Timm Kruse
Weder
geschüttelt noch gerührt
Mein Jahr ohne Alkohol
Ein Selbstversuch
Titel der Originalausgabe: Weder geschüttelt noch gerührt.
Mein Jahr ohne Alkohol.
Ein Selbstversuch
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2018
Alle Rechte vorbehalten
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Dieses Werk wurde vermittelt durch die
AVA internationale GmbH Autoren- und Verlagsagentur, München.
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Umschlaggestaltung: Gestaltungssaal
Umschlagmotiv: © Frank Molter Fotografie
E-Book-Konvertierung: Daniel Förster, Belgern
ISBN (E-Book): 978-3-451-81248-4
ISBN (Buch): 978-3-451-60056-2
Für Euch. Alle
Vorsicht – lesen kann süchtig machen
»There can be nothing more frequent than an occasional drink«
Oscar Wilde
Vorab
Der Test
Erstes Quartal
RAUSCHANGRIFF
Voll im Leben
Feierabend
Liebesrausch
Zweites Quartal
staubtrockene Monate
Die höhere Macht
Die Leere in mir
Halb voll
Drittes Quartal
Das volle Programm
Nüchtern war neulich
Fahnenflucht
Rausch und Stille
Viertes Quartal
die breite Masse
Von Dichten und Trinkern
Im Rausch der Macht
Das Jahr ist voll
Freizeit
Schlusserklärung
Belege und Literatur
Bei der Niederschrift dieses Buchs habe ich mich auf mein Gedächtnis, mein Tagebuch, Tipps von Freunden und Bekannten und eine Menge Recherche gestützt. Mein Umfeld mag die Geschehnisse anders in Erinnerung haben – aber so ist das, wenn man frei von der Leber weg schreibt.
Personen und Geschichten sind alle real. Einiges musste ich weglassen. Wahrheitsgehalt und Substanz bleiben aber gewahrt. Fast alle Namen, Verwandtschaftsgrade, freundschaftlichen und beruflichen Beziehungen habe ich verändert. Auch die zeitlichen Abläufe und Details über Personen und Orte musste ich modifizieren, damit die erzählerische Stringenz funktioniert und die Anonymität meiner schluckenden Umgebung halbwegs gewahrt bleiben – niemand hat mich gebeten, in diesem Buch aufzutauchen; eher im Gegenteil.
Auf Fußnoten habe ich verzichtet, weil diese den Lesefluss stören. Im Kapitel »Belege und Literatur« habe ich die wichtigsten Informationen und Buchtipps aufgelistet, die mir als fachliche Grundlage beim Schreiben gedient haben. Diese wurden für den literarischen Konsum aufbereitet und nicht für den fachlichen – ich bin schließlich kein Wissenschaftler.
Keine Staus. Keine Termine.
Keine Hektik. Kein Stress.
Keine Kompromisse. Kein anderes Buch
Dieser eine Abend sollte alles verändern: Es ist Karneval, die Jecken grölen draußen bei Schneeregen zu Blasmusik, und ich sitze in der Wohnung meines damals besten Freundes und schüttle den Kopf.
»Du kannst dich nicht als Tarzan verkleiden. Nur mit Lendenschurz. Es sind drei Grad draußen.« Zur Bekräftigung leere ich mein Bier.
»Natürlich kann ich! Da sind genug Menschen, die mich wärmen«, sagt der Freund und lacht lauter als nötig. »Wird geil!« Er zupft seinen Schurz zurecht und kneift die Augen zu, denn der Rauch des Joints, der in seinem Mundwinkel klebt, zieht direkt in sein Gesicht. »Wir leben in einem freien Land. Und dieses Kostüm soll provozieren. Dafür bietet der Karneval die perfekte Plattform.«
»Ob du dich als Tarzan verkleiden darfst oder nicht, sei mal dahingestellt«, sage ich. »Es ist arschkalt und noch dazu peinlich. Darum geht es.«
In dem Moment muss ich zugeben, dass die Verkleidung ziemlich gelungen ist, wenn auch angeberisch – Johnny Weissmüller selbst sah in den Tarzan-Filmen nicht besser aus. Der muskulöse Körper, der Lendenschurz und vor allem die Fell-Pantinen sind die auffälligste Verkleidung, die Mainz seit Jahren gesehen hat.
»Das wird der Hammer. Glaub mir.« Ich nicke und glaube ihm.
Der Freund, der halbnackt durch die Nacht ziehen möchte, heißt Winfried – was sich seine Eltern dabei gedacht haben, weiß er selbst nicht. Mit dem Namen hätte er sich besser als Hermann der Cherusker verkleiden sollen. Vielleicht ist sein Auftritt der simple Protest gegen seinen Namen, das spießige Elternhaus und diese ganze bekloppte Welt, in die er geboren wurde.
»Und außerdem passt du perfekt zu meinem Kostüm. Ich Tarzan, du Jane«, sagt er und trommelt sich mit den Fäusten auf die Brust.
Ähnlichkeit mit Jane habe ich allerdings keine. Wie jedes Jahr trage ich eine riesige Tina-Turner-Perücke, habe Gesicht und Hände schwarz angemalt und Zeitungsballen als Brustimitate unter mein Hula-Hula-Kostüm gestopft. Meine dürren langen Beine stecken in einer schwarzen Strumpfhose. Dazu trage ich Stöckelschuhe.
Dass ich mal Fußballer war, sieht man längst nicht mehr. Selbst Homophobe werden im Laufe des Abends eine Millisekunde zu lang auf meine Stelzen starren. Ich liebe Karneval, weil ich hier in den Massen und ihren Masken verschwinden kann. Außerdem bin ich schwarz angemalt attraktiver als in natura. Als Kind sah ich aus wie Michael Jackson ohne Farbe. Heute sehe ich aus wie Daniel Craig auf Crack.
Win hat mich zum Vorglühen eingeladen. Ich habe Döner mitgebracht. Dazu zwei Sixpacks und ein bisschen Gras. Später wollen wir uns noch mit Freunden treffen und die Nacht auf einer illegalen Technoparty am Rhein durchmachen.
Wir haben uns bei SAT.1 kennengelernt und sind im Laufe der Jahre Freunde geworden. Was uns verbindet? Alkohol und Kiffen. Ohne diese Freizeitbeschäftigungen wären wir wahrscheinlich keine Freunde. Aus den riesigen Boxen wummert irgendein moderner Beat, es klingt wie Pink Floyd auf Französisch. Auf dem Wohnzimmertisch liegt die Süddeutsche. Daneben Zeitschriften: GQ, Hustler, Walden. Während Win neue Musik sucht, blättere ich aus Langeweile durch den Stapel.
»Trinken Sie zu viel?«, lese ich. »Machen Sie jetzt den Test.« Klar trinke ich zu viel, denke ich sofort. Aber nicht mehr als der Rest meiner Freunde, Verwandten und Kollegen. Ganz normal halt.
»Win«, rufe ich. »Hast du Lust auf einen Alki-Test?«
»Geil. Hast du so ein Gerät dabei?«
»Nein. Hier in der Zeitschrift ist so ein Test. Sieben Fragen verraten, ob du ein Säufer bist.«
»Von mir aus«. Win saugt ein letztes Mal an dem Joint, verzieht sein Gesicht, als hätte ihm jemand einen Bunsenbrenner an die Nasenwurzel gehalten und lässt den glühenden Stumpen in seine leere Bierflasche rutschen.
»Hörst du zu?«, frage ich. »Erste Frage.«
Ich bin neugierig und ein bisschen aufgeregt. Win setzt sich neben mich.
»1. Wie oft haben Sie im vergangenen Jahr Alkohol getrunken?« Die Antwortskala reicht von eins bis fünf. Unsere Antwort auf diese erste Testfrage ist klar: »Antwort fünf – viermal im Monat oder häufiger.« Wir lachen, denn wir haben die volle Punktzahl erreicht. Das gelingt uns sonst im Leben eher selten.
»2. Wie viele Gläser trinken Sie pro Tag?«
Wir schauen uns an. »Gar nicht so einfach«, sagt Win. »Man trinkt ja nicht jeden Tag.« Also müssen wir die Gläser unserer wöchentlichen Besäufnisse durch sieben Wochentage teilen.
»Antwort drei – fünf bis sechs Gläser.« Denn auf Partys trinken wir mindestens drei Liter Bier, mehrere Gläser Hugo, Wein oder Sekt, ein paar Longdrinks und Kurze. Das sind an einem langen Partyabend mehr als 30 Gläser – hinzukommen die Drinks an ruhigeren Abenden. Vielleicht hätte auch Antwort vier gepasst: »Sieben bis neun Gläser pro Tag.« Egal.
»3. Wie oft trinken Sie sechs oder mehr Gläser Alkohol pro Tag?«
»Antwort vier – einmal die Woche.«
»Mindestens«, lacht Win.
»4. Wie oft brauchten Sie schon morgens ein alkoholisches Getränk, weil Sie zuvor stark getrunken hatten?«
Das ist einfach: »Antwort eins – nie.«
»5. Wie oft konnten Sie sich im vergangenen Jahr nicht mehr an die Ereignisse der letzten Nacht erinnern, weil Sie Alkohol getrunken hatten?«
Wir lachen. Das kam häufiger vor, war aber kein Problem.
»Drei – einmal im Monat.«
»6. Haben Sie sich oder einen anderen Menschen schon einmal verletzt, weil Sie Alkohol getrunken hatten?«
Wir überlegen. Ich war schon häufiger betrunken in eine Schlägerei geraten und hatte mir unter anderem dabei die Hand gebrochen. Und Win ist vor Jahren über ein Geländer gestürzt und hat sich eine Platzwunde zugezogen. Also »zwei – ja, aber nicht im vergangenen Jahr.«
»7. Hat Ihnen schon einmal ein Verwandter, Freund oder Arzt geraten, weniger Alkohol zu trinken?«
»Nö«, meint Win, ohne zu zögern.
»Mir schon«, sage ich. »Mich hat mal ein Kollege gewarnt, dass ich zu viel saufen würde. Allerdings halb im Spaß.«
Wir einigen uns auf »Antwort zwei – ja, aber nicht im vergangenen Jahr.«
Zusammengerechnet kommen wir auf 21 Punkte. Wir sind in der höchsten Spalte gelandet: »Schädlicher Konsum – Ihr Alkoholkonsum gibt Anlass zur Sorge. Sie sollten sich an Ihren Arzt oder eine Beratungsstelle wenden.« Scheiße!
Aber wir liegen nur einen Punkt über der etwas besser klingenden Kategorie: »Riskanter Konsum – nach Ihren Angaben ist es wahrscheinlich, dass Alkohol bereits zu viel Raum in Ihrem Leben einnimmt.«
Win und ich gucken uns belämmert an. »Lieber tot als nüchtern«, sagt Win und lacht; es klingt unheimlich.
Ein paar Monate später sitze ich auf meinem Sofa und schaue Casino Royal, meinen Lieblings-Bond mit Daniel Craig. In diesem Film säuft mein Held mehr als ich in meinen besten Tagen – und bleibt stocknüchtern. Er kann nach gefühlten zwölf Martinis immer noch Menschen auf große Distanz erschießen, Frauen stundenlang beglücken und in Extremsituationen absolut schlagfertig reagieren. Er ist unverletzlich – dank oder trotz des geschüttelten und nicht gerührten Martinis? Er braucht kaum Schlaf, steht ohne Kater auf, sieht perfekt aus, ist ausgeglichen, kultiviert und stets wohlerzogen. Er vermittelt das klare Bild: Alkoholiker sind die anderen. Die Schwachen. Die, die er besiegt.
Die James-Bond-Sieger-Mentalität trifft in keiner Weise auf mich zu. Die Diskrepanz zwischen 007 und mir könnte größer nicht sein. Während des Films wird mir plötzlich klar, dass ich genug habe: genug davon, meine Lebensfreude von diesem Zeug abhängig zu machen. Genug davon, ständig voll und dann verkatert zu sein. Seit ich die 30 überschritten habe, wirft mich der Kater länger aus dem Rennen, als vertretbar wäre. Die Freuden gleichen die Leiden nicht mehr aus. Wie James Bond das macht, ist mir ein Rätsel – ach ja: Den gibt es ja nur im Film!
Apropos Film. Ich habe auch genug von Filmrissen. Genug, nicht ich zu sein. Genug davon, mit Frauen im Bett zu landen, die ich nicht mag. Genug davon, nicht mit Frauen im Bett zu landen, die ich mag. Genug davon, ein Partymensch zu sein. Ich habe genug davon, genug zu haben. Genug davon, besoffen mit Leuten Stress zu haben. James Bond hat zwar auch permanent Stress. Aber er ist nun mal im Auftrag der Queen unterwegs und muss die Welt retten. Ich habe im Leben noch nie einen ernst zu nehmenden Auftrag gehabt.
Der dritte und entscheidende Moment ereignete sich wenige Wochen darauf – und kam aus dem Nichts. Ich hatte mal wieder einen Totalabsturz hinter mir und war mit einer Frau im Bett gelandet, die drei Brustwarzen hatte, insgesamt höchst abstoßend aussah und noch schlimmer roch. Bevor es richtig zur Sache ging, kam ich zur Besinnung und erklärte höflich, dass ich einen Fehler gemacht hätte, zog mich an und torkelte quer durch die Stadt nach Hause. Ich ekelte mich vor mir selbst, wollte kein Taxi nehmen, sondern durch den Marsch ein bisschen klarer werden. Als ich zu Hause ankam, versuchte ich, mich nüchtern zu duschen, putzte mir die Zähne und schaute dabei lange in den Badezimmerspiegel: »Wer sind Sie?«, hätte ich fast gefragt. Diese Person war nicht ich. Leider war es auch nicht James Bond, sondern ein Fremder, der sich da in mein Badezimmer geschlichen hatte. Im Spiegel betrachtete ich mein gealtertes, süchtiges Selbst. Ein Selbst, von dem ich genug hatte und das ich nicht mehr sein wollte. Auf einmal war ich vollkommen nüchtern, und es war glasklar: Mein Leben musste sich jetzt endlich ändern.
Der Alkoholtest, die James Bond-Erkenntnis, der Blick in den Spiegel verwoben sich zu der Idee: ein Jahr lang kein Alkohol! Für meine Leber bedeutet das: 365 Tage Urlaub. Sie hat sich das verdient – und ich oder die Person im Spiegel auch. Ich erfinde mich einfach neu.
Also presche ich voran und lege als Erster – und Einziger in meinem Umfeld – ein Päuschen ein. Wenn James Bond die Welt retten kann, dann kann ich doch wenigstens mich selbst retten!
Ein rauschfreies Jahr – die erste durchaus naheliegende Frage drängt sich auf: Hält man das überhaupt aus?
Ich habe Angst.
Manchmal muss es eben ein Buch sein
Mein Jahr ohne Alkohol beginnt in der Ferne: Ich wache auf und brauche mehrere Sekunden, um herauszufinden, wo ich eigentlich bin. Dann dämmert es – im wahrsten Sinne. Ein Morgenschimmer breitet sich über die Welt und dringt durch das winzige Fenster. Ich liege in einer kleinen Kammer neben einem Kloster am Fuße des Sinai. Neben mir mein Bruder. Sein Schnarchen hat mich geweckt. Es ist Neujahr und ich bin zum ersten Mal in meinem erwachsenen Leben am 1. Januar nicht verkatert. Dies liegt aber nicht an meinem Vorsatz, sondern daran, dass wir uns vorgestern so besoffen hatten, dass wir gestern, an Silvester, zu nichts mehr in der Lage waren. Immerhin beginne ich somit das Jahr tatsächlich nüchtern und nicht nüchtern-werdend.
Es muss kurz nach sechs Uhr früh sein. Draußen ist es schon so warm, dass ich mich in Shorts auf eine kleine Holzbank setze und zu den Bergen hinaufschaue. Die Stille ist vollkommen. In meinen Ohren piept’s – wie immer, wenn es leise ist. Die Luft ist klar und frisch. Meine Stimmung ist fast euphorisch, weil ich weiß, dass dieses Jahr anders sein wird als alle Jahre seit der Pubertät.
Mein Leben war bisher eine mittlere Katastrophe mit knappen, grellen Highlights, die sich über die Schatten legten. Als wollten die lichten Momente der Ekstase und Erfolge die Dunkelheit übertünchen. Hätte mich jemand gefragt, ob ich glücklich sei, hätte ich immer mit »Ja« geantwortet. Vor allem wollte ich der coole Troublemaker sein, unangepasst leben und mein Ding machen. Glücklich – das weiß ich heute – war ich dabei noch nicht mal halb. Ein Drittel glücklich vielleicht. Mehr nicht. Und das reicht nicht für ein ganzes Leben.
James Bond ist auch nicht immer glücklich; bei ihm läuft eine ganze Menge schief. Doch am Ende gewinnt er. Immer. Und genau das Gefühl fehlt mir. Seit Jahren leide ich sporadisch unter seltsamen Angststörungen, manchmal schwappen Selbstmordgedanken durch mein Unterbewusstsein, ohne dass ich wüsste, woher sie kommen – ich ignoriere sie einfach.
Grob geschätzt, habe ich mehr als 100 Badewannen voll Bier getrunken, 300 Waschbecken Wein, 70 Kühlschränke Sekt, acht Kellerregale Rum, Whiskey, Schnaps und was es sonst noch an Hochprozentigem gibt. Ich hätte nie gedacht, dass ich 30 Jahre alt werden würde; so intensiv und exzessiv war mein Lebensstil. Ich habe einen Heuschober voll Gras durch meine Lungen gezogen, LSD, Speed und Koks ausprobiert. Und damit war ich noch nicht einmal der Schlimmste in meinem Umfeld. Sondern nur einer von vielen. Außerdem habe ich eine Beziehung nach der anderen verschlissen, Menschen verprellt und Jobs versiebt. Nicht wegen des Saufens – eher wegen Unstetigkeit, Überheblichkeit, Nonkonformität.
Inzwischen habe ich meine eigene Medienproduktionsfirma gegründet und drei Mitarbeiter eingestellt, die ich, bei schlechter Auftragslage, an den NDR vermiete. So etwas nennt man woanders Menschenhandel – aber ich werde mich bemühen, ein guter Sklaventreiber zu sein. Zum ersten Mal in meinem Leben trage ich wahrhaftig Verantwortung – noch etwas, das ohne Alkohol vermutlich besser geht. Es wäre unerträglich, drei Menschen mit insgesamt vier Kindern eines Tages auf die Straße setzen zu müssen. Bei mir arbeiten ein Cutter, ein Kameramann und ein Toningenieur; sie vertrauen mir – seltsamerweise. Gesoffen haben alle schon mit mir.
Vor Jahren, als ich noch Reporter bei SAT.1 war, bekamen wir einen neuen Kollegen. Der Typ trank keinen Alkohol. Wie wir ihn verachteten! Verspotteten! Was für ein Langweiler! Ich habe ihn nie näher kennengelernt, ihm nie eine Chance gegeben. Auch seinen Namen habe ich vergessen. Einer, der nicht trinkt, hatte mit mir und meiner Medienwelt nichts zu tun. Er wurde von uns abgestempelt wie ein Fahnenflüchtiger, verließ nach einem Jahr den Laden und ging zum ZDF. Da wird meines Wissens allerdings nicht weniger gesoffen als bei den Privaten. Was wohl aus dem Typen geworden ist? Fand er uns genauso seltsam wie wir ihn?
Jetzt werde ich also selbst zu einem solchen Langweiler; einem, der das alles nicht mehr mitmacht. Einer, der Alkoholfreies trinkt. Dass ich nicht für immer, sondern nur für ein Jahr verzichten will, liegt daran, dass ich mir ein ganzes Leben ohne Alkohol einfach nicht vorstellen kann. Alkohol gehört zu sehr in unsere Gesellschaft und in mein Leben. Für immer ohne – das ist nicht denkbar. Nie mehr betrunken auf Partys gehen? Nie mehr an Weihnachten zuprosten? Nie mehr besoffen Sex haben? Nein – das geht nicht. Ein Jahr ist das absolute Maximum!
Meinen Freunden und den engsten Kollegen habe ich von meinem Plan erzählt. Fast alle zogen bewundernd die Stirn in Falten und hielten mein Ansinnen für ehrenhaft, aber unerfüllbar.
»Überleg mal, wie oft du Nein sagen musst!«, sagte ein Freund. »Auf Familienfeiern, bei jeder Einladung, beim Fußballgucken, nach dem Sport, an Silvester, Karneval, Geburtstagen, Klassentreffen, Ausflügen, Arbeitsterminen, Weinfesten – die Liste hört gar nicht mehr auf. Wie soll das gehen?«
Ich zuckte die Achseln. »Muss halt«, antwortete ich etwas eingeschüchtert.
Ein anderer fragte: »Warum willst du das machen?«
Ich so: »Och, ich mag Selbstversuche. Ist doch auch spannend, mal zu sehen, wie es ohne ist. Oder? Ich habe es vor zehn Jahren ja auch geschafft, am 1. Januar mit dem Rauchen aufzuhören, und es war eine der besten Entscheidungen meines Lebens. So ähnlich darf es gerne mit dem Alkohol laufen.«
»Du weißt,« sagte er, »dass nur Leute, die ein Alkoholproblem haben, Alkoholpausen einlegen, oder?« Blöd, dass Journalisten immer so schlaue Fragen stellen. Auf die Schnelle fiel mir kein Gegenargument ein. »Es hören ja auch nur Raucher auf zu rauchen. Und nur Dicke machen eine Diät.«
Ich nickte. »Vielleicht bin ich jemand mit einem kleinen Problem. Ein bisschen dick – um im Bild zu bleiben.«
»Ein bisschen«, sagte er spöttisch. »Mindestens ein bisschen.« Was sollte das heißen? Wollte er mir sagen, dass ich ein Alkoholproblem habe? Ich traute mich nicht nachzufragen. Alkoholprobleme sind immer noch ein Tabuthema – wer spricht Säufer schon direkt auf ihr Problem an? Wusste mein Umfeld, dass ich zu viel soff, und keiner sagte es mir? Ich hatte noch nie den Führerschein verloren, lebe nicht unter einer Brücke und war in meinem Berufsleben halbwegs erfolgreich. Unter einem Alkoholiker verstehe ich etwas anderes. Was ist überhaupt ein Alki? Und wer definiert das?
»Alkohol ist für Feiglinge – wer richtig cool ist, zieht sich die Realität rein«, habe ich irgendwo gelesen. 365 Tage nüchtern zu bleiben ist jetzt mein Ziel, ohne zu wissen, was mich erwartet. Dass dieser simple Verzicht meinem Leben einen neuen Anstrich geben könnte, ist einkalkuliert. Und so sitze ich an meinem ersten nüchternen Tag auf dieser Bank am Sinai und denke an vorgestern – an mein vorerst letztes Besäufnis. Am 30. Dezember begannen mein jüngerer Bruder und ich schon am Nachmittag in einer zugigen Bar am Roten Meer, uns gezielt zu besaufen. Für mich war es der bewusste Abschied von einer Epoche.
Wir tranken jeder mehrere Liter Bier und eine ganze Menge Longdrinks. Dazu zogen wir unzählige Wasserpfeifen durch. Natürlich rauchten wir auch ein paar Tüten. Es war schwierig, bei dem Wind Joints zu bauen und das Gras nicht an den Sand oder das Rote Meer zu verlieren. Fürs Kiffen war immer ich zuständig. Fürs Saufen mein Bruder. Ich kann Joints rollen, die perfekt und faltenfrei und luftig sind. Er kann guten von schlechtem Hochprozentigen unterscheiden, achtet stets darauf, dass Gläser nie leer werden, und gibt Kellnern das Gefühl, einen anerkannten und edlen Job zu verrichten.
Als die beiden Monde über Jordanien auf der anderen Seite des Roten Meeres erschienen, waren wir glücklich. Überbordend glücklich. Der Wind hatte mit dem Sonnenuntergang nachgelassen. Es wehte ein Hauch aus tausendundeiner Nacht über unsere Köpfe. Die Sterne bildeten ein Zelt, und wir wussten, dass unser Leben das größte Geschenk in diesem überwältigenden, unbegreiflichen Universum war. Ich schaute meinen Bruder an. Er lächelte mit einem Mundwinkel. Nicht, weil er cool sein wollte, sondern weil er das Wunder auch nicht begreifen konnte. Besoffen erst recht nicht. Unsere Liebe zum Leben wurde erst durch die Trunkenheit voll aktiviert. Romantiker würden es eine Liebesgeschichte nennen. Zyniker auch.
Alle Sorgen waren verschwunden, Ängste und Unsicherheiten gibt es in diesem Zustand nicht. Und da wir so grandios in Form waren, erlebten wir für einen Augenblick ein Gefühl der Unendlichkeit. Unsterblichkeit. Einen Moment des reinen Lebens in diesem uralten Ägypten mit seiner antiken Welt und dem aquariumgleichen Meer. Durch diese kurzen, totalen Momente des Rauschs konnte ich etwas erfahren, das man vielleicht Göttlichkeit nennen könnte.
Danach kippte alles. Das Gefühl des uneingeschränkten Glücks war ein letztes Aufflackern, bevor der Rausch zuschlug und alles vernebelte. Das Glück, die Freude und die Unsterblichkeit verschwanden hinter einem Vorhang und tauchten erst einmal nicht wieder auf.
Am nächsten Morgen saßen wir verkatert und apathisch in der letzten Reihe eines röhrenden Busses und sahen Felsen, Wüste und Staub an uns vorbeiziehen. Mir war fürchterlich schlecht. Außerdem litt ich unter eben erwähnten Angstzuständen. Ich musste ständig meinen Puls kontrollieren, testen, ob mein Herz noch schlug. Seit vor Jahren beim Basketballspielen einer meiner Mitspieler tot umgekippt war, habe ich eine Herzphobie entwickelt – aber eben nur in verkatertem Zustand. Darüber gesprochen habe ich bisher mit keinem Menschen. Über so etwas spricht man nicht.
Nach fünf oder sechs Stunden Busfahrt erreichten wir ein Kloster am Fuße des Sinai, auf dem Moses die zehn Gebote empfangen hatte. Gegen welches der zehn hatte ich verstoßen, dass es mir an diesem Tag so schlecht ging? Auf jeden Fall gegen das erste: Du sollst keine Götter haben neben mir. An bestimmten Abenden war der Rausch mein Gott.
Mein Bruder und ich bezogen ein kleines Zimmer in einem schäbigen Gebäude ein paar Hundert Meter vom Kloster entfernt. Trotz unseres Katers wollten wir unbedingt noch den heiligen Berg besteigen. Ich war Mitte der Neunziger schon einmal hier gewesen. Damals war ich fast alleine in der Geröllwüste unterwegs. Jetzt teilte ich mir den neu planierten Weg mit meinem Bruder und hunderten Russen. Die Frauen trugen teilweise Stöckelschuhe.
Nach einer Stunde verkrampften sich meine Gedärme. Ich bekam eine entsetzliche Durchfallattacke und schaffte es in letzter Sekunde, mich hinter einem Geröllhaufen zu verstecken, um den Blicken der pilgernden Russen zu entkommen. Ich bekam einen Schweißausbruch, meine Beine zitterten. Doch ging es mir danach endlich besser. Vor allem waren die Angstattacken nach meiner Entleerung verschwunden.
Nach knapp drei Stunden standen wir auf dem Gipfel des Sinai und schauten über eine karge Wüstenlandschaft. Mir stand kalter Schweiß auf der Stirn. Hier gab es nichts mehr zu empfangen. Keine Gebote. Keine Weisheit und keine Einsichten. Moses konnte uns mal. Auf der Rückseite stiegen wir wieder ab. Über Tausende von Stufen, die ein Mönch im Laufe von siebzig Jahren in den Berg gehauen haben und nach Vollendung der letzten Stufe gestorben sein soll.
Unten angekommen, war mein Kater verschwunden. Fast hätte ich schon wieder Bier trinken können. Doch gab es hier zum Glück keinen Alkohol zu kaufen. In der Klosterkapelle setzte ich mich auf einen Schemel und ließ die Atmosphäre auf mich wirken. Etwas Heiliges lag in der Luft, etwas, das ich nicht greifen konnte und doch spürte. In diesem heiligen steinernen Tempel aus dem sechsten Jahrhundert, diesem uralten Ort, schwor ich mir, das Vorhaben »Ein Jahr ohne Alkohol« durchzuziehen – komme, was wolle.
Danach sind mein Bruder und ich völlig erschöpft ins Bett gefallen und erst am Neujahrsmorgen wieder aufgewacht.
»Frohes Neues«, sage ich zu meinem Bruder, als er sich zu mir setzt. Er gibt mir einen Kuss auf die Wange und lächelt.
»Wir haben Silvester verpennt«, sagt er. »Zum ersten Mal.«
»Mit klarem Kopf aufzuwachen hat auch was.« Er nickt.
Wir packen unsere Rucksäcke, wandern ins nächste Dorf, frühstücken gestampfte Foulbohnen mit Fladenbrot und trampen anschließend nach Kairo. Die Tage fliegen dahin. Alkohol spielt seltsamerweise überhaupt keine Rolle mehr. Er passt nicht in diese muslimisch-wuselige Welt. Wir schlafen in Herbergen, essen an Straßenständen, sitzen in Cafés, trinken Tee in Spelunken, saugen die orientalischen Gesänge auf, die lauten Gebete, Korangebrüll. Die Stadt mit ihren 25 Millionen Menschen und 4000 Moscheen ist ein einziger Rausch.
Ein paar Tage später sitze ich zu Hause in Kiel, mein Bruder in Lübeck, und die Erinnerung an diesen abenteuerlichen Urlaub lässt in mir eine Sehnsucht hochkommen, die mich zum Kühlschrank zieht, in dem sich zum Glück kein Bier befindet. Ansonsten hätte ich mein Vorhaben schon am 7. Januar gebrochen.
Wie soll ich je ein Jahr ohne Alkohol durchhalten? Körperlich fehlt er mir nicht. Es ist eine rein geistige Abhängigkeit – ach was: Lust. Mir fällt auf, wie häufig ich an Alkohol denke. Wie ich mir Möglichkeiten ausmale, mich zu besaufen. Ist das auch schon Abhängigkeit?
Wie wird sich mein Leben wohl verändern, wenn ich Zeit, Geld und Energie in diesem Jahr nicht in Flüssiges investiere?
Meine Mitarbeiter begrüßen mich mit »Du siehst aber erholt aus!«, und so fühle ich mich auch. Mittlerweile habe ich seit zehn Tagen keinen Schluck getrunken. Das kam zwar schon häufiger in meinem Leben vor – der Unterschied ist dieses Mal, dass ich weiß: Daran wird sich erst mal nichts ändern. Somit bleiben die Vorfreude und die damit verbundene innere Unruhe aus. Ich fühle mich insgesamt ausgeglichener. Macht sich das Nüchternsein jetzt schon bemerkbar?
Mir ist ein bisschen mulmig. Meine Firma produziert Werbefilme oder überträgt Live-Events. Im Winter haben wir eher weniger zu tun, weshalb ich im Moment ziemlich viel Zeit habe und anfange, zum Thema Alkohol zu recherchieren. Sofort stoße ich auf einen Artikel, in dem der Deutsche Brauer-Bund »hoch die Tassen« ruft, weil die Deutschen wieder mehr Bier trinken. 107 Liter pro Kopf – dazu gratulieren Lobbyisten und Politiker aus der ganzen Republik. Dann entdecke ich das Jahrbuch Sucht der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen. Schon auf der ersten Seite sprechen die Autoren davon, dass die »alkoholbedingten Probleme nach wie vor eine nationale Katastrophe« seien. Sie schreiben von einem »unakzeptablen Drama«. 74.000 Menschen sterben jedes Jahr an der Sauferei – und das sind lediglich die Menschen, die an Leberzirrhose oder dem Alkoholabhängigkeitssyndrom sterben. Krankheiten wie Krebs, Schlaganfälle oder Herzinfarkte, die durch Alkohol ausgelöst werden können, fließen nicht in die Statistik ein. Kann man also davon ausgehen, dass Hunderttausende jedes Jahr am Suff sterben? Fast eine halbe Million Menschen mussten im vergangenen Jahr wegen psychischer Störungen durch Alkohol behandelt werden. Das Zeug kann mehr als 200 Krankheiten und Symptome auslösen. Da habe ich bisher ja noch Glück gehabt.
Ich blättere weiter und stoße auf die Statistik-Hölle: Zehn Millionen Deutsche konsumieren Alkohol in riskantem Maße. Zehn Millionen? Allein in Deutschland? Ich brauche eine Pause und mache mir einen Kaffee. Kann es sein, dass ich die ersten Flocken vom Gipfel eines Eisbergs puste?
Mein Büro liegt in einer Altbauwohnung mitten in Kiel. In den anderen Zimmern sitzen weitere Medienschaffende – Freiberufler wie ich mit kleinen Firmen, die manchmal auch zu wenige Aufträge haben. In der Teeküche sitzt Chris, Pro7-Reporter und heller Kopf.
»Wie viel Alkohol trinkst du so in der Woche«, frage ich ihn.
»Das kommt drauf an«, sagt er. »Und warum willst du das wissen?«
Ich erzähle ihm von den Zahlen, auf die ich gerade gestoßen bin.
»Ich besaufe mich echt selten. Vielleicht ein- oder zweimal im Jahr. Sonst lasse ich es eher ruhig angehen.« Chris hat Frau und Kinder. Vielleicht kann er deshalb nicht so Gas geben wie ich.
»Wenn du dir Freunde und Kollegen anguckst, würdest du sagen, dass jeder sechste von denen zu viel säuft?« Chris überlegt keine Sekunde.
»Mindestens«, sagt er und lacht.
Offenbar ist das Problem allgemein bekannt, wird aber nicht als solches wahrgenommen. Wie kann das sein? Oder spinne ich und steigere mich hier in etwas hinein, nur weil ich seit Kurzem nüchtern bin und jetzt den Moralapostel spielen kann? Ich war zu lange der Saulus, um die Rolle innerhalb von einer Woche abzulegen. Schauen wir mal, ob ich in 365 Tagen zu Paulus werde.
Das Jahrbuch Sucht liest sich weiterhin, als läge das halbe Land breit darnieder: 22.000 Kinder und Jugendliche wurden 2015 im Vollrausch ins Krankenhaus eingeliefert. Alkohol raubt uns Europäern zehn Millionen Lebensjahre. Jeder Deutsche trinkt mehr als hundert Liter Bier im Jahr. In Westeuropa sind wir ungeschlagen – ein »Hochkonsumland«. Wer mehr als zwei Bier oder zwei Gläser Wein am Tag trinkt, gilt schon als »Risiko-Konsument«. Was war ich dann? Und meine Freunde, meine Familie, die Kollegen? Was ist die Steigerung von Risiko? Gefahr, Lebensgefahr, Todesgefahr?
Ich höre auf zu lesen – noch bin ich nicht so weit, den Alkohol komplett zu verteufeln.
Auf meinem Handy poppt eine Nachricht auf – »Eltern« steht auf dem Display. Wir haben eine Kruse-Gruppe, in der meine Eltern, Brüder, die Partnerinnen, Nichten und Neffen Neuigkeiten posten, damit die Familie weiß, wie es jedem geht und wo er gerade ist.
»Wir sind wieder zu Hause und mit Abendbrot, Rotwein und Gin Tonic lassen wir den schönen Urlaub ausklingen«, schreibt mein Vater.
»Das ist schön«, schreibt mein kleiner Bruder, »Abendbrot ohne Gin Tonic ist auch nur halber Spaß«, mein anderer.
Ich bin mir nicht mehr sicher, ob das alles wirklich mit Spaß zu tun hat. Zehn Millionen Säufer in unserem Land – und meine Familie mittendrin? Das kann nicht sein! Bei uns ist doch alles in Ordnung! Wer malt schwarz, und wo beginnt das Problem? Oder muss ich die Frage umdrehen? Anstatt: »Was ist so schlimm am Alkohol?«, besser die Frage stellen: »Was ist eigentlich so geil an dem Zeug?«
Mein erster nüchterner Monat neigt sich dem Ende entgegen. Die Tage sind unendlich lang, weil ich sie nicht mehr an die Nacht verliere. Schon morgens um sechs Uhr bin ich hellwach und schlafe abends um halb elf ein. Anfangs hatte ich leichte Probleme, doch jetzt schlafe ich wie ein Baby. In meiner Partyzeit schlief ich unruhiger und wachte häufig gerädert mitten in der Nacht auf. Jetzt freue ich mich meist auf den nächsten Tag – auch wenn ich überhaupt nicht weiß, was ich mit ihm anfangen soll. Aber immerhin sind es Tage ohne schlechtes Gewissen, ohne Kater und Kopfschmerzen. Tage, die fast immer mit einer klaren und glücklichen Morgenstimmung beginnen, die ich fast vergessen hatte.