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Buch

Maria ist verzweifelt: Ihre große Liebe Joe wurde erschossen, ihr Sohn Christopher entführt, und was alles noch viel schlimmer macht: Es scheint niemanden zu interessieren. Für die Polizei war Joes Tod ein Unfall, und Christopher hat es für sie nie gegeben. Maria versteht nicht, was vor sich geht. Erst als sie Joes Tagebuch gelesen hat, ahnt sie, in was sie hineingeraten ist. Joe erzählt darin von einem Krieg, der angeblich fast unbemerkt ausgetragen wird. Zwei verfeindete Gruppen bekämpfen sich bis aufs Blut. Joe gehörte einer der Gruppen an. Er wollte aussteigen, doch letztlich konnte er seine Familie nicht beschützen. Jetzt ist es an Maria, ihren Sohn wiederzufinden. Und ihr ist klar, auch wenn es noch so gefährlich ist, sie wird dieses Ziel nicht aus den Augen verlieren. Sie wird nicht eher ruhen, bis sie Christopher in Sicherheit weiß.

Weitere Informationen zu Trevor Shane sowie
zu lieferbaren Titeln des Autors finden Sie
am Ende des Buches.

Trevor Shane

PARANOIA

Die Rache

ZWEITES BUCH

Thriller

Ins Deutsche übertragen
von Thomas Bauer

Die Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel
»Children of the Underground« bei NAL, a member of
Penguin Group (USA) Inc., New York.

1. Auflage

Copyright © der Originalausgabe 2013 by Trevor Shane

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe Juli 2013

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Redaktion: Alexander Groß

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: Getty Images/Stone/Michael Hitoshi

Gestaltung der Innenseiten: UNO Werbeagentur, München

Motiv der Innenseiten: Getty Images/Stone/Michael Hitoshi

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-09905-3

www.goldmann-verlag.de

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»Und was geschah dann?«, fragte das junge Mädchen
die alte Frau, die ihm am Tisch gegenübersaß.

PARANOIA
Zweites Buch

Lieber Christopher,
ich habe ihn endlich gefunden. Es hat fast neun
Monate gedauert, aber ich habe ihn gefunden.
Jetzt ist er wieder weg. Der blutgetränkte Waschlappen
im Waschbecken ist alles, was ich von ihm noch habe.
Beten wir, dass er zurückkommt. Beten wir,
dass er mir dabei hilft, dich zu finden.

In Liebe,
Mom

PARANOIA
DIE RACHE

ERSTES KAPITEL

Ich erinnerte mich an den Geruch von Blut. In größeren Mengen verströmt es einen penetranten Geruch, den man nie wieder vergisst. Als mir dieser Geruch entgegenschlug, wurden unzählige Erinnerungen in mir wach.

Am Vormittag fuhr ich nach Grand Case. Ich hatte eine Zeitschrift bei mir, hinter der ich mich verstecken wollte, wenn ich unter den Gesichtern der Fremden nach dem Mann Ausschau hielt, den ich auf dem Pier gesehen hatte. Ich war aufgeregt – nicht nur wegen der Aussicht darauf, ihn endlich zu finden, sondern auch wegen der Aussicht, das Spiel zu spielen. Zum ersten Mal seit Monaten hatte ich das Gefühl, eine Gewinnchance zu haben.

Grand Case ist so klein, dass ich mir sicher war, ich würde Michael finden, falls er auftauchen sollte. Nicht sicher war ich mir dagegen, wie er auf eine Begegnung mit mir reagieren würde. Es war durchaus möglich, dass er mir die Schuld am Tod deines Vaters gab und deshalb nichts mit mir zu tun haben wollte. Ich wusste selbst nicht, wie ich auf eine Begegnung mit ihm reagieren würde. Ich hatte neun Monate ohne den Krieg verbracht, ohne Gewalt, Blut und Terror. Es würde mir einigen Mut abverlangen, wieder einzusteigen. Manchmal lässt einem das Leben keine Wahl, Christopher. Ich habe mich über deinen Vater lustig gemacht, als er das irgendwann zu mir sagte, aber er hatte recht. Selbst wenn man die Wahl hat, gibt es manchmal nur eine richtige Entscheidung. Ich musste in den Krieg zurückkehren. Nur so kann ich dich vor ihm bewahren.

Als ich in Grand Case ankam, parkte ich meinen Wagen und ging zum Meer. Von der Straße bis zum Strand war es nur ein kurzer Fußmarsch. In der Bucht von Grand Case krümmt sich der Strand in einem fast vollkommenen Halbkreis. Von dort, wo ich auf den Strand trat, sah ich jede Bar, jedes Restaurant, jeden Sonnenbadenden und jedes Sandkorn, die sich alle an das blaue Wasser der Bucht schmiegten. Ich zog die Schuhe aus, marschierte los und grub meine Zehen in den weichen weißen Sand. Ich ging zwei Mal von einem Ende des Strands bis zum anderen und warf dabei einen Blick in jedes Restaurant und jede Bar, um nachzusehen, ob Michael bereits da war. Da ich ihn nirgends entdeckte, suchte ich mir einen Platz am Strand, von dem ich die gesamte Bucht überblicken konnte. Ich setzte mich hin und ließ den Blick über die Gesichter der Leute um mich herum wandern.

Ich saß stundenlang an dieser Stelle, bis ich Michael endlich entdeckte. Als ich ihn sah, war es genauso aufregend und beängstigend wie am Tag zuvor. Für mich hing alles von diesem Mann ab, den ich nie persönlich kennengelernt hatte. Ich entdeckte ihn, als er gerade aus dem Wasser kam. Ich erkannte sein Gesicht, und mir fiel die tiefe Narbe seitlich an seinem Bauch auf, wo ihm ein Messer hineingerammt worden war, als er deinem Vater das Leben gerettet hatte. Sie hatte die Form von Lippen, die für immer schweigen. Ich erkannte ihn auch an seinem drahtigen, muskulösen Körperbau wieder, den ich bereits im Hafen gesehen hatte. Michael war nicht besonders groß, wirkte aber kräftig und beweglich. Während ich ihn beobachtete, wuchs meine Hoffnung, dass er mir helfen konnte. Einen Moment lang glaubte ich, alles würde gut gehen. Ich wusste nicht, dass sich die nächsten vierundzwanzig Stunden als Albtraum entpuppen sollten.

Am Strand war ziemlich wenig los. Michael befand sich knapp fünfzig Meter von mir entfernt, doch zwischen uns standen nur wenige Leute. Außer dem Kreischen der Möwen und dem Rütteln des Windes an den Flaggen der Boote, die in der Bucht vor Anker lagen, war kein Geräusch zu hören. Das Meer war ruhig. Michael streckte sich im Sand aus und schlief ein. Abgesehen von seiner Brust, die sich hob und senkte, war sein Körper völlig regungslos. Während ich ihn beim Schlafen beobachtete, holte ich eine Zigarette aus meiner Tasche und zündete sie an, um meine Nerven zu beruhigen. Als Michael sich schließlich aufsetzte, sein Hemd anzog und auf eines der Restaurants am Strand zusteuerte, war ich bereits bei meiner dritten Zigarette angelangt. Ich warf sie halb geraucht in den Sand, klopfte mich ab und folgte ihm. Mein Plan lautete zu warten, bis Michael drei Drinks intus hatte, bevor ich ihn ansprach. Ich hatte vor, ihm zu sagen, wer ich war und wie oft und wie gerne dein Vater von ihm gesprochen hatte. Ich war bereit, Michael zu erzählen, es sei der letzte Wunsch deines Vaters gewesen, dass er dich irgendwann kennenlernen würde. Ich war bereit zu lügen. Ich war bereit, alles zu tun, was nötig war.

Als ich Stufen hinaufging, die vom Strand in das schattige Restaurant führten, saß Michael bereits mit einem Getränk vor sich an der Bar. Ich gab mir größte Mühe, ihn nicht anzustarren, und setzte mich an einen Tisch mit Blick aufs Wasser. Der Kellner fragte mich, was ich trinken wolle. Aus dem Tagebuch deines Vaters hatte ich gelernt, dass man bei einem Job niemals Alkohol trinken sollte. Ich erinnerte mich an die Geschichten, wenn dein Vater und seine Freunde Sodawasser bestellten, damit es so aussah, als würden sie Alkohol trinken. Ich hatte jedoch einen Drink nötig und bestellte eine Margarita, weil ich glaubte, ich würde damit zumindest den Anschein erwecken, als befände ich mich im Urlaub.

Das Restaurant war etwa halb voll, als ich es betrat, füllte sich jedoch schnell. Der Tag wich langsam der Nacht. Die Männer, die hereinkamen, trugen bunte Hawaiihemden, die Frauen Kleider mit Spaghettiträgern. Michael bestellte sich ein zweites Bier. Ich orderte einen Salat, um nicht vom Kellner von meinem Tisch verscheucht zu werden. Da mir bewusst war, dass ich seit dem Frühstück nichts mehr zu mir genommen hatte, versuchte ich, etwas von dem Salat zu essen, doch meine Kehle war wie zugeschnürt. Ich brachte einfach nichts hinunter. Ein Drink ist unten, fehlen noch zwei, sagte ich mir. Dann sah ich zum ersten Mal einen der Anderen.

Der Mann saß an einem Tisch in der Ecke des Restaurants. Dem Anschein nach war er allein. Auf seinem Tisch stand ein Glas Wein, das allerdings so voll war, dass es aussah, als hätte er noch nicht einmal daran genippt. Vor ihm befand sich ein unangetasteter Teller Pasta mit Meeresfrüchten. Der Mann tat dasselbe wie ich: Er beobachtete Michael. Zunächst glaubte ich, dass ich mir das Ganze nur einbildete. Ich hatte schon mehrmals Schübe von Paranoia gehabt. Als ich mich mit deinem Vater auf der Flucht befunden hatte, sogar ziemlich häufig. Damals hatte ich jedes Mal plötzlich das Gefühl gehabt, als wären alle Blicke auf mich gerichtet, und gedacht, jeder hätte es auf mich abgesehen. Vielleicht ahnte ich jetzt, dass ich mich wieder nahe am Krieg befand. Von deinem Vater hatte ich gelernt, meinen Instinkten zu vertrauen, deshalb richtete ich ein Auge auf Michael und das andere auf den Mann in der Ecke. Ich bildete mir das Ganze nicht ein. Er verfolgte jede Bewegung, die Michael mit bedächtiger Gelassenheit machte, und wandte den Blick immer nur dann ab, wenn Michael sich in seine Richtung drehte. Im Gegensatz zu mir war er kein Amateur. Michael schien ihn nicht zur Kenntnis zu nehmen.

Meine Gedanken überschlugen sich. Ich versuchte, einen Plan zu schmieden. Es kam mir vor, als wäre ich in einer der Geschichten deines Vaters gefangen, nur dass ich unvorbereitet war. Der Mann in der Ecke warf einen Blick auf die Uhr. Dann griff er nach seinem Glas und tat so, als würde er einen Schluck Wein trinken. Er war älter als ich, aber jünger als Michael. Sein Gesicht war hager. Seine Augen und sein Haar waren dunkel. Er sah abermals auf die Uhr, als würde er auf jemanden warten.

Ich stellte mein halb volles Margarita-Glas wieder auf dem Tisch ab und schwor mir, keinen einzigen Tropfen mehr zu trinken. Ich hatte geglaubt, allein Michaels Reaktion auf die Begegnung mit mir fürchten zu müssen. Das war ziemlich naiv gewesen. Ich hätte nie gedacht, Angst davor haben zu müssen, dass jemand anderer Michael vor mir erwischen würde. Wenn Michael etwas zustieß, war ich verloren. Er war alles, was ich hatte.

In diesem Moment kam ein zweiter Mann zur Tür herein.

Der zweite Mann und sein Partner waren ungefähr gleich alt. Mir fiel auf, dass der zweite Mann seinem Kollegen in der Ecke beim Betreten des Restaurants einen flüchtigen Blick zuwarf. Die beiden sahen sich in die Augen, und der Mann in der Ecke tippte auf seine Uhr und schüttelte den Kopf, als rüge er seinen Partner, weil dieser zu spät kam. Der zweite Mann war stämmiger als der erste. Er hatte breite Schultern und tief liegende Augen. Er warf einen Blick in Michaels Richtung und ging auf ihn zu, bis er nur noch ein paar Schritte von ihm entfernt war. Ich hätte am liebsten geschrien. Ich wollte Michael warnen, fand aber nicht den Mut, etwas zu sagen. Der Neuankömmling erreichte Michael und ging an ihm vorbei. Schließlich suchte er sich einen Platz am Ende der Bar. Ich fing wieder an zu atmen. Der zweite Mann bestellte ein Bier, doch ich hätte mein Leben darauf gewettet, dass er es nicht trinken würde. Ich richtete den Blick wieder auf Michael. Er schien nichts von alledem wahrzunehmen, während er alleine sein Bier trank. Die einzige Person, mit der er sprach, war der Barkeeper. Doch Michael war nicht annähernd so allein, wie er glaubte. Ich war wie gelähmt und beobachtete tatenlos das Geschehen, als handle es sich um einen Film. Dein Vater hatte mir beigebracht, wie man flieht. Er hatte mir aber nie beigebracht, wie man kämpft. Ich musste irgendetwas unternehmen. Ich musste Michael warnen. Im Restaurant wurde es immer lauter und an der Bar immer voller. Es wurde schwieriger, Michael im Auge zu behalten, von den anderen beiden ganz zu schweigen. Ich versuchte mir vorzustellen, was Michael an meiner Stelle getan hätte.

Schließlich stand ich von meinem Tisch auf und ging auf die Bar zu. Zunächst gaben meine Beine fast unter mir nach. Ich ignorierte die anderen Gäste, als ich mir den Weg zur Bar bahnte, hindurch zwischen den Körpern einiger Feiernder, die rochen wie ein Gemisch aus Rotwein und Kokosnussöl. Als ich mich endlich an der letzten Person vorbeigezwängt hatte, sah ich, dass der Barhocker neben Michael nach wie vor frei war. Mir blieb keine Zeit, um zu planen, was ich zu ihm sagen würde. Lauf weg oder Sie sind hinter dir her war alles, was mir einfiel. Bevor ich mich auf den Hocker neben Michael setzte, warf ich einen Blick zu dem Mann mit dem hageren Gesicht in der Ecke. Er starrte mich an und wirkte nervös. Er hatte nicht mit mir gerechnet. Ich wandte den Blick wieder von ihm ab und versuchte, das flaue Gefühl in meinem Magen zu ignorieren.

Dann ließ ich mich auf dem Barhocker nieder und drehte mich zu Michael. Als ich das tat, rief mir der Kellner, der mir mein Getränk und meinen Salat gebracht hatte, mit der Rechnung in der Hand hinterher: »Miss, Sie haben vergessen zu bezahlen!« Michael drehte sich daraufhin zu mir und starrte mich an. Unsere Gesichter waren nur Zentimeter voneinander entfernt. Er sah in mich hinein, durch mich hindurch. Ich wollte etwas sagen, aber sein stechender Blick ließ mich erstarren.

Ohne den Blick von mir abzuwenden, rief Michael dem Barkeeper zu: »Jerry, ich muss los. Ich bezahle nächstes Mal, okay?« Dann erhob er sich und ging davon.

Der Barkeeper lachte. »Kein Problem, Michael. Ich schreibe für dich an.« Michael trat auf die Tür zu, die hinaus auf die Straße führte. Ich brachte kein Wort heraus. Ich warnte ihn nicht. Ich hatte keine Gelegenheit. Einen Moment lang saß ich wie gelähmt da, dann sah ich zu dem Mann in der Ecke hinüber. Er hatte sein Portemonnaie hervorgeholt und warf Geld auf den Tisch, um seine Rechnung zu bezahlen. Ich drehte mich wieder zu dem Mann am Ende der Bar um, doch er war nicht mehr da. Er war bereits gegangen. Vermutlich hatte er das Restaurant durch den Ausgang zum Strand verlassen, als er Michael hatte gehen sehen. Der Mann in der Ecke eilte zu der Tür, die zur Straße führte, und ließ ein paar Geldscheine auf dem Tisch zurück. Ich blieb starr vor Panik sitzen.

»Miss, Ihre Rechnung!«, rief mir mein Kellner abermals zu und schwenkte ein Stück Papier über dem Kopf. Ich hatte keine Zeit für ihn. Ich drehte mich um und rannte zur Tür, da ich Michael auf keinen Fall aus den Augen verlieren wollte. Dazu war ich zu nahe dran. Es war mir egal, dass der Mann mit dem hageren Gesicht zwischen mir und Michael stand und dass der Typ mit den tief liegenden Augen irgendwo in der Dunkelheit lauerte.

Ich huschte gerade noch rechtzeitig durch die Eingangstür, um den Mann mit dem hageren Gesicht zu meiner Rechten in der Menge verschwinden zu sehen. Ich folgte ihm so schnell ich konnte durch die Menschenmassen, die jetzt die Straßen bevölkerten. Aus den Restaurants, an denen ich vorbeikam, drang eine dissonante Mischung aus Reggae und Jazz an mein Ohr. Ich schlängelte mich durch die Menge. Touristen lachten und unterhielten sich lautstark. Inmitten anderer Menschen war man in Sicherheit. Michael brauchte nur in der Menge bleiben, dann war er außer Gefahr. Er brauchte nicht zu flüchten. Den Mann mit dem hageren Gesicht hatte ich inzwischen aus den Augen verloren. Ich ging weiter und ließ den Blick über die Gesichter der Leute wandern, die mir entgegenkamen. Irgendwann gelangte ich bei einer menschenleeren kleinen Straße an, die vom Meer wegführte und von dunklen, stillen Gebäuden gesäumt war. In den Lücken zwischen den Gebäuden war außer Schatten nichts zu erkennen. Ich blickte die Straße hinunter. Das Einzige, was ich sah, war die Silhouette eines Mannes, der sich langsam von den Menschenmassen entfernte. Er war allein. Es handelte sich um Michael. Ich erkannte ihn an der Art und Weise, wie er sich bewegte. Er ließ die Sicherheit hinter sich und ging in die Dunkelheit. Wo sich die beiden Männer befanden, wusste ich nicht. Ich hatte sie aus den Augen verloren. Mir war jedoch bewusst, dass sie irgendwo in der Nähe waren. Michael begab sich in unmittelbare Gefahr, ohne es zu ahnen. Ich sah ihm hinterher, bis er in eine zweite, dunklere Gasse einbog, die von der Seitenstraße wegführte. Ich setzte mich rasch in Bewegung und rannte Michael hinterher. Meine Füße schlugen hart auf dem Boden auf, als ich in die Richtung lief, in die ich seine Silhouette hatte verschwinden sehen. Ich folgte ihm in die Dunkelheit und bog ebenfalls in die zweite, finstere Gasse ein. Dann blieb ich wie angewurzelt stehen. Um mich herum herrschte plötzlich völlige Stille. Die Gasse war menschenleer und wurde nur von dem Halbmond erleuchtet, der sich in den zersplitterten Fensterscheiben um mich herum spiegelte.

Ich rief mir in Erinnerung, dass ich allen Grund hatte, Angst zu haben, und duckte mich in den Schatten eines Gebäudes. Ich wagte es nicht, mich zu bewegen. Ich lauschte und hörte über die leise Musik aus den nur wenige Häuserblocks entfernten Restaurants hinweg, wie zwei Personen im Flüsterton miteinander sprachen. Dann vernahm ich Schritte, leise Schritte, die sich schnell von dem Murmeln entfernten. Ich konnte mir nicht zusammenreimen, was vor sich ging, musste Michael aber unbedingt retten. Ohne ihn hatte ich keine Möglichkeit, dich zu finden. Ich setzte mich in Bewegung, sprang von einem Schatten zum anderen, von einer Lücke zwischen zwei Gebäuden zur nächsten. Dabei blieb ich jedes Mal stehen und lauschte, hörte jedoch nichts als Stille.

Ich atmete langsam und bewusst, um meine Angst unter Kontrolle zu bekommen und mich nicht zu verraten. Im Schutz der völligen Dunkelheit zwischen zwei Gebäuden beugte ich mich vor und spähte um die Ecke. Alles, was ich sah, war das Mondlicht, das auf die Straße herabschien. Dann hörte ich ein Geräusch. Ich brauchte einen Augenblick, bis mir bewusst wurde, woher das Geräusch kam – einen schrecklichen Augenblick, in dem ich wie gelähmt war. Irgendetwas war hinter mir, verborgen in der Dunkelheit. Ich hörte keine Schritte, nur ein Rascheln, das wie ein Windstoß klang. Dann sah ich vor mir etwas aufblitzen: einen metallenen Gegenstand, der das Mondlicht reflektierte, als er sich an meinem Gesicht vorbeibewegte. Bevor ich reagieren konnte, spürte ich, wie sich die heiße Klinge eines Messers fest gegen meinen Hals presste. Ich schnappte nach Luft und versuchte, nicht zu atmen, da mir bewusst war, dass das Messer bei der kleinsten Bewegung in meine Haut eindringen würde. Dann spürte ich, wie mir die Arme mit einem festen, schraubstockartigen Griff seitlich an den Körper gedrückt wurden. Ein Arm zog mich nach hinten, bis ich an einen anderen Körper gepresst dastand. Ich konnte mich nicht bewegen. Ich schloss die Augen und versuchte, mich noch ein Mal an dich zu erinnern, da ich glaubte, meine letzte Stunde habe geschlagen.

Ich konnte in der Dunkelheit nichts sehen. »Du hast zehn Sekunden Zeit, um mir zu sagen, warum ich dich nicht töten sollte«, flüsterte mir eine Stimme ins Ohr. Ich erkannte die Stimme. Hätte Michael mich mit seinem Arm, den er um meinen Körper geschlungen hatte, nicht festgehalten, wäre ich zu Boden gefallen.

»Du wirst verfolgt«, flüsterte ich zurück.

»Ich weiß«, erwiderte er. »Du gehörst zu den Anderen.«

Ich war verwirrt. In meiner Eile, Michael zu warnen, hatte ich ganz vergessen, dass er gar nicht wusste, wer ich war. »Nein«, stammelte ich, »ich bin keine von den Anderen.« Ich sprach das Wort so aus, wie dein Vater es immer ausgesprochen hatte, als sei es die schlimmste Beleidigung überhaupt.

»Wer bist du dann?«, wollte Michael wissen. Ich spürte, dass der Druck der Messerklinge an meinem Hals etwas nachließ. Meine Augen gewöhnten sich langsam an die Dunkelheit. Ich konnte die Messerklinge jetzt beinahe sehen.

»Ich bin Joes Freundin«, entgegnete ich.

Michael nahm das Messer von meiner Kehle und drehte mich um, sodass wir uns gegenüberstanden. Meine beiden Arme hielt er jedoch weiterhin fest gepackt. Einen Moment lang starrte er mich nur an, fixierte mich in der Dunkelheit mit seinem Blick. Die Entfernung zwischen uns war so gering, dass ich seinen Gesichtsausdruck sehen konnte. Er wirkte verwirrt und wütend zugleich. Dein Vater war nie leicht zu lesen gewesen, doch er hatte immer nur eine Emotion gezeigt. Michael dagegen zeigte mit einem Blick zig verschiedene Emotionen.

»Bleib hier«, flüsterte Michael mir zu. »Rühr dich nicht von der Stelle. Egal, was passiert, rühr dich nicht von der Stelle. Falls du dich aus irgendeinem Grund bewegst, weiß ich, dass ich dir nicht vertrauen kann.« Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte, deshalb nickte ich einfach. Ich spürte, wie seine Hände meine Arme losließen. Dann verschwand er in die Finsternis. Einen Moment lang stand ich einfach nur da und war erleichtert, dass sich keine Messerklinge mehr in meine Haut grub, fürchtete mich jedoch, da ich wieder allein war. Er hatte gewusst, dass ihm jemand folgte. Mir war nicht klar, wie das möglich war, doch er hatte es gewusst.

Ich stand allein in der Dunkelheit und lauschte der Nacht. Dabei hielt ich mich so still wie möglich und gab mir Mühe, keinen Muskel zu bewegen, da ich hoffte, dass mich meine Regungslosigkeit unsichtbar machen würde.

Alles war ruhig. Ich weiß nicht, wie lange die Stille anhielt. Es gab keinen Anhaltspunkt dafür, wie viel Zeit verging. Irgendwann hörte ich, dass sich etwas in meine Richtung bewegte. Ich vernahm das Geräusch kaum hörbarer Schritte. Wer auch immer auf mich zuging, trat vorsichtig auf dem Schotter auf und versuchte, sich lautlos fortzubewegen. Ich hörte die Schritte nur, weil die Dunkelheit meine Sinne schärfte. Dann sah ich vor mir einen Schatten über die Straße huschen. Ich hielt den Atem an. Es handelte sich um den Mann mit den tief liegenden Augen. Er hielt eine Pistole vor sich. Seine Hände zitterten. Er hätte nur in meine Richtung zu blicken brauchen, und ich wäre geliefert gewesen. Ich hatte mich noch nie in meinem Leben so verwundbar gefühlt. Ich stand in der Dunkelheit da und wagte es nicht, mich zu bewegen. Michaels Vertrauen zu verlieren, wäre in diesem Moment allerdings schlimmer gewesen als der Tod. Plötzlich rannte der Mann vor mir ohne Vorwarnung los. Seine Füße dröhnten auf dem Schotter und klangen für mich so laut wie Trommelschläge. Bum, bum, bum, bum, schallte es in meinen Ohren, und dann, nur wenige Sekunden später, verstummten sie ebenso abrupt, wie sie begonnen hatten. Ich hielt mich so ruhig wie möglich und lauschte angestrengt, um zu hören, was vor sich ging. Geräusche schwebten durch die Nachtluft zu mir. Ich hörte etwas, das für einen Kampf viel zu kurz klang. Ich hörte das Geräusch von Füßen, die über Schotter rutschten, gefolgt von einem tiefen, kehligen Stöhnen. Dann – obwohl ich es noch nie zuvor gehört hatte – drang das unverkennbare Geräusch an mein Ohr, mit dem ein Messer jemandes Haut durchbohrt. Ich hörte einen kurzen, beinahe knallenden Laut, als das Messer Haut durchstieß, und anschließend hörte ich es tiefer in Fleisch eindringen. Ich stand wie gelähmt da. Dann hörte ich ein Schnauben, gefolgt von einem zweiten Eindringen des Messers. Einen Moment lang herrschte völlige Stille. Schließlich vernahm ich einen letzten Atemzug, keuchend und grauenvoll. Nichts auf der Welt klingt wie der letzte Atemzug eines sterbenden Menschen. Ich hatte fast vergessen, wie er sich anhört. Ich wünschte, ich hätte es vergessen. Nachdem jemand anders aufgehört hatte zu atmen, fing ich wieder an zu atmen. Jemand war tot. Ich hatte in der Dunkelheit dagestanden und ihn sterben gehört. Ich betete, dass es sich nicht um Michael handelte.

Anschließend kehrte wieder völlige Stille ein. Ich rührte mich noch immer nicht von der Stelle, wie Michael es mir befohlen hatte, sondern stand nur da, von Schatten vor der Welt verborgen, und wartete auf seine Rückkehr. Michael gelangte allerdings nicht als Erster bei mir an. Der Mann mit den dunklen Augen fand mich zuerst. Ich sah ihn, bevor er mich sah. Er kam die Straße entlang, indem er von Schatten zu Schatten huschte. Die Tatsache, dass er nach wie vor auf der Suche war, bedeutete entweder, dass Michael noch lebte, oder dass sie mit ihm fertig waren und jetzt nach mir Ausschau hielten. Ich beobachtete den Mann. Seine Bewegungen waren unbeholfen. Er sah jünger aus als zuvor im Restaurant. Aus irgendeinem Grund wirkte er nicht viel älter als ein Junge, als ein verängstigter, eingeschüchterter Junge, während er sich den Weg durch die Dunkelheit bahnte. Wie sein Partner hatte auch er eine Pistole in der Hand. Er drehte sich in meine Richtung, ohne sich dessen zunächst bewusst zu sein, und starrte genau in die Gasse, in der ich stand. Dann hielt er inne und versuchte, seinen Blick zu fokussieren. Jede einzelne Zelle meines Körpers sagte mir, dass ich weglaufen sollte, doch ich beherrschte mich. Michael wollte mich testen, und ich würde bestehen. Der Mann trat einen weiteren Schritt auf mich zu, da er sich noch immer nicht sicher zu sein schien, was er sah, hob seine Pistole an und zielte auf mich. Ich befürchtete, er würde womöglich den Abzug betätigen und zur Sicherheit blind in die Gasse feuern, doch das tat er nicht. Er ging einfach auf mich zu, ohne sich noch die Mühe zu machen, sich im Schatten zu verbergen. »Keine Bewegung!«, schrie er, als er näher kam, doch ich hörte noch immer Verunsicherung in seiner Stimme. Er überquerte die Straße und blieb am Ende der Gasse stehen, in der ich mich befand.

Er konnte mich jetzt sehen und richtete seine Pistole auf meine Brust. Der Abstand zwischen uns betrug weniger als anderthalb Meter. »Du bist es«, sagte er, seine Stimme voller Erstaunen und Wut. »Das Miststück aus dem Restaurant.« Er hob seine Pistole noch ein Stück weiter an, sodass sie auf meinen Kopf gerichtet war. »Wo ist dein Freund?«, fragte er. Ich gab keine Antwort. Ich machte keine Bewegung. Ich starrte in die Mündung der Pistole und hatte keine Angst. Niemand konnte mir mehr wehtun, als mir bereits wehgetan worden war. »Okay, ich gebe dir drei Sekunden, um mir zu antworten, dann drücke ich ab.«

»Eins«, zählte er. Ich starrte ihn an. Ich fühlte mich stärker als je zuvor. »Zwei.«

Michael bewegte sich so schnell, dass ich ihn nicht kommen sah. Er muss irgendein Geräusch verursacht haben, doch ich hörte ihn auch nicht. Mir fiel nur auf, dass die Pistole des Mannes mit den dunklen Augen, unmittelbar bevor er »drei« sagte, nicht mehr auf mich, sondern in den Himmel gerichtet war. Der ganze Körper des Mannes hatte sich gedreht, sodass ich jetzt sein Profil sah, das vom Licht auf der Straße umrahmt wurde. Dann sah ich Michael vor ihm stehen. Aus seiner rechten Hand ragte die Klinge seines Messers hervor. Mit der linken hielt er das Handgelenk des Mannes gepackt und zog die Pistole in Richtung Himmel. Dann rammte er dem Mann die Messerklinge in die Kehle. In diesem Augenblick nahm ich den Geruch von Blut wahr und erinnerte mich wieder, dass es roch wie eine Mischung aus Leben und Tod. Michael drehte sein Messer wie einen Korkenzieher, und der Mann mit den dunklen Augen fiel auf die Knie. Inzwischen konnte ich das Blut auch sehen, das vom Hals des Mannes zu Boden tropfte. Im Mondlicht sah es dunkel und unwirklich aus. Michael zog sein Messer aus dem Hals des Mannes und wischte an dessen Hemd das Blut von der Klinge. Dann ließ er den Toten los, der mit einem dumpfen Geräusch auf den Boden fiel.

Michael drehte sich zu mir um. »Was zum Teufel machst du da?«, fuhr er mich an. »Bist du völlig bescheuert?«

»Du hast mir doch gesagt, dass ich mich nicht bewegen soll«, erwiderte ich.

»Ich habe gemeint, du sollst dich nicht von hier wegbewegen«, sagte Michael und deutete mit einer halbkreisförmigen Armbewegung auf die dunkle Gasse, in der ich gestanden hatte. »Ich habe nicht gemeint, du sollst dich gar nicht bewegen. Meine Güte.« Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte. Ich hatte nur getan, was er mir befohlen hatte.

»Ich wollte, dass du mir vertraust«, erklärte ich.

Michael starrte mich an, als sei ich verrückt, und schüttelte den Kopf. »Hilf mir, die Leichen loszuwerden«, forderte er mich auf. »Die andere liegt in einer Mülltonne am Ende der Straße.« Er bückte sich und warf sich ohne ein weiteres Wort die Leiche des Mannes mit den dunklen Augen über die Schulter. »Keine Sorge«, sagte er. »Ich mache das nicht zum ersten Mal.« Seine Versicherung sorgte nicht dafür, dass ich mich besser fühlte.

Es dauerte länger, die Leichen loszuwerden, als Michael gebraucht hatte, um die beiden Männer zu töten. Wir warfen ihre Leichen in das Verdunstungsbecken, das die Landebahn des Flughafens von Grand Case umgibt. Ich versuchte, ins Wasser zu blicken, als wir sie hineinwarfen, und fragte mich, wie viele andere Leichen dort wohl liegen mochten, sah aber nur mein Spiegelbild auf der glänzend schwarzen Wasseroberfläche. Als wir fertig waren, herrschte tiefschwarze Nacht. Es würde nicht mehr lange dauern, bis der Morgen anbrach.

Während wir arbeiteten, sprachen wir kaum miteinander. Anschließend wollte Michael von mir wissen, wo sich meine Unterkunft befände. Ich sagte es ihm. »Gut«, entgegnete er. »Ich bleibe bei dir.«

ZWEITES KAPITEL

Ich wartete, bis die Sonne aufging, bevor ich es wagte aufzustehen. Trotz heruntergelassener Jalousien zwängten sich Sonnenstrahlen durch Spalten in den Fensterrahmen und den Wänden. Ich hörte Vögel. Zuerst hörte ich das Kreischen der Möwen und dann das Zwitschern von Singvögeln in den Bäumen vor unserem Zimmer. Michael lag noch immer wie versteinert da, nachdem er ohne Kissen und Decke an der Tür des Motelzimmers auf dem Boden übernachtet hatte. Er hatte einfach die Hände hinter dem Kopf verschränkt und die Augen geschlossen. Ich dagegen hatte überhaupt nicht geschlafen, da zu viel Adrenalin durch meine Adern floss. Ich war dem Tod schon lange nicht mehr so nahe gewesen. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass ich mich langsam wieder an ihn gewöhnen sollte.

Ich kletterte so leise wie möglich aus dem Bett und ging ins Bad, um mir das Gesicht zu waschen und die Zähne zu putzen. Und um mich im Spiegel anzusehen. Mit Spiegeln stand ich seit einiger Zeit auf Kriegsfuß. Ich erkannte die Frau, die mir entgegenblickte, nur noch mit Mühe. Sie sah müde, traurig und verloren aus. Ich ließ das Wasser laufen, bis es möglichst kalt war, und spritzte mir etwas davon ins Gesicht. Dann nahm ich die Seife und schrubbte mir die Hände. Mit derselben Seife wusch ich mir auch das Gesicht. Ich putzte mir die Zähne. Danach fühlte ich mich besser. Ich fühlte mich halbwegs gesäubert. Noch tausend Tage, dann würde ich mich vielleicht wirklich sauber fühlen.

Ich öffnete die Badezimmertür und ging zurück zum Bett. Dabei huschte mein Blick zu der Stelle auf dem Fußboden vor der Tür. Sie war leer. Michael war verschwunden. Das Herz rutschte mir in die Hose. Ich hob den Blick. Die Türkette hing nach wie vor zwischen Tür und Wand. Die Fenster. Ich drehte mich um und sah nach, ob eines von ihnen geöffnet war.

»Ich bin noch da«, ertönte eine Stimme aus der Ecke des Zimmers. Ich fuhr herum. Michael saß in einem Sessel an der hinteren Wand. »Noch bin ich nirgendwohin gegangen.« Er saß zusammengesunken da und hatte einen Fuß auf der Armlehne abgestützt. Das Licht, das durch die Jalousien fiel, warf Schatten auf sein Gesicht. Ich wollte endlich etwas zu ihm sagen, brachte jedoch wieder kein Wort heraus. Michael nahm den Fuß von der Armlehne, beugte sich in dem Sessel nach vorn und stützte die Ellbogen auf die Knie. »Was machst du hier?«, fragte er.

»Ich bin Joes Freundin«, sagte ich abermals, als würde das seine Frage beantworten.

»Ich weiß. Ich habe dich von dem Foto erkannt.«

»Von welchem Foto?«, fragte ich verwirrt.

»In Joes Akte«, erwiderte Michael. »Als Joe mit dir auf der Flucht war, haben sie allen seine Akte geschickt – seinen Freunden, seinen Feinden, einfach jedem.« Ich wusste von der Akte. Ich hatte sie bei dem Jugendlichen gesehen, den dein Vater in Ohio erschossen hatte. Ich weiß noch, wie unwirklich es mir vorkam, als ich ein Foto von mir darin entdeckte. »Ich erinnere mich, dass ich die Akte durchgesehen habe, um herauszufinden, warum Joe abgehauen ist. Ich habe deine Biografie gelesen. Ich habe das Foto von dir gesehen.« Michael blickte zu mir auf. »Du hast dich verändert.« Er hielt inne. »Du wirkst älter.« Seine Stimme klang traurig, ganz anders, als ich erwartet hatte.

»Ich bin älter«, sagte ich zu ihm. »Hast du dem Krieg den Rücken gekehrt, als du Joes Akte bekamst?«

»Ich habe dem Krieg nicht den Rücken gekehrt«, entgegnete Michael mit dem Lächeln eines Lügners. Er betrachtete seine Hände. Sie waren noch immer blutverschmiert. »Ich führe nur keine Befehle mehr aus.« Ich fragte mich, ob Blut in sein Haar gelangt war, als er mit hinter dem Kopf verschränkten Händen geschlafen hatte. Ich ging ins Badezimmer, holte einen nassen Waschlappen und reichte ihn Michael. Als er sich das Blut von den Händen wischte, verfärbte sich der Waschlappen dunkelrosa. »Aber, ja«, fügte Michael mit einem Nicken hinzu, »seitdem führe ich keine Befehle mehr aus.«

»Haben sie deine Akte auch verschickt?«, erkundigte ich mich. »Ist das der Grund, warum dich diese Leute gestern Abend gefunden haben?«

»Nein«, erwiderte Michael. »Ich wurde nicht ausgegrenzt. Ich werde nur nicht mehr beschützt.«

»Und wer waren diese Typen?«

»Es hat sich rumgesprochen, dass ich mich hier auf der Insel verkrochen habe.« Michael wischte sich das restliche Blut von den Händen und legte den blutgetränkten Waschlappen auf den Tisch neben seinem Sessel. »Deshalb kommen sie hier angetanzt und versuchen, sich einen Namen zu machen, indem sie mich umlegen. Anfangs waren es nur wenige, alle paar Wochen einer. Inzwischen sind es mehr, und sie tauchen zu zweit oder manchmal auch zu dritt auf. Das ist wie eine Rattenplage.«

»Und du tötest sie alle?«, fragte ich.

»Na ja, zuerst bitte ich sie, wieder zu gehen«, sagte Michael. Seinen Sarkasmus hatte ich verdient.

»Wie kannst du das auf Dauer durchhalten?«

»Das kann ich nicht«, sagte Michael. »Irgendwann wird mich jemand erwischen.« Seine dunkelblauen Augen leuchteten kurz auf, als sich ein Sonnenstrahl durch die Jalousien zwängte. »Ich werde es ihnen aber nicht leicht machen.« Wir schwiegen eine Weile. »Du hast meine Frage immer noch nicht beantwortet«, sagte Michael dann und brach das Schweigen. »Warum bist du hier?«

Mir fiel nichts Diplomatisches ein, was ich darauf hätte erwidern können. »Ich brauche deine Hilfe«, sagte ich.

»Meine Hilfe wobei?«

»Du musst mir helfen, meinen Sohn zurückzuholen.« Ich holte tief Luft und versuchte, gegen die Tränen anzukämpfen, die ich in meinen Augen spürte. »Du musst mir helfen, Joes Sohn zurückzuholen.«

»Wozu soll das gut sein?« Michael erhob sich und ging zum Fenster. Er schob die Lamellen der Jalousie mit den Fingern auseinander und spähte nach draußen.

»Ich möchte ihn retten. Ich möchte ihn vor dem Krieg bewahren.«

Michael lächelte abermals. Es war ein trauriges Lächeln. Dann schüttelte er den Kopf. »Du kannst ihn nicht vor dem Krieg bewahren. Der Krieg ist in seinem Blut. Er wurde hineingeboren. Er ist genauso ein Kind der Paranoia, wie ich es bin und wie Joe es war. Wie sehr du dich auch bemühst, der Krieg wird ihn finden.«

»Das glaube ich nicht«, entgegnete ich.

»Glaub, was du willst, kleines Mädchen«, sagte Michael. »Was du glaubst, ändert nichts an der Wahrheit.« Seine Worte schmerzten.

»Ist dir bewusst, dass Joes Sohn auf der anderen Seite aufwachsen wird, wenn wir ihn nicht zurückholen?«

»Ich denke nicht, dass mich das was angeht«, erwiderte Michael, doch ich bemerkte etwas in seinem Blick. Anteilnahme. Ich sah es, wenn auch nur für eine Sekunde.

»Warum sollte dich das nichts angehen? Wenn wir Joes Sohn nicht finden, wird er zu einem Feind von dir heranwachsen. Er wird zu einem von den Typen heranwachsen, die du in diesem See versenkst.«

»Oh, das glaube ich nicht, Maria«, sagte Michael und lachte. »Wenn dein Sohn anfängt zu kämpfen, bin ich längst tot. Da bin ich mir ganz sicher.«

»Sein Name ist Christopher«, entgegnete ich und suchte nach Worten, auf die Michael keine Antwort haben würde. »Joe hat den Versuch, ihn aus dem Krieg herauszuhalten, mit dem Leben bezahlt.«

»Joe war ein Träumer«, erwiderte Michael.

»Witzig, genau dasselbe hat er von dir gesagt.«

»Ja, ich war auch ein Träumer«, entgegnete Michael. »Aber jetzt ist Joe tot, und ich bin kein Träumer mehr.«

»Warte, ich habe etwas für dich.« Ich ging zum Schrank, griff ins oberste Fach und nahm das Tagebuch deines Vaters heraus. Ich hatte nicht geplant, Michael das Tagebuch zu geben. Die Idee kam mir spontan. Wenn es mir nicht gelang, Michael zu überzeugen, vielleicht würde es deinem Vater gelingen. Ich drückte Michael das Tagebuch in die Hand. Die Seiten waren bereits abgegriffen, nachdem ich sie immer und immer wieder gelesen hatte. »Das ist Joes Tagebuch. Ich habe Joe gebeten, es zu führen.« Ich steckte die verknitterten Seiten, die ich über den Tag geschrieben hatte, an dem sie dich mitgenommen hatten, hinten in das Tagebuch. Michael hatte es verdient zu erfahren, wie sein Freund gestorben war.

Er hielt das Tagebuch in den Händen und betrachtete es, als sei er sich nicht sicher, ob er es überhaupt haben wollte. Dann hob er die Hand und rieb über die Bartstoppeln auf seinen Wangen. »Komme ich auch drin vor?«, fragte er mit leiser Stimme.

»So habe ich dich gefunden«, erklärte ich ihm.

»Darf ich es mitnehmen?«, fragte Michael. Er war im Begriff zu gehen. Ich konnte ihn nicht aufhalten. Ich konnte bloß versuchen, ihn dazu zu bringen, wieder zurückzukommen.

»Nur, wenn du mir versprichst, dass du es mir zurückgibst.«

»Versprochen«, sagte Michael. »Du kannst dich auf mich verlassen.«

»Ich weiß«, entgegnete ich. »Deshalb bin ich hier.« Ich griff nach Michaels Hand und schloss sie fest um das Buch. Sie fühlte sich dick und verwittert an.

Er betrachtete meine Hand, die auf seiner lag, dann drehte er sich um, ging zur Tür und hakte die Kette aus. »Bin ich hier in Sicherheit?«, fragte ich ihn, bevor er ging.

»Glaubst du etwa, ich bin letzte Nacht hiergeblieben, um dich zu beschützen?«, fragte Michael, als er die Tür öffnete. Die Sonne blendete mich. Das Zimmer wurde von Licht durchflutet. »Du musst noch eine Menge lernen, Maria. Ich bin letzte Nacht zu meinem Schutz hiergeblieben, nicht zu deinem.« Michael trat ins Tageslicht hinaus. »Dir wird nichts passieren. Sie haben es auf mich abgesehen. Jetzt, wo Joe tot ist, interessiert sich niemand mehr für dich.« Dann ging er zur Tür hinaus und schloss sie hinter sich.

Bislang ist er noch nicht zurückgekehrt. Ich darf die Hoffnung nicht verlieren. Mir bleibt nichts anderes übrig.

DRITTES KAPITEL

In dieser Nacht hatten sie zu zwölft in dem Haus geschlafen. Soweit Addy und Evan wussten, waren sie beide die Einzigen, die lebend herausgekommen waren. Dutty war tot. Soledad und Kevin ebenfalls. Und alle anderen.

Evan wachte in einem fremden Bett auf, und der Rauch schnürte ihm die Kehle zu. Er spürte die Hitze des Feuers und brauchte einen Moment, bis er sich wieder erinnerte, wo er sich befand. Dann hörte er Schüsse. Es herrschte völliges Chaos. Er hörte Menschen rennen und schreien. Der Rauch im Zimmer erschwerte ihm die Sicht. Er blickte zu dem anderen Bett hinüber. Es war leer. Die Abwesenheit seines Freundes machte alles noch schlimmer. Evan setzte sich im Bett auf und rief seinen Namen. Keine Antwort. Auf sein Rufen folgte unmittelbar ein Hustenanfall, als der Rauch in seine Lunge kroch und sein Körper versuchte, ihn wieder loszuwerden. Weitere Schüsse. Evan rollte sich vom Bett auf den Fußboden. Er schrie noch einmal den Namen seines Freundes und war sich sicher, dass er dieses Mal eine Antwort bekommen würde.

Addy hörte Evan durch den Rauch hindurch rufen. Sie war bereits dabei, sich einen Weg zu ihm zu bahnen, als sie seine Stimme hörte. Es war eine Erleichterung, sie zu hören. Addy kroch auf dem Boden entlang, unter dem Rauch und den Schüssen hindurch. Sie wusste, in welchem Zimmer sich Evan befunden hatte, war sich jedoch nicht sicher gewesen, ob er sich noch darin aufhielt und am Leben war, bis sie seine Stimme hörte. Genau genommen hatte sie keine Ahnung, ob das Zimmer überhaupt noch existierte. Womöglich hatten die Flammen es längst verschlungen. Sie kroch so schnell sie konnte, doch die Tatsache, dass sie nicht tief einatmen konnte, bremste sie. Sie spürte die Hitze und den Rauch in ihrer Lunge, die wenig Platz für Luft ließen. Ihre Augen brannten. Tränen liefen ihr die Wangen hinunter. Sie hörte weitere Schüsse, wusste jedoch nicht, ob die Kugeln ihr Ziel fanden oder einfach nur wie Raketen durch den Rauch schnitten. Dann hörte sie Evan erneut rufen. Sie wusste, dass er nicht nach ihr rief, setzte ihren Weg zu ihm aber trotzdem fort. Sie hatte ein Versprechen gegeben.

Addy kroch in die Richtung, aus der Evans Stimme ertönte. Als sie sich ihm näherte, sah sie ihn neben dem Bett auf dem Fußboden liegen. Sie war nur noch drei Meter von ihm entfernt und bemerkte, wie sich seine Brust hob, als er wie sie nach brauchbarer Luft schnappte. »Evan, alles in Ordnung mit dir?«, rief Addy ihm durch den grauen Dunst zu, wobei ihr Rufen nicht viel lauter als ein heiseres Flüstern klang.

»Addy!«, erwiderte Evan, und seine Augen suchten in dem Chaos nach ihr. »Ich bin okay. Was ist mit …?«, setzte Evan an.

Addy fiel Evan ins Wort. Sie wusste, was er fragen wollte. Er wollte nach ihm fragen. »Er ist nicht mehr da!«, rief sie ihm zu und schüttelte den Kopf. Ihr war klar, worauf ihre Worte schließen ließen. Sie wusste, was Evan dachte, als er sie hörte. Sie wollte, dass er es dachte. In diesem Moment war der Tod besser als die Wahrheit – zumindest war er zweckmäßiger.

Evan konnte kaum glauben, was er gehört hatte. Wie konnte sein bester Freund tot sein? Er erstarrte. Das Ganze ergab einfach keinen Sinn. So etwas passierte nicht – nicht dort, wo er herkam. Addy sah, wie Evan erstarrte. Sie hatte damit gerechnet, da sie wusste, dass er im Gegensatz zu ihr an so etwas nicht gewöhnt war. Er war nicht mit Gewalt und Tod und Paranoia aufgewachsen. Wenn sie dem Feuer und den Kugeln entkommen wollten, musste sie ihn hinauslotsen.

Addy kroch auf Evan zu, bis sie sich neben ihm befand. Er lag auf dem Fußboden, mit dem Gesicht so nahe wie möglich am Teppich, und rang nach Atem wie ein Ertrinkender. »Wir müssen irgendwie versuchen, hier rauszukommen!«, schrie Addy Evan zu, um ihn aus seiner Erstarrung zu reißen. »Wir müssen abhauen!« Addy streckte den Arm aus und packte Evans Hand. Evan spürte Addys Hand auf seiner landen. In der immer größeren Hitze im Zimmer fühlte sich ihre Hand beinahe kühl an. »Bist du bereit?«, fragte sie ihn. Er war jung und kräftig und wollte nicht auf dem Boden liegend sterben. Er fragte Addy nicht, wohin sie laufen würden, sondern nickte einfach.

Dann erhoben sie sich gemeinsam und rannten los.

Addy hatte vor, zur Tür zu laufen. Ein anderer Weg nach draußen fiel ihr nicht ein. Vermutlich hätte sie wissen müssen, dass die Angreifer die Tür im Visier hatten. Nachdem Evan und Addy aufgestanden waren, sahen sie nichts als Rauch und die roten Laserstrahlen der Gewehre der Angreifer, die im Rauch tanzten. Obwohl sie sich an der Hand hielten, konnten sie sich gegenseitig kaum erkennen. Sie hörten allerdings das Prasseln des lodernden Feuers, und sie hörten Gewehrschüsse. Trotzdem rannten sie weiter. Als sie sich der Tür näherten, nahm die Häufigkeit der Schüsse zu, und sie hörten Menschen aufstöhnen. Dann stolperte Evan, stürzte und riss Addy mit zu Boden. Evan blickte sich um: Er war über einen Toten gestolpert. Vom Boden aus, unter den Rauchschwaden, sah er überall im Flur Leichen liegen. Er zählte vier. Dann hörte er einen Schrei und wusste ebenso wie Addy, dass es sich um den Schrei von jemandem handelte, der von den Flammen verschlungen wurde. Durch die offene Tür kamen weitere Kugeln geflogen. Wer auch immer für den Überfall verantwortlich war, versuchte, sie regelrecht auszuräuchern. Die uniformierten Angreifer standen mit ihren Gewehren vor dem Haus und warteten auf diejenigen, denen es gelang, durch die Tür vor dem Feuer zu fliehen. Vermutlich hatten sie das Feuer gelegt, indem sie eine Brandbombe durch eines der Fenster geworfen hatten, während alle geschlafen hatten. Jetzt beobachteten sie die Tür und schossen diejenigen, die ins Freie rannten, wie Schießbudenfiguren auf einem Jahrmarkt ab. Bei dem Gewehrfeuer handelte es sich nicht um einzelne Schüsse, sondern um automatische Salven, die klangen wie Marschtrommeln aus der Hölle und jeden niederstreckten, der aus dem Rauch auftauchte. Evan warf einen Blick auf die Toten und suchte nach der Leiche seines Freundes, doch selbst unterhalb der Rauchschwaden war es zu dunstig, um etwas erkennen zu können.

Evan und Addy hielten sich noch immer an der Hand. »Das Fenster!«, schrie Evan. Es befand sich auf der anderen Seite des Zimmers, gegenüber der Tür.

»Das haben sie sicher auch im Visier!«, rief Addy, ehe sie einen heftigen Hustenanfall bekam.

Evan blickte sich um. Er sah keine Flammen, nur Rauch, stellte jedoch schnell fest, dass er die Flammen nicht zu sehen brauchte, um ihre Hitze zu spüren. Seine Haut brannte. »Entweder wir versuchen es durch das Fenster, oder wir verbrennen hier drin«, sagte er zu Addy. Weitere Schüsse hallten durch die Luft wie ein Ausrufezeichen hinter Evans Worten. Die Schreie schienen vorläufig verstummt zu sein.

»Wir müssen die Scheibe einschlagen«, sagte Addy. »Das Fenster bekommen wir niemals auf.« Jedes Wort war eine Anstrengung. »Wir werfen irgendwas raus, um sie abzulenken, und dann springen wir.«

»Da in der Ecke steht ein Stuhl«, sagte Evan. Er kroch hinüber, packte den Stuhl und zerrte ihn zurück zu Addy.

»Lass es uns gemeinsam machen«, sagte Addy zu Evan. »Bei ›eins‹ schlagen wir die Scheibe ein.« Sie holte Luft. »Bei ›zwei‹ werfen wir den Stuhl raus. Bei ›drei‹ springen wir.« Sie wussten beide, dass sie nicht gleichzeitig durch die Fensteröffnung passten. »Ich zuerst«, sagte Addy. Sie war sich darüber im Klaren, dass es einem Todesurteil gleichkam, als Erste zu springen, wenn die Angreifer das Fenster im Visier hatten.

»Okay«, sagte Evan. Sie sprachen nicht darüber, ob sie mit einer Lunge voll heißer Asche überhaupt würden rennen können. Entweder würde es ihnen gelingen zu fliehen, oder sie würden sterben. Das war etwas, worüber sie nicht zu diskutieren brauchten.

Evan und Addy richteten sich auf. Ihre Köpfe befanden sich jetzt wieder im Rauch, der ihnen die Sicht raubte. Sie hielten den Stuhl von beiden Seiten. »Eins«, rief Addy, und sie schwangen den Stuhl in Richtung Fenster. Trotz des Rauchs hatten sie richtig gezielt. Die Fensterscheibe zersplitterte. Sie ließen den Stuhl nicht los, da sie ihn noch brauchten, um von sich abzulenken. Als die Scheibe barst, wurde sofort Rauch nach draußen gesaugt. Für den Bruchteil einer Sekunde hatten Addy und Evan das Gefühl, wieder atmen zu können. Einen weiteren Sekundenbruchteil später hörten sie Kugeln in die Wand neben dem Fenster einschlagen. Das spielte jedoch keine Rolle – für einen Plan B war keine Zeit. »Zwei!«, rief Addy, und sie warfen den Stuhl durch die Fensteröffnung nach draußen. Der Stuhl wurde im Fallen von einer weiteren Gewehrsalve verfolgt. »Drei!«, schrie Addy und sprang zum Fenster hinaus. Evan sprang ihr hinterher, ohne auch nur einen Augenblick zu zögern.

Addy blieb mit einem Bein an einer Glasscherbe hängen, als sie zum Fenster hinaussprang, und zog sich dabei eine kleine Schnittwunde zu, die sie jedoch kaum zur Kenntnis nahm. Die frische, rauchfreie Luft wirkte wie ein Zaubertrunk, wie ein Heilmittel gegen alle Schmerzen. Als Addy landete, hörte sie neben sich Kugeln in die Wand einschlagen. Sie rollte sich von dem Geräusch weg. Die Angreifer hatten aus ihrer Position keine direkte Sicht auf Addy und Evan, als sich die beiden aus dem kaputten Fenster stürzten, sondern schossen aus einem ungünstigen Winkel auf sie. Dabei durchlöcherten sie das ohnehin schon zerstörte Gebäude, verfehlten jedoch ihr eigentliches Ziel. Evan landete einen Sekundenbruchteil nach Addy auf dem Boden. Und in diesem Sekundenbruchteil klärte sich Addys Sicht. Sie schloss fest die Augen und ließ ihre Tränen die Asche fortspülen. Als sie die Augen wieder öffnete, sah sie zwei Männer mit Gewehren auf sie zulaufen. Sie trugen Sondereinsatzkommando-Uniformen der Polizei von Los Angeles. Addy streckte die Hand aus und packte Evan. »Los!«, schrie sie mit aller Kraft, die sie aufbringen konnte. Dann zerrte sie Evan auf die Beine, und sie rannten los.