ARABERSAISON
Eine Reise hinter den Schleier
der Golfstaaten
© SCOVENTA Verlagsgesellschaft mbH 2011
www.scoventa.de
Umschlaggestaltung: Anja Fuchs
Satz: Fotosatz Amann, Aichstetten
Gesetzt aus der Minion Pro
Print ISBN: 978-3-94207309-7
Epub ISBN: 978-3-94207300-4
Arabersaison
Auf der Suche nach Arabien und Arabern
»Where you from?« Kommunikation und Smalltalk am Golf
Islam in der modernen Welt: Der islamische Gesellschaftsvertrag
»Noch Fragen?« Besuch in der Moschee
Männer und Frauen: Zwei Welten in einer
»Und, Spaß gehabt?« Das geheime Leben der Frauen
Öffentliches Leben: Eine Frage des Gesichts
»Inshallah, das machen wir so!« Verabredungen und Termine
Der Staat als Familie – Familienleben im Staat
»Setzen Sie sich. Was gibt’s Neues?« Essenseinladungen und andere Genüsse
Mein Körper gehört Allah: Körperlichkeit und Intimes
»Probieren Sie!« Kleenexboxen als Zivilisationsindikator
Zwischen Stammeskultur und Globalisierung: Die soziale Struktur der Golfstaaten
»Der tut Ihnen doch nichts!« Verkehrsrüpel und andere logistische Abenteuer
Golf Lifestyle: Wie sich die Städte den Bedürfnissen anpassen
»Wo, bitte, ist der Altpapiercontainer?« Exzess und Nachhaltigkeit, Fortschritt und Umweltschutz
Islamischer Kapitalismus: Der neue Weg des Heils?
»Pommes dazu?«: Der Mythos von 1001 Nacht
Die nächste Arabersaison
Glossar
MÜNCHEN, JULI 2011. Aus den geöffneten Fenstern der Appartement-Häuser in der Altstadt weht ein holzig-würziger Räucherwerksduft. Ein älterer Herr in langem, weißem Gewand mietet eine Fahrradrikscha, um sich und seine Einkaufstüten vom Supermarkt ins Fünf-Sterne-Hotel in der Maximilianstraße kutschieren zu lassen. Bei H&M in der Fußgängerzone stöbert eine Frau in schwarzer Ganzkörperverschleierung in der Accessoire-Abteilung, während ihr Mann versucht, zwei Kleinkinder bei Laune zu halten. Zwei junge Mädchen mit bunten Kopftüchern und pinkem Nagellack fotografieren mit ihren Handys kichernd ein Brautpaar, das auf dem Odeonsplatz für Fotos posiert. Es ist Arabersaison in München.
Mit jedem Jahr zählt die bayerische Landeshauptstadt Zuwächse bei den Übernachtungen von Gästen aus den Golfstaaten. Im Jahr 2010 waren es 365 000 Übernachtungen von mehr als 108 000 Gästen, meldete das Münchner Tourismusamt. In den vergangenen zehn Jahren ist die Zahl arabischer Besucher um 300 Prozent gestiegen, allein im Vergleich zu 2009 um 40 Prozent. München ist das in Deutschland mit Abstand beliebteste Ziel von Gästen aus der Golf-Region.
Die arabische Gästewelle hat ihren Ursprung im Medizintourismus und in der Tatsache, dass Kranke gerne im Familienverbund reisen. Es hat sich mittlerweile am Golf herumgesprochen, dass München auch ohne Leiden eine Reise wert ist. Angenehme Temperaturen, Parks und Flaniermöglichkeiten, Sicherheit und Luxusshopping, gute Hotels, feine Restaurants und vielseitige Ausflugsmöglichkeiten sind die Hauptargumente für einen Urlaub an der Isar. Auch sind Schengenstaaten-Einreisevisa für arabische Gäste inzwischen deutlich leichter zu bekommen als Visa für die USA oder auch nur für Großbritannien, zwei weitere beliebte Urlaubsländer.
Während aber in München Gäste aus den USA, Italien, Australien oder anderen Ländern sich gerne unter die ›Einheimischen‹ mischen, Skandinavier sich gerne leutselig geben und in den Biergärten mit den Münchnern auf Tuch- oder zumindest Maßkrugfühlung gehen, bleiben die arabischen Gäste lieber unter sich. Das gilt auch für die anderen beliebten Medizin- und Urlaubsdestinationen Hamburg, Frankfurt, Berlin oder London. In der Presse oder am Biertisch kursieren zur Hochsaison Gerüchte über die arabischen Gäste. Etwa die Geschichte, dass ein Scheich kurz vor seiner Abreise aus München ein Mercedes-Geschäft besuchte und gleich 20 Smarts in verschiedenen Farben als Mitbringsel für seine Neffen und Nichten orderte. Dass »die Araber« in den Krankenhäusern gelegentlich versuchten, Ärzten Goldbarren als Trinkgeld zuzustecken. Dass »die Araber« in Fünf-Sterne-Hotels immer gleich ganze Stockwerke für ihre Großfamilien mieteten und dass man danach komplett renovieren müsse. Wirklich gesprochen hat aber kaum jemand mit den arabischen Gästen. Einen Luxus-Urlaub in Dubai kann man sich aber sehr gut vorstellen.
In solchen Runden reiße ich das Gespräch dann gerne an mich und erzähle von meinen Reisen an den Persischen Golf. 2002 habe ich mich auf einer Dienstreise spontan in die Region verliebt und seitdem viel Zeit dort verbracht. Die immer gleichen Fragen meiner Freunde kann ich nach jeder Reise besser und detaillierter beantworten: Wird man als westliche Frau dort nicht ständig belästigt? Muss man ein Kopftuch tragen? Hassen »die Araber« Amerika? Sind alle Männer in weißen Hemden Scheichs? Haben die da unten überhaupt Kultur?
Um dies zu erklären und um damit Verständnis für Arabien und die Araber der Golfstaaten zu schaffen, habe ich dieses Buch geschrieben. Respekt und Verständnis sind die Grundlagen eines internationalen Miteinanders, auf politischer wie auch persönlicher Ebene. Mit dem Versuch, die Lebenswelt und damit auch die Weltsicht des anderen zu verstehen, bauen sich Vorurteile ganz von selbst ab. Es bleibt die Einsicht, dass der andere vielleicht fremd ist und manches anders sieht und beurteilt, aber dass er dafür auch Gründe hat. Mit dieser Art von Verständnis begibt man sich auf Augenhöhe mit Arabien, jenseits von Kamel-Kitsch und Kopftuchdiskussion, ohne jedoch die Fähigkeit der kritischen Betrachtung zu verlieren.
Mehr Verständnis für die arabische Welt zu schaffen und ihr auf Augenhöhe zu begegnen ist das erklärte Ziel dieses Buches. Die eingehende Kritik an den politischen und sozialen Verhältnissen der Golfstaaten mag im Gespräch folgen, sie ist nicht Ziel dieses Buches. Es ist auch keine wissenschaftliche Untersuchung und kein Reisetagebuch, sondern eine Analyse der Realität in den modernen Golfstaaten, vom politischen System bis zur Intimität zwischen Mann und Frau. Ich erzähle darin, was ich selbst erlebt habe, was ich in Gesprächen mit Einheimischen erfuhr, aber auch, was Experten in ihren Büchern geschrieben haben. Ich betrachte meine Eindrücke auch aus einer erweiterten politischen, wirtschaftlichen, interkulturellen und sozialen Perspektive und setze aus den vielen Episoden und Gesprächen ein Porträt zusammen, das die Golfstaaten des Jahres 2011 angemessen abbildet.
Wer noch nie am Persischen Golf war, wird in diesem Buch viele konkrete Tipps finden, wie man sich vor Ort angemessen verhält, was manches scheinbar rätselhafte Verhalten oder Gebäude bedeutet und warum man das dortige Gewässer als »Arabischer Golf« bezeichnet. Ob als Tourist oder Geschäftsreisender – jeder wird nach der Lektüre ein besserer, weil kompetenterer Gast in Arabien sein. Auch jener, der vielleicht länger bleibt, weil er gerade einen Zweijahresvertrag für einen Traumjob in Dubai unterschrieben hat. Aber auch deutsche Ärzte und Geschäftsleute, Hoteliers und Gastronomen werden hier vieles über ihre Gäste aus dem Mittleren Osten erfahren, damit die nächste Arabersaison noch erfolgreicher wird. Es sind die kleinen Dinge des Alltags, aus denen Verständnis und Akzeptanz entstehen, die sich dann auch auf anderen Ebenen abbilden, etwa in der Politik oder in der Bewertung der Reformbewegung in der arabischen Welt.
Den »arabischen Frühling« erlebte ich selbst mit, als ich im März 2011 zu einer Recherchereise für dieses Buch aufbrach. Während meines Aufenthalts in Kuwait City beendeten kuwaitische Sicherheitskräfte gewaltsam den Aufstand staatenloser Araber, die gesellschaftliche Mitbestimmung und Bürgerrechte forderten. Auch im Jemen und im Oman demonstrierten die Bürger, sogar in Saudi-Arabien erhob sich Murren, obwohl Demonstrationen dort verboten sind. Eigentlich wollte ich über Bahrains Hauptstadt Manama weiter nach Katars Hauptstadt Doha fliegen, aber weil sich die Lage zuspitzte, buchte ich den Flug um. Genau an diesem Tag marschierte das saudische Militär in Bahrain ein und walzte die seit Wochen dauernde Demonstration schiitischer Bahrainis nieder, die mehr gesellschaftliche Mitsprache forderten. In Doha schließlich sah ich im Fernsehen ein Mitglied der Herrscherfamilie verkünden, man werde Kampfjets nach Libyen schicken. Im Jemen gab es jetzt täglich Tote.
In Doha, Dubai und Abu Dhabi lief der Alltag dennoch weiter wie bisher. Das überraschte mich nicht. Ich habe die Region stets als reich, satt, zufrieden, fortschrittshungrig und zukunftsorientiert erlebt. Sie ist nicht konfliktfrei, aber das Konfliktpotenzial, sieht man vom Irak ab, ist um ein Vielfaches kleiner als in anderen Staaten der arabischen Welt.
Die Golfstaaten als gleichberechtigte internationale Partner wahrzunehmen ist nicht nur ein Zugeständnis an die aktuelle Lage, sondern eine absolute Notwendigkeit. Ihre geopolitische Lage macht die Golfstaaten zu einem globalen Drehkreuz erster Klasse, zum internationalen Treffpunkt zwischen Asien, Afrika und Europa. Ihr Kapital aus fossilen Brennstoffen ermöglicht es ihnen derzeit, Investitionen in ihre Infrastruktur und Bildung und somit in ihre Zukunft zu tätigen, von denen die anderen Regionen der Erde nur träumen können. Die Herrscher der Golfstaaten wissen selbst am Besten, dass das Öl eines Tages zu Ende sein wird. Sie arbeiten bereits jetzt mit Hochdruck daran, ihren Ländern eine großartige Zukunft zu sichern, und scheuen dabei keine Kosten. Die Zukunft wird hier gerade gestaltet, und dies nahezu ohne finanzielle Grenzen und ohne bremsende Bedenkenträgerei von öffentlicher Seite. Wer den Anschluss an die Golfstaaten verpasst, verpasst ein wichtiges Stück Zukunft.
VON DUBAI AUS betrachtet ist es ganz einfach: Araber sind die Bewohner der Arabischen Halbinsel. Die Leute aus der Gegend zwischen Marokko und Libyen hingegen sind Afrikaner, die Sudanesen sowieso. Ägypter sind Pharaonen. Die Menschen in der Levante, in Israel, Palästina, Syrien, Jordanien und dem Libanon sind alles mögliche – Haschemiten, Phönizier, Türken – aber keine richtigen Araber. Punkt, aus, fertig. So erklärte es jedenfalls Mohammed, ein nicht ungebildetes Mitglied einer angesehenen emiratischen Familie. Die Definition ist praktisch, funktioniert aber nur, solange man auf der Arabischen Halbinsel bleibt. Jordanier und Tunesier, Sudanesen und Ägypter fühlen sich selbstverständlich auch als Araber und weisen gerne darauf hin, dass die arabische Kultur, wie sie heute verstanden wird, mitnichten auf der Arabischen Halbinsel entstand, sondern in Kairo, in Beirut, in Damaskus, Marrakesch oder auch Bagdad (das dann nicht mehr zur Halbinsel gezählt wird) – während die Bewohner der Halbinsel primitiv in Zelten lebten, Kamele durch die Wüste trieben und im Angesicht der uralten orientalischen Metropolen nur staunen konnten. Aus Nordafrika tönt es gerne, dass viele Bewohner der Halbinsel eigentlich auch keine richtigen Araber seien, sondern so etwas wie Berber, Wüstennomaden, die weder der arabischen noch der schwarzafrikanischen Welt angehörten und seit Urzeiten in ihrem eigenen Universum lebten.
Von Europa aus betrachtet ist es auch wieder ganz einfach: Araber sind alle diejenigen, die im geographischen Viereck zwischen Marokko, Libanon, Zweistromland und Jemen leben, Arabisch sprechen und Muslime sind. Mit dieser Definition endet die Diskussion allerdings nicht, sondern sie beginnt erst, denn danach sind Sudanesen keine Araber, sondern muslimische Afrikaner, was die Sudanesen ganz anders sehen.
Schon allein an der Schwierigkeit, Araber zu definieren, werden Weitläufigkeit und Diversität dieses Kulturraums deutlich. Beides ist definitorisch kaum zu fassen. 1980 bezeichnet der Geograf Eberhard Wohlfahrt Arabien als einen eigenen Subkontinent, bestehend aus der Arabischen Halbinsel im Süden und den Ländern des »Fruchtbaren Halbmondes«, also des östlichen Mittelmeeres. Streng geografisch genommen gehören letztere aber zum Kontinent Asien und werden heute meist mit den Sammelbegriffen Naher Osten (Länder des Fruchtbaren Halbmondes, manchmal auch inklusive der Türkei) und Mittlerer Osten (Algerien, Libyen, Ägypten, Arabische Halbinsel, Irak, Iran) bezeichnet. Als geografische Bezeichnung funktioniert dies prächtig, kulturell jedoch nicht, und dabei sind sich überraschenderweise alle Beteiligten einig: Iraner, Israelis und Türken sind keine Araber. Darauf legen nicht nur diejenigen großen Wert, die sich als Araber bezeichnen, sondern insbesondere Türken, Israelis und Iraner selbst. Die Kurden, die genau im Grenzgebiet zwischen Arabien, Türkei und Iran leben, wollen zu keinem der Kulturräume wirklich dazugehören, obwohl ihre Sprache am nächsten mit der Sprache Irans, Farsi, verwandt ist.
Zu fragen, wer ein Araber ist und wer Perser, Türke oder Kurde, ist unabhängig von der Geografie eine Frage der kulturellen Identität, und in diesem Fall auch eine Frage der Eigen- und Fremddefinition. Die am weitesten gefasste, heute anerkannte Definition ist diejenige, die alle Arabisch sprechenden Menschen als Araber bezeichnet. Diese legt etwa der libanesisch-stämmige Orientalist Albert Hourani seiner »Geschichte der arabischen Völker« (1992) zu Grunde, wohl wissend, dass dieser Begriff im Lauf einer historischen Betrachtung, in der es um Kriege und Imperien, wechselnde Allianzen und sich verschiebende Machtsphären geht, nicht immer standhalten kann. Die Osmanischen Kalifate etwa, deren Herrschaftsgebiete sich in der Zeit zwischen dem 14. und dem 18. Jahrhundert mit wechselnden Grenzen vom Bosporus bis nach Bagdad und weiter in den Süden erstreckten, nach Kairo und weiter in den Westen, auch bis nach Europa – waren sie arabisch, weil die meisten ihrer Bürger Arabisch sprachen, oder türkisch, weil die Machthaber türkisch-stämmig waren? Teil der arabischen Geschichte und der Geschichte der arabischen Länder sind sie in jedem Fall.
Die Keimzelle der arabischen Welt verortet Hourani hingegen mit maximaler Präzision: in Mekka an der Westküste der Arabischen Halbinsel. Dort verkündete im 7. Jahrhundert der Prophet Mohammed den neuen Glauben, den Islam, und trug ihn mit seinen Anhängern in die Welt hinaus. Die muslimisch gewordenen und so erstmals zumindest spirituell geeinten Araber eroberten mit ihren Armeen und mit dem neuen Glauben Nordafrika und den Süden Spaniens, stießen vor in die Länder des östlichen Mittelmeeres, wo sie das christliche, byzantinische Reich vernichteten, und weiter in den Osten. Die Offenbarungen des Propheten Mohammed wurden in arabischer Sprache in einem heiligen Buch niedergeschrieben, dem Koran, und so verbreitete sich mit den Eroberern und dem Koran auch die arabische Sprache in der gesamten Region. Die Sprache des Propheten wurde auch die Sprache der Krieger, der Verwaltung, der Bildung, des Rechts und des Handels. Schon vor 1300 Jahren, als die ersten Muslime das erste große Kalifat gründeten, entstand die bis heute unaufgelöste Verbindung zwischen Religion, Sprache und Kultur im arabischen Raum. Araber waren einerseits die Eroberer der Arabischen Halbinsel und damit die herrschende Klasse, andererseits bald auch alle, die in der Region lebten, Arabisch sprachen und eine gemeinsame Kultur pflegten. Der Kalif dieses arabischen Reiches war in dieser Zeit religiöse und politische Führungsfigur in einer Person.
Noch während der ersten großen Expansionswelle des Islam im 7. Jahrhundert kam es 680 n. Chr. zu einem politisch-religiösen Bruch, der sich bis heute durch den Mittleren Osten zieht und Iraner von Arabern auch religiös scheidet. Hussein, ein Enkel des Propheten Mohammed, wollte dem regierenden Kalifen Yazid dessen Thron streitig machen, da er und seine Anhänger ihn als den rechtmäßigen Thronerben und damit als legitimen Nachfolger Mohammeds sahen. Es ging um Macht, aber auch darum, wie die neue Religion weiterentwickelt würde: Könnte im Grunde jeder geeignete Mann der weltliche Herrscher der arabischen Welt sein, oder nur jemand, der göttlich legitimiert ist, also vom Propheten abstammt? Mohammed selbst habe Ali, seinen Schwiegersohn, zu seinem rechtmäßigen und damit göttlich legitimierten Nachfolger bestimmt, glaubte eine kleine Gruppe Muslime. Alis Sohn Hussein und seine Anhänger zogen in den Krieg gegen Yazid und unterlagen am 10. Oktober 680 nahe der Stadt Kerbala im heutigen Irak einer Übermacht. Hussein wurde in dieser Schlacht bei Kerbala getötet.
Was anmuten könnte wie eine Fußnote der Geschichte hat gravierende Folgen, bis heute. In diesem Konflikt zerbrach der Islam schon kurz nach seiner Verkündung in zwei Lager: Sunniten und Schiiten. Die Anhänger Husseins, die Schiiten, verklärten schon unmittelbar nach der Schlacht den gefallenen Glaubenskrieger als Märtyrer. Sie grenzten sich auch weiterhin deutlich von den Sunniten ab, die ihrer Auslegung nach zu Unrecht die weltliche Herrschaft in ihren Händen hielten. Mit dieser Art von Herrschaft wollten die Schiiten weder politisch, noch kulturell oder religiös etwas zu tun haben. Andererseits distanzierten sich die Sunniten in der religiösen Lehre von den Schiiten, die an Imame als Prophetennachfolger und an den zwölften Imam glauben, der in Mysterien verborgen bei seiner Wiederkehr die Menschheit erlösen soll.
Die meisten Schiiten leben heute im Iran, viele im Irak, auch im Südlibanon und in Palästina gibt es größere Gemeinden, ebenso im Inselkönigreich Bahrain. Den Unterschied der Glaubensrichtungen und ihre regionalen Schwerpunkte merkt man sich am besten so: Sunniten glauben an die Herrschaft der Kalifen. Kalifen kennen wir Europäer aus den Sagen aus 1001 Nacht, aus Bagdad. Bagdad liegt auf der Arabischen Halbinsel. Dort sind die meisten Muslime Sunniten. Schiiten glauben an die Herrschaft der Imame. Imame kennen wir Europäer aus Berichten über den Iran, etwa über Imam Ruhollah Chomeini. Die schiitische Glaubensrichtung hat ihr Zentrum im Iran. Sunniten – Kalifen – Arabien. Schiiten – Imame – Persien.
Das frühe Auseinanderdriften dieser beiden Glaubensrichtungen des Islam ist mit dafür verantwortlich, dass sich Iran und Arabien so deutlich voneinander abgrenzen. Einen Iraner als Araber zu bezeichnen ist eine massive Beleidigung, ebenso wie einen arabischen Sunniten zu fragen, ob er vielleicht Schut ist. Allein, dass man als Ausländer auf eine solche Frage kommen kann, löst Entsetzen und Unverständnis aus, da Bewohner der Golfstaaten nahezu automatisch davon ausgehen, dass andere Golfstaatenbewohner auch Sunniten sind. Es sei denn, man ist im Irak oder in Bahrain. Im Irak, jener Schnittstelle zwischen Nahem und Mittlerem Osten, zwischen Arabien und Zentralasien, sind knapp zwei Drittel der muslimischen Bevölkerung schiitischen Glaubens, ein Drittel Sunniten. Saddam Hussein und sein Ba’ath-Regime waren sunnitisch geprägt, viele Repressalien des Regimes richteten sich pauschal gegen schiitische Iraker. Dies ist ein Grund für die Gewalt, die nun in der irakischen Gesellschaft ausbricht. In Bahrain bahnt sich derzeit ein ähnliches Drama an. In dem kleinen Land ist die Mehrheit der Bürger schiitisch, die Herrscherfamilie und die Machtelite jedoch sunnitisch. Dieses Ungleichgewicht führte im März 2011 zu Protestwellen und Ausschreitungen in der Hauptstadt Manama. Die schiitische Bevölkerung verlangte mehr Mitbestimmungsmöglichkeiten im politischen Leben, mehr Berücksichtigung ihrer Interessen. Das Herrscherhaus lud Truppen aus den benachbarten sunnitischen Golfstaaten, allen voran Saudi-Arabien, in die Hauptstadt Manama ein, um die öffentliche Ordnung wieder herzustellen. Die Camps der Demonstranten wurden verbrannt, es wurde scharf geschossen. Im Irak und im Iran kam es daraufhin zu Stürmen der Entrüstung, da man sich – Araber oder nicht – mit den schiitischen Brüdern solidarisierte, die unter sunnitischer Knute litten. Der Protest verstummte nur kurz, um im Sommer erneut aufzuflammen. Die aktuelle Schlacht um Bahrain ist in letzter Konsequenz eine Neuauflage der Schlacht von Kerbala aus dem Jahr 680, des ersten aller islamischen Bürgerkriege.
Die islamische Welt ist was die Glaubensrichtungen betrifft noch heterogener als die christliche. Außer der grundsätzlichen und sehr alten Unterscheidung zwischen Sunniten und Schiiten gibt es zahlreiche weitere Untergruppen wie die Ibaditen, Aleviten oder Drusen, manche auf bestimmte Regionen beschränkt, andere über den gesamten arabischen Raum verteilt. Ibaditen etwa gibt es vor allem im Oman, wo 75 Prozent der Gläubigen Ibaditen sind. Sie unterscheiden sich in einigen Rechtsauffassungen und theologischen Dogmen von Schiiten und Sunniten.
Die vielen Unterschiede führen dazu, dass sich auch unter Arabern manche Menschen- und Glaubensgruppen als ethnische Minderheit definieren und fühlen, von anderen tatsächlich unterdrückt und gegängelt oder, schlimmer noch, als Falschgläubige bezichtigt werden – so etwa die Aleviten, weil sie den Koran nicht so wörtlich nehmen wie andere islamische Glaubensrichtungen.
Was und wer also sind nun Araber? Der britische Orientalist Bernard Lewis verbrachte fast seine ganze Karriere als Wissenschaftler mit dieser Frage und hat sein Werk »Die Araber«, das 1950 erstmals erschien, mehrfach grundlegend überarbeitet. 1993 schreibt er in einer weiteren Neuauflage beinahe erschöpft: »Ethnische Bezeichnungen sind bekanntlich schwer zu definieren, und die Begriffe ›Araber‹, ›arabisch‹ usw. zählen nicht gerade zu den einfachsten unter ihnen. Eine der möglichen Definitionen kann jedenfalls von vornherein ausgeschlossen werden. Die Araber mögen eine Nation sein, gehören aber, rechtlich gesehen, keineswegs nur einer Nationalität an. (…) Obwohl das Arabertum also keinen rechtlichen Status hat, ist es nichtsdestoweniger real. Der Stolz eines Arabers, sein Bewusstsein, mit anderen, in der Vergangenheit oder in der Gegenwart lebenden Arabern verbunden zu sein, ist deshalb nicht weniger stark.«
Der Orientalist Eugene Rogan hält sich in seinem 2009 erschienenen Band »The Arabs« gar nicht erst mit der mühsamen Suche nach einer über alle Epochen hinweg gültigen Definition auf, sondern stellt lediglich fest: »Verbunden durch eine gemeinsame Identität auf der Basis von Sprache und Geschichte, sind die Araber wegen ihrer Diversität um so mehr verschieden. Sie sind ein Volk und zugleich viele Völker. (…) All diese Völker haben ihre eigene, abgegrenzte Geschichte, aber sie sehen sich alle durch die gemeinsame arabische Geschichte verbunden.«
Tatsächlich weiß man heute nicht einmal sicher, woher der Begriff Araber kommt und was er genau bedeutet. Zu lesen ist er erstmals im Jahr 853 v. Chr. in einer assyrischen Inschrift – rund 900 Jahre also vor dem Auftreten des Religions- und Identitätsstifters Mohammed. Und heute, 1700 Jahre nach Mohammed, kann sich ein Arabisch sprechender, muslimischer Sudanese als Afrikaner oder Araber bezeichnen, wie es ihm gerade gefällt, denn er kann beides sein. Ebenso wie ein christlicher Ägypter sich als Araber fühlen kann, mit Stolz auf die ägyptische Kultur und Sprache. Er kann einen Pass der »Arabischen Republik Ägypten« haben und zugleich den beliebten ägyptischen Chauvi-Spruch im Mund führen, der an die Bewohner der Arabischen Halbinsel adressiert ist: »Al-Arab Gharab« – Araber sind seltsam.
In diesem Buch werden als Araber all jene bezeichnet, die arabische Muslime sind und in den geografischen Regionen Nordafrika, Levante und auf der Arabischen Halbinsel leben, also in der arabischen Welt.
Hauptsächlich geht es hier um die arabisch-muslimischen Bewohner der Staaten am Persischen Golf und der Arabischen Halbinsel. Sie werden als Golfstaaten-Araber oder, ortsüblich, als Chalidschis bezeichnet. Al-Chalidsch heißt in der arabischen Sprache »der Golf«, Chalidschis sind also laut Definition arabische Golfstaatenbewohner, laut wörtlicher Übersetzung aber »Golfis«. Weil dies albern klingt, bleibt der arabische Name Chalidschis. In der arabischen Sprache nennt man den Persischen Golf, das Gewässer zwischen der Arabischen Halbinsel und dem Iran, Arabischen Golf, was hier aber nicht übernommen werden soll. Spricht man mit Arabern, nennt man ihn selbstverständlich den Arabischen Golf, im Gespräch mit Iranern ist es weiterhin der Persische Golf. Vor Ort wird meistens nur »der Golf« gesagt.
Die viel beschworene Bruderschaft unter den arabischen Völkern ist brüchig, und das nicht nur, weil es nicht einmal den Beteiligten immer ganz klar ist, wer nun dazu gehört oder nicht. Nationalstaatlichkeit und damit auch nationales Denken funktioniert im arabischen Raum anders als in Europa, wo man schon im 18. Jahrhundert die Vorstellung hatte, ein kulturell, sprachlich und ethnisch homogenes Volk in einem klar umrissenen Gebiet könnte eine Nation formen. In einer Region, in der viele Menschen bis ins 20. Jahrhundert hinein nomadisch lebten und weite Strecken zurücklegten, ist ein solcher Begriff der Nation nicht anzuwenden.
Bei den Chalidschis sind die Einheiten der Identifikation deutlich kleiner; es sind zunächst die Familie und im erweiterten Sinne der Stamm, mit denen ein »Wir«-Gefühl aufgebaut wird. Alles außerhalb dessen sind bereits »die anderen«. Dieses Prinzip »Wir und die anderen« zieht sich durch das gesamte politische Denken der arabischen Welt, wird mal in größerem, mal in kleinerem Maßstab angewandt. Es leuchtet auf, wenn Angehörige der Dubaier Herrscherfamilie hinter vorgehaltener Hand sagen, dass »die aus Abu Dhabi«, dem knappe zwei Autostunden entfernten Nachbar-Emirat, schreckliche Angeber seien und einfach alles, das dem Emirat Dubai einfalle, größer und teurer nachbauen müssten. Auf der internationalen politischen Landkarte gehören beide Emirate zur selben Nation. Gelegentlich schauen die Leute aus Dubai, wo es schon relativ lange eine feste Siedlung, einen Handelsplatz und Perlentaucherei gibt, auf die Nachbarn aus Abu Dhabi herab, die noch mehr »Beduinen« seien, also eher Kameltreiber als Händler. Im Gegenzug betont man in Abu Dhabi noch die wahren Werte der Wüste und trage das, was die wahre arabische Kultur ausmache, noch in den Herzen. Alle zusammen jedoch sehen in dem 2004 verstorbenen Scheich Zayed bin Sultan al-Nahayan den »Vater der Nation«, da dieser Fürst aus Abu Dhabi 1971 die Vereinigten Arabischen Emirate gründete.
Als dann wieder geeintes Wir sind sich die Emiratis einig, dass die Bewohner des benachbarten Sultanats Oman erstens un-arabisch aussähen, weil sie tendenziell eine dunklere Hautfarbe haben als die Emiratis, und sich tendenziell unkultivierter benehmen. Man grenzt sich gegen »die anderen« ab, ob sie nun aus dem Nachbarland, dem Nachbar-Emirat oder dem benachbarten Clan kommen. Nahezu immer sind »die anderen« weniger höflich, weniger kultiviert oder weniger entwickelt als die »Wir«. In Kuwait sind es die benachbarten Iraker, im Oman die Jemeniten, im Jemen die Sudanesen und so weiter. Kameltreiber oder Angeber sind immer »die anderen«. Und nicht zuletzt sind die eigenen Kamele immer edler als die der anderen.
Auf nationaler Ebene sind sich Emiratis, Kuwaitis, Kataris, Bahrainis und Omanis, also die Bewohner der kleineren Staaten auf der Arabischen Halbinsel, gemeinsam einig, dass »die anderen« die Bewohner Saudi-Arabiens sind, welche sich bei Besuchen in den kleineren Golfstaaten schlecht benähmen, indem sie anderen die Taxis vor der Nase wegschnappten, in Cafés zu laut herumplärrten, in Bars mit Alkohollizenz zu viel tränken und sämtliche Frauen mit zu großem Interesse betrachteten. »Saudis meinen, dass ihnen alles, was sie anfassen, auch gehört«, erklärte mir einmal ein bahrainischer Restaurantbesitzer – der allerdings seinen Hauptumsatz mit saudischen Wochenend-Ausflüglern macht. Saudis selbst neigen dazu, sich als höflich, bescheiden, zurückhaltend, fromm und artig zu bezeichnen – die ungehobelten Bewohner der kleinen Golfstaaten hätten leider sehr wenig Verständnis für die ausdifferenzierte saudische Hochkultur. Als Nicht-Araber schweigt man am besten, wenn die Gesprächsschleife um das Thema »Wir und die anderen« kreist und einem erklärt wird, warum die gerade anwesenden »Wir« sich von den gerade aktuellen »anderen« unterscheiden. Das Thema »Wir und die anderen« ist ein intra-arabisches Kommunikationsschema und auch nicht halb so ernst gemeint, wie es scheint. Sich als Europäer negativ oder auch nur amüsiert über die Sitten der »anderen« zu äußern, provoziert im besten Fall einen langen Vortrag über das Arabische an sich und den hohen Wert des »anderen«.
Wenn man schon seinen Mund nicht halten kann, tut man gut daran, etwas über das Verhältnis zwischen Deutschland und Österreich einzustreuen, was die arabischen Zuhörer aber meistens nicht interessiert. Am besten ist Nicken, Staunen und innerlich Schmunzeln.
An der Entrüstung über die Fremdwahrnehmung innerer Rivalitäten und Nickeligkeiten merkt man, dass es sie nämlich doch gibt, die gemeinsame arabische Identität. Sie wird als »Wir« sofort herbeizitiert, wenn es darum geht, sich gegen »den Westen« abzugrenzen, wahlweise auch gegen Indien, Afrika oder China. Dann scheint die ganze Ausdifferenzierung des arabischen Kulturraums plötzlich nicht mehr so wichtig. Die Ausprägungen der arabischen Identität sind vielfältig. Die Art der Eigenwahrnehmung dieser Identität als Araber findet auf mehreren Ebenen und mit verschiedenen Maßstäben statt und ist abhängig von dem, an dem sich die arabische Identität gerade misst. Weil die arabische Identität nicht an Nationalstaatlichkeit gebunden ist, kann sie sich leichter den Zeiten und dem politischen Wandel anpassen als die nationalstaatlich geprägte Identität der europäischen Länder.
Gerade wächst auf der Arabischen Halbinsel eine neue Ausprägung der arabischen Identität heran: Die des Golfstaaten-Arabers, des Chalidschis. Das Verbindende der Bewohner Saudi-Arabiens, Kuwaits, Bahrains, Kataris, der Vereinigten Arabischen Emirate und des Oman ist eben diese Identität als Golfstaaten-Araber. Dieses Zusammengehörigkeitsgefühl wird umso wichtiger und auch umso stärker, wenn man in Betracht zieht, dass die arabischen Chalidschis in ihren eigenen Heimatländern in der Minderheit sind. Nominell und laut Einwohnerzahlen, die das Statistische Handbuch der Vereinten Nationen listet, zählen die Golfstaaten zusammen eine Bevölkerung von rund 90 Millionen (Irak und Jemen inklusive). Die Bevölkerungsstatistik der Vereinten Nationen führt auf, wie viele Einwanderer derzeit in welchem Golfstaat leben und wie hoch der Prozentsatz der Expats an der Gesamtbevölkerung des jeweiligen Landes für die Mitte des Jahres 2010 ist: Der Jemen, wo bisher kein Öl gefunden wurde, kommt auf 2,1 Prozent Ausländer. Saudi-Arabien zählt 27,8 Prozent, Oman 28,4 Prozent, Bahrain 39,1 Prozent, Kuwait 68,8 Prozent, Vereinigte Arabische Emirate 70 Prozent, Katar 86,8 Prozent. Zieht man diesen Ausländer-Anteil von der jeweiligen Bevölkerungszahl ab, kommt man auf 75 Millionen. Ohne Iraker und Jemeniten sind es 23 Millionen: die Bewohner der Golfstaaten und Saudi-Arabiens. Sie sind die arabischen, einheimischen Chalidschis.
Ihre Nationalstaaten sind jung, die Suche nach einem Nationalgefühl, nach einer Identität als Golf-Araber, Chalidschis, findet gerade statt und wird von den Herrschern selbst mit vorangetrieben. Erst 1961 wurde das erste Scheichtum am Golf unabhängig – Kuwait, im Jahr 1961, getragen von einer großen Welle des Nationalismus, die auch damals schon von Ägypten ausgehend die arabische Welt erfasste. Der Oman ist seit 1966 selbständig, ein Jahr später folgte der Jemen. Bis 1971 hatte Großbritannien Truppen in der Golfregion stationiert und garantierte damit die Sicherheit der kleinen Scheichtümer, die noch nicht als Nationalstaaten, sondern weiterhin als traditionelle Stammeskulturen auftraten. Als Großbritannien 1971 die Truppen zurückzog, weil Geld in der Haushaltskasse fehlte, fühlten sich die Herrscher der kleinen Scheichtümer wie verlassen – und waren gezwungen, eigene Nationalstaaten zu gründen. Denn der Irak beanspruchte sofort nach seiner Staatsgründung das Land Kuwait für sich, Saudi-Arabien als konkurrierende Großmacht Teile des Oman, von Bahrain und Katar. Der Iran meldete ebenfalls Ansprüche auf Bahrain an. Zur Überlebenssicherung mussten aus Stammeskulturen nun Staaten werden, die sich nicht nur politisch, sondern in ihrer nationalen Identität von den großen Nachbarn unterscheiden. So wurden von August 1971 an nacheinander Bahrain, Katar und die Vereinigten Arabischen Emirate unabhängig. Aber was ist die jeweilige nationale Identität dieser einzelnen Länder?
Heute ist das Erbe der Wüste und die Beduinenkultur, die mit dem Öl-Boom für überwunden galt, wichtiger als zur Zeit der Staatsgründungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als der Öl-Boom das Alte mit sich fort zu spülen schien. Die Suche nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden in Bezug auf die Nachbarländer sowie die arabischmuslimischen Bruderländer dauert ebenfalls an. Es sickert auch langsam ins Bewusstsein, dass man dem Iran nicht nur geografisch, sondern auch kulturell näher ist als etwa Algerien oder dem Sudan. Bei aller Modernisierung, bei allem Aufschwung und aller Internationalität ist die Suche einer transnationalen Identität als Golf-Araber eine besondere Herausforderung. Das Königreich Saudi-Arabien, wo die für alle Muslime heiligen Städte Mekka und Medina liegen, muss obendrein den Spagat zwischen Internationalität und Konservatismus bewältigen. Hier müssen die heiligen Stätten bewahrt werden, hier ist der Wahabitismus, eine besonders strenge Form des sunnitischen Islam, Staatsreligion, und dennoch müssen die heiligen Städte Mekka und Medina selbstverständlich offen sein und bleiben für Muslime aller Glaubensrichtungen. Insofern ist Mekka ein Ort der Toleranz und der Begegnung, an dem das Einende des Islam im Vordergrund steht und nicht das Trennende.
Politisch ist eine gemeinsame Institution längst geschaffen worden: 1981 taten sich die arabischen Golf-Anrainerstaaten (ohne Irak und Iran) zur GCC zusammen, dem Golf-Kooperationsrat. Er gewährt Zollfreiheit und Reise-Erleichterungen, etwa an Flughäfen mit eigenen Einreiseschaltern für Inhaber von Pässen aus GCC-Ländern. Und er soll die kleinen Golfstaaten stark machen gegen Aggressoren – explizit den Irak und den Iran. Ersterer ist seit dem letzten Krieg keine Bedrohung mehr für die kleinen Golfstaaten, letzterer ist immer noch gefürchtet. Eine gemeinsame Währung der GCC-Länder ist bereits relativ weit verhandelt, ebenso ein einheitlicher Wirtschaftsraum ohne Zollschranken. Die internationale Banken- und Finanzkrise, die auch die Golfstaaten stark betroffen hat, und die andauernde Krise des Euro ließen die GCC-Mitgliedsstaaten die für 2010 geplante Währungsunion jedoch noch einmal überdenken und auf eine etwas längere Bank schieben. Eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der GCC-Länder ist dagegen ebenso erreichtes wie erklärtes Ziel der ersten Stunde. Gemeinsame Manöver der Streitkräfte gibt es bereits seit den 1980er Jahren, ebenso eine gemeinsame Kommandostruktur für den Ernstfall. Man fürchtete damals, der Erste Golfkrieg zwischen Iran und Irak könnte sich auf die Golfstaaten ausweiten, und schuf eine militärische Union gegen diese beiden Kriegsparteien. 1984 entstand so die »Peninsula Shield Force«, eine derzeit 40 000 Mann starke gemeinsame militärische Schutztruppe der GCC-Staaten, die in Saudi-Arabien stationiert ist. Sie soll sofort eingreifen können, wenn einer der Golfstaaten militärische Hilfe benötigt. Im Zweiten Golfkrieg (1990/91) beteiligten sich sämtliche dem GCC angehörenden Länder mit Truppenkontingenten am Kampf gegen den Irak, der Kuwait überfallen und annektiert hatte. Auch am im Jahre 2003 begonnenen Dritten Golfkrieg der USA gegen den Irak beteiligten sich die Länder des GCC in der »Koalition der Willigen«. Dass saudische Truppen 2011 halfen, den Aufstand in Bahrain niederzuschlagen, ist also eine Fortsetzung dieser Bündnispolitik. Bei der Lösung des internen Konflikts im Jemen setzte der GCC auch im Sommer 2011 noch auf eine diplomatische Lösung und moderierte zahlreiche Gespräche.
Der GCC erinnert in vielem an die EU. Deren erklärte Ziele waren ebenfalls von Anfang an der gemeinsame Wirtschaftsraum sowie die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Und die Nachbarländer der Gründerstaaten gehörten einer feindlichen Allianz an – Polen, Tschechien, Rumänien und Bulgarien. Heute sind diese Länder vollwertige EU-Mitglieder. Auch wenn es manchem unvorstellbar erscheint, so ist es möglich, dass der Irak noch in diesem Jahrhundert dem GCC beitritt. Der Jemen, im 20. Jahrhundert und derzeit schon wieder Bürgerkriegsland, ist in der Entwicklung noch weit hinter seinen Nachbarn zurück, hat seine Mitgliedschaft im GCC bereits beantragt. Die Vereinigung der Golf-Staaten ist nicht nur für das arme Nachbarland attraktiv, sondern auch für die USA und Europa. Die GCC-Länder sind deren wichtigste Handelspartner im Mittleren Osten, auch der wichtigste politische Verbündete, da die Systeme dort stabil sind und dem Westen gegenüber aufgeschlossen. Wenn sich der Irak von den Schäden des Krieges und seinen inneren Konflikten erholt, ist selbstverständlich auch er Beitrittskandidat. Dann steht eine GCC-Nord-West-Erweiterung an – dort liegen die arabischen Bruderländer Jordanien, Syrien und Libyen. Durch die gemeinsame, Jahrhunderte alte, wenn auch manchmal brüchige und changierende arabische Identität sowie die gemeinsame Sprache hätte diese Staatengemeinschaft der EU etwas voraus: Eine religiöse, kulturelle und sprachliche Verbundenheit über die Grenzen sämtlicher Mitgliedsstaaten hinweg, eine gewachsene gemeinsame Vergangenheit. Das Arabische.
Der Staatenbund am Golf, mit Saudi-Arabien und seinen kleinen Nachbarn, kann gar nicht unterschätzt werden. Nicht die Arabische Liga oder die OPEC, sondern der GCC ist derzeit die Schlüsselorganisation für internationale Beziehungen in der Golfregion. Golf-Arabien ist nicht nur eine wirtschaftliche Boom-Nation, sondern ist auch Wachstumskern einer neuen golfarabischen Identität. In vollem Bewusstsein dieser Tatsache positionieren sich die Golfstaaten selbstbewusst und mit betontem Stolz auf der politischen und kulturellen Weltkarte. Für seine Nachbarländer ist dieser Bund überaus attraktiv, ebenso wie es die EU für ihre Nachbarländer ist. Eine Erweiterung des Bundes kann als sicher gelten, unabhängig davon, wie die derzeitigen Unruhen und Umbrüche die politische Landschaft in der arabischen Welt verändern werden. Eine wichtige Rolle spielt in diesem politischen Restrukturierungsprozess der Iran, der qua Definition zunächst einmal von einem Beitritt zum GCC ausgeschlossen scheint. Es ist ein Bündnis arabischer, nicht islamischer oder ölfördernder Staaten. Eine Annäherung an den GCC findet unter der aktuellen iranischen Führung derzeit nicht statt. Stattdessen versucht der Iran, sich als eigene zentralasiatische Großmacht zu positionieren, seinen Einflussbereich eher nach Osten auszudehnen in Richtung Afghanistan und der ehemaligen Sowjetrepubliken an der Seidenstraße – Turkmenistan, Usbekistan, Tadschikistan, Kirgistan, muslimische Länder, die derzeit inmitten verschiedener Machtblöcke liegen. Auch in Richtung Syrien, Jordanien und Libanon strecken sich schon jetzt die Beziehungen des Iran. Diese sind aus einer langen Tradition des Kontakts mit den schiitischen Gemeinden in diesen Ländern mit dem Iran gewachsen. Die meisten schiitischen Geistlichen aus der Levante absolvieren zumindest einen Teil ihres Studiums im Iran. Ob sich der Iran in Zukunft wirklich als Zentrum eines eigenen Machtblocks wird etablieren können oder ob er sich am Ende doch dem GCC anschließt, wird die Zukunft zeigen. Gemeinsam wäre man deutlich stärker.
GCC-Arabien ist eine Zukunftsregion, die Staaten am Golf wirtschaftlich, kulturell und politisch keine Entwicklungsländer. Das historische Kameltreiber-Stigma haben die Bewohner so satt wie das Klischee vom dekadenten Ölscheich, der in Nachthemd und Sandalen herumschlurft und vier vermummte Ehefrauen hinter sich her zieht. Das seit dem 11. September 2001 im Westen zur Feindbildkonditionierung grassierende Image vom bärtigen, turban-tragenden Terror-Baraber ist ebenso Quelle von Ver- und Überdruss. Als moderne und doch traditionsreiche Nationen wollen sich die GCC-Staaten der Welt zeigen, mit Stolz und Wachsamkeit ihre arabische Kultur präsentieren und gegen wirtschaftliche und kulturelle Verwestlichung oder soziale Veröstlichung durch indische Einwanderer abschotten, zugleich aber weltoffen sein. Bisher gelingt dieser Weg. Er erinnert an die vielzitierte »Symbiose aus Laptop und Lederhosen«, 1998 vom damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog als Definition des modernen Bayerntums geprägt. Was ist also ein Golf-Araber? Eine Symbiose aus SMS und Sandalen, Kapitalismus und Koran, Ferrari und Falkenjagd.
»YES, MA’AM!« WENN ich diesen Gruß höre, drehe ich mich inzwischen schon nicht einmal mehr nach dem Grüßenden um. Oder gehe einfach an ihm vorbei, als hätte ich nichts gehört oder gesehen. Es ist nämlich in Wirklichkeit gar kein Gruß, sondern ein Vorspiel. Zum Nervensägen. Als nächstes folgt »Please, Ma’am!«, und dann »Where you from?«. Wer antwortet, hat schon verloren. Denn als nächstes kommt entweder, ob man eine Rolex, gefälschte DVDs oder weißen Weihrauch kaufen möchte, einen Guide oder ein Taxi braucht, ob man in einem Lokal essen möchte, oder sonst irgendein Angebot zum Geld ausgeben. Für die Herren heißt die Anrede übrigens »Yes, Sir!«. Manchmal hört man auch »Yes, Madame!«. Nach Aufenthalten, die länger als eine Woche dauern, sammelt sich für jedes einzelne »Yes, Ma’am« ein Tröpfchen Aggression in meiner Magengrube, und irgend einer dieser Typen – oder auch Damen, aber meistens sind es Männer – bekommt gegen Ende des Aufenthaltes den gesammelten Zorn als Beschimpfungswelle vor die Füße gespült.
Wer als Tourist an den Golf kommt, wird sich vor den »Yes, Ma’am«-Nervensägen kaum retten können, denn sie sind überall da, wo auch Touristen sind, bei denen Geld zu holen ist. Die »Yes, Ma’am!«-Typen gibt es aber natürlich auch in Usbekistan, Marokko und in der Türkei. Man wird nur mit ihnen ins Gespräch kommen, wenn man gerade Bedarf an einer »biutiful watch« hat.
Alles andere als ein Verkaufsgespräch stellt eine interkulturelle Herausforderung dar. Wegen der vielen Nationalitäten, die in den Golfstaaten zusammenleben, hat sich Englisch als Geschäftssprache eingebürgert, wenn auch nicht das Englisch, das in England gesprochen wird, sondern ein internationaler Kauderwelsch, schnatternd wie Tagalog und rappelnd wie Hindi, manchmal schwer zu verstehen. Weil jeder fremd ist, sieht es jeder jedem nach, wenn man sich mal nicht versteht. Sehr einfach. Wer Arabisch spricht, aber nicht arabisch aussieht, wird meistens automatisch Antworten auf Englisch bekommen. Auf dem Land und in Kuwait City, wo einige Expats Arabisch gelernt haben, kann es passieren, dass man jemanden in Englisch anspricht und die Antwort auf Arabisch bekommt.
Smalltalk mit Golf-Arabern und anderen beginnt in 99 Prozent der Fälle mit »Where you from«, alternativ in der golf-arabischen Sprache: »Min wayn anta?« – »Von wo Du?«. In der internationalen Gesellschaft am Golf mit seiner sozialen Hierarchie ist die Herkunft ein wichtiges Merkmal, um das Gegenüber zu klassifizieren. Würde man statt Deutschland »Sri Lanka« sagen, wäre das Gespräch deutlich schneller beendet. Der Name kommt erst danach, es sei denn, man wird jemandem vorgestellt. Am Golf genügt grundsätzlich der Vorname, denn Nachnamen bedeuten in der arabischen Welt zunächst wenig – was dem westlichen Ohr wie ein Nachname erscheint, sind die Vornamen des Vaters und Großvaters sowie der allgemeine Clan-Name wie bei den Herrscherhäusern al-Thani, al-Nahyan oder al-Sabah. Letzterer verrät, aus welcher Familie jemand stammt und wie hoch daher seine soziale Stellung ist; im Alltag wird dieser Clan-Name jedoch kaum verwendet. Auch ein politisch einflussreicher Multi-Millionär wird sich selbst vorstellen mit: »My name is Mohammed«, Beamte und Polizisten spricht man im Arabischen ebenso mit Vornamen an; spricht hingegen man Englisch, heißt ein Polizist nicht »Rashid«, sondern »Mister Rashid«. Es gibt in der arabischen Welt, wie in den meisten Kulturen, keinen Unterschied zwischen »Du« und »Sie«. Nur für Angehörige des Herrscherhauses gilt die Anrede »Hoheit« (»your Highness«).
Egal, ob man von Bekannten vorgestellt wurde, man über das Geschäftliche in Kontakt kommt oder in einer Dubaier Bar angesprochen wird – immer, immer, immer ertönt als erste Frage »Where you from?«. Gäbe es für jedes nicht ausgesprochene »are« einen Dirham oder Dinar, man könnte wohl reicher werden als jeder Ölscheich. Nach der Antwort wird stets das Herkunftsland gelobt und betont, dass man entweder selbst schon dort war und es großartig fand oder jemanden kennt, der schon dort war und es großartig fand. Das Heimatland des Gesprächspartners im Gegenzug zu loben empfiehlt sich daher dringend. Nicht in geschäftlicher, aber in entspannter oder auch in ungebildeter Runde ertönt bei der Erwähnung Deutschlands gerne einmal: »Ah! Germany! Good Country! Heil Hitler!« Wer hier nun mit einer Gardinenpredigt und einem Kurzvortrag zur deutschen Geschichte beginnt, landet schnell bei einem weiteren beliebten Smalltalk-Thema, nämlich Verschwörungstheorien. Man hört dann gelegentlich, dass das mit dem Holocaust ja gar nicht so stattgefunden habe, sondern die Berichte darüber eine Erfindung der zionistischen Weltverschwörung seien, um Deutschland Geld abzupressen. Über Verschwörungen zu reden ist als Smalltalk-Thema noch beliebter als das Wetter. Auch der historisch noch so fundierteste Hinweis hat gegen die kursierenden Gerüchte einer jüdischen Weltverschwörung keine Chance. Wer viel reist, hat solche Sprüche aber auch schon anderswo gehört, in Nordafrika oder Zentralasien, in den USA gar. Durchatmen, Thema wechseln oder gehen.
Viele sind aus anderen Gründen von Deutschland angetan: »Germany! Great Cars!« oder »Germany! Ahhh, Germany. Schuhmacher. FC Bayern.« Deutsche sind gerne gesehen am Golf, und man begegnet wenigen Vorurteilen oder Ressentiments, außer dem, dass man besonders genau, organisiert und pünktlich sei. Werte, die in der arabischen Welt irgendwie unwichtig sind, weshalb sie nicht einmal als Vorurteil taugen.