Für ein wichtiges Forschungsprojekt soll Michael Quetting am Max-Planck-Institut Graugänse trainieren, ihm und seinem Ultraleichtflugzeug durch die Lüfte zu folgen. Doch zunächst heißt es: brüten. Als schließlich sieben Gänschen schlüpfen, merkt der frischgebackene Gänsevater schnell: Das ist eine richtige Kinderbande mit ganz individuellen Eigenheiten. Mit liebevollen Charakterisierungen seiner Truppe lässt Quetting uns teilhaben an dem Abenteuer, wie sich die kleinen Gänschen entwickeln; wie sie gemeinsam Land, Wasser und die Lüfte erobern – bis hin zum schweren Abschied am Ende des Projekts, als seine Gänse in die Freiheit entlassen werden und Michael Quetting ein anderer ist …
MICHAEL QUETTING
P L Ö T Z L I C H
G Ä N S E V A T E R
Sieben Graugänse
und die Entdeckung
einer faszinierenden Welt
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Originalausgabe 03/2017
Copyright © 2017 by Ludwig Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Ute Daenschel
Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich
Umschlagfotos: © colourFIELD tell-a-vision
Satz: Leingärtner, Nabburg
e-ISBN: 978-3-641-20660-4
V001
www.Ludwig-Verlag.de
Für Amélie und Ronin
INHALTSVERZEICHNIS
NEUN EIER
GLORIA
SIEBEN KÜKEN
ERSTES BAD
IHR MACHET SACHE!
DAS UNGEHEUER IN DER SCHEUNE
BUSFAHRT MIT GÄNSEN
LEUCHTENDE KINDERAUGEN
GANTER UND GÄNSE
FLIEGEN
DER VIELFRASS
FRIEDER DREHT AB
GÄNSEPUBERTÄT
RAUSWURF
KREISE ÜBER DEM MAISFELD
DIE ENDLICHKEIT
DER PASSAGIER
ZURÜCK IN DER ZIVILISATION
AUSGEFLOGEN
VIELEN HERZLICHEN DANK AN
NEUN EIER
Ich bin hochschwanger mit Neunlingen. Beziehungsweise: So ungefähr fühle ich mich. Bis zum errechneten Schlupftermin, dem 30. Bruttag, ist es zwar noch etwas mehr als eine Woche hin, doch der Nestbautrieb hat mich bereits voll im Griff. Ich würde gerne in Geschäftigkeit ausbrechen, Lieferanten nach dem besten Bioheu und den besten Biokörnern abklappern, irgendetwas zusammenbauen und alles möglichst gut vorbereiten, doch im Vogelnestbau habe ich leider überhaupt keine Erfahrung. Ich kann nichts tun, außer mit verklärtem Blick vor dem Brutautomaten zu sitzen.
Hinter der Glasscheibe liegen neun Gänseeier. Der Brutautomat steht im Keller des Max-Planck-Instituts, in dem ich arbeite. Das Ding sieht ein bisschen aus wie ein Heißluftbackofen und hört sich auch so an. Im Inneren des Brutautomaten wird die Warmluft nämlich ständig umgewälzt und verteilt, was ein angenehmes, sonores Brummen erzeugt.
Allerdings ist es da drin nur genau 37,6 Grad warm. Ein paar Grad mehr und die Eier würden nicht ausgebrütet, sondern gar gebrüht. Ein paar Grad weniger und sie würden nur aufbewahrt wie im Kühlschrank.
Die Eier sind etwa faustgroß. Es gibt Menschen, die sich aus Gänseeiern ein pfannengroßes, besonders aromatisches Spiegelei machen oder sie – wie die Großpackung eines Hühnereis – ganz normal zum Backen verwenden. Wahrscheinlich ist das praktisch, denn ein Gänseei entspricht ungefähr drei Hühnereiern, aber ich habe es noch nie ausprobiert.
In dem Brutautomaten herrscht eine Luftfeuchtigkeit zwischen 65 und 70 Prozent – man könnte auch sagen, das Ganze ist ein vollautomatischer Gänsepopo. Die Eier sollen sich hier genauso entwickeln, wie unter dem Bürzel ihrer Gänsemama in freier Natur.
Leider ist das nicht so einfach, wie es klingt, denn so ein Gänsepopo ist ein filigranes Gebilde und erzeugt eine einzigartige Atmosphäre aus Wärme und Feuchtigkeit. Damit das Schlüpfen im Automaten auch klappt, müssen sämtliche Brutparameter konstant bleiben, und zwar über den ganzen Tag hinweg. Am wichtigsten ist die exakte Luftfeuchtigkeit. Ist sie zu niedrig, trocknet die Haut des Eis im Inneren aus und das Gewebe bekommt eine ledrige Konsistenz – dadurch wird das Schlüpfen für die Küken sehr erschwert, und es kann sein, dass sie es nicht schaffen, die Haut des Eis zu durchbrechen. Dann schlüpfen sie nicht aus, sondern bleiben in dem ledrigen Ei gefangen. Eine Qual, die ich den Gänseküken lieber ersparen will.
In der Natur entsteht die hohe Luftfeuchtigkeit dadurch, dass die Gänsemama ein- bis zweimal täglich das Nest verlässt, eine Runde baden geht und sich anschließend mit nassem Po wieder auf die Eier setzt. Während sie weg ist, sinkt allerdings auch die Temperatur im Nest. Der Brutschrank kann den kleinen Ausflug der Gänsemama natürlich nicht nachmachen, deshalb nehme ich die Eier zweimal am Tag heraus, kühle sie eine halbe Stunde lang mit kalter Luft und besprühe sie vor dem Zurückstellen mit lauwarmem Wasser.
Die Eier sind cremeweiß und ihre Oberfläche fühlt sich sehr angenehm an. Warm und ganz glatt, fast wie ein beheizter Handschmeichler.
Ich habe jedes Mal Angst, eins von den Eiern könnte mir auf den Steinboden fallen. In der dritten Brutwoche sähe so ein aufgeschlagenes Gänseei garantiert nicht mehr wie etwas aus, das sich mit »Zewa Wisch&Weg« appetitlich beseitigen lässt, sondern wie der Embryo eines Kükens, das sich vielleicht schon bewegt.
Die Eier müssen außerdem mehrmals am Tag gewendet werden – das ist wichtig, sonst könnten die kleinen Gänseembryos an der Eiwand festkleben. Um sich entwickeln zu können, müssen sie immer frei in ihrem Dottersack schwimmen.
In den ersten Wochen war ich bei der Kontrolle der Parameter noch relativ entspannt, doch jetzt stelle ich eine immer stärkere Brutparanoia an mir fest. Ich muss mich beherrschen, nicht andauernd hochzuspringen und immer wieder die Temperatur und die Luftfeuchtigkeit zu kontrollieren. Vorgestern Nacht bin ich um kurz nach eins aus meinem Bett hochgeschreckt und hergefahren, weil ich dachte, die Eier seien plötzlich zu kühl.
Bei dem ganzen Projekt steht viel auf dem Spiel – und damit meine ich nicht nur das Leben von neun kleinen Gänseküken. Es geht auch um Geld und den Erfolg meiner Arbeit.
Die Gänse sollen später sogenannte Datenlogger auf dem Rücken tragen. Das ist ein etwa streichholzschachtelgroßes Messgerät, das allerhand Daten aufzeichnet. Mit Hilfe dieser Messdaten kann man dann präzise Aussagen über Flugmechanik, Aerodynamik und den momentanen Zustand der Atmosphäre treffen.
Wenn es gelingt, soll es in einigen Jahren oder Jahrzehnten möglich sein, an vielen Orten der Welt, dort wo sich Vögel und andere Tiere befinden, zum Beispiel Daten über Luftströmungen und Windgeschwindigkeiten zu erhalten. Diese wertvollen Informationen sollen dann automatisch über einen Satelliten gesammelt und zur Auswertung zur Erde gefunkt werden. Für die Wetterbeobachtung sind das äußerst wertvolle Informationen, gerade weil sie ansonsten auf Daten angewiesen ist, die von den Messungen der Bodenstationen stammen. Wie zum Beispiel die Luftbewegungen in 3 000 Metern Höhe irgendwo in der Mongolei aussehen, das können die Wetterstationen bislang nur mutmaßen und näherungsweise bestimmen. Irgendwann einmal könnte es gelingen, aus Vögeln mobile Wetterstationen zu machen, ohne sie in ihrem Flugverhalten zu beeinflussen.
Falls es mir nicht gelingt, die Eier zum Schlüpfen zu bringen, bedeutet das: Ein ganzes Jahr ist verloren. Neue Gänseeier wird es erst nächstes Jahr wieder geben. Gänse brüten nicht, wie ein Huhn, das ganze Jahr über, sondern nur, je nach Witterung, zwischen März und Mai. Vielleicht werden Gänseeier bei manchen Menschen auch deshalb als Delikatesse angesehen: Sie sind nicht ständig verfügbar, das Angebot ist durch die Natur beschränkt. Für eine Gans ist das übrigens nicht anders: Entdeckt zum Beispiel ein hungriger Marder das Gänsegelege, während die Gänsemama beim Baden ist, so kann sie bei ihrer Rückkehr nur um die Eier trauern, brütet aber nicht noch einmal. Nachgelege gibt es bei Gänsen nicht. Ich weiß nicht, ob Gänse wirklich trauern, aber der Gänsemutter bleibt dann nichts anderes übrig, als ein Jahr zu warten.
Doch warum soll gerade ich Gänsevater werden? Ganz einfach: Weil ich fliegen kann. Ich bin schon lange Drachenflieger und habe vor einiger Zeit einen Flugschein für ein Ultraleichtflugzeug gemacht. Deshalb war im Institut, als es darum ging, wer dieses Projekt übernimmt, auch ziemlich schnell klar, dass ich die Gänse aufziehen würde. Und wenn alles klappt, dann werde ich mit den Gänsen in ein paar Wochen fliegen!
Die Verantwortung und die Spannung lastet ganz schön schwer auf meinen Schultern. Hinzu kommt: Ich bin gerade frisch geschieden und habe mich von all dem Stress noch nicht so richtig erholt. Ich darf die Gänseeier nicht vernachlässigen, möchte aber auch nicht, dass die Zeit auf Kosten meiner Kinder geht, die mich gerade jetzt besonders brauchen. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich emotional überhaupt Kapazitäten für neun bedürftige, piepsende, nervende kleine Küken haben werde.
Aus all diesen Gründen bin ich nervös und unausgeglichen, während ich vor dem Brutautomaten sitze. Dass ich den Eiern aus Nils Holgersson vorlese, hat also nicht zuletzt den Zweck, mich selbst ein bisschen zu beruhigen.
Ja, genau: Ich lese den Eiern vor. Ich stelle einen Bluetooth-Lautsprecher zwischen die Eier und höre bald meine etwas verzerrte Stimme:
Es war einmal ein Junge. Er mochte wohl vierzehn Jahre alt sein, war lang aufgeschossen und hatte flachsgelbes Haar. Er war zu nichts recht zu gebrauchen …
Wichtig ist, dass die Küken – oder die Gössel, wie sie im Fachjargon heißen – sich schon hinter der Eischale an meine Stimme gewöhnen. Sie sind zwar noch nicht auf der Welt – aber Geräusche können sie schon wahrnehmen. Wenn sie schlüpfen, werden sie sich an den Klang meiner Stimme erinnern. Auch kleine Babys erkennen die Stimme ihrer Mutter schon, wenn sie noch gar nicht geboren sind. Angeblich gibt es ja besonders karrierebewusste Eltern, die um den schwangeren Bauch einen Kopfhörer klemmen und das Baby stundenlang mit klassischer Musik beschallen, weil sie hoffen, dass dadurch die Intelligenz ihres Kindes gefördert wird.
»Keine Angst«, sage ich in den Brutautomaten, »ich werde nicht versuchen, auf eurem Rücken zu fliegen. Ich habe mein eigenes Flugzeug.«
Intelligenter werden die Gänse durch meine Stimme bestimmt nicht. Es geht lediglich um die Prägung auf mich. Ganz grob kann man Vögel in zwei Kategorien einteilen: die Nestflüchter und die Nesthocker.
Beide werden als Eier im Nest ausgebrütet, doch dann kommt der große Unterschied: Während die Nesthocker nach dem Schlüpfen noch einige Zeit als Küken im Nest bleiben und von den Eltern mit vorgekauter Nahrung versorgt werden, sind die anderen direkt nach dem Schlüpfen schon sehr weit entwickelt. Das sind die Nestflüchter, und zu dieser Gruppe zählen auch Graugänse. Sind sie einmal aus dem Ei geschlüpft, dann können sie sich sofort in ihrer Umwelt zurechtfinden. Allerdings werden auch Graugänse in der ersten Zeit noch wochenlang von ihren Eltern beschützt und begleitet.
Das Erstaunliche ist: Die kleinen Gänseküken sind bei der Wahl ihrer Eltern sehr genügsam – als Mama oder Papa nehmen sie einfach denjenigen oder auch dasjenige an, was sie nach dem Schlüpfen wahrnehmen. Normalerweise ist das natürlich Mama Gans, denn in der Regel bebrütet sie die Eier, bewacht nach dem Schlüpfen das Nest und umsorgt ihre Kleinen. Doch der Verhaltensforscher Konrad Lorenz hat schon vor langer Zeit herausgefunden, dass Gänse auch Mitglieder einer anderen Spezies, zum Beispiel einen Menschen wie mich, oder sogar Gegenstände wie einen Fußball oder eine Puppe als Papa akzeptieren können.
Es genügt, wenn der Gegenstand oder die Person sich vor und nach dem Schlüpfen in die Wahrnehmung der Gänse einprägt. Deshalb nennt man diesen Vorgang auch Prägung.
Es geht bei der Prägung um Geräusche und Aussehen, aber auch um Geruch. Schon vor einiger Zeit habe ich ein getragenes T-Shirt von mir in den Brutautomaten neben die Eier gelegt. Vielleicht wäre auch eine alte Socke gegangen – aber das wollte ich ihnen nicht schon vor der Geburt zumuten.
Nicht nur vom kleinen Nils Holgersson lese ich den Eiern vor, ich erzähle auch einfach so vor mich hin, was mir gerade einfällt.
Und vor allem: Ich präge den Eiern zwei wichtige Geräusche ein, die bald eine große Rolle spielen werden. Erstens das aufgezeichnete Propellergeräusch des Ultraleichtflugzeugs, mit dem ich die Gänse später auf ihren Flügen begleiten will. Auch an das Rattern des Propellers sollen sie sich bereits vor dem Schlüpfen gewöhnen. Zweitens – und vielleicht noch wichtiger – das Tröten meiner kleinen, etwas altmodischen Ballhupe. Das Geräusch ist vergleichbar mit dem Tröten einer Vuvuzela, zwar nicht ganz so laut, aber ungefähr genauso nervig. Später soll es für die Gänse nur bedeuten: Achtung! Beeilung! Sofort zu mir! Bei den Gänsen in der Natur gibt es ebenfalls so ein Geräusch – es klingt zwar anders, aber die Gänsemama benutzt es auch, um ihre Schützlinge vor Gefahren zu warnen und zu sich zu rufen.
Für Gänseküken ist die Welt voller Gefahren. Von den vier bis sechs Eiern, die eine Gänsemama ausbrütet, bleiben oft nur ein oder zwei ausgewachsene Gänse übrig.
»Ich werde euch schon vor Raubtieren beschützen«, verspreche ich den Eiern. Sie reagieren nicht.
Wieder betrachte ich die Temperaturanzeige: Genau 37,6 Grad. Alles in Ordnung. Dann sehe ich auf die Uhr und erschrecke: Es sind mehrere Stunden vergangen und draußen ist es längst dunkel. Hier im Keller bekomme ich davon genauso wenig mit, wie die Gänse hinter der Schale.
Ich habe auch gar nicht bemerkt, wie hungrig ich eigentlich bin. Ich springe auf, rufe den Eiern »Gute Nacht!« zu und lösche das Licht im Brutraum.
Einen Tag später ziehen die Eier zum ersten Mal um. Sie bleiben zwar noch im Brutautomaten, doch kommen sie jetzt von der Wendehorde in die Schlupfhorde. Die Wendehorde ist die Vorrichtung, in der die Eier während der ersten Wochen automatisch gewendet werden. Das Ding sieht ein bisschen aus wie ein kleiner Wäscheständer ohne Füße und mit etwas weniger Abstand zwischen den Leinen, die in diesem Fall Stangen sind. Durch automatische Verschiebung der Stangen werden die Eier sanft um ihre eigene Achse gedreht. So kurz vor dem Schlüpfen ist das Wenden jedoch nicht mehr notwendig, es kann sogar schädlich sein. Schließlich sind die Küken jetzt bereits so groß, dass sie kaum noch Platz in dem Ei haben – ein Zustand, der keiner Schwangeren unbekannt sein dürfte. Die Küken können sich jetzt nicht mehr einfach in ihrem Dotter drehen, sie haben bereits die kleine Luftblase durchstochen, die sich in jedem Ei befindet. Die Luftblase dient dem Küken als Vorrat an Atemluft, bevor es die Schale durchbricht.
Eine Wendung in diesem Stadium ist nutzlos und könnte die Küken verletzen. Deshalb kommen die Eier jetzt in die sogenannte Schlupfhorde. Das ist ein Kasten mit einem feinmaschigeren Gitter. Er sieht ein bisschen aus wie ein leichtes, filigranes Backblech.
Vorsichtig nehme ich jedes einzelne Ei heraus und bette es quasi um.
Abkühlen muss ich die Eier jetzt nicht mehr, auch Mama Gans verlässt das Nest am Ende der Brutzeit nur noch selten und bleibt schön fest auf den Eiern sitzen.
Wichtig ist, dass die Luftfeuchtigkeit noch etwas steigt – auf mindestens 80 Prozent. So warm-feucht ist auch das Klima unter einem Daunenpopöchen. Die Eihäute müssen jetzt so geschmeidig wie möglich bleiben, damit die Küken nicht in der Schale hängen bleiben oder sich an ihr verletzen.
Leider ist es in unserem Institutskeller normalerweise knochentrocken. Ich kämpfe schon die ganze Zeit gegen diese Trockenheit an. In dem Brutautomaten steht ein riesiger Blumentopfuntersetzer, der bis zum Rand mit Wasser gefüllt ist. Dazu lege ich noch zwei große Spülschwämme, um die Verdunstungsoberfläche zu vergrößern. Nach einiger Zeit hält sich die Luftfeuchtigkeit zum Glück bei 82 Prozent.
Ich darf die Eier jetzt nicht mehr anfassen und den Brutschrank auch nicht mehr aufmachen. Die Küken sind nun ganz auf sich allein gestellt. Ich kann ihnen beim Schlüpfen nicht helfen, und man kann diesen Prozess auch nicht technisch optimieren. Ich kann nur zuschauen und abwarten, was passiert – ein ungewohntes Gefühl der Ohnmacht.
Während ich vor den Eiern sitze, lasse ich meine Gedanken fließen. Ich habe mich immer schon für Tiere interessiert, aber Rohkost-Veganer bin ich nie gewesen, und ich weiß auch nicht, ob die Bezeichnung besonders tierlieb oder tiervernarrt gut zu mir passt.
Zwischendurch starre ich immer wieder die Eier an, aber sie sehen noch immer so aus wie vorher. Unruhig springe ich auf und setze mich wieder hin.
Wie sollen die kleinen Küken das eigentlich schaffen? Ist die Schale nicht viel zu hart? Und woher wissen sie überhaupt, dass die Welt hinter der Schale weitergeht? Oder sind da vielleicht gar keine Küken drin? Und kann mir jemand mit Betablockern aushelfen?
Zwei Tage vor dem errechneten Schlupftermin lese ich wieder einmal aus Nils Holgersson vor.
… Der Junge wollte durchaus nicht glauben, dass er in ein Wichtelmännchen verwandelt worden war. ›Es ist gewiss nur ein Traum und eine Einbildung‹, dachte er. …
Ab und zu hebe ich den Kopf, um zu prüfen, ob mir das Publikum, also die Eier, auch aufmerksam zuhören. Sie scheinen sich für die Geschichte aber – wie immer – nicht wirklich zu interessieren.
… ›Wenn ich ein paar Augenblicke warte, werde ich schon wieder ein Mensch sein.‹ Er stellte sich vor den Spiegel und schloss die Augen …
In diesem Moment geschieht etwas Erstaunliches: Die Küken antworten. Ich höre ein erstes zartes Piepsen und mir wir ganz warm. Da sind sie! Das erste Geräusch der Gänse!
Ich bin gerührt, kneife die Augen zusammen und kann es nicht fassen – die Eier bewegen sich außerdem ganz leicht. Ein paar Millimeter hin und her. Sie erkennen offenbar meine Stimme. Ich traue mich kaum, die Gänse über Nacht allein im Brutautomaten zu lassen. Auf dem Weg nach Hause weiß ich: Da sind jetzt neun kleine Lebewesen, die auf mich warten!
Und dann wird es wirklich ernst. Um sieben Uhr früh vibriert mein Telefon. Es ist eine Tierpflegerin vom Institut, und sie klingt sehr aufgeregt. Während ich noch mein Betriebssystem hochfahre, höre ich: »Ein Ei ist angepickt!«
Sofort bin ich wach. Das Gänse-Abenteuer kann also beginnen.