Am 11. Februar 1963 begeht Sylvia Plath Selbstmord, sie ist 30 Jahre alt. Ihr Nachlass: Tagebücher, längere Prosa, Lyrik, ein beeindruckendes Werk. Heute ist sie die berühmteste amerikanische Dichterin des 20. Jahrhunderts.

 50 Jahre nach ihrem Tod erscheint nun, erstmals in deutscher Übersetzung und in einer zweisprachigen Ausgabe, Der Koloss – Sylvia Plath' einziger Gedichtband zu Lebzeiten und ihre erste Buchveröffentlichung überhaupt. Was auch immer man über die große Ausbruchskünstlerin zu wissen glaubt, aus dem Nachlass, den späteren Erzählungen ihrer Weggefährten oder den unzähligen Biographien: Hier legt sie zum ersten Mal literarisch Zeugnis ab. Hier fängt alles an.

Der Koloss ist ein Buch der Verwandlungen, seine Verse erzählen von einer Welt, die düster ist und voller Sehnsucht, in der zwischen Irrenhaus, Mythos und Märchen eine Frau um eine unangetastete Identität ringt. Die Geburtsstunde einer Ikone.

 

Sylvia Plath, 1932 in Boston geboren, verheiratet mit dem Dichter Ted Hughes, wurde durch ihren Roman Die Glasglocke und die Gedichtbände Der Koloss und Ariel zur internationalen Symbolfigur der Frauenbewegung. 1963 nahm sie sich das Leben. Sie ist, bis zum heutigen Tag, die einzige Künstlerin, die posthum mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet wurde.

 

Judith Zander, geboren 1980 in Anklam, hat neben dem vielbeachteten Gedichtband oder tau den Roman Dinge, die wir heute sagten veröffentlicht. Sie wurde mehrfach ausgezeichnet und lebt heute in Berlin.

 

 

Sylvia Plath

Der Koloss

Gedichte

Englisch und deutsch

Übertragen von Judith Zander

Suhrkamp

 

 

Erstveröffentlicht wurden die Gedichte im Jahr 1960 von
William Heinemann Limited unter dem Titel The Colossus. Die deutsche
Übersetzung folgt der Ausgabe von Faber and Faber, erschienen 2008.

© The Estate of Sylvia Plath, 2008

 

 

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2013

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2013.

© der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin 2013

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Satz: Hümmer GmbH, Waldbüttelbrunn

Umschlaggestaltung: Hermann Michels und Regina Göllner

Umschlagfoto: WriterPictures

 

eISBN 978-3-518-73429-2

www.suhrkamp.de

Der Koloss

Für Ted

The Manor Garden

The fountains are dry and the roses over.

Incense of death. Your day approaches.

The pears fatten like little buddhas.

A blue mist is dragging the lake.

You move through the era of fishes,

The smug centuries of the pig –

Head, toe and finger

Come clear of the shadow. History

Nourishes these broken flutings,

These crowns of acanthus,

And the crow settles her garments.

You inherit white heather, a bee's wing,

Two suicides, the family wolves,

Hours of blackness. Some hard stars

Already yellow the heavens.

The spider on its own string

Crosses the lake. The worms

Quit their usual habitations.

The small birds converge, converge

With their gifts to a difficult borning.

Der Park des Herrenhauses

Die Springbrunnen sind trocken und die Rosen verblüht.

Weihrauch des Todes. Dein Tag rückt näher.

Die Birnen werden fett wie kleine Buddhas.

Ein blauer Nebel zerrt am See.

Du wanderst durch das Zeitalter der Fische,

Die eitlen Jahrhunderte des Schweins –

Kopf, Zeh und Finger

Treten aus dem Schatten. Geschichte

Nährt die kaputten Furchen,

Diese Akanthuskronen,

Und die Krähe ordnet ihre Kleider.

Du erbst weißes Heidekraut, einen Bienenflügel,

Zwei Selbstmorde, die Familienwölfe,

Stunden der Leere. Ein paar harte Sterne

Gilben bereits den Himmel.

Die Spinne an ihrem eigenen Band

Überquert den See. Die Würmer

Verlassen ihre üblichen Wohnstätten.

Die kleinen Vögel nähern sich, nähern sich

Mit ihren Gaben einer schwierigen Geburt.

Two Views of a Cadaver Room

1

The day she visited the dissecting room

They had four men laid out, black as burnt turkey,

Already half unstrung. A vinegary fume

Of the death vats clung to them;

The white-smocked boys started working.

The head of his cadaver had caved in,

And she could scarcely make out anything

In that rubble of skull plates and old leather.

A sallow piece of string held it together.

In their jars the snail-nosed babies moon and glow.

He hands her the cut-out heart like a cracked heirloom.

2

In Brueghel's panorama of smoke and slaughter

Two people only are blind to the carrion army:

He, afloat in the sea of her blue satin

Skirts, sings in the direction

Of her bare shoulder, while she bends,

Fingering a leaflet of music, over him,

Both of them deaf to the fiddle in the hands

Of the death's-head shadowing their song.

These Flemish lovers flourish; not for long.

Yet desolation, stalled in paint, spares the little country

Foolish, delicate, in the lower right hand corner.

Zwei Ansichten eines Leichenraums

1

Am Tag als sie in den Sektionssaal ging,

Lagen vier Männer dort, schwarz wie verschmorter Truthahn,

Schon halb zerlegt. An ihnen hing

Ein Essigdunst von den Totenwannen;

Die weißbekittelten Jungs fingen zu arbeiten an.

Der Kopf seiner Leiche war eingedellt,

Und sie konnte in diesem Geröll

Aus Schädelplatten und altem Leder kaum was erkennen.

Ein bleiches Stück Schnur hielt alles zusammen.

In ihren Gläsern träumen und leuchten die schneckennasigen Babys.

Er reicht ihr das rausgeschnittene Herz wie ein zersprungenes Erbstück.

2

In Brueghels Panorama aus Rauch und Gemetzel sind

Nur zwei Leute für die Aas-Armee blind:

Er, schwimmend im Meer von blauen

Satinröcken, singt in Richtung ihrer bloßen

Schulter, während sie, die Noten

In den Fingern, sich über ihn beugt, beide taub

Für die Fiedel in Händen des Toten-

Kopfs, Schatten über ihrem Gesang.

Diese flämischen Liebenden blühen, nicht lang.

Doch die Trostlosigkeit, verewigt in Öl, verschont das kleine Land

Töricht, zart, in der rechten unteren Ecke.

Night Shift

It was not a heart, beating,

That muted boom, that clangour

Far off, not blood in the ears

Drumming up any fever

To impose on the evening.

The noise came from the outside:

A metal detonating

Native, evidently, to

These stilled suburbs: nobody

Startled at it, though the sound

Shook the ground with its pounding.

It took root at my coming

Till the thudding source, exposed,

Confounded inept guesswork:

Framed in windows of Main Street's

Silver factory, immense

Hammers hoisted, wheels turning,

Stalled, let fall their vertical

Tonnage of metal and wood;

Stunned the marrow. Men in white

Undershirts circled, tending

Without stop those greased machines,

Tending, without stop, the blunt

Indefatigable fact.

Nachtschicht

Es war kein Herz, das schlägt, jenes

Gedämpfte Wummern, jenes Schmettern,

Weit weg, auch kein Blut in den Ohren,

Das jedes Fieber herbeitrommelt,

Um es dem Abend aufzuzwingen.

Die Geräusche kamen von draußen:

Ein knallend zerberstendes Metall,

Eingeboren offenbar diesen

Befriedeten Vororten: niemand

Erschrak, obgleich der Lärm den Boden

Erbeben ließ mit seinem Stampfen.

Er schlug Wurzeln bei meinem Kommen,

Bis die dröhnende Quelle, enthüllt,

Das täppische Rätseln verblüffte:

Eingerahmt von Fenstern der Main-Street-

Silberfabrik, hoben enorme

Hämmer sich bei drehenden Rädern,

Stoppten, warfen die senkrechte Fracht

Aus Metall und Holz ab; betäubten

Das Mark. Männer in weißen Unter-

Hemden kreisten, ohne Unterlass

Geschmierte Maschinen bedienend,

Dienend, ohne Unterlass, dem un-

Verblümten unermüdlichen Fakt.

Sow

God knows how our neighbour managed to breed

His great sow:

Whatever his shrewd secret, he kept it hid

In the same way

He kept the sow – impounded from public stare,

Prize ribbon and pig show.

But one dusk our questions commended us to a tour

Through his lantern-lit

Maze of barns to the lintel of the sunk sty door

To gape at it:

This was no rose-and-larkspurred china suckling

With a penny slot

For thrifty children, nor dolt pig ripe for heckling,

About to be

Glorified for prime flesh and golden crackling

In a parsley halo;

Nor even one of the common barnyard sows,

Mire-smirched, blowzy,

Maunching thistle and knotweed on her snout-cruise –

Bloat tun of milk

On the move, hedged by a litter of feat-foot ninnies

Shrilling her hulk

To halt for a swig at the pink teats. No. This vast

Brobdingnag bulk

Of a sow lounged belly-bedded on that black compost,

Fat-rutted eyes

Dream-filmed. What a vision of ancient hoghood must

Thus wholly engross

The great grandam! – our marvel blazoned a knight,

Helmed, in cuirass,

Unhorsed and shredded in the grove of combat

By a grisly-bristled

Boar, fabulous enough to straddle that sow's heat.

But our farmer whistled,

Then, with a jocular fist thwacked the barrel nape,

And the green-copse-castled

Pig hove, letting legend like dried mud drop,

Slowly, grunt

On grunt, up in the flickering light to shape

A monument

Prodigious in gluttonies as that hog whose want

Made lean Lent

Of kitchen slops and, stomaching no constraint,

Proceeded to swill

The seven troughed seas and every earthquaking continent.

Sau

Weiß Gott, wie unser Nachbar es hinbekam,

Sie zu züchten, seine große Sau:

Was immer sein Trick war, er hielt ihn geheim,

Genauso schlau,

Wie er seine Sau hielt – entzogen dem Andrang,

Preisschärpe und Schweineschau.

Doch eines Abends empfahlen uns unsere Fragen für einen Gang

Die Laternenwege in seinem Irrgarten

Von Scheunen bis zum Sturz der vertieften Stalltür entlang,

Um sie anzustarren:

Dies war kein Rosen- und Ritterspornferkel, porzellanbleich,

Mit einem Schlitz zum Sparen

Für artige Kinder, auch kein Tölpelschwein, zum Piesacken reif,

Um hinterdrein

Verklärt zu werden für goldene Krusten und 1a-Fleisch

In einem Petersilien-Heiligenschein;

Noch nicht mal eine der üblichen Säue vom Bauernhof,

Schlammbeschmiert, unrein,

Disteln und Knöterich mitschleifend bei ihrem Schnauzen-Lauf –

Aufgedunsenes Milchwrack

Auf Achse, eingeengt von ihrem Wurf, der, großspurig und doof,

Für einen gierigen Schluck

Aus den rosa Zitzen ihren Rumpf anquiekt. Nein. Dieser Koloss,

Brobdingnag-Brocken

Von einer Sau fläzte sich bauchgebettet auf jenem schwarzen Kompost,

Augen im Traumfilm,

Fettgefurcht. Welch eine Vision uralter Schweinheit muss

So ganz erfüllen

Die gewichtige Grande Dame! – Unser Staunen beschrieb einen Ritter

In Harnisch und Helm,

Aus dem Sattel geworfen, im Hain des Gefechts zersplittert

Von einem borstigen Schauer-

Eber, sagenhaft genug, die Brunst der Sau zu erschüttern.

Da aber pfiff unser Bauer,

Schlug mit scherzhafter Faust auf das Tonnengenick,

Und aus grüner Gestrüppmauer

Stemmte das Schwein, den Mythos abplatzen lassend wie trockenen Dreck,

Langsam sich hoch,

Grunzer auf Grunzer, formte in unserem Flackerlicht-Blick

Einen Moloch,

Ungeheuer in Fresssucht wie das Schwein, dem sein Drang

Ein Fastenjoch

Aus Küchenabfällen machte und das – es ertrug keinen Zwang –

Daranging, die sieben

Meereströge zu schlucken und jede erdbebende Masse Land.