Vorwort
Jan Hus, am 6. Juli 1415 auf dem Konzil in Konstanz verbrannt, hatte mit seiner Vorahnung recht: Seine Standhaftigkeit im Glauben, sein Beharren auf die Wahrheit, sein Festhalten an der Bibel als Messlatte für das Leben − dieser Einsatz würde nicht umsonst sein. Aus dem Hus (Tschechisch: Gans) würde ein Schwan, ein Phoenix werden. Denn 100 Jahre nach seinem Tod beschäftigte sich Martin Luther bereits während seines Noviziats in der Vorbereitung auf die Ordensgelübde mit Jan Hus. Hus faszinierte ihn wegen seiner Klarheit und Kompromisslosigkeit. Schon bei seiner ersten Disputation bekannte sich Luther zu dem böhmischen Ketzer, der zu Unrecht verbrannt worden sei. Das Konstanzer Konzil und der Papst hätten sich geirrt. Was für eine Provokation!
Martin Luther greift die Gedanken von Vorreformatoren wie Jan Hus auf und denkt sie weiter. Er erkennt, dass die katholische Kirche aus dem, was Jesus für das Leben wollte, eine Lehre, eine Doktrin gemacht hat. Aus dem, was der Person, jedem Einzelnen gelten sollte, entstand ein institutionalisiertes Beamtentum. Dies deformierte den Glauben zu einem Sammelsurium von Dogmen, die aus Angst um das Seelenheil nachzusprechen sind.
Der Paderborner Theologe und Psychotherapeut Eugen Drewermann bringt es auf den Punkt: Seelsorge im Namen Jesu richtet Menschen auf, anstatt sie niederzudrücken. Und Luther hat den Weg bereitet, dass die Menschen angstfrei mit dem Glauben an die Heilige Schrift und vor allem an den Mann von Nazareth positiv leben können, statt abgeschreckt oder in den Aberglauben getrieben zu werden. Luther reißt magisches Denken ein. Er führt die Menschen seiner Zeit in eine neue Mündigkeit, löst, ja erlöst sie von Abhängigkeiten und Trugbildern. Er wagt eigenständiges Denken und ermuntert zur selbstverantworteten Reflexion über den Glauben. Er rückt die Bibel, den Glauben und vor allem die Gnade Gottes ins Zentrum des Christseins. Für seine Zeit war das eine Ungeheuerlichkeit, für die Gegenwart ist es eine Selbstverständlichkeit. Die Trias von Bibel, Glaube und Gnade muss neu buchstabiert und weitergedacht werden. Zu lange sind Protestanten, und erst recht die Katholiken, stehen geblieben, ohne erkannt zu haben, dass die Lehre Martin Luthers vom Außen zum Innen, von der Äußerlichkeit zur Innerlichkeit, durch die Erkenntnisse des Psychologie, der Neurologie und Psychotherapie bereichert werden kann, ja muss. Wesentlich ist, was Gott mir in meinem Herzen sagt. Drewermann fordert Protestanten und Katholiken auf, ihre Vorbehalte vor der Psychotherapie abzulegen – um der Seelsorge willen. Denn ein Mensch, der sich selbst versteht, versteht auch andere Menschen besser. Erst dann öffnet sich die Seele.
Eugen Drewermann argumentiert und reflektiert mutig, manchmal bewusst provokativ, über die Konfessionen und ihre Differenzen, die er klar benennt, hinaus. Er ermuntert, Martin Luthers Gedanken und Thesen unorthodox und befreit auf Zukunft hin weiterzuentwickeln und Vertrauen gegen Angst zu setzen. Um der Einheit der Menschen willen brauchen wir ein Umdenken und Weiterdenken bei Protestanten und Katholiken. Die Erinnerung an den Thesenanschlag zu Wittenberg 1517 sollte dazu genutzt werden, weit über konfessionelle Grenzen hinaus ein Neues zu wagen.
Jürgen Hoeren