Billy Halleck, guter Ehemann, Vater und erfolgreicher New Yorker Anwalt, lebt mit seiner Familie in Fairview, Connecticut. Er schätzt – wie seine Nachbarn – Geld, Sex und gutes Essen. Letzteres so sehr, dass er mehr als 50 Pfund Übergewicht hat.
Doch dann fährt Billy in einem Moment der Unachtsamkeit eine alte Zigeunerin tot. Und wird, als er vor Gericht straflos davonkommt, von ihrem Vater verflucht. »Dünner«, flüstert der uralte Mann und streicht dem dicken Anwalt fast zärtlich mit einem Finger über die Wange. Fortan nimmt Billy ab, so viel er auch isst. Seine anfängliche Freude darüber verwandelt sich in Entsetzen, als er sich immer mehr dahinschwinden sieht. Schließlich ist er so verzweifelt, dass er sich auf ein letztes gefährliches Wagnis einlässt.
Der Autor
Stephen King, 1947 in Portland, Maine, geboren, veröffentlichte schon als Student Kurzgeschichten. Sein erster Romanerfolg, Carrie, erlaubte ihm, sich nur noch dem Schreiben zu widmen. Seitdem hat er weltweit über 400 Millionen Bücher in mehr als 40 Sprachen verkauft. Im November 2003 erhielt er den Sonderpreis der National Book Foundation für sein Lebenswerk. Die großen Werke des Autors erscheinen im Heyne Verlag.
Vorwort des Herausgebers
Ehe er Ende 1985 einer Krebserkrankung erlag, hatte Richard Bachman fünf Romane veröffentlicht. 1994 fand die Witwe des Schriftstellers im Keller einen Pappkarton voller Manuskripte, als sie sich auf einen Umzug vorbereitete. Diese Erzählungen und Romane befanden sich in verschiedenen Stadien der Fertigstellung. Die am wenigsten bearbeiteten waren handgeschriebene Notizen auf Stenoblöcken, die Bachman für seine ersten Entwürfe verwendete. Am weitesten fertiggestellt war der maschinengeschriebene Text des folgenden Romans. Er befand sich in einem mit Gummibändern gesicherten Karton für Manuskripte – als hätte Bachman kurz davor gestanden, ihn an seinen Verleger zu schicken, als sein Körper nicht mehr auf die Therapie ansprach. Bachmans Witwe legte mir das Manuskript zur Begutachtung vor, und ich stellte fest, dass es mindestens das Niveau seiner früheren Werke hielt. Ich habe einige Kleinigkeiten verändert, vor allem bestimmte Bezüge aktualisiert (indem ich zum Beispiel Rob Lowe im ersten Kapitel durch Ethan Hawke ersetzt habe). Aber im Großen und Ganzen habe ich das Werk so belassen, wie es mir zugesandt worden ist. Mit der Zustimmung von Bachmans Witwe bieten wir diesen Roman nun als Schlussstein eines ungewöhnlichen, aber nicht uninteressanten Schaffens an.
Mein Dank geht an Claudia Eschelman (die frühere Claudia Bachman), den Bachman-Forscher Douglas Winter, Elaine Koster von der New American Library und Carolyn Stromberg, die Bachmans frühe Romane lektoriert und die Echtheit dieses Textes überprüft hat.
Bachmans Witwe ließ bekannt geben, dass Bachman ihres Wissens nie nach Ohio gereist ist, »obwohl er ein-oder zweimal mit dem Flugzeug darüber hinweggeflogen sein mag.« Sie hat keine Vorstellung davon, wann dieser Roman entstanden ist, außer dass es spät in der Nacht gewesen sein muss. Bachman litt unter chronischer Schlaflosigkeit.
Charles Verrill, New York City
Was es bedeutet, Bachman zu sein von Stephen King
Das ist meine zweite Einführung zu den sogenannten Bachman-Büchern – ein Ausdruck, der (zumindest in meinen Augen) die ersten unter dem Namen Richard Bachman veröffentlichten Romane bezeichnet, die als Taschenbucherstausgaben im Signet-Verlag erschienen sind. Meine erste Einführung war nicht besonders gut; sie liest sich für mich wie ein Paradefall von Autor-Verschleierung. Aber das ist nicht erstaunlich. Als sie geschrieben wurde, war Bachmans Alter Ego (mit anderen Worten: ich) nicht in einer Stimmung, die ich als kontemplativ oder analytisch bezeichnen würde; ich fühlte mich im Grunde beraubt. Bachman war nicht als kurzfristiges Pseudonym gedacht; er sollte eigentlich ein langes Leben haben, und als mein Name im Zusammenhang mit seinem genannt wurde, war ich überrascht, aufgebracht und verärgert. Das ist kein Geisteszustand, der dem Schreiben guter Essays förderlich ist. Diesmal gelingt es mir vielleicht ein bisschen besser.
Das Wichtigste, was ich über Richard Bachman sagen kann, ist vermutlich der Umstand, dass er real wurde. Natürlich nicht ganz und gar (sagte er mit einem nervösen Lächeln); ich schreibe dies ja nicht in einer Art Wahnvorstellung. Es sei denn … nun ja … vielleicht doch. Wahnvorstellungen sind schließlich etwas, worin Romanschriftsteller ihre Leser zu bestärken versuchen, zumindest während sie das Buch aufgeschlagen vor sich haben, und der Autor ist kaum immun gegen diesen Zustand einer … wie soll ich es nennen? Wie hört sich »gelenkte Wahnvorstellung« an?
Auf jeden Fall begann Richard Bachman seine berufliche Laufbahn nicht als Wahnvorstellung, sondern als ein Zufluchtsort, von dem aus ich einige Frühwerke veröffentlichen konnte, an denen Leser meiner Ansicht nach Gefallen finden mochten. Dann wurde er allmählich größer und lebendiger, wie es die Geschöpfe der Einbildungskraft eines Schriftstellers häufig tun. Ich fing an, mir sein Leben auf dem Bauernhof vorzustellen … seine Frau, die wunderschöne Claudia Inez Bachman … seine einsamen Vormittage in New Hampshire, die er damit verbringt, seine Kühe zu melken, in den Wald zu gehen und über seine Geschichten nachzudenken … während er seine Abende schreibend verbringt, immer mit einem Glas Whiskey neben seiner Olivetti-Schreibmaschine. Ich kannte mal einen Schriftsteller, der zu sagen pflegte, der Roman oder die Geschichte, an dem oder an der er gerade schrieb, »lege einige Pfunde zu«, wenn er gut damit vorankam. Auf ganz ähnliche Weise begann mein Pseudonym, einige Pfunde zuzulegen.
Als seine Tarnung aufgeflogen war, starb Richard Bachman. In den wenigen Interviews, die ich mich aus diesem Anlass zu geben verpflichtet fühlte, machte ich mich ein bisschen lustig darüber und sagte, er wäre an Pseudonymkrebs gestorben, aber eigentlich hat ihn der Schock umgebracht: die Erfahrung, dass dich die Leute manchmal nicht in Ruhe lassen. Um es ein wenig emphatischer (aber keineswegs ungenau) zu formulieren: Bachman war die Vampirseite meiner Existenz, die vom Sonnenlicht der Enthüllung getötet wurde. Meine dadurch ausgelösten Gefühle waren verworren genug (und fruchtbar genug), um ein Buch entstehen zu lassen (und zwar ein Buch von Stephen King): Stark – »The Dark Half«. Es handelt von einem Schriftsteller, dessen Pseudonym George Stark tatsächlich zum Leben erwacht. Diesen Roman hat meine Frau immer verabscheut, vielleicht weil der Traum, ein Schriftsteller zu sein, für Thad Beaumont die Realität seiner menschlichen Existenz überwältigt; in Thads Fall schlägt wahnhaftes Denken die Rationalität vollkommen aus dem Feld, und das hat furchtbare Konsequenzen.
Dieses Problem hatte ich allerdings nicht. Wirklich nicht. Ich ließ Bachman hinter mir, und obwohl es mir leidtat, dass er sterben musste, würde ich lügen, wenn ich nicht zugäbe, dass ich auch ein wenig erleichtert war.
Die ersten vier Bachman-Bücher wurden von einem jungen Mann geschrieben, der voller Zorn und Energie und ernstlich vernarrt in die Kunst und Technik des Schreibens war. Sie wurden nicht von vornherein als Bachman-Bücher geschrieben (Bachman war schließlich noch nicht erfunden worden), aber in einem bachmanesken Geisteszustand: von einer tief sitzenden Wut erfüllt, sexuell frustriert, auf verrückte Weise gut gelaunt und von Verzweiflung zerfressen. Ben Richards, der magere, schwindsüchtige Protagonist von Menschenjagd (er ist ungefähr so weit von der im Film durch Arnold Schwarzenegger verkörperten Figur entfernt wie überhaupt möglich), knallt mit seinem entführten Flugzeug gegen den Wolkenkratzer von Network Games, nimmt seinen eigenen Tod in Kauf, reißt aber Hunderte (vielleicht Tausende) von leitenden Free-Vee-Angestellten mit in diesen Tod: Das ist Richard Bachmans Version von einem Happy End. Die anderen Romane Bachmans enden sogar noch trostloser. Stephen King hat stets gewusst, dass die Guten nicht immer gewinnen (siehe Cujo, Friedhof der Kuscheltiere und – vielleicht – Christine), aber er hat auch begriffen, dass sie es meistens tun. Im wirklichen Leben gewinnen die Guten jeden Tag. Um diese Siege wird meistens nicht viel Aufhebens gemacht (mit der Schlagzeile MANN KOMMT ERNEUT SICHER VON DER ARBEIT NACH HAUSE würde man nicht viele Zeitungen verkaufen), aber sie sind nichtsdestoweniger real … Und Romane sollten die Realität widerspiegeln.
Und dennoch …
In der ersten Fassung von Stark – »The Dark Half« ließ ich Thad Beaumont Donald E. Westlake zitieren, einen sehr humorvollen Schriftsteller, der eine Reihe von sehr düsteren Kriminalromanen unter dem Pseudonym Richard Stark veröffentlicht hat. Als er einmal gebeten wurde, die Dichotomie zwischen Westlake und Stark zu erklären, sagte er: »Westlake-Geschichten schreibe ich an sonnigen Tagen. Wenn es regnet, bin ich Stark.« Ich glaube nicht, dass diese Sätze es bis in die letzte Version von Stark – »The Dark Half« geschafft haben, aber ich habe sie immer vorzüglich gefunden (und eine besondere Beziehung zu ihnen entwickelt, wie man neuerdings gern zu sagen pflegt). Bachman – eine fiktive Figur, die mit jedem unter ihrem Namen publizierten Buch realer für mich wurde – ist ein Regentage-Typ vom Scheitel bis zur Sohle.
Die Guten gewinnen meistens, Mut triumphiert in der Regel über Furcht, der Familienhund fängt sich so gut wie nie die Tollwut ein; das sind Dinge, die ich mit fünfundzwanzig wusste, und es sind Dinge, die ich jetzt noch weiß, im Alter von 25 x 2. Aber ich weiß auch etwas anderes: Es gibt einen Ort in uns, wo es praktisch die ganze Zeit regnet, die Schatten immer lang sind, und der Wald voller Ungeheuer ist. Es ist gut, eine Stimme zu haben, in der die Schrecken eines solchen Orts artikuliert und seine geografische Lage teilweise beschrieben werden können, ohne den Sonnenschein und die Klarheit zu verleugnen, die einen derart großen Teil unseres gewöhnlichen Lebens erfüllen.
In Der Fluch sprach Bachman zum ersten Mal selbst – es war der erste der frühen Bachman-Romane, der seinen Namen auf der ersten Fassung trug und nicht meinen -, und es kam mir wirklich unfair vor, dass er ausgerechnet in dem Moment, in dem er mit seiner eigenen Stimme zu sprechen begann, irrtümlich für mich gehalten wurde. Und der Eindruck, dass es sich um einen Fehler handelte, drängte sich mir einfach auf, weil Bachman allmählich zu einer Art Es für mich geworden war; er sagte jene Dinge, die ich nicht sagen konnte, und die Vorstellung, die er von sich dort draußen auf seinem Bauernhof in New Hampshire hatte – kein Bestseller-Autor, dessen Name auf einer blöden Forbes-Liste erscheint von Leuten aus der Unterhaltungsindustrie mit mehr Geld auf dem Konto, als gut für sie ist, oder dessen Gesicht in der Today-Show auftaucht oder der Miniaturrollen in Filmen spielt -, wie er in aller Ruhe seine Bücher schreibt, gestattete ihm, auf eine Weise zu denken, wie ich nicht denken, und auf eine Weise zu sprechen, wie ich nicht sprechen konnte. Und dann kam es zu diesen Zeitungsmeldungen, in denen stand: »Bachman ist in Wirklichkeit King«, und es gab niemanden – nicht einmal mich -, der den Toten verteidigt oder auf den offensichtlichen Umstand hingewiesen hätte, dass King in Wirklichkeit auch Bachman war, zumindest eine gewisse Zeit.
Ich hielt es damals für unfair, und ich halte es heute für unfair, aber manchmal spielt dir das Leben einen kleinen Streich, das ist alles. Ich beschloss, Bachman aus meinen Gedanken und meinem Leben zu verbannen, und einige Jahre gelang mir das auch. Aber als ich einen Roman (einen Stephen-King-Roman) namens Desperation schrieb, tauchte Richard Bachman plötzlich wieder in meinem Leben auf.
Zu der Zeit arbeitete ich auf einem Wang-Textverarbeitungssystem; die Anlage sah aus wie das Visiphon in einer alten Flash-Gordon-Folge. Angeschlossen war sie an einen unwesentlich moderneren Laserdrucker, und von Zeit zu Zeit, wenn mir eine Idee durch den Kopf schoss, schrieb ich einen Satz oder einen möglichen Titel auf ein Stück Papier und klebte es an die Seite des Druckers. Als ich ungefähr drei Viertel von Desperation geschrieben hatte, klebte ein Stück Papier mit einem einzigen Wort darauf am Drucker: Regulator. Ich hatte eine großartige Idee für einen Roman gehabt, etwas, was mit Spielsachen, Schusswaffen, Fernsehen und der Welt der Vorstädte zu tun hatte. Ich wusste nicht, ob ich ihn je schreiben würde – aus vielen dieser »Drucker-Notizen« ist nie etwas geworden -, aber es war definitiv cool, darüber nachzudenken.
Dann kam mir an einem regnerischen Tag (einem Tag ganz nach Richard Starks Geschmack) noch eine Idee, als ich den Wagen in unsere Zufahrt hineinsteuerte. Ich weiß nicht, woher sie kam; sie hatte nichts mit dem belanglosen Zeug zu tun, das mir zu dieser Zeit durch den Kopf ging. Die Idee bestand darin, die Figuren aus Desperation zu nehmen und sie in Regulator zu versetzen. In einigen Fällen, dachte ich, könnten sie dieselben Leute spielen; in anderen würden sie sich ändern; in keinem Fall würden sie dieselben Dinge tun oder auf dieselbe Weise reagieren, weil die unterschiedlichen Geschichten verschiedene Vorgehensweisen erforderlich machen würden. Es wäre so, dachte ich, als ob die Mitglieder eines Repertoire-Ensembles in zwei verschiedenen Stücken spielten.
Dann schoss mir eine noch aufregendere Idee durch den Kopf. Wenn ich das Konzept des Repertoire-Ensembles bei den Figuren benutzen konnte, dann konnte ich es genauso gut bei dem Plot anwenden – ich konnte eine ganze Menge der Elemente von Desperation in einer völlig neuen Anordnung arrangieren und eine Art Spiegelwelt erschaffen. Ich wusste, noch bevor ich mich daranmachte, dass viele Kritiker diese Doppelung als Trick bezeichnen würden … und damit lägen sie nicht einmal ganz falsch. Aber, so dachte ich, es könnte ein guter Trick sein. Vielleicht sogar ein erhellender Trick, einer, der die Kraft und die Vielseitigkeit einer Erzählung veranschaulicht, ihre so gut wie grenzenlose Fähigkeit, ein paar Grundelemente in zahllosen erfreulichen Variationen durchzuspielen, ihren spitzbübischen Charme.
Aber die beiden Bücher durften nicht genau gleich klingen, und sie durften nicht das Gleiche bedeuten, genauso wenig, wie ein Stück von Edward Albee und eines von William Inge gleich klingen und das Gleiche bedeuten dürfen, selbst wenn sie an aufeinanderfolgenden Abenden von denselben Schauspielern aufgeführt werden. Wie konnte ich eine andere Stimme erschaffen?
Zunächst dachte ich, das könnte ich nicht und es wäre am besten, die Idee dem Reuben-Goldberg-Mülleimer anzuvertrauen, den ich in meinem Hinterkopf stehen habe – der mit dem Schild INTERESSANTE, ABER UNDURCHFÜHRBARE VORHABEN. Dann fiel mir ein, dass mir die Antwort schon die ganze Zeit auf der Zunge lag: Richard Bachman konnte Regulator schreiben. Seine Stimme klang oberflächlich gesehen genauso wie meine, aber darunter bestand ein himmelweiter Unterschied – sagen wir, der Unterschied zwischen Sonnenschein und Regen. Und der Blick, mit dem er seine Mitmenschen bedachte, war immer von meinem verschieden, gleichzeitig lustiger und kälter (Bart Dawes in Sprengstoff, mein Lieblingsroman unter den frühen Bachman-Büchern, ist ein ausgezeichnetes Beispiel).
Natürlich war Bachman tot, das hatte ich ja selbst bekannt gegeben, aber der Tod ist im Grunde kein großes Problem für einen Schriftsteller – fragen Sie einfach Paul Sheldon, der Misery Chastain für Annie Wilkes wieder zum Leben erweckte, oder Arthur Conan Doyle, der Sherlock Holmes aus den Reichenbach-Fällen auftauchen ließ, als seine Fans im ganzen britischen Weltreich ihn lautstark zurückforderten. Ohnehin ließ ich Richard Bachman nicht mehr von den Toten auferstehen; ich stellte mir lediglich eine Kiste mit vergessenen Manuskripten in seinem Keller vor, in der Regulator zuoberst lag. Und dann transkribierte ich das Buch, das Bachman schon geschrieben hatte.
Diese Transkription war ein bisschen zäher … aber sie war zugleich ungeheuer erfrischend. Es war wundervoll, Bachmans Stimme wieder zu hören, und das, was ich mir davon erhofft hatte, geschah tatsächlich: Ein Buch kam zum Vorschein, das eine Art Zwilling des Buchs war, das ich unter meinem eigenen Namen geschrieben hatte (und die beiden Bücher wurden ziemlich buchstäblich direkt hintereinander geschrieben: Das King-Buch wurde genau einen Tag fertig, bevor ich mit dem Bachman-Buch begann). Sie ähneln sich nicht mehr, als King und Bachman einander ähneln. Desperation handelt von Gott; Regulator handelt vom Fernsehen. Das heißt vermutlich, dass sie beide von höheren Mächten handeln, aber sie sind gleichwohl sehr unterschiedlich.
Die Bedeutung, Bachman zu sein, lag für mich immer darin, eine gute Stimme und eine einleuchtende Perspektive zu finden, die von meiner ein wenig verschieden war. Nicht wirklich verschieden; ich bin nicht schizophren genug, das zu glauben. Aber ich glaube, dass es bestimmte Tricks gibt, die wir alle benutzen, um unsere Perspektive und unsere Wahrnehmung zu verändern – um uns auf eine neue Weise zu sehen, indem wir andere Sachen anziehen und uns eine neue Frisur verpassen -, und dass solche Tricks sehr nützlich sein können, eine Methode, alte Strategien, wie man sein Leben führt, das Leben wahrnimmt und schöpferisch tätig ist, mit neuem Leben zu erfüllen. Ich mache keine dieser Bemerkungen, um anzudeuten, dass ich in den Bachman-Büchern großartige Dinge vollbracht habe, und sie sollen bestimmt nicht als Argumente für eine besondere künstlerische Leistung dienen. Aber ich liebe das, was ich tue, so sehr, dass ich ungern zu einem routinierten Langweiler werde, wenn ich es verhindern kann. Bachman war für mich eine Methode, mit deren Hilfe ich versucht habe, meine Technik aufzufrischen, und die mich davor bewahrt hat, zu bequem und behäbig zu werden.
Diese frühen Bücher zeigen, wie ich hoffe, eine gewisse Entwicklung der Bachman-Persona, und ich hoffe, sie zeigen außerdem das Wesen dieser Persona. Richard Bachman, ein düsterer Charakter, verzweifelt sogar, wenn er lacht (eigentlich vor allem dann verzweifelt, wenn er lacht) – er ist kein Bursche, der ich die ganze Zeit sein möchte, selbst wenn er noch am Leben wäre … Aber es ist gut, diese Möglichkeit zu haben, dieses Fenster zur Welt, auch wenn es vielleicht polarisiert ist. Trotzdem machen meine Leser, wenn sie seine Bücher lesen, vielleicht die Entdeckung, dass Dick Bachman eine Eigenschaft mit Thad Beaumonts Alter Ego, George Stark, gemeinsam hat: Er ist kein sehr netter Typ.
Und ich frage mich, ob es irgendwelche anderen guten Manuskripte, die vollendet sind oder kurz vor der Vollendung stehen, in der Kiste gibt, die von der verwitweten Mrs. Bachman im Keller ihres Bauernhauses in New Hampshire gefunden wurde.
Manchmal frage ich mich das wirklich.
Stephen King Lovell, Maine 16. April 1996
[Die Vorworte stammen aus dem Bachman-Buch Regulator, einem Gegenstück zu Kings unter Realnamen veröffentlichtem Desperation, Anm. d. Red. ]
Kapitel eins
246
»Dünner«, flüstert der alte Zigeuner mit der verfaulenden Nase William Halleck zu, als er mit seiner Frau Heidi aus dem Gerichtsgebäude tritt. Nur dieses eine Wort, ausgestoßen mit der klebrigen Süße seines Atems. »Dünner.« Und bevor Halleck zurückweichen kann, streckt der alte Zigeuner die Hand aus und streichelt mit einem gekrümmten Finger über seine Wange. Seine Lippen öffnen sich wie eine Wunde und geben ein paar Zahnstummel preis, die aus seinem Zahnfleisch ragen. Sie sind schwarz und grün. Seine Zunge schlängelt sich dazwischen hindurch und gleitet nach draußen, um über seine grinsend verzogenen Lippen zu schlüpfen. Dünner.
Billy Halleck musste passenderweise gerade in dem Augenblick daran denken, als er um sieben Uhr morgens, ein Handtuch um seine Taille geschlungen, auf der Waage stand. Aus dem Erdgeschoss zog der Duft von Eiern und gebratenem Speck herauf. Er musste den Hals leicht vorrecken, um die Zahlen auf der Anzeige lesen zu können. Nun … eigentlich musste er sich etwas mehr als nur leicht vorbeugen. Er musste sich ganz schön strecken. Er war ein dicker Mann. Zu dick, wie Dr. Houston ihm in fröhlichem Ton mitgeteilt hatte. Falls es Ihnen noch niemand gesagt hat, möchte ich Sie davon in Kenntnis setzen, hatte er ihn nach der letzten Routineuntersuchung gewarnt. Ein Mann in Ihrem Alter, mit Ihrem Einkommen und Ihren Gewohnheiten nähert sich mit ungefähr 38 Jahren dem Herzinfarkt, Billy. Sie sollten etwas abnehmen.
Aber dieser Morgen brachte Erfreuliches. Er hatte drei Pfund abgenommen, von 249 auf 246.
Nun ja … eigentlich hatte die Waage das letzte Mal, als er den Mut aufgebracht hatte, sich darauf zu stellen und genau hinzusehen, 251 Pfund angezeigt, aber da hatte er seine Hose angehabt mit dem Kleingeld in den Taschen, ganz zu schweigen von dem Schlüsselbund und seinem Schweizer Taschenmesser. Und die Waage im oberen Badezimmer zeigte immer etwas zu viel an. Das sagte ihm ein sicheres Gefühl.
Er war in New York aufgewachsen und hatte dort als Kind gehört, dass Zigeuner die Gabe der Prophezeiung besitzen. Vielleicht war dies der Beweis dafür. Er versuchte zu lachen, brachte aber nur ein klägliches und nicht sehr überzeugendes Lächeln zustande; es war noch zu früh, um über Zigeuner zu lachen. Die Zeit würde vergehen, und man würde die Dinge wieder in nüchternem Licht sehen; er war alt genug, um das zu wissen. Doch im Augenblick wurde ihm beim Gedanken an Zigeuner in seinem viel zu großen Bauch speiübel, und er hoffte von ganzem Herzen, dass er nie wieder einen zu Gesicht bekommen würde. Von nun an würde er auf das Handlesen auf Partys verzichten und sich aufs Ouija-Brett beschränken. Wenn überhaupt.
»Billy?« Das kam von unten.
»Ich komme!«
Er zog sich an und stellte dabei mit unterschwelliger Verzweiflung fest, dass der Bund seiner Hose wieder enger war, obwohl er doch drei Pfund abgenommen hatte. Er hatte nun eine Bundweite von 42. Er hatte genau um 00:01 am Neujahrsmorgen mit dem Rauchen aufgehört, aber er hatte dafür bezahlt. O ja, er hatte dafür bezahlt. Mit offenem Hemdkragen, die Krawatte lose um den Hals gelegt, ging er nach unten. Linda, seine vierzehnjährige Tochter, huschte gerade mit flatterndem Röckchen und wippendem Pferdeschwanz, den sie heute Morgen mit einem sexy Samtband hochgebundenen hatte, zur Haustür hinaus. Unter einem Arm trug sie ihre Schulbücher. In der anderen Hand raschelten fröhlich zwei purpurn-weiße Cheerleader-Pompons.
»Wiedersehen, Dad!«
»Schönen Tag, Lin.«
Er setzte sich an den Tisch und griff zum Wall Street Journal.
»Liebling«, sagte Heidi.
»Meine Liebe«, sagte er feierlich und legte das Journal mit der Titelseite nach unten neben den drehbaren Tischaufsatz.
Sie trug das Frühstück auf: einen dampfenden Berg Rührei, einen englischen Muffin mit Rosinen und fünf Scheiben knusprig gebratenen Bauernspeck. Gutes Essen. Sie kuschelte sich ihm gegenüber auf den anderen Stuhl in der Frühstücksecke und zündete sich eine Vantage 100 an. Im Januar und Februar hatte es Spannungen gegeben – zu viele ›Diskussionen‹, die nur verhohlene Auseinandersetzungen gewesen waren, zu viele Nächte, in denen sie schließlich Rücken an Rücken eingeschlafen waren. Doch sie hatten einen Modus Vivendi gefunden: Sie hatte damit aufgehört, ihn ständig wegen seines Gewichts zu kritisieren, und er hatte damit aufgehört, ihre anderthalb Packungen Zigaretten pro Tag zu bemängeln. Es hatte ihnen einen angenehmen Frühling beschert. Und abgesehen von der Aussöhnung zwischen ihnen hatten sich weitere angenehme Dinge ereignet. Zunächst einmal war Halleck befördert worden. Die Anwaltskanzlei Greely, Penschley und Kinder hieß nun Greely, Penschley, Kinder und Halleck. Heidis Mutter hatte endlich ihre schon lange bestehende Drohung wahr gemacht und war zurück nach Virginia gezogen. Linda war endlich in das Cheerleading-Jugendteam aufgenommen worden, und das war für Billy ein großer Segen; es hatte Zeiten gegeben, in denen er fürchtete, dass Lindas theatralische Auftritte ihn in einen Nervenzusammenbruch treiben würden. Alles war ganz großartig gelaufen.
Dann waren die Zigeuner in die Stadt gekommen.
»Dünner«, hatte der alte Zigeuner gesagt, und was zum Teufel war mit seiner Nase los gewesen? Syphilis? Krebs? Oder sogar etwas noch Schlimmeres – wie Lepra? Und überhaupt, warum kannst du nicht einfach damit aufhören? Warum lässt du es nicht einfach auf sich beruhen?
»Du musst immer noch daran denken, nicht wahr?«, fragte Heidi plötzlich – so plötzlich, dass Halleck zusammenzuckte. »Billy, es war nicht deine Schuld. Das hat der Richter gesagt.«
»Darüber habe ich gar nicht nachgedacht.«
»Und worüber hast du nachgedacht?«
»Das Journal«, sagte er. »Hier steht, dass das Wohnungsbaugeschäft in diesem Quartal wieder rückläufig ist.«
Richtig, nicht seine Schuld; so hatte es der Richter gesagt. Richter Rossington. Cary, für seine Freunde.
Freunde wie mich, dachte Halleck. Habe manche Runde Golf mit dem alten Cary Rossington gespielt, wie du sehr wohl weißt, Heidi. Bei unserer Silvesterparty vor zwei Jahren, das Jahr, in dem ich eigentlich vorhatte, das Rauchen aufzugeben, und es dann doch nicht getan habe, wer hat denn da beim traditionellen Neujahrskuss deine ach-so-begrapschbaren Titten begrapscht? Na rate mal, wer? Bei meiner Seele, es war der gute alte Cary Rossington, so wahr ich atme und lebe!
Ja. Der gute alte Cary Rossington, vor dem Billy schon mehr als ein Dutzend kommunale Rechtsfälle vertreten hatte. Der gute alte Cary Rossington, mit dem Billy manchmal unten im Club Poker gespielt hatte. Der gute alte Cary Rossington, der sich nicht selbst für befangen erklärt hatte, als sein guter alter Golf-und-Poker-Kumpel Billy Halleck (Cary klopfte ihm manchmal auf den Rücken und rief: »Na, alles im grünen Bereich, Big Bill?«) vor ihm im Gericht erschien, diesmal nicht, um einen kommunalen Fall zu verhandeln, sondern unter Anklage wegen fahrlässiger Tötung.
Und als Cary Rossington sich nicht für befangen erklärt hatte, wer hat ihn da ausgebuht, liebe Kinder? Wer in dieser ganzen fairen Stadt Fairview war der Buh-Schreier? Na, niemand, der war’s! Niemand hat ihn ausgebuht! Was waren das schließlich auch für Leute? Doch nur eine Bande dreckiger Zigeuner! Je eher sie aus Fairview verschwanden und sich in ihren alten Kombiwagen mit den Aufklebern der National Rifle Association auf den hinteren Stoßstangen auf den Weg machten, je eher man die Rückseiten ihrer selbst gezimmerten Wohnmobile und Campingaufbauten sah, desto besser. Je eher, desto …
… dünner.
Heidi drückte ihre Zigarette aus und sagte: »Scheiß auf dein Wohnungsbaugeschäft. Ich kenne dich besser.«
Das nahm Billy an. Und er nahm an, dass auch sie darüber nachgedacht hatte. Ihr Gesicht war zu blass. Sie sah so alt aus, wie sie war – fünfunddreißig -, und das war selten. Sie hatten sehr, sehr jung geheiratet, und er konnte sich immer noch an den Vertreter erinnern, der eines Tages, als sie drei Jahre verheiratet gewesen waren, an die Tür kam, um Staubsauger zu verkaufen. Er hatte die zweiundzwanzigjährige Heidi Halleck angesehen und sie höflich gefragt: »Ist deine Mutter zu Hause, Liebes?«
»Es schadet meinem Appetit kein bisschen«, sagte er, und das war zweifellos wahr. Angst oder keine Angst, er hatte die Rühreier vertilgt, und von dem Speck war nichts mehr zu sehen. Er trank die Hälfte seines Orangensafts und schenkte ihr sein gewohntes breites Billy-Halleck-Grinsen. Sie versuchte zurückzulächeln, aber irgendwie gelang ihr das nicht ganz. Er stellte sich vor, dass sie ein Schild trug: MEIN LÄCHLER IST VORÜBERGEHEND AUSSER BETRIEB.
Er griff über den Tisch und nahm ihre Hand. »Heidi, es ist alles in Ordnung. Und selbst wenn nicht, es ist vorbei.«
»Ja, ich weiß. Ich weiß.«
»Ist Linda …?«
»Nein. Nicht mehr. Sie sagt … sie sagt, ihre Freundinnen unterstützen sie sehr.«
Nachdem es passiert war, hatte ihre Tochter etwa eine Woche lang eine schwere Zeit durchmachen müssen. Sie war entweder in Tränen aufgelöst oder den Tränen nahe aus der Schule nach Hause gekommen. Sie hatte aufgehört zu essen. Ihre Akne war wieder ausgebrochen. Halleck, entschlossen, nicht übertrieben zu reagieren, hatte ihre Klassenlehrerin, den Vizedirektor und Lindas geliebte Miss Nearing, ihre Sport- und Cheerleading-Lehrerin, aufgesucht. Er ermittelte (ah, was für ein schönes Juristenwort), dass es sich hauptsächlich um Hänseleien handelte – so grob und unlustig, wie die meisten Hänseleien in der Junior Highschool nun mal waren, und mit Sicherheit geschmacklos, wenn man die Umstände bedachte, aber was konnte man von einer Altersgruppe erwarten, die Witze mit toten Babys für den Höhepunkt an Geistreichtum hielt?
Er hatte Linda zu einem Spaziergang die Straße hoch überredet. Am Lantern Drive standen geschmackvolle, etwas abseits der Straße gelegene Häuser, Häuser, die am Beginn der Straße grob geschätzt 75 000 Dollar wert waren und langsam in die 200 000-Dollar-Klasse mit Schwimmbad und Saunabereich aufstiegen, wenn man ans Ende der Straße kam, wo auch der Country Club lag.
Linda hatte ihre alten Madras-Shorts angehabt, die an einer Naht mittlerweile eingerissen waren … Und Halleck war aufgefallen, dass ihre grazilen Beine jetzt so lang waren, dass der Gummizug ihres gelben Baumwollhöschens zu sehen war. Er hatte ganz plötzlich eine Mischung aus Bedauern und Schrecken verspürt. Sie wurde erwachsen. Er nahm an, sie wusste, dass die Shorts ihr zu klein und obendrein völlig abgetragen waren, aber er vermutete, dass sie sie angezogen hatte, weil sie die Verbindung zu einer tröstlicheren Kindheit herstellten, einer Kindheit, in der Daddys sich nicht vor Gericht verantworten und eine Verhandlung über sich ergehen lassen mussten (egal, wie abgekartet diese Verhandlung auch gewesen sein mochte, wenn dein alter Golfkumpel, der sich im betrunkenen Zustand tittengrapschenderweise an deiner Frau vergriffen hatte, Cary Rossington, den Hammer schwang), eine Kindheit, in der es nicht vorkam, dass die Schulkameraden während der vierten Stunde, wenn man gerade am Fußballfeld Lunch aß, auf dich zugestürzt kamen und dich fragten, wie viele Punkte dein Daddy denn nun für das Umnieten der alten Lady bekommen hatte.
Du verstehst doch, dass es ein Unfall war, nicht wahr, Linda?
Sie nickt, ohne ihn anzusehen. Ja, Daddy.
Sie kam zwischen zwei Autos hervor, ohne nach links und rechts zu gucken. Ich hatte keine Zeit mehr, zu bremsen. Absolut keine Zeit mehr.
Daddy, ich will das nicht hören.
Ich weiß. Und ich will nicht darüber reden. Aber du hörst es doch. In der Schule.
Sie sieht ihn ängstlich an. Daddy! Du bist doch nicht …
In deine Schule gegangen? Doch. Aber erst um halb vier gestern Nachmittag. Es waren überhaupt keine Kinder mehr da, wenigstens soweit ich sehen konnte. Es wird niemand erfahren.
Sie entspannt sich. Ein wenig.
Ich habe gehört, dass die anderen Kinder ganz schön rüde mit dir umgesprungen sind. Das tut mir leid.
Es war gar nicht so schlimm, sagt sie und greift nach seiner Hand. Doch ihr Gesicht – der frische Ausbruch entzündeter Pickel auf ihrer Stirn – erzählt eine andere Geschichte. Die Pickel sagen, dass sie ziemlich rüde mit ihr umgesprungen sind. Dass der eigene Vater festgenommen wird, ist eine Situation, die nicht einmal Judy Blume in ihren Teenager-Romanen behandelt (obwohl sie auch das vermutlich irgendwann tun wird).
Ich habe auch gehört, dass du dich ziemlich gut gehalten hättest, sagt Billy Halleck. Du hast dir nicht viel draus gemacht. Denn wenn sie einmal merken, dass sie deinen wunden Punkt gefunden haben …
Yeah, ich weiß, sagt sie niedergeschlagen.
Miss Nearing hat gesagt, sie wäre ganz besonders stolz auf dich, sagt er. Das ist eine kleine Lüge. Miss Nearing hatte nicht genau das gesagt, aber sie hatte ganz sicher gut von Linda gesprochen, was Halleck fast genauso viel bedeutete wie seiner Tochter. Und es wirkt. Ihre Augen leuchten auf, und sie sieht Halleck zum ersten Mal ins Gesicht.
Das hat sie gesagt?
Das hat sie gesagt, bestätigt Halleck. Die Lüge geht ihm leicht und überzeugend über die Lippen. Warum auch nicht? Er hat in letzter Zeit eine Menge Lügen erzählt.
Sie drückt seine Hand und lächelt ihn dankbar an.
Sie werden bald wieder damit aufhören, Lin. Sie werden was anderes finden, worüber sie sich das Maul zerreißen können. Ein Mädchen wird schwanger werden, oder ein Lehrer bekommt einen Nervenzusammenbruch, oder irgendein Junge wird dabei erwischt, wie er Haschisch oder Kokain verkauft. Dann lassen sie dich ganz schnell in Ruhe. Capito?
Sie wirft plötzlich die Arme um ihn und drückt ihn fest an sich. Er stellt fest, dass sie wohl doch noch nicht so schnell erwachsen wird und dass nicht alle Lügen schlecht sind. Ich hab dich lieb, Daddy, sagt sie.
Ich liebe dich auch, Lin.
Er umarmt sie ebenfalls fest, und plötzlich dreht jemand den großen Stereoverstärker hinter seiner Stirn ganz laut auf, und er hört wieder den doppelten dumpfen Schlag: den ersten, als die vordere Stoßstange des Oldsmobile 98 die alte Zigeunerin streift, die ein knallrotes Kopftuch über den zotteligen Haaren trägt, den zweiten, als die schweren Vorderreifen über ihren Körper rollen.
Heidi schreit.
Und nimmt ihre Hand aus seinem Schoß.
Halleck presst seine Tochter noch fester an sich und spürt eine Gänsehaut am ganzen Körper.
»Noch etwas Rührei?«, fragte Heidi und unterbrach seine Tagträumerei.
»Nein. Nein danke.« Etwas schuldbewusst blickte er auf seinen sauberen Teller hinunter: Egal, wie schlecht die Dinge auch standen, sie standen niemals so schlecht, dass er deswegen Schlaf oder seinen Appetit verloren hätte.
»Bist du dir sicher, dass du …?«
»Okay bist?« Er lächelte. »Ich bin okay, du bist okay, Linda ist okay. Wie heißt es so schön in den Seifenopern? Der Albtraum ist vorüber – können wir jetzt bitte unser normales Leben wieder aufnehmen?«
»Das ist eine reizende Idee.« Dieses Mal erwiderte sie sein Lächeln mit einem echten eigenen – und plötzlich war sie wieder unter dreißig und strahlte. »Möchtest du noch den Rest Speck? Es sind noch zwei Stück übrig.«
»Nein«, sagte er und dachte daran, wie sein Hosenbund ihn in der Taille kniff (ha ha, welche Taille denn?, meldete sich ein kleiner, nicht gerade komischer Don Rickles in seinem Kopf – das letzte Mal, dass du eine Taille hattest, muss so um 1978 gewesen sein, du Eishockeypuck), wie er morgens den Bauch einziehen musste, um die Hose zumachen zu können. Dann fiel ihm die Waage wieder ein, und er sagte: »Ich werde eins nehmen. Ich hab drei Pfund abgenommen.«
Sie war trotz seines ursprünglichen Neins bereits an den Herd getreten – manchmal kennt sie mich so gut, dass es schon fast deprimierend ist, dachte er. Jetzt drehte sie sich um. »Du denkst also doch noch drüber nach.«
»Nein, tue ich nicht«, sagte er gereizt. »Darf ein Mann nicht mal in Frieden drei Pfund abnehmen? Du sagst doch dauernd, du hättest mich gern ein bisschen …«
dünner
»… ein bisschen weniger kräftig.« Jetzt hatte sie ihn dazu gebracht, wieder an den Zigeuner zu denken. Verdammt noch mal! An die zerfressene Nase des Zigeuners und an das Gefühl, als dieser schuppige Finger seine Wange gestreift hatte, für den einen Augenblick, bevor er reagieren konnte und zurückgeschreckt war – so, wie man vor einer Spinne zurückschreckt oder vor einem wimmelnden Knäuel aus lauter glänzenden Käfern unter einem verrotteten Baumstamm.
Sie brachte ihm den Speck und küsste ihn auf die Schläfe. »Entschuldige bitte. Mach bitte weiter und nimm ab. Aber wenn du’s nicht tust, denk dran, was Mr. Rogers sagt …«
»… ich mag dich genauso, wie du bist«, beendeten sie den Satz gemeinsam.
Er blätterte mit dem Finger durch das umgedrehte Journal neben dem Drehtablett, aber das war im Augenblick einfach zu deprimierend. Er stand auf, ging nach draußen und fand die New York Times im Blumenbeet. Der Zeitungsjunge warf sie immer ins Blumenbeet, seine Rechnung am Ende der Woche war immer irgendwie fehlerhaft, und er vergaß dauernd Bills Nachnamen. Billy hatte sich mehr als einmal gefragt, ob es möglich wäre, dass ein zwölfjähriges Kind an Alzheimer litt.
Er nahm die Zeitung mit hinein, schlug die Sportseite auf und aß den Speck. Er war ganz in die Spielergebnisse vertieft, als Heidi ihm noch einen halben goldgelben englischen Muffin mit geschmolzener Butter brachte.
Halleck aß ihn auf, fast ohne sich dessen bewusst zu sein.
Kapitel zwei
245
Am Vormittag nahm in der Stadt ein Schadensersatzprozess, der sich schon über drei Jahre hingezogen hatte – und Billy hatte eigentlich erwartet, dass er sich in der einen oder anderen Form gut und gern noch über die nächsten drei oder vier Jahre hinziehen würde -, ein unerwartetes und erfreuliches Ende, als der Beklagte sich in einer Sitzungspause des Gerichts zu einem Vergleich in verblüffender Höhe bereit erklärte. Halleck verlor keine Zeit, den Beklagten, einen Farbenfabrikanten aus Schenectady, und seinen eigenen Mandanten ins Richterzimmer zu führen, um eine entsprechende Willenserklärung unterzeichnen zu lassen. Der Anwalt des Beklagten beobachtete mit offensichtlicher Bestürzung und Unglauben, wie sein Mandant, der Präsident der Good Luck Paint Company, seinen Namen auf sechs Exemplare der Erklärung kritzelte, und die Glatze des Gerichtsschreibers glänzte matt, während dieser eins nach dem anderen beglaubigte. Billy saß ruhig da, die Hände im Schoß gefaltet, und hatte das Gefühl, in der New Yorker Lotterie gewonnen zu haben. Um die Mittagszeit war die Sache so gut wie gegessen.
Billy führte seinen Mandanten zum Essen ins O’Lunney’s, bestellte Chivas-Scotch in einem Wasserglas für den Mandanten und einen Martini für sich selbst und rief Heidi zu Hause an.
»Mohonk«, sagte er, als sie sich meldete. Mohonk war ein weitläufiges Erholungsgebiet im Norden des Staates New York, in dem sie vor langer, langer Zeit ihre Flitterwochen – ein Geschenk von Heidis Eltern – verbracht hatten. Sie hatten sich auf Anhieb in diesen Ort verliebt und inzwischen zweimal dort Urlaub gemacht.
»Was?«
»Mohonk«, wiederholte er. »Wenn du nicht mitkommen willst, frage ich Jillian in der Kanzlei.«
»Das wirst du nicht tun! Billy, was hat das zu bedeuten?«
»Willst du nun hinfahren oder nicht?«
»Natürlich will ich! Dieses Wochenende?«
»Morgen, falls du Mrs. Bean überreden kannst, ab und zu nach Linda zu sehen und dafür zu sorgen, dass die Wäsche erledigt wird und keine Orgien vor dem Fernseher in unserem Wohnzimmer veranstaltet werden. Und falls …«
Doch zunächst übertönte Heidis Aufschrei seine Worte. »Dein Prozess, Billy! Was ist mit den Farbdämpfen und dem Nervenzusammenbruch und dem psychotischen Anfall und …«
»Canley ist zu einem Vergleich bereit. Das heißt, Canley hat sich bereits verglichen. Nach rund vierzehn Jahren mit blödsinnigen Vorstandsverlautbarungen und langen Rechtsgutachten, die exakt nichts bedeuteten, hat dein Ehemann endlich einen Fall für die Guten gewonnen. Klar und eindeutig und ohne jeden Zweifel. Der Canley-Prozess ist abgeschlossen, und ich könnte Bäume ausreißen.«
»Billy! Wahnsinn!« Wieder ein Aufschrei von ihr, diesmal so laut, dass die Stimme im Hörer ganz verzerrt klang. Billy hielt ihn grinsend vom Ohr weg. »Wie viel kriegt dein Typ?«
Billy nannte ihr die Summe, und jetzt musste er den Hörer beinahe fünf Sekunden lang vom Ohr weghalten.
»Glaubst du, Linda würde es uns übel nehmen, wenn wir mal fünf Tage frei nehmen?«
»Wenn sie bis ein Uhr aufbleiben und sich das Spätprogramm von HBO ansehen und Georgia Deever einladen kann, damit sie sich über Jungs unterhalten und sich mit meinen Pralinen vollstopfen? Machst du Witze? Wird es um diese Jahreszeit kalt dort oben sein, Billy? Soll ich deine grüne Strickjacke einpacken? Willst du lieber deinen Parka oder deine Jeansjacke mitnehmen? Oder beides? Möchtest du …?«
Er sagte ihr, dass sie das selbst entscheiden solle, und ging zu seinem Mandanten zurück. Der Mandant hatte sein großes Glas Chivas bereits zur Hälfte geleert und wollte Polenwitze erzählen. Der Mandant sah aus, als wäre er von einem Hammer getroffen worden. Halleck trank seinen Martini und lauschte mit halbem Ohr den üblichen Witzen über polnische Schreiner und polnische Restaurants, während sich seine Gedanken fröhlich anderen Themen zuwandten. Dieser Prozess könnte weitreichende Konsequenzen haben; es war noch zu früh zu sagen, dass er seine Karriere beeinflussen würde, aber es könnte sein. Es könnte durchaus sein. Nicht schlecht für solch eine Art von Fall, den große Kanzleien als Wohltätigkeitsarbeit übernehmen. Es könnte bedeuten, dass …
… beim ersten dumpfen Schlag ruckt Heidi nach vorn, und einen Moment lang drückt sie fest zu; er nimmt vage einen Schmerz im Unterleib wahr. Der Ruck ist so hart, dass Heidis Sicherheitsgurt blockiert. Blut spritzt hoch – drei centgroße Tropfen – und klatscht wie roter Regen an die Windschutzscheibe. Sie hat nicht einmal mehr Zeit zu schreien; sie wird später schreien. Er hat noch keine Zeit gehabt, auch nur andeutungsweise zu realisieren, was geschehen ist. Das setzt erst mit dem zweiten dumpfen Schlag ein. Und er …
… trank den Rest seines Martinis in einem Schluck. Tränen traten ihm in die Augen.
»Alles in Ordnung mit Ihnen?«, fragte der Mandant, David Duganfield mit Namen.
»Dermaßen in Ordnung, dass Sie es nicht glauben würden«, sagte Billy und langte über den Tisch, um Duganfields Hand zu drücken. »Herzlichen Glückwunsch, David.« Er wollte nicht mehr an den Unfall denken, wollte nicht mehr an den alten Zigeuner mit der verfaulenden Nase denken. Er gehörte zu den Guten; diese Tatsache kam deutlich in Duganfields kräftigem Händedruck und seinem müden, leicht rührseligen Lächeln zum Ausdruck.
»Danke, Mann«, sagte Duganfield. »Vielen, vielen Dank.« Plötzlich beugte er sich über den Tisch und umarmte Billy Halleck unbeholfen. Billy erwiderte die Umarmung. Doch als Duganfields Arme sich um seinen Hals schlangen, streifte eine Hand leicht über seine Wange, und er musste sofort wieder an die unheimliche sanfte Berührung des alten Zigeuners denken.
Er hat mich angefasst, dachte Halleck, und während er noch seinen Mandanten umarmte, fing er an zu zittern.
Auf dem Heimweg versuchte er, an David Duganfield zu denken – Duganfield war ein gutes Thema, an das er denken konnte -, aber als er über die Triborough Bridge fuhr, ertappte er sich dabei, dass er gar nicht an Duganfield, sondern an Ginelli dachte.
Duganfield und er hatten fast den ganzen Nachmittag bei O’Lunney’s verbracht, aber eigentlich wäre Billy mit seinem Mandaten lieber ins Three Brothers gegangen, in das Restaurant, an dem Richard Ginelli eine informelle, stille Teilhaberschaft hielt. Es war jetzt schon Jahre her, dass er tatsächlich im Brothers gegessen hatte – angesichts von Ginellis Reputation wäre das nicht sehr klug gewesen -, aber trotzdem dachte er immer noch zuerst an das Brothers. Billy hatte dort manch gutes Essen genossen und immer viel Spaß gehabt, obwohl Heidi sich nie viel aus dem Lokal oder aus Ginelli gemacht hatte. Billy nahm an, dass Ginelli ihr Angst machte.
Er fuhr gerade auf der New Yorker Mautstraße an der Ausfahrt Gun Hill Road vorbei, als seine Gedanken so vorhersagbar zu dem alten Zigeuner zurückkehrten, wie ein Pferd in seinen Stall zurückkehrt.
Ginelli war’s, an den du als Erstes gedacht hast. Nachdem du an jenem Tag nach Hause gekommen warst und Heidi heulend am Küchentisch saß, da hast du als Erstes an Ginelli gedacht. »He, Rich, ich hab heute eine alte Lady umgebracht. Kann ich in die Stadt kommen und mit dir reden?«
Aber Heidi war nebenan, und Heidi hätte das nicht verstanden. Billys Hand hatte eine Weile unschlüssig über dem Hörer verharrt, doch dann hatte er sie sinken lassen. Ihm war mit plötzlicher Klarheit bewusst geworden, dass er ein angesehener Anwalt aus Connecticut war, dem, wenn die Dinge haarig wurden, nur ein Mensch einfiel, den er anrufen könnte: einen New Yorker Gangster, der es sich offensichtlich im Laufe der Jahre zur Gewohnheit gemacht hatte, die Konkurrenz über den Haufen zu schießen.
Ginelli war ein hochgewachsener Mann, sah nicht umwerfend gut aus, hatte aber eine Art, sodass er in jeder Kleidung irgendwie elegant wirkte. Er hatte eine kräftige, freundliche Stimme – nicht die Art von Stimme, mit der man sofort Drogenhandel, Prostitution und Mord assoziierte. Aber er hatte mit allen drei zu tun, wenn man seiner Polizeiakte Glauben schenkte. Doch es war Ginellis Stimme gewesen, die Billy an diesem schrecklichen Nachmittag, nachdem Duncan Hopley, der Polizeichef von Fairview, ihn hatte laufen lassen, sehr gern gehört hätte.
»… oder den ganzen Tag da rumsitzen?«
»Hä?« Billy zuckte zusammen. Ihm wurde plötzlich klar, dass er vor einer der wenigen Kabinen an der Rye-Mautstelle stand, die tatsächlich mit einem echten Menschen besetzt waren.
»Ich habe gesagt, wollen Sie nun bezahlen oder den …?«
»Schon gut«, sagte Billy und gab dem Mann eine Dollarnote. Er nahm das Wechselgeld in Empfang und fuhr weiter. Schon fast in Connecticut, noch neunzehn Ausfahrten bis zu Heidi. Dann ab nach Mohonk. Duganfield funktionierte nicht so recht als Ablenkung; versuchen wir’s also mal mit Mohonk. Vergessen wir die alte Zigeunerin und den alten Zigeuner einfach mal für eine Weile – wie wär’s?
Aber seine Gedanken wanderten unweigerlich zu Ginelli zurück.
Billy hatte ihn durch die Kanzlei kennengelernt, die vor sieben Jahren eine Rechtsangelegenheit für Ginelli erledigt hatte – eine Firmengründungssache. Billy, damals noch Junioranwalt in der Kanzlei, hatte den Auftrag bekommen. Keiner der Seniorpartner hätte diesen Fall mit der Kneifzange angefasst. Schon damals war Rich Ginellis Ruf sehr schlecht gewesen. Billy hatte Kirk Penschley nie gefragt, warum die Kanzlei Ginelli überhaupt als Mandanten angenommen hatte; man hätte ihm ohnehin nur gesagt, dass er seine Arbeit machen und die Entscheidungen den Älteren überlassen solle. Er vermutete, dass Ginelli etwas über eine Leiche in irgendjemandes Keller wusste; er war ein Mann, der seine Ohren offenhielt.