Hanser Berlin E-Book

 

Joachim Käppner

 

PROFILER

 

Auf der Spur von

Serientätern und Terroristen

 

Hanser Berlin

 

ISBN 978-3-446-24415-3

© Hanser Berlin im Carl Hanser Verlag München 2013

Schutzumschlag: Peter-Andreas Hassiepen, München, unter Verwendung einer Fotografie © imago/Rainer Unkel

Alle Rechte vorbehalten

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Kreutzfeldt digital, Hamburg

INHALT

 

Einleitung:

Zwei Männer, zwei Wahrheiten

 

1   Das Verbrechen verstehen:

Eine Vorgeschichte des Profilings

 

Der Vampir: Peter Kürten (1930) - Der Albtraumspiegel: Verbrechen und Zivilisationskritik - Dunkle Barone, Bluttrinker, Mordschlösser: Finstere Welten - »Brief aus der Hölle«: Jack the Ripper (1888) - Wolfsmenschen: Serienmord und Öffentlichkeit (ab 1918) - Das Antlitz des Mörders: Erste wissenschaftliche Ansätze

 

2   »Dark Dreams«:

Die Pioniere des FBI

 

»Ein besonderer Zorn«: Anchorage 1987 - Der große weiße Unbekannte: Washington 2002 - »Ich könnte Ihnen jetzt den Kopf abreißen«: Die ersten FBI-Profiler - Handschrift, Modus Operandi, Serie: Definitionen - Der Profiler-Hype: Kritik und Korrekturen - Der Professor: Internationale Entwicklungen

 

3   »Blick in die Glaskugel«:

Die Gründerzeit der Operativen Fallanalyse in Deutschland

 

Täter unbekannt: Mord im Hölzl - »Mister 100 Prozent«: Udo Nagel und die Gründung der OFA München (ab 1995) - Wiener Blut: Thomas Müller - Tod am Franzosenbunker: »Versionsbildung« in der DDR - »Da kommen die Forscher«: Das BKA - Meisterprüfung: Der Fall Nelly 1998 - Lernziele: OFA-Einheiten in den Bundesländern - Die Liebe eines Mörders: Der Hamburger Weg

 

4   Drei Fälle

 

Der Mann ohne Mitleid: Suche nach einem Sadisten - Die Angst wirft lange Schatten: Der Kehler Frauenmörder - Ein Doppelleben: Frank G.

 

5   Zu Besuch bei der OFA München:

Der Alltag der Profiler

 

Tod in Königsbrunn - Die Fallanalyse, Phase eins: Informationssammlung - Die Fallanalyse, Phase zwei: Auswertung - Das Team - Der Psychologe - Die Datenbank ViCLAS - Die Fallanalyse, Phase drei: Präsentation - Der freundliche Kollege: Mareike

 

6   Ein Exkurs über das Böse

 

Dunkle Sterne: Karolina (2004) - Monster und Bestien: Was ist normal?

 

7   Die Spur der Phantome:

Grenzen der Fallanalyse

 

Berufsrisiko: Falsche Hypothesen - Die unheimliche Frau: Ein Fahndungsdebakel - Eine Glaubensfrage: Peggy - Zerwürfnisse: Thomas Müllers Abschied 2005

 

8   Ein Bild von einem Täter:

Fallanalyse und Forschung

 

Was zuvor geschah: Lebensgeschichten von Sexualverbrechern - Bewegungsmuster (I): Geographisches Verhalten von Sexualstraftätern - Bewegungsmuster (II): Der »Brummimörder« - Kinder als Opfer von Sexualverbrechen (I): Erhöhtes Risiko - Kinder als Opfer von Sexualverbrechen (II): Michelle - Der Lockvogel: Künftige Einsatzmöglichkeiten

 

9   Fallanalyse und Justiz:

Beweismittel im Strafverfahren?

 

Der übliche Verdächtige: Die OFA und der Fall Harry Wörz - Achtzehn rote Rosen: Eine Frage der Schuld

 

10   Wie ein Albtraum:

Der Mann mit der Maske

 

Sein längster Fall: Die Suche (1992–2011) - Tränen eines Mörders: Der Mann ohne Maske (2011–2013)

 

11   Terror von rechts:

Chiffren eines tödlichen Codes

 

4. November 2011: Das Ende des NSU - Sieben Morde und kein Täter: 2000–2005 - Die Fahnder: So viele Spuren, und alle führen ins Nichts - 2006: Die Mörder sind zurück - Horns Hypothese vom Ausländerfeind: »Der Moment, an dem alles zusammenpasst« (2006) - Weil nicht sein kann, was nicht sein darf: Die fixe Idee - Verpasste Chancen: Nichts hören und nichts sehen wollen - Pleiten, Pech und Pannen: Die Suche im rechten Milieu - 2007: Zurück auf null: Die Krise der OFA - Post aus Quantico: Das FBI schaltet sich ein - Ein trister Epilog und eine Hoffnung (2008–2011)

 

Fazit

 

Dank

 

Abkürzungen

 

Literatur

 

Quellen/Andere Medien/Internet

 

Anmerkungen

EINLEITUNG:
ZWEI MÄNNER, ZWEI WAHRHEITEN

Ein warmer Frühlingstag im Berliner Regierungsviertel. Es ist Mai 2012. Draußen tuckern die Touristenboote vorbei, die Sonne scheint durch die Panoramafenster in den Sitzungssaal des Paul-Löbe-Hauses. Der Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages ist bei der Arbeit, unter den Fragen der Abgeordneten windet sich ein Leitender Oberstaatsanwalt.

Nein, er kann nicht erklären, was eigentlich falsch gelaufen ist. Nein, er weiß keine Auskunft zu erteilen, warum Neonazis mehr als ein Jahrzehnt lang mordend und raubend durchs Land gezogen sind, warum sie neun Männer ausländischer Herkunft und eine Polizistin erschießen konnten, ohne dass der Sicherheitsapparat auch nur eine Ahnung von der Existenz der Terrorzelle NSU hatte. Und nein, eigentlich weiß er bis heute nicht, was man ihm und den Strafverfolgern eigentlich vorwirft und wo er jemals etwas falsch gemacht hätte.

Die Anhörung zieht sich, zäh, unerfreulich, uneinsichtig wirkt alles, was der Zeuge vorbringt. So haben viele hier gesprochen und werden es weiter tun: Polizeichefs, Ministerialbeamte, Verfassungsschützer, Politiker. Der Oberstaatsanwalt erregt erst gegen Ende Aufsehen, als er doch noch etwas zugeben muss. Zu seiner Zeit habe die Sonderkommission in Nürnberg eine eigene Dönerbude betrieben, und dies nicht zur Versorgung der Heerscharen von Polizisten, welche vergeblich nach dem großen Unbekannten suchten. Nein, sie eröffnete den Dönerladen, um Tatverdächtige anzulocken. Einige der Verbrechen waren in Imbissständen geschehen. Nur ist der Mörder niemals beim Döner vom Amt erschienen.

»Und wenn er doch gekommen wäre – wer hätte den Dönerbrater im Dienste der Polizei dann geschützt? Lag für diesen Fall draußen Tag und Nacht ein Scharfschütze auf der Lauer?«, fragt sarkastisch ein Abgeordneter. Ein peinliches Detail nur, gewiss, aber eines, das illustriert, wie sehr sich die Strafverfolger in die Idee verrannt hatten, die Taten seien das Werk einer ominösen Drogenbande, der organisierten Ausländerkriminalität, der türkischen Mafia.

Die beiden Männer haben währenddessen gewartet, Stunde um Stunde; es ist später Nachmittag, als sie sich auf die Zeugenstühle setzen. Rechts nimmt Udo Haßmann Platz, links Alexander Horn. Haßmann ist Profiler aus Baden-Württemberg, mit Glatze, tiefer Stimme und Goldkette am Arm eine eindrucksvolle Erscheinung, fast wie aus dem Kriminalroman. Horn hat den gleichen Job beim Polizeipräsidium in München, er ist schlank, hochgewachsen, und wenn er lächelt, wirkt er ein wenig jungenhaft. Doch das mag täuschen.

Ohnehin gibt es wenig zu lächeln an diesem Spätnachmittag. Horn und sein Team hatten 2006, nach dem neunten Mord, die Ermittlungen grundsätzlich in Zweifel gezogen und sich gefragt: Können wir etwas sehen, was die anderen nicht sehen? Und sie hatten etwas gefunden. Sie glaubten nicht mehr an Mafiakiller im Auftrag einer Türkenbande, von der die Polizei noch nicht einmal wusste, ob sie überhaupt existierte. Horn war zu einem ganz anderen Schluss gekommen, als sie ein Profil des Täters zu umreißen versuchten. Dieser handele aus Zerstörungswut, getrieben von einem ausländerfeindlichen Vernichtungsmotiv. Es handele sich womöglich auch um zwei Personen. Eine Kleinstgruppe wie den NSU, wie sich im November 2011 herausstellen wird, als Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos sich auf der Flucht vor der Polizei erschießen und Beate Zschäpe sich stellt.

Natürlich hatten die Münchner Profiler nicht exakt dieses Horrortrio vor Augen gehabt, auch ein verwirrter Einzelgänger wäre denkbar gewesen. Aber die Eckpfeiler ihrer Hypothese stimmten – und wurden doch vom Fahndungsapparat mit einer Verve verworfen, als habe man niemals etwas Dümmeres hören müssen. Eilig bestellte die Kripo 2006 ein Zweitgutachten, diesmal von Horns Kollegen Haßmann aus Stuttgart. Und der brachte die Fahnder aufs gewohnte Gleis zurück: Die Mörder müssten einer organisierten Ausländergruppierung zuzurechnen sein. Die rechte Spur verlief sich daraufhin im Sande, bis zu jenem Tag im November 2011, als der NSU am Nordplatz in Eisenach eine Bank zu viel überfiel. »Wir haben es«, sagt Haßmann so ehrlich wie beklommen, »eigentlich verworfen, dass es sich um eine rechte Gruppierung handelt.«

Für Haßmann ist es kein guter Tag vor dem Ausschuss, wie auch. Er trägt seine Niederlage mit Haltung, versucht nicht, die Dinge schönzureden wie so viele Zeugen vor ihm. »Natürlich haben wir damals gesagt: Wir halten unsere Analyse für die plausiblere. Das Gleiche hat Herr Horn von seiner Analyse gesagt. Aber irgendwie müssen wir dann wieder einen gemeinsamen Weg finden.«

Doch diesen Weg gab es nicht. Die beiden Analysen waren wie Feuer und Wasser. Die eine hätte zum NSU führen können, die andere führte weit von den Mördern fort. Zwei Männer sitzen hier, die mit derselben Waffe der Kriminalistik arbeiten, der Hypothese. Beide sind erfahrene Profis. Der eine trifft, wenn nicht ins Schwarze, so doch in dessen Nähe. Der andere schießt in die Wolken.

Wie in einem Brennglas zeigt diese Zeugenbefragung vor dem Ausschuss Stärke und Schwäche, Realität und Mythos, ja sogar Triumph und Tragödie des Profilers, oder im Polizeideutsch: der Operativen Fallanalyse. Sie hat etwas erkannt, was ein Großaufgebot erfahrener Fahnder, unterstützt von einem gewaltigen Hightechapparat, über Jahre nicht erkannte. Sie hat gezeigt, dass die Ermittler die Sprache der Spuren, der Tatorte, die Zeichen der Täter falsch interpretiert hatten. Und sie hat, in Gestalt des Stuttgarter Gegengutachtens, all diese Erkenntnisse wieder überdeckt.

 

Keine andere Abteilung der Polizei, nicht einmal die Mordkommission, genießt einen solchen Nimbus wie die Profiler. Keine andere Dienststelle ist so sehr vom Hauch eines Mythos umweht, der so wenig mit der Realität gemein hat. Über keine andere gibt es so viele so falsche Vorstellungen, geprägt von Krimis, Crime-Dokus, Kinothrillern und dunkel raunenden Sachbüchern, bei denen Realität und Fiktion unrettbar verschwimmen.

Am Anfang des Profiler-Kults war der Serienmörder, der Antipode des Profilers. Ich jagte Hannibal Lecter heißt der so absurde wie bezeichnende deutsche Titel eines Buchs, das der Mitbegründer des Profilings, der frühere FBI-Agent Robert Ressler, verfasst hat. Hannibal Lecter ist der genialische Serienkiller und Kannibale aus dem Oscar-gekrönten Hollywood-Klassiker Das Schweigen der Lämmer. Der Film kam 1991 in die Kinos, mit Anthony Hopkins’ Paraderolle als hannibal the cannibal und Jodie Foster als sensibler, verwundbarer und doch so lernfähiger FBI-Profilerin. Der Trend zur Mystifizierung und Verklärung sowohl des Serienmörders als auch seines nicht minder genialen Verfolgers hält seitdem an. Erfolgreiche TV-Serien wie Profiler, Criminal Minds, Die Methode Tony Hill bedienen dieses Klischee ebenso wie die höchst populären Serienmörder-Romane von Patricia Cornwell, Thomas Harris, Val McDermid und vielen anderen. Etliche wurden als Verfilmung Welterfolge, etwa Roter Drache oder Hannibal Rising. All diesen Werken folgt bis zum heutigen Tag ein unübersehbarer Rattenschwanz von mehr oder weniger trivialen Nachahmern. Die Serienmörder-Welle ist ungebrochen, in Buchhandlungen haben die einschlägigen Werke mitunter schon eigene Tische. Krimiautoren lieben solche Mörder, und der Buchmarkt liebt Krimiautoren, die in Zeiten des Internets eines der schwindenden verkaufsträchtigen Genres bedienen.

Gewiss, Verfasser und Drehbuchautoren von Krimis genießen jede dichterische Freiheit. Wenn sich Leser und Fernsehzuschauer in großer Zahl daran erbauen, ist das nur ihr gutes Recht. Und trotzdem: Wenn den Autoren gar nichts mehr einfällt, dann ist der Serienkiller gefragt (und der grüblerisch-geniale Kriminalpsychologe nicht fern). Zu einem nicht geringen Teil stammen die Werke, in denen weibliche Opfer missbraucht und ausführlich geschilderten Torturen unterworfen werden, übrigens von Frauen selbst.

Problematischer ist, wie der Mythos auch in nichtfiktionalen Darstellungen dominiert. »In den letzten 40 Jahren hat die Zahl der Serienmörder wiederum stark zugenommen«, behauptet ohne jeden Beleg eines der typischen Bücher aus jüngster Zeit. Von allen Staaten Europas, heißt es weiter, sei außer in Großbritannien in Deutschland die Gefahr am größten, einem von ihnen zum Opfer zu fallen. Tatsächlich aber ist die Zahl der Sexualmorde deutlich gesunken. Der deutsch-österreichische Kino-Dokumentarfilm Blick in den Abgrund (2013) stellt sechs echte oder angebliche Profiler aus sechs Ländern vor. Auf der Homepage zum Film heißt es: »Neben erfahrenen und abgeklärten Profilern, die an den Abgründen der menschlichen Seele beinahe zerbrachen, finden sich junge Profiler, die besessen sind nach Antworten über den Ursprung des Bösen, sowie Profiler, die mittlerweile die Existenz des Teufels nicht mehr anzweifeln, um zu verstehen, oder von einem Killer-Gen überzeugt sind, das es zu entfernen gelte.«

Derlei Geschwätz enthält alle heute gängigen Klischees: die unauslotbare Tiefe des Bösen, der diabolische Killer – und natürlich sein Gegenüber, der Profiler (oder noch besser die junge, bildschöne Profilerin), der einsam dem Monster entgegentritt und es überwinden will, indem er sich in dessen Gedankenwelt versetzt; er wird am Ende siegen, doch um welchen Preis …

Die Wirklichkeit sieht in den allermeisten Fällen völlig anders aus. Im Gegensatz zu dem, was in Schlagzeilen, Fernsehkrimis und unzähligen Romanen verbreitet wird, »ist ein Serienmord ein sehr seltenes Phänomen«, so Harald Dern, Leiter der Fallanalytiker beim Bundeskriminalamt, selbst in den USA und erst recht in Deutschland. Die Polizeiliche Kriminalstatistik zeigt seit Jahren einen Rückgang brutaler Gewaltdelikte. Und doch sind viele Menschen überzeugt, das genaue Gegenteil sei der Fall. Gerade die Häufigkeit tödlicher Sexualverbrechen werde, so schreibt der Münchner Forensiker Herbert Steinböck in dem Handbuch Theory of Mind, »in der Öffentlichkeit durchweg fehleingeschätzt«. Aber für viele TV-Sender sind spannender als Statistiken eben unbekannte, vom Nebel des Grauens umwaberte Kindermörder.

Da mag das FBI selbst den Tausenden Anwärtern, die jährlich Profiler werden wollen, nüchtern mitteilen: Man biete hier keine Jobs an, die dem verbreiteten Bild des Profilers entsprechen würden, es gehe um das Bewerten von Verhaltensweisen. Es hilft nichts. Da mögen Wissenschaftler wie der Kölner Kriminologe Frank Neubacher noch so sehr mahnen: »Der Serienmörder ist in der Realität weder ›genial‹ noch ist er ›künstlerisch‹ tätig … Ebenso wenig sind die Kriminalbeamten, die ihm entgegentreten, Supermänner oder Superfrauen. Ihre Ermittlungen nehmen nicht die Form des Duells mit dem Bösen an, sondern sind nüchterne kriminalistische Arbeit.« Sie finden kaum Gehör. Der Mythos verabscheut nichts mehr als die Nüchternheit, deshalb verdrängt er sie.

Man kann argumentieren, dass schon der Begriff »Profiler« Teil des Mythos und daher besser zu vermeiden sei. Die deutsche Polizei spricht sehr viel lieber von der »Fallanalyse« oder »Operativen Fallanalyse«, abgekürzt OFA. Diese Termini aus der Behördensprache sagen der breiten Öffentlichkeit freilich wenig; sie verwendet den »Profiler« einfach als Synonym für sie, auch wenn das im Detail nicht immer dasselbe bedeutet. Die Vielfalt der deutschen und englischen Bezeichnungen sorgt immer wieder für Verwirrung. Dieses Buch behält das Wort Profiler daher schlicht der Verständlichkeit wegen bei. Jenseits der kriminalwissenschaftlichen Diskurse taugt es schon wegen seiner Verbreitung als Sammelbegriff, wie auch die Kriminalpsychologin Cornelia Musolff argumentiert: »Ausnahmslos hinter allen Fallanalyse- und Profiling-Verfahren steht die Idee, das Verhalten von Tätern und den psychosozialen Kontext von Straftaten als Informationsquelle zur Unterstützung der Verbrechensaufklärung zu nutzen.« Auch Harald Dern vom BKA lässt den Begriff in seinem wissenschaftlichen Handbuch über »Profile sexueller Gewalttäter« gelten: Die Fallanalyse sei »kurz gesagt die Form des Profilings, die bei der deutschen Polizei praktiziert wird«.

Und diese Form sieht, im besten Kriminalistendeutsch der offiziellen Definition, so aus: »Bei der Fallanalyse handelt es sich um ein kriminalistisches Werkzeug, welches das Fallverständnis bei Tötungs- und sexuellen Gewaltdelikten sowie anderen geeigneten Fällen von besonderer Bedeutung auf der Grundlage objektiver Daten und möglichst umfassender Informationen zum Opfer mit dem Ziel vertieft, ermittlungsunterstützende Hinweise zu erarbeiten.«

Der britische Psychologieprofessor David Canter beschreibt das Prinzip mit mehr Eleganz, aber im Kern nicht anders: »Ein Krimineller lässt nicht nur materielle Spuren zurück, sondern auch psychologische: verräterische Verhaltensmuster, die darauf hinweisen, welche Art von Mensch er ist. Diese Spuren kann man nicht in ein Labor bringen und unter einem Mikroskop sezieren. Sie gleichen mehr den Schatten, die ohne jeden Zweifel zu dem Täter gehören, der sie wirft; aber sie flackern und verändern sich, und oft weiß man nicht einmal, von wo sie kommen. Und doch: Wenn es gelingt, sie festzuhalten und zu interpretieren, können diese Schatten uns zeigen, wo die Ermittler hinsehen und was für einen Typ von Person sie suchen sollten.«

Zum Thema gibt es eine rege wissenschaftliche Debatte, zum Beispiel in den Spalten der Zeitschrift Kriminalistik, beteiligt sind auch Mitbegründer des deutschen Profilings wie der Münchner OFA-Leiter Alexander Horn oder die BKA-Spezialisten Harald Dern und Michael C. Baurmann. Gerade die Wiesbadener Zentralbehörde hat die kriminalistische Forschung von Beginn an als Teil ihrer Aufgabe verstanden. Die erfahrenen Psychologen Cornelia Musolff und Jens Hoffmann haben 2006 in zweiter, erweiterter Auflage ein akademisches Standardwerk über Täterprofile bei Gewaltverbrechen im deutschen Sprachraum herausgegeben. All diese Texte sind aber nicht für ein breites Publikum geschrieben.

Mehrere Gründerväter des amerikanischen Profilings, überwiegend frühere FBI-Agenten, berichten dagegen in populären Büchern über ihre Fälle und auch ausgiebig über sich und ihre »Reise in die Finsternis«. Sie haben etliche Nachahmer gefunden. Manche Autoren des Genres sind nur schwer ernst zu nehmen, etwa die Amerikanerin Pat Brown, die sich selbst zur Profilerin ernannt und es mit ihrem Kreuzzug gegen das Böse oder das, was sie dafür hält, in die Bestsellerlisten gebracht hat. Für die echten und vermeintlichen Täter aus ihrem Buch fordert sie die Todesstrafe: »Keiner dieser mörderischen Bastarde sollte existieren.«

In Deutschland hat dieser selbstdarstellerische Personenkult wenig Parallelen. Keiner der führenden deutschen Fallanalytiker hat Memoiren veröffentlicht, gegenüber den Medien sind die meisten sehr zurückhaltend. Eine Ausnahme bildet Axel Petermann aus Bremen, Leiter der kleinsten deutschen OFA-Einheit. Er berichtet in seinen beiden Büchern (2011 und 2012) und als Gast zahlreicher TV-Sendungen und Talkshows über seine Tätigkeit als Mordermittler und später als Profiler in der Hansestadt. In Bestie Mensch (2004) wiederum blickt der Mitbegründer des Profilings in Österreich und Deutschland, der Wiener Kriminalpsychologe Thomas Müller, auf seine lange Karriere zurück. Beide Autoren arbeiten stark autobiographisch, die Bücher sind spannend zu lesen und schildern reale Ereignisse. Ein repräsentatives Bild der Operativen Fallanalyse, ihrer Methodik und ihrer großen Fälle, bieten sie gleichwohl nicht.

In jüngster Zeit, nach den Bestsellern Verbrechen und Schuld von Ferdinand von Schirach, sind Bücher in Mode gekommen, die eigene berufliche Erfahrungen in der Auseinandersetzung mit Kriminalität zum Thema haben. Der Berliner Strafverteidiger schilderte literarisch verfremdet Fälle aus seiner Praxis, in denen es stets um Grenzen der Schuld geht, um die Verwobenheit von Gut und Böse, um Grauzonen des Rechtssystems. Im Kielwasser dieser Werke schrieben zuletzt, um einen ähnlichen Stil bemüht, frühere oder noch aktive Leiter von Mordkommissionen, Pathologen und Gerichtsgutachter. Sie schildern jeweils viele Personen, darunter Opfer, Zeugen, Patienten und natürlich Täter. Jüngst hat ein Richter des Bundesgerichtshofs, Thomas Fischer, in der Zeit harte Kritik an den Autoren der real crime-Welle geübt: »Es ist das dreiste Unternehmen, aus dem hoheitlichen Zugriff auf das Schicksal der anderen privaten Gewinn zu wringen, sei es als Geld oder Einladung zur Talkshow.« Man muss dem in dieser Schärfe nicht zustimmen. Vieles in diesen Büchern ist nachdenklich und bringt neue Erkenntnisse, anderes eher weniger. Aber es gibt hier ein Problem, das zu Recht angesprochen wird, schon wegen der Angehörigen der Opfer, deren Schicksal mitunter in blutigsten Einzelheiten und so thrillerhaft geschildert wird, als habe der Autor direkt danebengestanden.

Das vorliegende Buch möchte daher einiges bewusst nicht leisten. Es hat nicht die Absicht, den Profiler-Mythos weiterzustricken oder den Titeln über Serienkiller als Verkörperung des Bösen noch einen hinzuzufügen. Es ist auch keine real crime-Story mit den üblichen fiktionalen Elementen. Es handelt von Verbrechen und ihrer Bekämpfung, aber es will keinen Blick auf diese Verbrechen und vor allem nicht auf deren Opfer werfen, der als journalistischer Voyeurismus verstanden werden könnte. Es spart deshalb und mit Rücksicht auf Angehörige der Opfer mit der Schilderung grausiger Details, soweit diese für das Verständnis der Operativen Fallanalyse nicht unbedingt notwendig sind. Es ist kein wissenschaftliches Buch, sondern für eine breite Leserschaft geschrieben; es hat aber den Anspruch, sich auf der Basis der wissenschaftlichen Erkenntnisse zu bewegen.

Es möchte realitätsnah und kritisch sowie an konkreten Fällen die Geschichte und die Arbeit der Operativen Fallanalyse in Deutschland erzählen – und deren internationale Vorgeschichte, ohne die sie nicht richtig zu verstehen ist. Nicht Heldenstorys vom Kampf gegen Psychomonster werden geschildert, sondern der Aufstieg einer Disziplin, die sich in überraschend kurzer Zeit von einem belächelten exotischen Feldversuch zu einem bedeutenden Ermittlungsinstrument entwickelt hat. Denn dass die öffentliche Wahrnehmung von Serienmördern und Sexualverbrechen weit übertrieben ist, heißt ja nicht, dass es solche Verbrechen gar nicht gebe. Der wissenschaftlich gestützte Versuch, sich auf psychologischem Wege dem Mörder und seinen Motiven zu nähern, ist in Wirklichkeit sogar spannender als die immer gleichen Horror-Abziehbilder.

Das Buch beruht auf eigenen Recherchen, Dokumenten, Auswertung der Literatur und Interviews mit Beteiligten: Polizisten und Wissenschaftlern. Im Mittelpunkt steht das OFA-Team des Münchner Polizeipräsidiums. Schon in den späten neunziger Jahren gehörte Alexander Horn als junger Mann zu den Mitbegründern der Methodik in Deutschland. Heute ist er einer der erfolgreichsten Fallanalytiker des Landes. Der Autor hat Horn und die Münchner OFA-Kollegen seit Jahren immer wieder begleitet, für Beiträge in der Süddeutschen Zeitung etwa über die Suche nach dem »Maskenmann« oder nach den Mördern der acht Türken und des Griechen. Als erstem Berichterstatter hat ihm die OFA gemeinsam mit der damaligen Sonderkommission im Jahr 2006 die neue Hypothese mitgeteilt, dass die Morde an neun Männern mit Migrationshintergrund ein ausländerfeindliches Motiv haben müssen. Zu Wort kommen außerdem die Fallanalytiker des Bundeskriminalamtes, mit denen der Autor ebenfalls wiederholt zu tun hatte und welche die Fallanalyse systematisch weiterentwickelt haben, sowie Profiler aus anderen Bundesländern, besonders aus Hamburg, Schleswig-Holstein, Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen.

Viele der Fallanalytiker haben für dieses Buch erstmals einen so tiefen Einblick in ihre Arbeit gewährt. Außerdem wurden Fachleute befragt, wie zum Beispiel die forensischen Psychiater Norbert Nedopil und Franz Joseph Freisleder aus München, sowie Mordermittler, die aus ihrer Sicht schildern, was die Fallanalyse zur Aufklärung von Verbrechen beitragen kann und was nicht.

Das Buch beginnt mit einer Vorgeschichte des Verbrechens und der Versuche, ihm mit psychologischen Mitteln beizukommen. Kriminalisten wie der berühmteste Mordfahnder der Weimarer Republik, Ernst Gennat, betrieben bereits Vorformen des Profilings. Systematisch entwickelt wurde die Methodik erst seit den siebziger Jahren durch die amerikanische Bundespolizei FBI. Der Hauptteil des Buches beschäftigt sich mit der Operativen Fallanalyse in Deutschland – ihrer Gründung, ihren ersten Fällen, ihren nicht einfachen Versuchen, gestandenen Mordermittlern ans Herz zu legen, was diese noch zu lernen hätten; und umgekehrt mussten die Profiler sich fragen lassen, ob das, was sie als Ermittlungshilfe anboten, nicht bloß modisches Spielzeug oder »alter Wein in neuen Schläuchen« sei. Es begleitet sie durch einige Fälle, in denen die Profiler bewiesen, wie wertvoll ihre Methodik ist, und durch Mordermittlungen, die auch sie keiner Lösung zuführen konnten. Denn eines ist die Fallanalyse nicht, wie Alexander Horn sagt: »Sie ist kein Wundermittel, sondern ein kriminalistisches Handwerk.«

Das Buch will Aufstieg und Etablierung dieses Handwerks zeigen – und seine Krise. Denn das letzte Kapitel ist den Versuchen der Fallanalytiker gewidmet, Licht in die damals so rätselhafte Mordserie an Ausländern in Deutschland zwischen 2000 und 2006 zu bringen. Dazu standen dem Autor auch zahlreiche bisher unveröffentlichte Quellen und Dokumente zur Verfügung. Aus ihnen lässt sich klar belegen, wie verantwortungslos und voreingenommen Teile des Sicherheitsapparats mit der Hypothese umgingen, die Täter könnten deutsche Ausländerfeinde sein. Die Fallanalyse hätte bei dieser langen Fahndung ihre größte Stunde erleben und die Kripo in die richtige Ermittlungsrichtung führen können – wenn man nur auf sie gehört hätte.

Ein Profiler, ein Fallanalytiker sieht in seinem Berufsleben viele Dinge, die einem normalen Bürger und auch den meisten Polizeibeamten in aller Regel erspart bleiben: Bilder von Kinderleichen, entstellten Opfern, das Ausmaß der Unmenschlichkeit, zu der Menschen fähig sind. Man muss nicht den Mythos vom Abgrund des Bösen bemühen, um die seelischen Belastungen zu begreifen, mit denen ein Profiler zu leben lernen muss. Einem freilich wird er wohl niemals begegnen, wie Harald Dern vom Bundeskriminalamt sagt, nämlich dem genialischen Gegenüber, mit dem er dann ein Psychoduell auf Leben und Tod ausficht wie im Thriller: »Einen Hannibal Lecter hatten wir noch nie. Und ich bezweifle sehr, dass wir jemals einen antreffen werden.«

 

Anmerkungen