ist.«
»Johnny war immer der aggressive Typ. Vater hat einmal gesagt, dass er ein verkrüppeltes Kalb als erstklassigen Stier verkaufen könnte, ohne dass der Käufer es merkt.«
»Die Sache ist, dass er dich liebt... und die Kinder. Ich zähle auch auf seine... egal, ich vertraue ihm.«
»Wenn du meinem Bruder auch noch sosehr vertraust, was ist mit deiner Orientierung? Du hast gerade die Abzweigung zur Hütte verpasst.«
»Verdammt!«, schrie Webb, bremste und wendete. »Morgen! Du und Jamie und Alison, ihr nehmt einen Flieger vom Flughafen Logan. In Richtung Insel!«
»Darüber sprechen wir noch, David.«
»Da gibt es nichts zu diskutieren.« Webb atmete tief und gleichmäßig durch, er hatte sich ganz merkwürdig unter Kontrolle. »Hier bin ich schon mal gewesen«, sagte er ruhig.
Marie sah ihren Mann an. Sein plötzlich passives Gesicht zeichnete sich im Licht des Armaturenbretts ab. Was sie sah, erschreckte sie mehr als das Gespenst des Schakals. Sie sah nicht David Webb, den leise sprechenden Gelehrten. Sie starrte auf einen Mann, von dem sie beide gedacht hatten, dass er für immer aus ihrem Leben verschwunden wäre.

2.
Alexander Conklin fasste seinen Stock fester, als er in den Konferenzraum der Central Intelligence Agency in Langley, Virginia, hinkte. Er stand vor einem langen, beeindruckenden Tisch, groß genug, um dreißig Personen Platz zu bieten, aber stattdessen saßen nur drei Personen um ihn herum. Der Mann am Kopfende war der grauhaarige DCI, Direktor der Central Intelligence. Weder er noch seine beiden höchstrangigen Stellvertreter schienen erfreut, Conklin zu sehen. Die Begrüßung verlief förmlich, und statt den offenbar für ihn vorgesehenen Platz neben dem CIA-Beamten zur Linken des DCI einzunehmen, zog Conklin einen der Stühle am unteren Ende des Tisches hervor, setzte sich und lehnte seinen Stock mit einem Knall gegen die Tischkante.
»Nun, wo wir uns begrüßt haben, können wir ja zur Sache kommen, meine Herren.«
»Das ist kein sehr höflicher oder freundlicher Einstieg, Mr. Conklin«, bemerkte der Direktor.
»Ich habe im Moment weder Höflichkeit noch Freundlichkeit im Sinn, Sir. Ich möchte einfach nur wissen, wieso wasserdichte Four-Zero-Regeln nicht beachtet und äußerst geheime Informationen herausgegeben werden und man so das Leben einiger Leute gefährdet, unter anderen meines!«
»Das ist unerhört, Alex!«, unterbrach einer der beiden Stellvertreter.
»Völlig unwahr!«, fügte der Zweite hinzu. »Völlig unmöglich, und das weißt du auch.«
»Ich weiß es nicht, und es ist geschehen, und ich werde euch sagen, was unerhört wahr ist«, sagte Conklin wütend. »Da draußen irgendwo ist ein Mann mit einer Frau und zwei Kindern, ein Mann, dem dieses Land und ein großer Teil der Welt mehr verdanken, als irgendjemand je gutmachen könnte, und er ist auf der Flucht, er muss sich verstecken, steht Todesängste aus, weil er und seine Familie zu Zielscheiben geworden sind. Wir haben ihm unser Wort gegeben, wir alle, dass kein Teil dieser Berichte jemals ans Licht kommen würde, bevor nicht zweifelsfrei feststände, dass Ilich Ramirez Sanchez, auch als Carlos, der Schakal, bekannt, tot sein würde... Gut, ich habe dieselben Gerüchte wie Sie gehört, wahrscheinlich aus denselben oder sogar aus besseren Quellen, dass der Schakal hier gekillt oder dort hingerichtet worden sei, aber niemand, ich wiederhole, niemand hat eindeutige Beweise vorgelegt... Dennoch sind Informationen durchgesickert, ein sehr wichtiger Teil, und das betrifft mich direkt, weil mein Name dabei ist... meiner und der von Dr. Morris Panov. Wir waren die einzigen, ich wiederhole, die einzigen bekannten Personen, die engstens mit dem unbekannten Mann zusammengearbeitet haben, der den Namen Jason Bourne annahm, der in mehr Bereichen, als wir sie zählen können, als Rivale von Carlos im Tötungsgeschäft galt. Diese Informationen sind hier in Langley unter Verschluss. Wie sind sie herausgekommen? Gemäß den Vereinbarungen sollte jeder, der Zugang zu den Informationen haben wollte – egal, ob das Weiße Haus, das Auswärtige Amt oder der Heilige Generalstab -, sich an das Büro des Direktors und seines Chefanalytikers hier in Langley wenden. Jede Einzelheit eines Gesuchs muss bis ins Detail untersucht werden, und selbst wenn man hinsichtlich der Legitimation zufriedengestellt ist, gibt es eine letzte Hürde: mich. Bevor wer auch immer Zugang erhält, muss mit mir Verbindung aufgenommen werden, und im Fall meines Todes muss Dr. Panov kontaktiert werden. Und jeder von uns beiden ist berechtigt, alles glattweg abzulehnen. So liegen die Dinge nun mal, meine Herren, niemand kennt die Regeln besser als ich, schließlich habe ich sie selbst geschrieben. Und zwar hier in Langley, weil es der Platz war, den ich am besten kannte. Nach achtundzwanzig Jahren in diesem verdammten Geschäft war das meine letzte Handlung – mit der vollen Unterstützung des Präsidenten der Vereinigten Staaten und der Zustimmung des Kongresses, des Parlaments und des Senats durch ihre Sonderausschüsse zu Geheimdienstfragen.«
»Das ist schweres Geschütz, Mr. Conklin«, kommentierte der grauhaarige Direktor bewegungslos mit klangloser, neutraler Stimme.
»Es gibt schwerwiegende Gründe, die Kanonen aufzufahren.«
»Das nehme ich an. Eine der Kugeln hat mich getroffen.«
»Das sollte sie auch. Und jetzt zur Frage der Verantwortung: Ich möchte wissen, wie die Information hier rausgekommen ist, und noch wichtiger, wer sie erhalten hat.«
Die beiden stellvertretenden Direktoren begannen gleichzeitig zu sprechen, ebenso wütend wie Alex, wurden aber vom DCI unterbrochen, der ihre Arme berührte, in der einen Hand eine Pfeife, in der anderen ein Feuerzeug. »Immer mit der Ruhe. Sagen Sie, Mr. Conklin«, meinte der Direktor und zündete seine Pfeife an, »Sie kennen offenbar meine beiden Vertreter, aber Sie und ich, wir sind uns noch nie begegnet, oder?«
»Nein. Ich habe vor viereinhalb Jahren den Abschied genommen, und Sie wurden ein Jahr danach ernannt.«
»Wie viele andere – ganz zu Recht, wie ich glaube – hielten Sie es für eine Ernennung auf Grund von Beziehungen.«
»Das war es ja wohl auch, aber ich habe damit keine Schwierigkeiten gehabt. Sie schienen mir immer qualifiziert zu sein. Meiner Information nach waren Sie ein unpolitischer Admiral in Annapolis mit Geheimdienstaufgaben, der im Vietnamkrieg zufällig mit einem FMF-Marineoberst zusammenarbeitete, der später Präsident wurde. Andere wurden dabei übergangen, aber so etwas passiert. Keine Probleme.«
»Danke. Aber Sie haben Probleme mit meinen stellvertretenden Direktoren?«
»Das ist Vergangenheit, doch ich könnte sowieso nicht sagen, dass einer von ihnen je ein wirklicher Freund eines CIA-Agenten draußen bei der Truppe gewesen wäre. Sie sind Analytiker, Strategen, keine Praktiker.«
»Ist das nicht eine natürliche Aversion, die übliche Feindschaft?«
»Natürlich. Sie ziehen ihre Schlüsse Tausende von Kilometern vom Einsatzort entfernt, mit Computern, von denen keiner weiß, wer sie programmiert hat, und mit Daten, die den Agenten draußen ebenfalls unbekannt sind. Sie haben verdammt Recht, dass es eine natürliche Aversion ist. Draußen geht es um die Wirklichkeit. Die hier haben mit kleinen grünen Buchstaben auf Computerbildschirmen zu tun und treffen Entscheidungen, die sie oft besser nicht treffen sollten.«
»Weil Leute wie du kontrolliert werden müssen«, warf der Stellvertreter zur Rechten des Direktors ein. »Wie oft, selbst heute, fehlt Männern und Frauen wie euch das Gesamtbild? Die gesamte Strategie ist wichtig und nicht nur ein Teil davon.«
»Dann müsste eben ein besseres Bild übermittelt werden, oder zumindest ein Überblick, damit wir selbst herausfinden können, was sinnvoll ist und was nicht.«
»Und wo endet der Überblick, Alex?«, fragte der Stellvertreter zur Linken des DCI. »An welchem Punkt müssen wir sagen: ›Das können wir nicht freigeben... zum Besten aller Beteiligten‹?«
»Ich weiß nicht. Ihr seid die Strategen, nicht ich. Von Fall zu Fall, denke ich, aber auf jeden Fall müsste die Kommunikation besser sein, als ich sie jemals draußen bekommen habe... Doch Moment mal. Nicht ich stehe hier zur Debatte, sondern Sie.« Alex sah den Direktor an. »Sehr geschickt, Sir, aber ich gehe auf den Themawechsel nicht ein. Ich bin hier, um herauszufinden, wer was bekam und wie. Wenn Sie es lieber haben, gehe ich direkt zum Weißen Haus oder zum Kapitol und schaue zu, wie ein paar Köpfe rollen. Ich erwarte Antworten.«
»Ich wollte nicht ablenken, Mr. Conklin, sondern nur für einen Moment das Thema wechseln, um auf einen bestimmten Punkt zu kommen. Sie hatten offenbar Einwände gegen die Methoden und die Kompromisse, die in der Vergangenheit von meinen Kollegen angewandt worden sind, aber hat Sie jemals einer von ihnen in die Irre geführt oder angelogen?«
Alex warf einen kurzen Blick auf die beiden Stellvertreter. »Nur wenn sie mich anlügen mussten und wenn es nichts mit meinem Außendienst zu tun hatte.«
»Das ist ein merkwürdiges Argument.«
»Wenn sie es Ihnen nicht gesagt haben, dann hätten sie es tun sollen. Ich war Alkoholiker, vor fünf Jahren – und ich bin es noch, aber ich trinke nicht mehr. Ich habe nur noch die Zeit bis zu meiner Pensionierung abgesessen, weshalb mir niemand etwas sagte, und sie hätten es auch nicht wagen dürfen.«
»Zu Ihrem besseren Verständnis: Meine Kollegen haben mir lediglich gesagt, Sie seien krank gewesen und dass Sie nicht bis zum Ende auf der Höhe Ihrer gewohnten Leistungsfähigkeit waren.«
Wieder sah Conklin die beiden Stellvertreter an und nickte beiden zu. »Danke, Casset, und dir auch, Valentino, aber das hättet ihr nicht tun sollen. Ich war ein Trunkenbold, und so was sollte kein Geheimnis sein, das hat mit meiner Person nichts zu tun.«
»Aus dem, was wir über Hongkong gehört haben, hast du dort einen Teufelsjob geleistet«, sagte der mit Casset Angesprochene. »Davon wollten wir nicht ablenken.«
»Du hast uns Zahnschmerzen bereitet, solange ich denken kann«, fügte Valentino hinzu. »Aber trotzdem konnten wir dich nicht als einen einfachen Alkoholiker erscheinen lassen.«
»Schwamm drüber. Kommen wir zurück auf Jason Bourne. Deswegen bin ich hier, deshalb mussten Sie mich empfangen.«
»Und allein deswegen bin ich einen Moment ausgewichen, Mr. Conklin. Sie hatten professionelle Meinungsverschiedenheiten mit meinen Stellvertretern, aber ich nehme an, dass Sie nicht an ihrer Integrität zweifeln.«
»Bei anderen schon, aber nicht bei Casset oder Val. Was mich angeht, so haben sie ihren Job gemacht und ich meinen. Es lag am System. Aber jetzt und hier liegt der Fall anders. Die Regeln sind eindeutig und absolut. Und da ich nicht kontaktiert worden bin, müssen sie gebrochen worden sein, ich wurde hinters Licht geführt, man hat mich angelogen. Ich wiederhole also meine Frage: Wie ist es geschehen, und wer hat die Information erhalten?«
»Das ist alles, was ich hören wollte«, sagte der Direktor und griff zum Telefon auf dem Tisch. »Rufen Sie bitte Mr. DeSole an und bitten Sie ihn, in den Konferenzraum zu kommen.« Der DCI legte auf und wandte sich an Conklin. »Ich nehme an, Sie kennen Steven DeSole.«
»DeSole, stumm wie ein Grab.« Alex nickte.
»Wie bitte?«
»Es ist ein alter Spruch hier«, erklärte Casset dem Direktor. »Steve weiß, wo die Leichen liegen, aber wenn die Zeit kommt, dann wird er nicht einmal dem lieben Gott was verraten, wenn der ihm nicht die Four-Zero-Bestätigung vorlegt.«
»Ich glaube, das bedeutet, dass Sie alle drei und insbesondere Mr. Conklin, Mr. DeSole für einen echten Profi halten?«
»Ich werde darauf antworten«, sagte Alex. »Er wird Ihnen alles sagen, was Sie wissen müssen, aber nicht mehr. Und er wird Sie auch nicht anlügen. Er wird seinen Mund halten oder sagen, dass er nichts sagen kann, aber er wird niemanden anlügen.«
»Auch das wollte ich hören.« Es gab ein kurzes Klopfen an der Tür, und der Direktor rief: »Herein.« Ein Mann mittlerer Größe, etwas übergewichtig, betrat den Raum und schloss die Tür hinter sich. Seine Augen wurden durch seine Stahlrahmenbrille stark vergrößert. Ein beiläufiger zweiter Blick zeigte ihm auch Alexander Conklin, dessen Anblick ihn offensichtlich erschrecken ließ. Doch sekundenschnell ging sein Schreck in freudige Überraschung über. Er lief mit ausgestreckter Hand zu Conklins Stuhl.
»Schön, dich zu sehen, alter Junge. Muss ja jetzt schon zwei oder drei Jahre her sein, oder?«
»Wohl eher vier, Steve«, antwortete Alex und schüttelte ihm die Hand. »Wie geht es dem Oberstrategen und -analytiker, dem Hüter der Schlüssel?«
»Heutzutage gibt es nicht viel zu analysieren oder wegzuschließen. Das Weiße Haus ist ein Sieb, und der Kongress ist nicht viel besser. So gesehen, dürfte ich nur noch die Hälfte verdienen, aber sag’s nicht weiter.«
»Trotzdem behalten wir immer noch ein paar Dinge für uns, nicht wahr?«, unterbrach der DCI lächelnd. »Zumindest von früheren Operationen. Vielleicht hätten Sie damals das Doppelte bekommen müssen.«
»So wird es wohl sein.« DeSole schüttelte humorvoll seinen Kopf, als er die Hand von Conklin losließ. »Die Tage der Archivhüter und der bewaffneten Transporte in unterirdische Lager sind vorüber. Heute ist alles computerisiert und wird von hoch oben gesteuert. Ich brauche nicht mehr auf diese wunderbaren Reisen zu gehen, unter militärischer Beobachtung, in der Hoffnung, vielleicht von der wunderbaren Mata Hari überfallen zu werden. Seit ewigen Zeiten ist mir kein Koffer mehr ans Handgelenk geschlossen worden.«
»So lebt sich’s viel sicherer«, sagte Alex.
»Aber es passiert nichts, worüber ich mit meinen Enkeln sprechen könnte, alter Junge. ›Was hast du denn gemacht als großer Spion, Opa?‹ – ›Hauptsächlich Kreuzworträtsel gelöst in den letzten Jahren.‹«
»Seien Sie vorsichtig, Mr. DeSole«, sagte der DCI lächelnd. »Vielleicht sollte ich doch eine Empfehlung schreiben, Ihnen den Lohn zu kürzen. Aber natürlich glaube ich Ihnen nicht einen Moment lang.«
»Ich auch nicht.« Conklin sprach ruhig und wütend. »Dies hier ist eine Untersuchung«, fügte er hinzu und fixierte den übergewichtigen Analytiker.
»Was soll das heißen?«, fragte DeSole.
»Du weißt, weshalb ich hier bin. Oder?«
»Ich wusste nicht, dass du hier bist.«
»Oh, ich verstehe. Es hat sich einfach so ergeben, dass du zufällig da warst und auch gerade bereit, zu uns zu kommen.«
»Mein Büro ist unten in der Halle. Ziemlich weit unten, möchte ich hinzufügen.«
Conklin sah den DCI an. »Wiederum sehr geschickt, Sir. Sie holen drei Leute her, von denen Sie annehmen, dass ich mit ihnen, vom ganz Normalen mal abgesehen, keinen größeren Ärger hatte, drei Leute, von denen Sie glauben, dass ich ihnen von Grund auf vertraue. So werde ich schon glauben, was hier gesagt wird.«
»Im Grunde ist das richtig, Mr. Conklin, weil das, was Sie hören werden, die Wahrheit ist. Setzen Sie sich, Mr. DeSole. Vielleicht zu uns herüber, damit der ehemalige Kollege uns besser beobachten kann, wenn wir ihm die Sache erklären.«
»Ich habe verdammt noch mal nichts zu erklären«, sagte der Analytiker, als er zum Stuhl neben Casset ging. »Aber im Lichte der etwas groben Äußerungen unseres ehemaligen Kollegen würde ich ihn ganz gerne studieren. Bist du okay, Alex?«
»Er ist okay«, antwortete Valentino. »Zwar schlägt er auf die Falschen ein, aber er ist okay.«
»Die fragliche Information hätte nicht nach außen dringen können ohne das Einverständnis und die Kooperation der Leute in diesem Raum.«
»Welche Information?«, fragte DeSole, indem er den DCI anschaute, wobei sich plötzlich seine Augen hinter den Brillengläsern noch mehr weiteten. »Oh, die Sache mit höchster Geheimhaltungsstufe, nach der Sie mich heute früh gefragt haben?«
Der Direktor nickte und sah wieder zu Conklin hinüber. »Beginnen wir mit heute früh. Vor sieben Stunden, kurz nach neun Uhr, erhielt ich einen Anruf von Edward McAllister, früher im Außenministerium und jetzt Vorsitzender des Bundesgeheimdienstes. Mir wurde gesagt, dass McAllister mit Ihnen, Mr. Conklin, in Hongkong gewesen ist, stimmt das?«
»Mr. McAllister war dabei«, antwortete Alex kurz. »Er flog inkognito mit Jason Bourne nach Macao, wo er so schwer angeschossen wurde, dass es ihn beinahe erwischt hätte. Er ist ein intellektueller Sonderling, aber trotzdem einer der tapfersten Männer, die ich je getroffen habe.«
»Er sagte nichts Genaueres, sondern nur, dass er da sei und dass ich notfalls meinen Terminkalender ändern müsse, weil unser Treffen mit Ihnen von höchster Dringlichkeit sei... Schweres Geschütz, Mr. Conklin.«
»Ich wiederhole, es gibt schwerwiegende Gründe.«
»Offensichtlich. Mr. McAllister gab mir die exakten, streng geheimen Kodes, mit denen man an die Akte kommt, von der Sie sprechen – die Unterlagen über die Hongkong-Operation. Ich meinerseits gab die Information an Mr. DeSole weiter. Lassen Sie uns hören, was er zu sagen hat.«
»Nichts ist angerührt worden, Alex«, sagte DeSole ruhig und sah Conklin an. »Bis heute früh, neun Uhr dreißig, lag alles vier Jahre, fünf Monate, einundzwanzig Tage, elf Stunden und dreiundvierzig Minuten ohne Unterbrechung in der schwarzen Kassette, ob du es glaubst oder nicht.«
»Was diese Akte angeht, bin ich auf alles gefasst.«
»Wie auch immer«, sagte DeSole sanft. »Man wusste von dir, dass du Probleme hattest, und Panov ist nicht so erfahren, was Sicherheitsprobleme angeht.«
»Worauf, zum Teufel, willst du hinaus?«
»Ein dritter Name wurde den Zugriffsformalitäten für die Hongkong-Akte hinzugefügt... Edward Newington McAllister, auf seine eigene Veranlassung hin und mit dem Einverständnis sowohl des Präsidenten als auch des Kongresses. Dafür hat er gesorgt.«
»O mein Gott«, sagte Conklin leise, zögernd. »Als ich ihn vergangene Nacht von Baltimore aus anrief, sagte er, es sei unmöglich. Dann sagte er, ich müsse mir selbst ein Bild machen und er werde diese Konferenz hier ansetzen... Jesus, was ist geschehen?«
»Ich würde sagen, dass wir in anderer Richtung suchen müssen«, sagte der DCI. »Aber bevor wir das tun, Mr. Conklin, müssen Sie eine Entscheidung treffen. Sie sehen, dass keiner von uns hier am Tisch etwas über den Inhalt dieser höchst geheimen Akte weiß. Wir haben uns natürlich darüber ausgetauscht, wobei klar wurde, dass wir alle nicht mehr wissen, als dass Sie in Hongkong einen Teufelsjob geleistet haben. Worum es aber genau ging, ist uns allen unbekannt. Wir kennen Gerüchte aus unserer Fernostabteilung, die die meisten von uns allerdings, offen gesagt, für übertrieben halten, doch es taucht immer wieder Ihr Name und der von Jason Bourne auf. Weiter heißt es, dass Sie für die Verhaftung und Hinrichtung des Killers, den wir als Bourne kennen, oder besser: kannten, verantwortlich waren. Aber vor wenigen Minuten haben Sie gesagt: ›Der Mann, der den Namen Jason Bourne annahm‹, womit Sie sagen, dass er lebt und sich irgendwo versteckt hält. Was also die Details angeht, wissen wir nichts, zumindest ich nicht.«
»Sie haben die Akte nicht eingesehen?«
»Nein«, antwortete DeSole. »Das war meine Entscheidung. Wie du vielleicht weißt oder auch nicht, wird jedes Öffnen einer Akte von höchster Geheimhaltung automatisch mit Datum und Stunde vermerkt. Da ich wusste, dass es bei einem illegalen Zugriff mächtige Aufregung geben würde, habe ich mich gehütet, mir das Ding anzusehen. Die Akte wurde also beinahe fünf Jahre lang nicht angerührt, folglich auch nicht gelesen, nicht einmal ihre Existenz war bekannt, und so kann sie auch nicht in die Hände der falschen Leute geraten sein, um wen immer es sich da handeln mag.«
»Du hast dich ja gründlich abgesichert.«
»Aber natürlich, Alex. Diese Akte trägt das Siegel des Weiϐen Hauses. Im Moment ist hier alles einigermaßen ruhig, und niemandem ist damit gedient, sich mit dem Oval Office anzulegen. Zwar sitzt da mittlerweile ein neuer Mann am Tisch, aber der frühere Präsident ist noch sehr lebendig und sehr eigensinnig. Er müsste konsultiert werden. Warum soll man sich Ärger aufhalsen?«
Conklin sah sich jedes Gesicht genau an und sagte ruhig: »Dann kennen Sie die Geschichte also wirklich nicht?«
»Das ist die Wahrheit, Alex«, sagte Casset.
»Mein Wort«, fügte Steven DeSole hinzu.
»Da Sie unsere Hilfe brauchen, könnten wir vielleicht das eine oder andere über die widersprüchlichen Gerüchte hinaus erfahren«, sagte der Direktor. »Ich weiß nicht, ob wir helfen können, aber ich weiß, dass wir manches absolut geheim machen können.«
Alex schaute sich nochmals jeden einzelnen an, wobei sich die Falten in seinem Gesicht deutlicher als sonst abzeichneten – als würde ihm die Entscheidung im Moment äußerst schwer fallen. »Seinen Namen werde ich Ihnen nicht sagen, weil ich ihm mein Wort gegeben habe... vielleicht später, nicht jetzt. Und er ist auch nicht in den Akten zu finden. Nur als Kode, aber auch darauf habe ich mein Wort gegeben. Das Übrige erzähle ich Ihnen, weil ich Ihre Hilfe brauche. Wo soll ich anfangen?«
»Vielleicht bei diesem Treffen?«, schlug der Direktor vor. »Wodurch ist es zustande gekommen?«
»In Ordnung, das geht schnell.« Conklin schaute nachdenklich auf die Tischplatte, griff abwesend nach seinem Stock und hob dann den Blick. »Vergangene Nacht wurde eine Frau in einem Vergnügungspark außerhalb von Baltimore getötet...«
»Ich habe heute früh darüber in der Post gelesen«, unterbrach ihn DeSole. »Mein Gott, warst du...«
»Ich hab’s auch gelesen«, flocht Casset ein und sah Alex an. »Vor einer Schießgalerie. Sie haben sie geschlossen.«
»Ich habe gedacht, es sei irgendwie ein schrecklicher Unfall gewesen.« Valentino schüttelte leicht den Kopf. »Ich habe den Artikel allerdings nicht gelesen.«
»Ich habe den üblichen Packen Zeitungsausschnitte bekommen, was genug Journalismus am frühen Morgen ist«, sagte der Direktor. »Ich erinnere mich nicht an solch einen Artikel.«
»Bist du da drin verwickelt, alter Junge?«
»Nur um den Preis eines ziemlichen Opfers bin ich es nicht... ich sollte sagen, sind wir es nicht.«
»Wir?« Casset legte alarmiert die Stirn in Falten.
»Morris Panov und ich haben identische Telegramme von Jason Bourne erhalten, worin er uns bat, um 21.30 Uhr vergangene Nacht im Vergnügungspark zu sein. Es sei dringend, und wir sollten ihn vor der Schießgalerie treffen, aber unter keinen Umständen zu Hause anrufen. Wir nahmen beide unabhängig voneinander an, dass er seine Frau nicht beunruhigen wollte, dass er uns persönlich etwas sagen musste, was sie nicht wissen sollte... Wir kamen zur selben Zeit an, ich sah Panov zuerst und hatte das Gefühl, dass die Umgebung nicht gut sei. In aller Interesse, vor allem Bournes, hätten wir vorher miteinander reden müssen. Das roch ziemlich nach einer Falle, und ich tat mein Bestes, uns da schnell rauszubekommen. Die einzige Möglichkeit schien mir ein Ablenkungsmanöver zu sein.«
»Du hast einen mittleren Tumult ausgelöst«, sagte Casset nüchtern. »Es war das Einzige, was ich tun konnte, und das Einzige, wozu dieser verdammte Stock gut ist, außer dass er mich aufrecht hält. Ich schlug gegen jedes Schienbein, jede Kniescheibe in Reichweite, ein paar Bäuche und Titten haben auch was abgekriegt. Wir kamen aus dem Kreis heraus, aber die arme Frau wurde getötet.«
»Was stellst du dir vor... hast du eine Ahnung?«, fragte Valentino. »Ich weiß es nicht, Val. Es war eine Falle, das ist keine Frage, aber was für eine Falle? Wenn das, was ich in dem Moment dachte und was ich jetzt denke, stimmt, wie konnte ein gekaufter Pistolenschütze auf diese Entfernung danebenschießen? Der Schuss kam von weiter oben links – nicht, dass ich ihn gehört hätte -, die Stellung der Frau und das Blut überall an ihrem Hals deuteten darauf hin, dass sie sich umgedreht und bei der Drehung die Kugel abbekommen hatte. Sie konnte nicht von der Galerie gekommen sein, die Gewehre dort sind angekettet, und die Fleischfetzen in ihrem Genick wurden von einem stärkeren Kaliber als dem der Spielzeuge dort verursacht. Wenn der Killer entweder Mo Panov oder mich erwischen wollte, hätte er nicht so weit danebenliegen dürfen. Nicht, wenn das, was ich denke, richtig ist.«
»Richtig, Mr. Conklin«, warf der DCI ein, »wenn der Killer Carlos, der Schakal, hieß.«
»Carlos?«, rief DeSole aus. »Was hat in Himmels Namen der Schakal mit einem Mord in Baltimore zu tun?«
»Jason Bourne«, antwortete Casset.
»Bourne war irgendein Abenteurer aus Asien, der nach Europa kam, um Carlos herauszufordern, und verlor. Wie der Direktor gerade gesagt hat, fuhr er zurück in den Fernen Osten und wurde vor vier oder fünf Jahren getötet. Aber laut Alex ist er noch am Leben, da er und jemand mit Namen Panov Telegramme von ihm erhalten haben. Was haben in Gottes Namen ein toter Wirrkopf und der berüchtigtste Mörder der Welt mit vergangener Nacht zu tun?«
»Du warst die ersten Minuten nicht hier, Steve«, sagte Casset. »Offenbar haben sie eine Menge mit vergangener Nacht zu tun.«
»Wie bitte?«
»Ich denke, Sie sollten ganz von vorne beginnen, Mr. Conklin«, sagte der Direktor. »Wer ist Jason Bourne?«
»Nach allem, was man sagt, ist er ein Mann, der nie existiert hat«, antwortete der ehemalige CIA-Agent.

3.
»Der eigentliche Jason Bourne war eine Null, ein paranoider Herumtreiber aus Tasmanien, der irgendwie als Teil einer Operation nach Vietnam kam, an die sich heute kein Mensch mehr erinnern möchte. Er gehörte zu einer Ansammlung von Killern, Taugenichtsen, Schmugglern und Dieben, die meisten entwichene Kriminelle, viele mit einem Todesurteil in der Tasche, aber sie kannten jeden Quadratzentimeter von Südostasien, und sie operierten hinter den feindlichen Linien – von uns bezahlt.«
»Medusa«, murmelte Steven DeSole. »Alles begraben. Sie waren Tiere, die willkürlich, ohne jeden Sinn und ohne Erlaubnis töteten und Millionenwerte haben mitgehen lassen. Wilde.«
»Die meisten, nicht alle«, sagte Conklin. »Aber der eigentliche Bourne passte tatsächlich in jedes nur denkbare Schurkenklischee, er verriet sogar die eigenen Leute. Der Anführer einer besonders gefährlichen Aufgabe – was sage ich, zum Teufel, sie war selbstmörderisch – erwischte Bourne, wie er ihre Position per Funk an die Nordvietnamesen durchgab. Er hat ihn auf der Stelle erschossen und seinen Körper im Dschungel von Tam Quan in einen Sumpf geworfen. Jason Bourne verschwand vom Antlitz der Erde.«
»Offenbar ist er wieder auferstanden, Mr. Conklin«, bemerkte der Direktor und lehnte sich über den Tisch.
»In einem anderen Körper«, gab Alex nickend zu. »Für eine andere Aufgabe. Der Mann, der Bourne in Tam Quan hinrichtete, nahm seinen Namen an und war einverstanden, für eine Operation ausgebildet zu werden, die wir Treadstone Seventy-one nannten, nach einem Gebäude in New York in der 71. Straße, wo er ein brutales Indoktrinierungsprogramm durchmachte. Auf dem Papier war es eine brillante Strategie, die am Ende schiefging wegen etwas, was niemand voraussagen, nicht einmal in Betracht ziehen konnte. Nach beinahe drei Jahren, während derer er in der Rolle des zweitgrößten Mörders der Welt gelebt und nach Europa gegangen war, um – wie Steve schon ganz richtig gesagt hat – den Schakal auf seinem eigenen Territorium herauszufordern, wurde unser Mann verwundet und verlor sein Bewusstsein. Er wurde halbtot im Mittelmeer gefunden und von einem Fischer nach Port Noir gebracht. Er hatte keine Ahnung, wer er war oder was er war. Allerdings war er ein Meister in verschiedenen Kriegstechniken, sprach mehrere orientalische Sprachen, und er war offenbar ein sehr gebildeter Mensch. Mithilfe eines britischen Arztes, eines nach Port Noir strafversetzten Alkoholikers, begann unser Mann sein Leben, seine Identität zu rekonstruieren, aus psychischen und physischen Fragmenten. Es war eine Reise durch die Hölle – und wir, die das Ganze in Szene gesetzt hatten, die den Mythos erfunden hatten, waren keine Hilfe für ihn. Wir wussten nicht, was passiert war. Wir dachten, er sei durchgedreht, er sei wirklich zu dem mythischen Mörder geworden, den wir geschaffen hatten, um Carlos in die Falle zu locken. Ich selbst habe versucht, ihn in Paris zu töten, und als er mir das Gehirn hätte wegblasen können, hat er es nicht getan, er konnte es nicht. Am Ende fand er den Weg zu uns zurück, durch die außerordentlichen Talente einer kanadischen Frau, die er in Zürich getroffen hatte und die heute mit ihm verheiratet ist. Diese Frau hat mehr Verstand als irgendeine Frau, der ich jemals begegnet bin. Und heute sind sie und ihr Mann und ihre beiden Kinder wieder in einen Albtraum geraten und rennen um ihr Leben.«
Den aristokratischen Mund offen, die Pfeife vor seiner Brust, sagte der Direktor: »Sie sitzen hier und wollen uns erzählen, dass der Killer, den wir als Jason Bourne kennen, eine Erfindung war? Dass er nicht der war, für den wir ihn alle gehalten haben?«
»Er tötete, wenn er töten musste – um zu überleben, aber er war kein Killer. Wir schufen diesen Mythos, um Carlos, den Schakal, aus der Reserve zu locken.«
»Gütiger Gott!«, rief Casset aus. »Wie denn das?«