Originaltitel: SAMURAI
© 1980, The Heirs of Shusakū Endō
All rights reserved
Die Übersetzung von Jürgen Berndt wurde behutsam überarbeitet
und der neuen deutschen Rechtschreibung angepasst.
Shūsaku Endō, Samurai
© 2016, Septime Verlag, Wien
Alle Rechte vorbehalten
Cover und Satz: Jürgen Schütz
Coverbild, Samurai: © shutterstock–KUCO
EPUB-Konvertierung: Esther Unterhofer
ISBN: 978-3-90306-39-2
Printversion: Hardcover, Schutzumschlag, Lesebändchen
ISBN: 978-3-902711-56-4
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Shūsaku Endõ
(1923 – 1996) studierte französische Literatur in Japan und katholische Literatur in Frankreich. Er gilt in Japan als einer der bedeutendsten zeitgenössischen Schriftsteller und erhielt zahlreiche Preise, u.a. den »Akutagawa-Preis«, den wichtigsten japanischen Literaturpreis. Seine Haupt-Werken zählen die Romane Schweigen, Samurai und Skandal. Letzte erscheinen in weiterer Folge ebenfalls bei Septime.
Klappentext:
Hasekura Rokuemon, Landadeliger und Samurai, führt ein zufriedenes Leben mit seiner Familie in eigenem Hof und Heim. Doch er gehorcht, als man ihn als Abgesandten in die Länder der sogenannten Südbarbaren schickt. Zusammen mit einer Gruppe von Kaufleuten und dem spanischen Franziskaner Velasco, dessen einziges Ziel es ist, Bischof in Japan zu werden, bricht er im Jahre 1613 zu einer gefährlichen Reise auf, die ihn nach Mexiko, Spanien und Italien führt. Der Auftrag lautet: Anknüpfung von Handelsbeziehungen zwischen Japan und Nueva España.
Gegen seine innerste Überzeugung lässt Hasekura Rokuemon die Taufe über sich ergehen, um die Mission nicht zu gefährden. Dass dies Pater Velasco mehr dienen soll als ihm selbst, merkt er zu diesem Zeitpunkt nicht.
Die Einblicke des Samurai in die fremde Welt des Abendlandes werden bei seiner Rückkehr zum Fluch. Während der jahrelangen Abwesenheit der Gesandtschaft haben sich die Verhältnisse in Japan geändert: Die Christen sind mittlerweile schärfsten Verfolgungen ausgesetzt, und an Handelsbeziehungen mit dem Westen besteht kein Interesse mehr.
»Ein packendes Buch, wunderschön geschrieben.«
New Statesman
Shūsaku Endō
SAMURAI
Roman
Aus dem Japanischen von Jürgen Berndt
Zu diesem Buch
Japan liegt zwar am äußersten Rand des Fernen Ostens, doch zu Beginn des 17. Jahrhunderts lief es Gefahr, vom Mahlstrom der internationalen Politik verschlungen zu werden. Die europäischen Nationen unternahmen große Anstrengungen, ihren Einflussbereich auf Asien auszudehnen. Sie errichteten Kolonien, bauten Handelsflotten und lieferten sich Schlachten auf den Meeren Asiens. Japans Herrscher Ieyasu bemühte sich mit allen Mitteln, sein Land vor einer Invasion zu schützen. Sein Vorgänger hatte die christliche Missionstätigkeit in Japan zum Schein unterbunden, sie in Wirklichkeit aber mit Rücksicht auf den Handel toleriert. Ieyasu hingegen war ein strenggläubiger Buddhist und unterdrückte die Missionare in mehreren Phasen, weil er sie für die Vorhut der Eroberer hielt. Der kluge Taktiker beschränkte sich jedoch nicht nur darauf, den inneren Frieden zu sichern. Damit Japan den Übergriffen der europäischen Mächte standhalten konnte, entschloss er sich, in den Konflikt einzugreifen, der auf dem Pazifik ausgetragen wurde. In dieses Vorhaben, das ein beachtliches politisches Kalkül verriet, wurden auch ahnungslose Mitspieler einbezogen: vier Samurais niederen Ranges und ein vom Ehrgeiz besessener spanischer Priester.
Als ich den Samurai schrieb, hatte ich nicht vor, die Zustände im Japan des 17. Jahrhunderts in aller Breite darzustellen. Aber zweifellos hat der Leser eine anschaulichere Vorstellung von den Schauplätzen des Romans, wenn er mit dem historischen Hintergrund vertraut ist.
Shūsaku Endō
1
Es schneite.
Eben noch waren zwischen den Wolken hindurch ein paar spärliche Sonnenstrahlen auf die steinige Flussniederung gefallen, doch gegen Abend verdüsterte sich der Himmel und es wurde mit einem Mal still. Einzelne Schneeflocken schwebten zu Boden. Sie streiften den Kittel des Samurais, der zusammen mit seinen Leuten in der Niederung Holz schlug, legten sich auf Gesichter und Hände und schwanden, als wollten sie von der Unbeständigkeit des Lebens künden. Schweigend schwangen die Männer ihre Äxte. Der Schnee begann immer stärker zu wirbeln, mischte sich mit dem aufsteigenden Abendnebel und verwandelte alles in dichtes Grau.
Der Samurai und seine Leute beendeten ihre Arbeit und luden sich die Holzbündel auf den Rücken. Sie brauchten Feuerung für den nahenden Winter. Schnee klebte ihnen an der Stirn, als sie wie ein Ameisenzug am Fluss entlang ihren Behausungen zustrebten.
Am Rande der von laubkahlen Hügeln umschlossenen Ebene lagen drei kleine Dörfer. Unmittelbar hinter den Häusern stiegen die Hänge steil an und vor ihnen dehnten sich die Felder, sodass man schon von drinnen jeden Fremden, der ins Tal kam, erspähen konnte. Die strohgedeckten Häuser standen dicht beieinander, als wären sie zusammengeschoben. Unter den Dächern spannten sich Gestelle aus Bambus, in denen Brennholz und Schilfgras trockneten. In den Häusern war es dunkel und stickig wie in Viehställen.
Der Samurai wusste um alles in den drei Dörfern. Sie und das dazugehörige Land waren seiner Familie zu Zeiten seines Vaters vom Fürsten als Lehen übertragen worden. Jetzt fiel es ihm als dem Erben zu, eine bestimmte Zahl von Bauern zu stellen, wenn der Befehl zum Frondienst erging, oder, wenn ein Krieg ausbrach, mit Bewaffneten zum Sitz seines Landvogts, des Edlen Herrn Ishida aus dem Ältestenrat, zu eilen.
Das Anwesen des Samurais machte zwar einen stattlicheren Eindruck als die Behausungen der Bauern, dennoch war es lediglich eine Zusammenballung strohgedeckter Gebäude. Eigentlich unterschied es sich von den Bauernhöfen nur dadurch, dass es mehrere Scheunen und einen größeren Pferdestall hatte und von einem Erdwall umschlossen war. Richtig befestigt aber war es trotz dieser Einfriedung nicht. Auf einer Kuppe am Nordrand des Tals standen noch die Ruinen der Feste jenes Samurais, der einmal diese Gegend beherrscht hatte, bevor der Fürst ihn vernichtet hatte. Doch jetzt, da überall in Japan die Fehden beendet waren und der Fürst einer der mächtigsten Landesherren des Nordens geworden war, brauchte keine Samuraifamilie ihren Wohnsitz mehr zu befestigen. Den Standesunterschied gab es zwar nach wie vor, aber der Samurai arbeitete gemeinsam mit seinen Leuten auf den Feldern und brannte zusammen mit ihnen Holzkohle in den Bergen. Und seine Frau sah, wie die anderen Frauen auch, nach den Rindern und Pferden. Die Abgaben, die von den drei Dörfern jährlich an den Fürsten zu entrichten waren, beliefen sich auf insgesamt fünfundsechzig Kan, sechzig für die Reisfelder und fünf für das übrige Land. Der Schneefall verdichtete sich zum Gestöber. Die Fußspuren des Samurais und seiner Leute hinterließen auf dem langen Pfad dunkle Flecken. Ohne ein überflüssiges Wort zogen die Männer gleich friedfertigen Rindern ihres Weges. Als sie sich der kleinen Brücke, genannt »Zu den zwei Tannen«, näherten, sah der Samurai dort Yozo wie eine Buddha-Statue stehen. Auch sein Haar war weiß vom Schnee.
»Euer Onkel ist gekommen.«
Der Samurai nickte und ließ das Holzbündel von den Schultern vor Yozos Füße gleiten. Wie den Bauern haftete dem Samurai der Geruch von Erde an. Er hatte die gleichen eingesunkenen Augen und hervorstehenden Wangenknochen wie sie. Und genauso wie sie sprach er wenig und zeigte selten seine Gefühle. Obwohl er das Oberhaupt der Familie war, wurde ihm bei der Nachricht, dass sein betagter Onkel ihn erwartete, doch recht beklommen zumute. Seit dem Tod seines Vaters stand der Samurai zwar der Familie Hasekura vor, dennoch hatte er bisher nie eine Entscheidung getroffen, ohne sich zuvor mit seinem Onkel zu beraten. Der Onkel war zusammen mit dem Vater für den Fürsten in so manche Schlacht gezogen.
»Sieh sie dir an, Roku!«, hatte er oft gesagt, als der Samurai noch ein Kind gewesen war, und ihm, wenn er an der in den Boden eingelassenen Feuerstelle saß, das Gesicht vom Trinken gerötet, eine bräunliche Narbe auf seinem Oberschenkel gezeigt hatte. Diese Schusswunde stammte aus der Schlacht von Suriagehara, die ihr Fürst gegen die Familie der Ashina geschlagen hatte. Sie war sein ganzer Stolz. In den letzten vier, fünf Jahren war er alt geworden. Wenn er gelegentlich zu Besuch kam, jammerte er nur noch vor sich hin, während er einen Becher nach dem anderen leerte. Hatte er sich seinen Kummer von der Seele geredet, ging er wieder. Dabei zog er sein versehrtes rechtes Bein nach wie ein hinkender Hund.
Der Samurai ließ seine Leute zurück und stieg allein den Hang zu seinem Gehöft hinauf. Schneeflocken wirbelten vom grauen Himmel, vor dem sich das Wohnhaus, die Ställe und die anderen Gebäude wie eine schwarze Festung abhoben. Als er am Pferdestall vorüberkam, drang ihm der Geruch von Stroh und Dung in die Nase. Die Pferde scharrten mit den Hufen, sobald sie die Schritte ihres Herrn wahrnahmen. Der Samurai klopfte sich sorgfältig den Schnee von den Kleidern, bevor er ins Haus trat. Das steife rechte Bein von sich gestreckt, saß der Onkel dicht an der Feuerstelle und hielt die Hände über die Glut. Der älteste Sohn des Samurais, ein Junge von zwölf Jahren, kniete respektvoll neben ihm.
»Bist du es, Roku«, rief der Onkel, als der Samurai noch in der Tür stand, hielt sich die Hand vor den Mund und hustete, als hätte er sich am Qualm des Feuers verschluckt.
Als Kanzaburo seinen Vater erblickte, verbeugte er sich wie erlöst rasch vor ihm und entfloh in die Küche. Der Rauch stieg am Topfhaken vorbei an die verrußte Decke. An dieser rundum schwarzen Feuerstelle war schon zu Zeiten seines Vaters so manche Entscheidung getroffen worden, und hier wurde auch zu Gericht gesessen, wenn es einmal Streitigkeiten zu schlichten gab.
»Ich war in Nunozawa beim Vogt.« Der Onkel hüstelte wieder. »Wegen des Landes in Kurokawa gibt es noch immer keine Antwort aus der Burg, hat er gesagt.« Der Samurai verharrte in Schweigen, griff nach den neben der Feuerstelle aufgestapelten Zweigen und zerbrach sie. Dabei lauschte er dem dumpfen Knacken und bemühte sich, zu dem üblichen Gejammer seines Onkels Gleichmut zu bewahren. Doch das bedeutete keineswegs, dass er nichts empfand oder dachte. Es war seinem Wesen nur fremd, sich etwas anmerken zu lassen oder jemandem zu widersprechen. In Wirklichkeit berührte ihn die alte Geschichte durchaus, auf die sein Onkel mit so großer Beharrlichkeit immer wieder zurückkam.
Vor elf Jahren hatte der Fürst, als er sich eine neue Burg und Stadt erbaute und die Lehen neu vergab, der Familie des Samurais anstelle des Landes in Kurokawa, wo sie seit Generationen zu Hause war, dieses Tal mit seinen drei Dörfern zugewiesen. Es hieß damals, man habe sie in diese Gegend, die sehr viel ärmer war als ihr früheres Lehnsland, nur deshalb umgesiedelt, weil dem Fürsten an der Erschließung von Ödland gelegen sei. Aber sein Vater hatte dazu seine eigene Meinung gehabt. Als der Fürst nämlich seinen Frieden mit dem Regenten Hideyoshi schloss, kam es, mit den Familien Kasai und Ozaki an der Spitze, zu einem Aufstand all derer, die sich damit nicht abfinden wollten. Darunter waren einige sehr entfernte Verwandte der Familie des Samurais. Und weil der Vater ihnen dann nach der Niederschlagung dieses Aufstands auch noch heimlich zur Flucht verholfen hatte, war der Fürst wohl darauf verfallen, ihm diese Ödnis anstelle der Ländereien in Kurokawa zu geben. Jedenfalls glaubte das der Vater.
Aus dem Knistern der verbrennenden Zweige schien der Unmut des Vaters und des Onkels über die Art, wie man sie behandelt hatte, zu sprechen. Riku, die Frau des Samurais, kam aus der Küche. Wortlos stellte sie Reiswein vor die beiden Männer und reichte ihnen dazu auf getrockneten Magnolienblättern gesalzenes Bohnenmus. Aus den Mienen des Onkels und ihres Mannes, der stumm die trockenen Zweige zerbrach, hatte sie erraten, worüber auch an diesem Abend wieder geredet wurde.
»Ja, ja, Riku«, meinte der Onkel, während er sich zu ihr umdrehte. »Wir werden wohl weiter in dieser Wüstenei hausen müssen.«
Dieses Wort gebrauchte er gern für das einsame Ödland; mit dem Fluss voller Geröll und Feldern, auf denen außer etwas Reis nichts weiter zu ernten war als Buchweizen, Hirse und Rettich. Zudem stellte sich hier der Winter früher ein als andernorts, und es war auch kälter. Sobald die ganze Gegend, Hügel und Wälder, unter dem makellosen Weiß des Schnees begraben lag, konnten die Menschen während der langen Nächte nur noch mit angehaltenem Atem in ihren düsteren Häusern sitzen, dem Heulen des Sturms lauschen und auf den Frühling warten.
»Ja, wenn Krieg wäre! Man könnte in die Schlacht ziehen, hätte Gelegenheit, sich auszuzeichnen, und würde als Belohnung Land dazubekommen.«
Der Onkel stimmte immer wieder das gleiche Klagelied an und rieb sich dabei fortwährend die knochigen Knie. Aber die Zeiten waren vorbei, da der Fürst über Wochen und Monate ins Feld zog. Mit Ausnahme der Westprovinzen hatte sich das ganze Land, vor allem der Osten, der Macht der Tokugawa gebeugt, und selbst ein so mächtiger Fürst des Nordens wie ihr Landesherr war nicht mehr in der Lage, nach eigenem Belieben Truppen in Marsch zu setzen.
Wie der Samurai zerbrach nun auch seine Frau die neben der Feuerstelle liegenden trockenen Zweige und hörte ebenso geduldig dem Onkel zu, der sich wie immer mit Reiswein und bisweilen sehr selbstgefällig klingenden Reden über seine Unzufriedenheit hinwegzutrösten versuchte. Schon oft hatten sie sein Prahlen und Jammern über sich ergehen lassen müssen. Aber so abgestanden sie auch war, dies schien genau die Seelennahrung zu sein, die der alte Mann in seiner Einsamkeit zum Überleben brauchte.
Kurz vor Mitternacht befahl der Samurai zweien seiner Leute, den Onkel nach Hause zu geleiten. Als sie die Tür öffneten, hatte es aufgehört zu schneien und die Wolkenränder waren auf ganz eigenartige Weise in Mondlicht getaucht. Die Hunde kläfften, bis der Onkel außer Sicht war.
Hunger hatte man in diesem Tal stets mehr gefürchtet als Krieg. Ein paar alte Leute erinnerten sich noch sehr genau an die Kälte, die einmal über diese Gegend hereingebrochen war. In jenem Jahr soll sich der Winter ungewöhnlich mild, geradezu frühlingshaft gezeigt haben. Die Berge im Nordwesten waren fast ständig in Dunst gehüllt. Als sich der Frühling dem Ende näherte, kam der Regen, aber er wollte und wollte nicht enden. Im Sommer war es dann Tag für Tag derart kalt, dass man sich nicht getraute, die Überkleider abzulegen. Die Pflanzen auf den Feldern wuchsen nicht, die meisten gingen ein.
Es hatte bald nichts mehr zu essen gegeben. Die Dorfbewohner im Tal machten sich über Pfeilwurzeln aus den Bergen und auch über Reiskleie, Stroh und Bohnenhülsen her, die eigentlich für die Pferde bestimmt waren. Dann schlachteten sie die kostbaren Pferde, töteten die Hunde und versuchten schließlich, ihren Hunger mit Baumrinde und Gräsern zu stillen. Als sich überhaupt nichts Essbares mehr fand, ließen sie ihre Dörfer im Stich und begaben sich, die Eltern von den Kindern, die Männer von den Frauen getrennt, auf die Suche nach Nahrung. Wer unterwegs entkräftet zusammenbrach, blieb liegen, denn nicht einmal der nächste Verwandte konnte ihm helfen. Wildernde Hunde und Krähen hatten die Leichen zerfleddert.
Seit die Familie des Samurais hier herrschte, war es wenigstens nicht mehr zu solch einer Hungersnot gekommen. Sein Vater hatte jeder Familie befohlen, Strohsäcke zu flechten, sie mit Kastanien und Eicheln sowie frisch gedroschener Hirse zu füllen und auf den Deckenbalken sicher zu verwahren. Jedes Mal, wenn der Samurai diese Vorratssäcke sah, die sich noch in allen Häusern fanden, musste er an das gütige Gesicht seines Vaters denken, der viel umsichtiger gewesen war als der zwar redliche, aber etwas einfältige Onkel.
Doch auch der Vater hatte sich nach dem fruchtbaren Land der Vorfahren zurückgesehnt. »In Kurokawa hätte uns selbst ein schlechtes Jahr nichts geschadet …«
Dort trugen die Felder reiche Ernten. Hier aber gedieh alles nur so spärlich, dass man sich nicht jeden Tag eine volle Mahlzeit leisten konnte. Denn da waren noch die Abgaben, die sie alljährlich zu entrichten hatten. Sogar im Hause des Samurais wurden an manchen Tagen Rettichblätter unter die Mahlzeiten aus Buchweizen und Hirse gemischt. Die Bauern mussten sich oft genug mit wildem Lauch und manch anderem aus den Bergen begnügen.
Mochten Vater und Onkel auch klagen, er selber hasste die Ödnis nicht. Für ihn war sie das erste Stückchen Land, über das er nach dem Tode seines Vaters als Familienoberhaupt zu bestimmen hatte. Seine Bauern arbeiteten stumm vom frühen Morgen bis zum späten Abend. Es gab weder Zank noch Streit. Sie bestellten den kargen Boden und entrichteten pünktlich ihre Abgaben, auch wenn ihnen selber kaum das Nötigste blieb. Sprach er mit ihnen, vergaß er jeden Standesunterschied und fühlte sich eins mit ihnen. Nur in einer Hinsicht glaubte er sich ihnen überlegen, nämlich in seiner Duldsamkeit. In Wirklichkeit aber waren sie noch viel geduldiger und demütiger als er.
Zuweilen stieg der Samurai mit seinem Ältesten auf den Berg, der sich an der Nordseite ihres Anwesens erhob. Dort standen die längst vom Gras überwucherten Ruinen der Feste, die der Lehnsmann, der hier einst herrschte, erbaut hatte. Manchmal fanden sie in dem ausgetrockneten, unter Gebüsch verborgenen Graben und auf dem von altem Laub bedeckten Erdwall verkohlte Reiskörner und zerbrochene Schüsseln. Von der Kuppe, um die der Wind wehte, schauten sie über das öde, beinahe traurig stimmende Tal und auf die Dörfer, die sich darin gleichsam duckten.
Dies … dies ist mein Land, flüsterte es dann tonlos im Herzen des Samurais. Wenn es keine Kriege mehr gibt, werde ich genauso wie der Vater mein Leben hier beschließen. Und wenn ich gestorben bin, wird mein Ältester als Familienoberhaupt das gleiche Leben führen. Nichts soll uns mehr trennen von diesem Land.
Mitunter ging er zusammen mit Yozo an den versumpften kleinen Teichen am Fuß des Berges angeln. Im Spätherbst erblickte er zwischen den vielen braunen Enten und Gänsen auf dem von dunklem Schilf dicht umstandenen Wasser oft ein paar langhälsige weiße Vögel. Er wusste, dass sie aus fernen rauen Landen über das Meer gekommen waren. Sobald der Frühling nahte, breiteten sie ihre mächtigen Schwingen aus, schwebten hoch am Himmel über das Tal und zogen wieder davon. Wenn er die Schwäne sah, ging ihm jedes Mal durch den Sinn, dass sie Länder kannten, die er in seinem Leben nie zu Gesicht bekommen würde. Doch allzu sehr beneidete er sie darum nicht.
Der Vogt hatte ihn rufen lassen. Es gäbe etwas zu bereden, deshalb möge er sich nach Nunozawa begeben.
Die Familie des Landvogts hatte mit den Vorfahren des Fürsten nicht immer auf bestem Fuß gestanden, aber nun zählte der Edle Herr Ishida zu den Großen unter den Vasallen.
In aller Frühe war der Samurai, von Yozo begleitet, aufgebrochen. Gegen Mittag traf er in Nunozawa ein. Es fiel ein kalter Regen. Auf dem Wasser im Graben des von einer Felsenmauer umgebenen Herrensitzes bildeten sich um die Tropfen viele kleine Ringe. Man ließ den Samurai ein wenig warten, dann wurde er vorgelassen.
Er kniete nieder, stützte beide Hände auf den schwarz glänzenden Fußboden und neigte den Kopf zum Gruß, woraufhin der ein wenig beleibte Edelmann, der einen Umhang über den Schultern trug, sich ihm mit freundlicher Miene zuwandte und ihn nach dem Befinden seines Onkels fragte. Fröhlich lachend sagte er: »Erst neulich hat er sich wieder bitterlich beklagt.«
Der Samurai blickte beschämt zu Boden. Wenn früher der Vater und später der Onkel um die Rückgabe des Landes in Kurokawa ersucht hatten, war ihre Bitte vom Vogt stets in die Burg weitergeleitet worden. Aber derartige Gesuche gingen auch von anderen Lehnsleuten ein und stapelten sich mittlerweile in der Kanzlei zuhauf, hatte ihm der Edle Herr Ishida einmal erzählt. Sofern ihn nicht besondere Umstände dazu zwängen, würde sich der Fürst dieser Gesuche kaum jemals annehmen.
»Ich verstehe ja den Alten.« Das Lachen schwand plötzlich aus dem Gesicht des Landvogts und er sagte mit ziemlichem Nachdruck: »Mit den Kriegen ist es vorbei. Nur Osaka bereitet dem Altverweser noch Sorgen, und unser Landesherr steht ganz auf seiner Seite.«
Hat man mich kommen lassen, nur um mir das zu sagen?, fragte sich der Samurai. Vielleicht sollte ihm damit bedeutet werden, dass es nutzlos wäre, weiterhin um die Rückgabe des alten Landes zu bitten.
Unversehens versank er in Traurigkeit. Er selbst hing zwar an jenem Tal, aber das Land, das vom Schweiß und von den Erinnerungen seiner Ahnen getränkt war, ging ihm trotzdem nie aus dem Sinn. In dem Augenblick, da er begreifen musste, dass alle Hoffnung dahin war, sah er plötzlich das bekümmerte Gesicht seines toten Vaters vor sich und erst recht die gekränkte Miene seines Onkels.
»Es wird nicht leicht sein, aber du solltest deinen Onkel zur Einsicht bringen. Ich weiß, der Alte kann sich nicht damit abfinden, dass die Welt heute anders aussieht.« Der Landvogt richtete seinen Blick auf den Samurai, der vor ihm kniete und den Kopf hängen ließ, und machte ein Gesicht, als bedauere er ihn aufrichtig. »Im Übrigen verlangt man in der Burg nicht nur von deiner Familie Verzicht. Viele der einstigen Kriegsleute haben um die Rückgabe ihres alten Landes gebeten, was dem Ältestenrat manches Kopfzerbrechen bereitet. Aber würde man dem Verlangen auch nur eines einzigen nachgeben, geriete die Neuverteilung der Lehen gänzlich durcheinander.«
Der Samurai hielt die Hände auf den Knien und blickte zu Boden, während der Edle Herr Ishida sprach. »Aber ich habe dich heute eigentlich wegen anderer Dinge gerufen«, sagte der Vogt und wechselte damit völlig unerwartet das Thema, als wollte er eine Fortsetzung des Gesprächs über das Land in Kurokawa unbedingt vermeiden. »In Kürze wird ein Befehl zum Arbeitsdienst ergehen. In dem Zusammenhang könnte auf dich ein besonderer Auftrag zukommen. Denk daran!«
Der Samurai begriff nicht recht, was damit gemeint war. Er neigte den Kopf und wollte sich schon zurückziehen. Doch der Vogt bedeutete ihm, noch zu bleiben, und begann von dem lebhaften Treiben in Edo zu erzählen. Da die Fürsten aller Provinzen es im vergangenen Jahr übernommen hatten, das Schloss des Shoguns in Edo umzubauen, und ihr Landesfürst daran teil hatte, mussten sich seine großen Vasallen wie die Herren Ishida, Watari und Shiraishi abwechselnd nach Edo begeben.
»Man nimmt es in Edo jetzt sehr streng mit dem Aufspüren der Christen. Neulich habe ich auf dem Heimweg gesehen, wie einige durch die Straßen geführt wurden.«
Auch dem Samurai war bekannt, dass der Altverweser, der Vater des Shoguns, in diesem Jahr in den Gebieten, die seiner Regierung in Edo direkt unterstanden, die Verkündung des christlichen Glaubens verboten hatte. Ihm war hin und wieder zu Ohren gekommen, dass die dort verfolgten Gläubigen in den Westgebieten und im Nordosten, wo das Verbot nicht galt, Zuflucht suchten und dass einige von ihnen auch in den Goldminen seines Landesherrn Arbeit gefunden hatten.
Der Edle Herr Ishida erzählte von den Gefangenen, die, behängt mit Papierfähnchen, auf Pferden durch die Straßen der Stadt zur Richtstätte geführt worden waren. Sie hätten vom Pferd herab mit Bekannten in der Menge der Gaffer Worte gewechselt und keinerlei Angst vor dem Tod gezeigt.
»Es waren auch Fremdländische darunter. Bist du schon einmal einem Pater oder überhaupt einem Christen begegnet?«
»Nein.«
Der Samurai hörte sich alles mit einiger Aufmerksamkeit an, aber eigentlich interessierten ihn die gefangenen Christen überhaupt nicht. Ihm war der christliche Glaube fremd. Er hatte mit seinem tiefverschneiten Tal nichts zu tun. Die Menschen dort würden sterben, ohne in ihrem Leben jemals einen aus Edo geflohenen Gläubigen zu Gesicht bekommen zu haben.
»Tut mir leid, dass du bei dem Regen nach Hause musst«, sagte der Vogt mit väterlicher Freundlichkeit zum Abschied.
In seinen vom kalten Regen durchnässten Strohumhang gehüllt, hatte Yozo draußen vor dem Tor gehorsam wie ein Hund auf den Samurai gewartet. Yozo war drei Jahre älter, er war mit ihm unter demselben Dach aufgewachsen und hatte immer der Familie Hasekura gedient. Auf seinem Pferd sah der Samurai das nächtliche Tal, in das sie jetzt zurückkehrten, in Gedanken ständig vor sich: Der vor ein paar Tagen gefallene Schnee wird ihnen, nun leicht überfroren, in der Dunkelheit entgegenschimmern. Totenstill werden die Hütten der Bauern daliegen. Nur seine Frau und mit ihr der eine oder andere seiner Leute wird noch wach sein und an der Feuerstelle auf seine Heimkehr warten. Sobald sie die ersten Schritte hören, werden die Hunde anschlagen, die Pferde in ihrem nach feuchtem Stroh riechenden Stall aufwachen und mit den Hufen scharren.
Der Geruch nach feuchtem Stroh erfüllte auch die Kerkerzelle des Missionars und mischte sich mit Uringestank und dem Körpergeruch der Gläubigen, die hier vor ihm eingesperrt waren. Diese Dünste stiegen ihm beißend in die Nase.
Seit dem Vortag bemühte er sich, die Chancen abzuwägen, ob man ihn hinrichten oder freilassen würde. Er tat es mit einem so kühlen Verstand wie ein Kaufmann, der zwei Schälchen mit Goldstaub vor sich hat und nun prüft, welches von beiden schwerer wiegt. Sollte er überleben, dann deshalb, weil ihn die Mächtigen dieses Landes noch brauchten. Bisher hatten sie ihn immer, wenn eine Gesandtschaft aus Manila kam, als Dolmetscher geholt. Denn von den Missionaren in Edo beherrschte keiner das Japanische so gut wie er. Wenn diese habgierigen Japaner ihren einträglichen Handel mit Manila und Mexiko, dem Nueva España jenseits des Stillen Ozeans, fortsetzen wollten, dann konnten sie schwerlich auf ihn verzichten, weil er ihnen in den Verhandlungen die Brücke schlug. So es aber dein Wille ist, Herr, werde ich sterben, dachte er und hob den Kopf stolz wie ein Adler. Aber du weißt auch, wie dringend die Kirche meiner hier in Japan bedarf!
Richtig, ebenso wie die Mächtigen dieses Landes mich brauchen, braucht mich auch der Herr! Bei diesem Gedanken glitt ein triumphierendes Lächeln über sein Gesicht. Er glaubte an sich und seine Fähigkeiten. Als Vorsteher der Kirchengemeinde Edo des Franziskanerordens war er schon lange davon überzeugt, dass nur die Jesuiten, die in allem seinem Orden widerstritten, die Schuld am Misslingen der Verbreitung des christlichen Glaubens in Japan traf. Obwohl die Priester der Gesellschaft Jesu mit jedweder Kleinigkeit Politik machen wollten, verstanden sie in Wirklichkeit überhaupt nichts von Politik. Während ihrer sechzigjährigen Missionstätigkeit hatten sie sich in Nagasaki einen Sprengel geschaffen, in dem sie sich eigene Verwaltungs- und Gerichtsbefugnis anmaßten. Aber dadurch hatten sie nur die japanischen Machthaber verunsichert und die Saat des Zweifels gesät.
Wäre ich Bischof von Japan, hätte ich solche Dummheiten nicht zugelassen. Wäre ich Bischof von Japan …, sagte er sich, errötete jedoch gleich darauf schamhaft wie ein kleines Mädchen, weil ihm auf einmal klar geworden war, wie viel weltliche Ehrsucht und Eitelkeit noch immer in seinem Herzen wohnten. Denn hinter dem Wunsch, Bischof zu werden, dem vom Vatikan in Rom die gesamte Missionstätigkeit in Japan übertragen sein würde, verbarg sich sehr viel persönlicher Ehrgeiz. Sein Vater war ein einflussreiches Mitglied des Stadtrates von Sevilla gewesen, in seiner Familie hatte es einen Gouverneur von Panama und auch einen Großinquisitor gegeben. Sein Großvater hatte an der Eroberung Westindiens teilgenommen. Doch erst seitdem er in Japan war, hatte er entdeckt, dass das Blut dieser Politiker auch in seinen Adern floss und er viel mehr Talent besaß als die gewöhnlichen Geistlichen. Bewusst geworden war ihm das nicht zuletzt dadurch, dass er dem Shogun und dessen Vater, dem Altverweser, wenn er ihnen zu dienen hatte, ohne jede Unterwürfigkeit entgegentreten konnte und zudem mit seinem ganzen Wesen und seiner Überzeugungskraft ihre listigen Berater für sich einzunehmen vermochte.
Er beklagte, dass ihm wegen der Missgunst des Jesuitenordens die große Bühne bisher versagt geblieben war, um das seiner Familie eigene Talent zu entfalten. Die Jesuiten waren nicht in der Lage gewesen, Hideyoshi und später den Altverweser geschickt zu lenken, ja sie hatten es nicht einmal verstanden, den buddhistischen Klerus, der sich im Palast zu Edo einnistete, auf ihre Seite zu ziehen, sondern im Gegenteil den Unwillen und Zweifel dieser wichtigen Leute heraufbeschworen. So war es ihm bei aller Scham über seinen Ehrgeiz unmöglich, den Wunsch zu unterdrücken, Bischof zu werden.
Die Bekehrung in diesem Land gleicht einer Schlacht. Sind die Anführer unfähig, wird das Blut der Soldaten nutzlos vergossen, dachte er und sagte sich, dass er deshalb unbedingt überleben müsse. Aus demselben Grund hatte er es auch vermieden, das Schicksal jener fünf Gläubigen zu teilen, von denen er wusste, dass sie verhaftet worden waren, während er sich verborgen hielt.
»Aber solltest du, Herr, meiner nicht länger bedürfen …«, flüsterte er und rieb sich die gefühllos gewordenen Beine, »dann rufe mich zu jeder Zeit zu dir. Du weißt, ich hänge nicht hartnäckig am Leben.«
Etwas Schwärzliches huschte an seinen Füßen vorüber: eine der vielen Ratten, die hier im Gefängnis hausten. In der vergangenen Nacht hatte sie, während er schlief, irgendwo in einer Ecke dieses engen Raums leise genagt, jedes Mal, wenn er davon aufgewacht war, hatte er für die fünf Gläubigen, die sicherlich schon zur Richtstätte geführt worden waren, mit Flüsterstimme ein Tedeum gesungen, um seine Gewissensqualen zu besänftigen, die er darüber empfand, dass er sie im Stich gelassen hatte.
Er hörte in der Ferne Schritte, zog deshalb rasch die ausgestreckten Beine an und kniete sich wieder aufrecht hin. Selbst dem Wärter, der ihm das Essen brachte, wollte er sich nicht in nachlässiger Haltung zeigen. Er gestattete sich auch hier im Kerker nichts, wofür ihn die Japaner verhöhnen könnten.
Die Schritte näherten sich. Ich muss ein fröhliches Gesicht machen, sagte er sich und setzte ein Lächeln auf, als er hörte, dass der Schlüssel ins Schloss gesteckt wurde. Schon immer war er fest entschlossen gewesen, angesichts des Todes zu lächeln.
Knarrend öffnete sich die Tür, und Licht ergoss sich wie geschmolzenes Zinn über den feuchten Boden. Als er mit lächelndem Gesicht zur Tür hinüberblinzelte, sah er dort nicht den Wärter, sondern zwei Beamte in schwarzem Kimono, die ihren Blick auf ihn richteten.
»Komm mit!«, befahl einer der beiden mit herrischer Stimme. Das Wort »Freilassung« ging dem Missionar durch den Kopf.
»Und wohin?«, fragte er gelassen, wobei er sein Lächeln bewahrte. Seine Schritte allerdings waren ein wenig unsicher.
Die beiden Beamten schwiegen missmutig. Sie schaukelten mit den Schultern hin und her. Diese den Japanern eigene wichtigtuerische Art zu gehen erschien dem Missionar, der jetzt überzeugt war, dass man ihn freilassen würde, wie drolliges Kindergebaren.
»Schau mal dorthin«, sagte einer der Beamten, der plötzlich stehen geblieben war, sich zu ihm umwandte und mit dem Kinn auf das Flurfenster wies, durch das man einen Blick auf den Hof werfen konnte. In dem Gefängnishof, aus dem die Sonne zu weichen begann, waren ein paar Strohmatten ausgebreitet, daneben standen ein Wasserbottich und zwei Tische.
»Weißt du, was das zu bedeuten hat?«, fragte der andere Beamte mit einem höhnischen Lachen und deutete mit einer Bewegung der flachen Hand das Durchschneiden der Kehle an.
»Genau das!« Es belustigte ihn, wie der Missionar erstarrte. »Jetzt kriegt er doch das Zittern, dieser Fremdling!«, sagte er.
Der Missionar ballte beide Hände zu Fäusten und unterdrückte Scham und Wut, die zugleich in ihm aufstiegen. In den letzten zwei Tagen hatte ihn die Art, wie ihm diese kleinen japanischen Beamten Angst einjagen wollten, oft verletzt, aber dass sie ihn jetzt, wenn auch nur für einen Augenblick, ängstlich gesehen hatten, war für seine Selbstachtung mehr, als er ertragen konnte. Die Knie zitterten ihm immer noch, während er aus dem Gefängnis in das gegenüberliegende Gebäude geführt wurde.
In der Abenddämmerung machte es den Eindruck, als wäre es menschenleer. Nachdem die Beamten ihn aufgefordert hatten, sich in einem der Räume auf dem schwarz glänzenden, kalten Fußboden in aufrechter Haltung niederzulassen, waren sie verschwunden. Wie ein naschendes Kind kostete der Missionar begierig die Freude darüber aus, dass man ihn nun doch freilassen werde.
»Es kommt, wie ich es mir gedacht habe«, flüsterte er vor sich hin, als das Gefühl, erniedrigt worden zu sein, vergangen war und er sein Selbstvertrauen dadurch, dass er sich in seinen Vermutungen bestätigt glaubte, wiedergewonnen hatte.
»Wie leicht die Japaner doch zu durchschauen sind!« Er wusste, dass sie ihn, ob sie ihn nun mochten oder nicht, am Leben lassen würden, weil er ihnen von Nutzen war. Sie bedurften seiner Fähigkeiten als Dolmetscher. Deshalb hatten der Shogun und dessen Vater ihn hier in dieser Stadt seinen Wohnsitz nehmen lassen, obwohl sie die Christen im Grunde verabscheuten. Weil der Altverweser mit fernen Ländern Geschäfte machen wollte, dachte er an den Bau eines Hafens, der Nagasaki in nichts nachstehen sollte. Besonders hoffte er auf den Handel mit Nueva España jenseits des großen Meeres und hatte in dieser Angelegenheit schon mehrmals Botschaften an den spanischen Gouverneur in Manila gesandt. Der Missionar war oft in den Palast gerufen worden, um diese Schreiben ins Spanische zu übersetzen und die Antworten ins Japanische.
Gesehen hatte er den Altverweser allerdings nur ein einziges Mal. Als eine Gesandtschaft aus Manila ihre Aufwartung im Burgschloss machte, hatte der alte Mann in dem düsteren Audienzsaal müde auf einem samtbezogenen Stuhl gesessen und mit ausdruckslosem Gesicht der zwischen dem Ältestenrat und der Gesandtschaft geführten Unterhaltung zugehört, ohne auch nur einmal selber den Mund zu öffnen. Ebenso ausdruckslos hatte er die von der Gesandtschaft überreichten Geschenke betrachtet. Doch gerade an diese Ausdruckslosigkeit hatte sich der Missionar später mit einem Gefühl erinnert, das der Furcht sehr nahekam. Das also ist der mächtigste Mann des Landes, und sein Gesicht ist das eines wahren Politikers, hatte er hinterher so manches Mal gedacht.
Auf dem Gang waren Schritte zu hören. An das Ohr des Missionars, der den Kopf gesenkt hielt, drang das Rascheln von Gewändern.
»Herr Velasco!«
Der Missionar blickte auf. Vor ihm hatte der ihm wohlbekannte Regierungsberater in Handelsfragen, Goto Shozaburo, den die Japaner den »Wechselinspektor« nannten, auf dem Podest Platz genommen. Die beiden Beamten hockten neben ihm auf dem Fußboden. Goto starrte den Missionar eine Weile mit der den Japanern eigentümlichen ernsten Miene an und sagte dann mit einem Seufzer: »Ihr seid frei! Es war ein Versehen der Beamten.«
»Ich verstehe.«
Der Missionar triumphierte. Er richtete einen zufriedenen Blick auf die beiden Beamten, die ihn erniedrigt hatten. Mit solch einer Miene vergab er sonst Gläubigen ihre Sünden.
»Nur, Herr Velasco …«, fuhr Goto, dessen Gewänder wieder trocken raschelten, als er sich erhob, mit mürrischem Gesicht ein wenig verächtlich fort, »… Ihr lebt hier in Edo nicht als christlicher Pater. Ich weiß nicht, wie es Euch ergangen wäre, wenn sich auch diesmal nicht wieder eine hohe Person Eurer angenommen hätte.«
Das war ein versteckter Hinweis darauf, wie genau man darum wusste, dass er heimlich Gläubige aufsuchte. Mochte es auch in anderen Fürstentümern gestattet sein, in den vom Altverweser direkt beherrschten Gebieten war es seit Jahresbeginn streng verboten, Kirchen zu erbauen und dem christlichen Glauben anzuhängen. Er lebte in dieser großen Stadt nicht als Geistlicher, sondern als Dolmetscher.
Nachdem sich Goto entfernt hatte, sahen ihn die Beamten mit unverhohlenem Missmut an und wiesen ihn mit einer Kinnbewegung zu einer anderen Tür hinaus. Es dunkelte schon.
In einer Sänfte kehrte der Missionar zu seiner Behausung in Asakusa zurück. Ein sich schwarz gegen den nächtlichen Himmel abhebender Hain wies ihm den Weg. In dieser Gegend hatten sich ausgestoßene Leprakranke angesiedelt. Für sie war vor zwei Jahren vom Franziskanerorden ein kleines Spital erbaut worden. Man hatte es niedergerissen, ihm aber erlaubt, hier weiterhin zusammen mit Diego, einem jungen Geistlichen, und einem Koreaner in einer kleinen Hütte zu leben. Diego und der Koreaner, die ihn mit ungläubigen Mienen angestarrt hatten, als er überraschend zurückgekehrt war, saßen nun bei ihm. Ausgehungert verschlang er Reis und getrockneten Fisch. Im nahen Hain kreischte ein Vogel.
»Einen anderen hätten die Japaner so schnell nicht freigelassen«, flüsterte Diego, während er ihn bediente. Nur ein Lächeln huschte über das Gesicht des Missionars. Sein Herz aber war von Triumph und stolzer Zufriedenheit durchdrungen.
»Nicht die Japaner haben mich freigelassen«, sagte er in belehrendem Ton zu Diego mit einer Miene, in der sich Demut und Hoffart zugleich widerspiegelten. »Der Herr hat mich auserkoren.«
Herr!, betete er in Gedanken, während er aß. Was du tust, hat immer einen Plan. Deshalb hast du mich … hast du mich befreit.
Wie sehr in diesem Gebet ein Gefühl von Überheblichkeit mitschwang, die einem Geistlichen wenig geziemte, fiel ihm gar nicht auf.
Der Missionar ließ drei Tage verstreichen, bis er sich in Begleitung des Koreaners zum Anwesen des Handelsberaters begab, um sich bei ihm für die Freilassung zu bedanken. Er vergaß auch nicht, ein paar Flaschen Messwein mitzunehmen, den die hohen japanischen Beamten sehr liebten.
Der Berater hatte zwar gerade Besuch, dennoch ließ man den Missionar nicht warten, sondern führte ihn sogleich zu Goto. Der Hausherr nickte seinem neuen Gast nur kurz zu und setzte seine Unterhaltung fort. Es war ihm offensichtlich daran gelegen, dass der Missionar alles mitanhörte, was gesagt wurde.
Es fielen häufig die Ortsnamen Tsukinoura und Shiogama. Der Berater und sein Gast, ein dicklicher älterer Mann, sprachen in aller Ausführlichkeit davon, dass Tsukinoura einen besseren Hafen als Nagasaki abgeben würde.
Der Missionar lauschte mit großer Aufmerksamkeit dem Gespräch, tat aber gänzlich unbeteiligt und ließ seinen Blick über den Garten vor dem Zimmer schweifen. Dank der Kenntnisse, die er in den vergangenen drei Jahren als Dolmetscher erlangt hatte, glaubte er ungefähr zu wissen, wovon die Rede war.
Seit einiger Zeit wünschte sich der Altverweser für den Osten Japans einen gleich guten Hafen wie Nagasaki. Politisch gesehen lag Nagasaki zu weit entfernt und wäre ihm leicht zu entreißen, falls sich die mächtigen Fürsten der Insel Kyushu gegen ihn erhöben, zumal einige von ihnen, wie die Fürsten Shimazu und Kato, mit der Familie Toyotomi in Osaka sympathisierten, die sich dem Altverweser noch immer nicht unterworfen hatte. Auch in wirtschaftlicher Hinsicht erfreute es ihn nicht, dass die Schiffe aus Manila und Macao ausschließlich Nagasaki anliefen. Er erhoffte sich ohne den Umweg über Manila direkte Geschäfte mit Nueva España, das zum Hinterland dieses Handels geworden war. So hielt er denn Ausschau nach einem guten Hafen irgendwo im Osten des Landes, von wo aus direkte Beziehungen zu Nueva España unterhalten werden könnten. Es gab hier zwar den Hafen Uraga, aber bisher waren dort wohl wegen der starken Strömung alle Schiffe gestrandet, die sich ihm genähert hatten. Deshalb war an einen großmächtigen Fürsten im Nordosten des Landes, wo der Kuroshio-Strom Japan am nächsten kam, der Befehl ergangen, einen geeigneten Hafen ausfindig zu machen. Vielleicht waren die Orte Tsukinoura und Shiogama in Betracht gezogen worden. Aber warum will der Handelsberater, dass ich dieses Gespräch mitanhöre?, fragte sich der Missionar und musterte verstohlen die Gesichter der beiden Japaner. Als hätte er diese Blicke bemerkt, wandte sich Goto ihm zu.
»Kennt Ihr den Edlen Herrn Ishida? Das ist Herr Velasco, der die Erlaubnis hat, sich in Edo als Dolmetscher aufzuhalten.«
Der dickliche Mann lächelte, deutete mit dem Oberkörper eine Verbeugung an und fragte: »Wart Ihr schon einmal im Nordosten?«
Der Missionar, die Hände vor sich auf den Knien, schüttelte den Kopf. Er war lange genug im Lande, um zu wissen, was Höflichkeit und Sitte der Japaner in einer solchen Situation geboten.
»Anders als in Edo lässt man, soweit ich unterrichtet bin, in dem Fürstentum, in dem Herr Ishida zu Hause ist, die Christen unbehelligt«, sagte der Berater mit leiser Ironie. »Dort könnte auch ein Herr Velasco erhobenen Hauptes überall ein und aus gehen.« Selbstverständlich war das dem Missionar nicht unbekannt. Der Altverweser hatte das Christentum zwar in den von ihm direkt beherrschten Provinzen verboten, aber wohl aus Furcht vor einer Rebellion der zu dem neuen Glauben Übergetretenen die anderen Fürsten nicht zu einem ähnlichen Schritt gezwungen und auch die Flucht der aus Edo vertriebenen Gläubigen in den Westen und Nordosten des Landes stillschweigend geduldet.
»Herr Velasco, habt Ihr jemals von den Orten Shiogama und Tsukinoura gehört?«, fragte der Berater plötzlich und brachte damit das Gespräch auf das eigentliche Thema zurück. »Dort liegen die besten Buchten des ganzen Nordostens.«
»Will man dort einen Hafen anlegen wie in Uraga?«
»Das auch. Aber vielleicht wird in einer der Buchten ein Schiff gebaut, das so groß ist wie die Eurigen.«
Dem Missionar stockte für einen Augenblick der Atem. Nach seiner Kenntnis besaß dieses Land lediglich Boote, die den malayischen und chinesischen Dschunken nachgebaut waren. Es verfügte weder über die Werften noch über das Wissen, Galeonen zu bauen, mit denen man ungehindert weite Meere überqueren konnte. Und selbst wenn sie es fertigbrächten, solch ein Schiff zu bauen, dann verstünde doch niemand, es zu steuern.
»Werden Japaner das Schiff bauen?«
»Wer weiß. Shiogama und Tsukinoura liegen direkt am Meer. Außerdem gibt es dort gutes Bauholz im Überfluss.«
Warum hat der Berater über ein solches Geheimnis derart offen mit mir gesprochen?, überlegte der Missionar. Er sah rasch von einem zum anderen und suchte eine Antwort in ihren Gesichtern. Heißt das etwa, dass sie sich der Besatzung jenes Schiffes bedienen wollen?, fragte er sich.
Im vergangenen Jahr war nämlich das Schiff der spanischen Emissäre aus Manila, für die er im Burgschloss gedolmetscht hatte, während eines Sturms in Kishu gestrandet und lag nun in Uraga fest, weil sich eine Reparatur als unmöglich erwies. Die Gesandtschaft wie die Besatzung warteten in Edo noch immer geduldig auf ein Schiff, das sie abholen sollte. Vielleicht dachten die Japaner wirklich daran, mithilfe dieser Seeleute eine Galeone zu bauen.
»Ist das schon entschieden?«
»Nein, nein. Aber es gibt solche Erwägungen«, sagte der Berater und richtete seinen Blick auf den Garten. Der Missionar hatte verstanden. Und weil dies auch ein Zeichen war, dass er sich zu entfernen hatte, sagte er schnell ein paar Worte des Dankes für seine Freilassung und verließ das Zimmer.
Während er sich verbeugte und die Leute im Vorzimmer zum Abschied grüßte, fragte er sich, ob die Japaner etwa die Absicht hatten, aus eigener Kraft den Pazifik zu überqueren und ihre auf Nueva España gerichteten Pläne umzusetzen.
Sie sind wie die Ameisen und lassen nichts unversucht, dachte er. Bei den Ameisen opferte sich ein Teil, um für die anderen eine Brücke zu bilden, wenn sie auf ein Wasserhindernis stießen. Die Japaner waren in seinen Augen ein Haufen mit diesem Instinkt begabter schwarzer Ameisen.
Schon seit mehreren Jahren hegte der Altverweser den brennenden Wunsch nach direkten Handelsbeziehungen zu Nueva España, aber alle seine Bitten waren von dem Gouverneur in Manila mit weitschweifigen schönen Floskeln abgelehnt worden. Die Spanier wollten den Handel über den großen Ozean hinweg nicht aus der Hand geben.
Falls die Japaner nun die in Edo festgehaltenen spanischen Seeleute zum Bau des Schiffes heranzögen, würden sie ihn als Dolmetscher benötigen. Allmählich begann er zu begreifen, weshalb er vor vier Tagen aus dem Kerker geholt worden war. Goto hatte etwas von der Fürsprache einer hohen Persönlichkeit angedeutet. Vielleicht war es der Ältestenrat, der sich diesen Plan angelegen sein ließ. Vielleicht aber war es auch dieser Ishida. Gott hat Verwendung für alle, Japan jedoch nur für jene, die ihm nützen. Wenn die Japaner tatsächlich meinten, er könnte ihnen bei der Verwirklichung ihrer Absichten dienlich sein, dann hatten sie ihn wahrscheinlich nur eingesperrt, um ihn einzuschüchtern. Das war eine beliebte Methode bei ihnen.
Er erzählte weder Diego noch dem Koreaner ausführlich von dem Gespräch. Obwohl Diego der gleichen heiligen Sache diente, hielt der Missionar nicht viel von dem jüngeren Ordensbruder, der von Manila aus nach Japan herübergekommen war und so rote Augen wie ein Kaninchen hatte. Schon in seiner Seminaristenzeit hatte er nie ein Gefühl der Verachtung aus seinem Herzen bannen können, wenn er einem unfähigen Menschen, mochte er noch so lauteren Charakters sein, begegnet war. Er wusste um diesen eigenen schlechten Wesenszug, doch es wollte ihm einfach nicht gelingen, ihn abzulegen.
»Ein Brief aus Osaka.« Diego fingerte zusammen mit dem Rosenkranz einen geöffneten Brief aus einer Tasche seiner abgetragenen Kutte und blickte ihn mit seinen verweint aussehenden Augen an. »Die Jesuiten haben uns schon wieder angeschwärzt.«
Unter dem flackernden Licht einer Kerze entfaltete der Missionar das Schreiben. Regentropfen hatten es gelb gesprenkelt und die Tinte verwischt. Der Brief, vor etwa zwanzig Tagen von Pater Muñoz, seinem Vorgesetzten, geschrieben, berichtete davon, dass der Hass auf den Altverweser in Osaka immer heftiger werde und sich mehr und mehr Gefolgsleute der in der Schlacht von Sekigahara besiegten Fürsten dort einfänden.
Nach diesen einleitenden Bemerkungen teilte Pater Muñoz mit, dass der Vorsteher der jesuitischen Kirchengemeinde für Mitteljapan in einem Brief nach Rom die Missionstätigkeit der Franziskaner gerügt habe. »Die Jesuiten beklagen sich, dass wir ungeachtet des Verbots in Edo weiterhin Kontakt mit den japanischen Gläubigen unterhalten und dadurch unnötigerweise den Zorn des Altverwesers und des Shoguns heraufbeschwören, was selbst in den Regionen, in denen gegenwärtig noch die Freiheit des Predigens besteht, zu Verfolgungen führe.«
Der Missionar unterdrückte seinen Zorn und gab Diego den Brief mit einer heftigen Handbewegung zurück.
»Das ist doch nicht zu fassen!«
Wenn er sich aufregte, liefen ihm Hals und Wangen rot an. Die Verleumdungen der Jesuiten waren nichts Neues. Schon immer hatten sie die Franziskaner in Rom denunziert. Und das alles nur aus Neid. Seit Francisco Javier vor dreiundsechzig Jahren zum ersten Mal einen Fuß auf japanischen Boden gesetzt hatte, hatte die von ihm mitbegründete Gesellschaft Jesu die Verkündung der christlichen Lehre in diesem Land für sich allein beansprucht. Als dann vor nunmehr fast zehn Jahren Papst Clemens VIII. mit der Enzyklika Onerosa pastoralis auch anderen Orden die Missionstätigkeit in Japan gestattet hatte, waren die Jesuiten in Aufruhr geraten und hatten seither keine Gelegenheit ausgelassen, die anderen Bruderschaften zu schmähen.
»Die Jesuiten haben offenbar vergessen, dass sie die ganze Schuld an den Christenverfolgungen hier in Japan tragen. Sie sollten sich lieber einmal überlegen, wer den Altverweser damals gereizt hat!«
Diego blickte mit seinen geröteten Augen ängstlich zu ihm auf. Es hat keinen Sinn, irgendetwas mit diesem einfältigen Ordensbruder zu beraten, sagte sich der Missionar, während er ihn anschaute. Drei Jahre war er schon im Lande, sprach aber noch immer kein Japanisch. Für ihn gab es nichts anderes, als sich folgsam wie ein Schaf an die Anweisungen seiner Oberen zu halten.