2ÜBERTRAGEN VON M. VON MUSIL
3Ich übersetze aus einem italienischen Chronisten den genauen Bericht über die Liebschaft einer römischen Fürstin mit einem Franzosen. Es war im Jahre 1726, und alle Mißbräuche des Nepotismus blühten damals in Rom; niemals war der Hof glänzender gewesen. Benedikt XIII. Orsini regierte, oder vielmehr: es leitete sein Neffe, der Fürst Campobasso unter seinem Namen alle Geschäfte. Von allen Seiten strömten Fremde nach Rom; italienische Fürsten, spanische Granden, noch reich an Gold der Neuen Welt, kamen in Menge, und wer reich und mächtig war, stand dort über den Gesetzen. Galanterie und Verschwendung schienen die einzige Beschäftigung aller dieser Fremden aller Nationen zu sein.
Des Papstes beide Nichten, die Gräfin Orsini und die Fürstin Campobasso genossen vor allen die Macht ihres Oheims und die Huldigungen des Hofs. Ihre Schönheit hätte sie aber auch aus den untersten Schichten der Gesellschaft hervorgehoben. Die Orsini, wie man sie familiär in Rom nannte, war heiter und, wie man hier sagt, disinvolta, die Campobasso zärtlich und fromm, aber diese zärtliche Seele war der gewalttätigsten Leidenschaften fähig. Obgleich sie nicht erklärte Feindinnen waren und nicht nur jeden Tag sich am päpstlichen Hof trafen, sondern sich auch oft besuchten, waren diese Damen Rivalinnen in allem: Schönheit, Ansehen und Glücksgütern.
4Gräfin Orsini, weniger hübsch, aber glänzend, ungezwungen, beweglich und für Intrigen begeistert, hatte Liebhaber, die sie wenig kümmerten und nicht länger als einen Tag beherrschten. Ihr Glück war, zweihundert Menschen in ihren Salons zu sehn und unter ihnen als Königin zu glänzen. Sie lachte über ihre Kusine Campobasso, welche die Ausdauer gehabt hatte, sich drei Jahre hindurch mit einem spanischen Herzog zu kompromittieren, um ihm schließlich sagen zu lassen, daß er Rom binnen vierundzwanzig Stunden zu verlassen habe, wenn ihm sein Leben lieb sei. „Seit diesem großen Hinauswurf“, sagte die Orsini, „hat meine erhabene Kusine nicht mehr gelächelt. Seit einigen Monaten ist es klar, daß die arme Frau vor Langweile oder vor Liebe stirbt, aber ihr gewitzter Gatte rühmt dem Papst, unserm Oheim, diese Langweile als hohe Frömmigkeit. Bald aber wird sie diese Frömmigkeit dazu bringen, eine Pilgerfahrt nach Spanien zu unternehmen.“
Indes war die Campobasso weit davon, ihren spanischen Herzog zu vermissen, der sie während seiner Herrschaft tödlich gelangweilt hatte. Hätte sie ihn vermißt, würde sie ihn zurückgerufen haben, denn sie besaß jenen in Rom nicht seltenen Charakter, ebenso natürlich und unmittelbar in der Gleichgültigkeit wie in der Leidenschaft zu sein. In ihrer exaltierten Frömmigkeit bei ihren kaum dreiundzwanzig Jahren und in der Blüte aller Schönheit widerfuhr es ihr, daß sie sich eines Tags vor ihrem Oheim auf die Knie warf und ihn um den päpstlichen Segen bat, der — was nicht genug bekannt ist — ohne jede vorhergehende Beichte von allen Sünden freispricht, mit Ausnahme zweier oder dreier Todsünden. Der gute Benedikt XIII. aber weinte vor Zärtlichkeit: „Erhebe dich, meine Nichte, du hast meinen Segen nicht 5notwendig, denn du giltst mehr als ich in den Augen des Herrn.“
Aber trotz seiner Unfehlbarkeit täuschte sich Seine Heiligkeit hierin, wie übrigens ganz Rom. Die Campobasso war kopflos verliebt und ihr Geliebter teilte ihre Leidenschaft; und dennoch war sie sehr unglücklich. Schon seit mehreren Monaten traf sie fast jeden Tag den Chevalier von Sénecé, den Neffen des Herzogs von Saint-Aignan, welcher damals Botschafter Ludwigs XV. in Rom war.
Sohn einer der Mätressen Philipps von Orléans, war der junge Sénecé stets Gegenstand der ausgewähltesten Gunstbezeugungen gewesen. Schon lange Oberst, obgleich er kaum zweiundzwanzig Jahre zählte, hatte er einige anmaßende Gewohnheiten, doch ohne Unverschämtheit. Natürliche Fröhlichkeit, das Verlangen, sich immer zu unterhalten und alles unterhaltsam zu finden, Unbesonnenheit, Mut und Güte zeichneten seinen Charakter eigentümlich aus, von dem man freilich damals lobend nur hätte sagen können, daß er in allem ein Musterbeispiel des Charakters seiner Nation war. Diese nationale Eigenart hatte vom ersten Augenblick an die Campobasso berückt. „Ich mißtraue Ihnen, Sie sind Franzose“, hatte sie ihm gesagt, „aber ich sage Ihnen etwas im voraus: Den Tag, wo man in Rom wissen wird, daß ich Sie manchmal im Geheimen empfange, werde ich überzeugt sein, daß Sie selber das verbreitet haben, und ich werde Sie nicht mehr lieben.“
So mit der Liebe spielend verstrickte sich die Campobasso in eine wütende Leidenschaft. Auch Sénecé liebte sie; aber es waren schon acht Monate her, daß dieses Verhältnis dauerte, und die Zeit, welche die Leidenschaft einer Italienerin verdoppelt, tötet die eines Franzosen. 6Die Eitelkeit des Chevalier tröstete ihn ein wenig über seine Langeweile: er hatte schon zwei oder drei Bildnisse der Campobasso nach Paris geschickt. Er übertrug die Gleichgültigkeit seines Charakters gegen Güter und Vorteile aller Art, mit denen er seit seiner Kindheit überschüttet worden war, auch auf die Interessen der Eitelkeit, die sonst die Herren seiner Nation gewöhnlich sehr besorgt hüten.
Sénecé verstand nicht im geringsten den Charakter seiner Geliebten; deshalb belästigten ihn öfters ihre Seltsamkeiten. So hatte er jedesmal an allen kirchlichen Feiertagen, wie am Festtag der Heiligen Balbina, deren Namen sie trug, die Verzückungen und die Selbstanklagen einer glühenden und wahren Frömmigkeit auszuhalten. Sénecé hatte seine Geliebte nicht die Religion vergessen lassen, wie dies bei den gewöhnlichen Frauen Italiens vorkommt; er hatte sie nur mit starker Kraft besiegt, und der Kampf erneuerte sich immer wieder.
Dieses Hindernis, das erste, das dem mit allen Gaben des Glückes überschütteten jungen Mann in seinem Leben begegnet war, hielt die Gewohnheit lebendig, zärtlich und zuvorkommend gegen die Fürstin zu sein; von Zeit zu Zeit erachtete er es für seine Pflicht, sie zu lieben. Sénecé hatte nur einen Vertrauten in seinem Botschafter, dem Herzog von Saint-Aignan, dem er durch die Campobasso manchen Dienst leisten konnte. Außerdem war ihm die Bedeutung, die er durch seine Liebesaffäre in den Augen des Botschafters gewann, außerordentlich schmeichelhaft. Die Campobasso, ganz anders als er, war dagegen von der gesellschaftlichen Stellung ihres Liebhabers gar nicht berührt. Geliebt oder nicht geliebt zu sein war alles für sie. „Ich opfere ihm meine ewige Seligkeit,“ sagte sie, „und er, der ein Häretiker, 7ein Franzose ist, kann mir nichts, was dem gleicht, opfern.“ Aber sobald der Chevalier erschien, füllte seine gefällige und dabei so ungezwungene Heiterkeit die Seele der Campobasso mit Entzücken und bezauberte sie. Bei seinem Anblick verschwand alles, was sie sich ihm zu sagen vorgenommen hatte, und alle trüben Gedanken. Dieser für diese hochmütige Seele so neue Zustand hielt noch lange an, nachdem Sénecé gegangen war. Und schließlich fand sie, daß sie fern von Sénecé weder denken noch leben könne.
Während in Rom durch zwei Jahrhunderte die Spanier in Mode gewesen waren, begann man sich damals ein wenig den Franzosen zuzuneigen. Man begann, einen Charakter zu verstehn, der Vergnügen und Heiterkeit überall hinbrachte, wo er sich zeigte, und diesen Charakter gab es damals nur in Frankreich; seit der Revolution von 1789 gibt es ihn nirgends mehr. Denn eine so beständige Frohmütigkeit braucht Unbekümmertsein, Sorglosigkeit, und es gibt für niemand mehr heute eine sichere Zukunft in Frankreich, nicht einmal für geniale Menschen, falls es solche gäbe. Es herrscht erklärter Krieg zwischen Menschen vom Schlage Sénecés und der Masse der Nation. Auch Rom war damals vom heutigen Rom sehr verschieden. Um 1726 hatte man keine Ahnung von dem, was sich siebenundsechzig Jahre später ereignen sollte, als das von einigen Geistlichen aufgehetzte Volk den Jakobiner Basseville umbrachte, der, wie er sagte, die Hauptstadt der christlichen Welt zivilisieren wollte.
Durch Sénecé hatte die Campobasso zum erstenmal die Vernunft verloren, hatte sich, aus Gründen, die vom gesunden Menschenverstand nicht gebilligt werden, bald im Himmel befunden, bald im fürchterlichen Unglück. 8Nun hatte Sénecé auch die Religion besiegt; nun mußte sich diese Liebe, welche für diese strenge und wahre Frau weit größere und ganz andere Bedeutung als die Vernunft hatte, schnell in die wildeste Leidenschaft steigern.
Die Fürstin hatte einen Monsignore Ferraterra begünstigt und seine Laufbahn erleichtert. Wie wurde ihr zumute, als dieser Ferraterra ihr mitteilte, daß Sénecé nicht nur öfter als üblich zur Orsini gehe, sondern daß die Gräfin seinetwegen den berühmten Kastraten fortgeschickt habe, der seit mehreren Wochen ihr offizieller Liebhaber gewesen war!
Hier beginnt, was wir zu erzählen haben: An dem Abend des Tages, wo die Campobasso diese verhängnisvolle Nachricht erhalten hatte.
Sie saß reglos in einem hohen Lehnstuhl aus goldfarbenem Leder. Neben ihr, auf einem kleinen schwarzen Marmortisch standen auf hohen Füßen zwei silberne Lampen, Meisterwerke des Cellini, und erleuchteten kaum das Dunkel eines weitläufigen Saales im Erdgeschoß ihres Palastes. Kaum, daß Licht auf die Gemälde an den Wänden fiel, die nachgedunkelt waren; denn die Zeit der großen Maler lag damals schon weit zurück.
Der Fürstin gegenüber und fast zu ihren Füßen zeigte der junge Sénecé auf einem kleinen Stuhl aus Ebenholz, mit Ornamenten aus massivem Gold verziert, seine elegante Person. Die Fürstin hatte den Blick auf ihn gerichtet; sie war ihm nicht entgegengeeilt, als er eintrat, hatte sich nicht in seine Arme gestürzt und nicht ein Wort an ihn gerichtet.
Im Jahre 1726 war Paris schon Königin des reichen und eleganten Lebens. Sénecé ließ durch Kuriere regelmäßig alles kommen, was die Reize eines der hübschesten 9Männer Frankreichs hervorheben konnte. Trotz der für einen Mann seines Ranges natürlichen Sicherheit, noch dadurch verstärkt, daß er seine ersten Waffengänge mit den Schönheiten am Hof des Regenten unter der Leitung des berühmten Canillac, seines Oheims, eines der Roués dieses Fürsten gehabt hatte, konnte man eine leichte Verlegenheit in Sénecés Zügen bemerken. Das schöne blonde Haar der Fürstin war etwas in Unordnung; die großen schwarzblauen Augen sahen den Mann starr an; ihr Ausdruck war schwer zu deuten. Dachte sie an tödliche Rache? War es nur der tiefe Ernst leidenschaftlicher Liebe?
„Also Sie lieben mich nicht mehr?“ sagte sie endlich leise. Ein langes Schweigen folgte dieser Kriegserklärung.
Es wurde der Fürstin schwer, sich der reizenden Anmut Sénecés zu entziehen, der ihr, machte sie ihm keine Szene, tausend Torheiten sagen würde; aber sie besaß zu großen Stolz, um die Auseinandersetzung hinauszuschieben. Eine Kokette ist aus Eigenliebe eifersüchtig, eine galante Frau aus Gewohnheit; aber eine Frau, die wahr und leidenschaftlich liebt, hat das ganze Bewußtsein ihres Rechtes. Diese Art, der römischen Leidenschaft eigen, amüsierte Sénecé sehr; er sah darin Tiefe und Unbestimmtheit; man glaubte, die unverhüllte Seele zu schauen. Der Orsini fehlte dieser Reiz der Campobasso.
Aber da diesmal das Schweigen so lange anhielt, sah der junge Franzose, der nicht die Kunst verstand, in die verborgenen Gefühle eines italienischen Herzens einzudringen, darin einen Schein von Ruhe und Vernunft, und das machte ihn arglos. Zudem drückte ihn gerade in diesem Augenblick ein Kummer. Als er das unterirdische 10Gewölbe durchschritt, das von einem benachbarten Haus in diesen Saal des Palastes Campobasso führte, hatten sich einiges Spinngewebe auf die ganz frische Stickerei seines entzückenden, gestern aus Paris gekommenen Anzugs gelegt. Das verursachte ihm Unbehagen und außerdem waren ihm Spinnen schrecklich.
Da er im Auge der Fürstin Ruhe zu lesen glaubte, dachte er, ob es nicht besser sei, eine Aussprache zu vermeiden und den Vorwurf sanft abzubiegen, statt ihm zu entgegnen; aber durch die Mißstimmung, die er fühlte, mehr zum Ernst geneigt, sagte er sich: ‚Wäre dies nicht günstigste Gelegenheit, die Wahrheit durchblicken zu lassen? Sie selber hat die Frage gestellt, also ist die halbe Peinlichkeit schon erledigt. Ich bin ja sicher nicht für die Liebe geschaffen. Ich habe zwar nie etwas so Schönes wie diese Frau mit ihren sonderbaren Augen gesehen, aber sie hat schlechte Gewohnheiten. Sie läßt mich durch widerliche, unterirdische Gewölbe kommen. Immerhin ist sie die Nichte des Herrschers, zu dem mich mein König geschickt hat. Und mehr noch, sie ist blond in einem Land, wo alle Frauen dunkel sind; das ist eine große Seltenheit. Täglich höre ich ihre Schönheit von Leuten in den Himmel heben, deren Zeugnis unverdächtig ist und die nicht im Entferntesten ahnen, mit dem glücklichen Besitzer dieser Reize zu sprechen. Was die Macht betrifft, die ein Mann über seine Geliebte haben soll, brauche ich nicht beunruhigt zu sein. Wollte ich mir die Mühe nehmen, ein Wort zu sagen, so verließe sie ihr Haus, ihre Goldmöbel, ihren königlichen Oheim, und all das würde sie tun, um sich in Frankreich in die tiefste Provinz zu vergraben und auf einem meiner Güter kümmerlich und kläglich zu leben… Morbleu, die Aussicht auf solches Opfer begeistert 11mich nur zu dem festen Beschluß, es niemals von ihr zu verlangen. Die Orsini ist ja viel weniger hübsch; sie liebt mich, wenn sie mich überhaupt liebt, grade ein wenig mehr als den Kastraten Butafoco, den ich sie gestern wegschicken hieß; aber sie hat Lebensart, sie versteht zu leben, man kann im Wagen bei ihr vorfahren. Und ich bin sicher, daß sie mir nie eine Szene machen wird; sie liebt mich dazu nicht genug.‘
Während des langen Schweigens hatte der starre Blick der Fürstin die hübsche Stirn des jungen Franzosen nicht verlassen.
‚Ich werde ihn nicht mehr sehen‘, sagte sie sich. Und plötzlich warf sie sich in seine Arme und bedeckte mit Küssen die Stirn und die Augen, die sich nicht mehr mit Glück füllten, wenn sie von ihnen erblickt wurde. Der Chevalier würde es sich nie vergeben haben, hätte er nicht in diesem Augenblick jeden Plan eines Bruchs fallen gelassen. Aber seine Geliebte war zu tief aufgewühlt, um ihre Eifersucht zu vergessen. Wenige Augenblicke nachher betrachtete Sénecé sie mit Verwunderung. Tränen des Zornes liefen ihr über die Wangen. ‚Wie!‘ sagte sie sich, ‚ich erniedrige mich so tief, daß ich von seiner Veränderung spreche; ich werfe sie ihm vor, ich, die ich mir geschworen hatte, es niemals zu bemerken! Und das ist noch nicht genug Niedrigkeit, ich muß auch noch der Leidenschaft nachgeben, die mir dieses entzückende Gesicht einflößt! Ah, verächtlich, verächtlich! Es muß ein Ende nehmen.‘
Sie trocknete die Tränen und schien wieder beruhigter. „Chevalier, wir müssen ein Ende machen“, begann sie ruhig; „Sie besuchen häufig die Gräfin…“ Da erbleichte sie. Und nach einer Weile: … — „Wenn du sie liebst, geh alle Tage hin, meinetwegen! Aber komm 12nicht mehr hierher.“ Sie hielt wie gegen ihren Willen an. Sie erwartete ein Wort des Chevaliers; das Wort wurde nicht gesprochen. Mit einem kleinen krampfhaften Zucken preßte sie durch die Zähne: „Das soll mein Todesurteil sein, und das Ihre.“
Diese Drohung wirkte entscheidend auf die zage Seele des Chevaliers, der bis dahin über die unvorhergesehene Krisis nach solcher Hingabe nur erstaunt war. Er begann zu lachen.
Ein plötzliches Rot bedeckte die Wangen der Fürstin, die wie Scharlach wurden. ‚Der Zorn wird sie ersticken,‘ dachte der Chevalier, ‚sie wird einen Schlaganfall bekommen.‘ Er näherte sich, um ihr Kleid aufzuschnüren, sie stieß ihn mit einer Festigkeit und Kraft zurück, die er nicht gewohnt war. Sénecé erinnerte sich später, daß er bei diesem Versuch, sie in seine Arme zu schließen, sie mit sich selbst hatte sprechen hören. Er zog sich ein wenig zurück, unnötig, denn sie schien ihn nicht mehr zu sehen. Mit tiefer Stimme sprach sie, als wäre sie hundert Meilen von ihm entfernt: „Er beleidigt mich, er fordert mich heraus. Bei seiner Jugend und mit der seinem Volke eigentümlichen Indiskretion wird er sicher der Orsini alle Unwürdigkeiten, zu denen ich mich erniedrige, erzählen. Ich bin meiner nicht sicher, ich kann nicht dafür einstehen, daß ich diesem Gesicht gegenüber unempfindlich bleibe.“ Hier folgte ein neues Schweigen, das dem Chevalier sehr langweilig vorkam. Die Fürstin erhob sich endlich und sagte in einem klagenden Ton: „Man muß ein Ende machen.“
Sénecé, der durch die Wiederversöhnung den Glauben an den Ernst der Aussprache verloren hatte, sagte einige scherzhafte Worte über ein Abenteuer, von dem in Rom viel gesprochen wurde.
13„Verlassen Sie mich, Chevalier,“ unterbrach ihn die Fürstin, „ich fühle mich nicht wohl…“
‚Diese Frau langweilt sich,‘ dachte Sénecé, indem er sich beeilte, ihr zu gehorchen, ‚und nichts ist so ansteckend wie die Langweile.‘ Die Fürstin war ihm bis zum Ende des Saals mit den Blicken gefolgt. ‚Und ich war im Begriff, unbesonnen das Geschick meines Lebens zu entscheiden!‘ sagte sie mit einem Lächeln. ‚Zum Glück haben mich seine Scherze ernüchtert! Wie dumm ist doch dieser Mensch! Wie kann ich ein Wesen lieben, das mich so wenig versteht? Er will sich und mich mit einem scherzhaften Wort amüsieren, wenn es sich um mein Leben und um das seine handelt!‘ Sie erhob sich. ‚Wie seine Augen schön waren, als er das Wort sagte! Man muß zugeben, die Absicht des armen Chevaliers war liebenswürdig; er hat meinen unglücklichen Charakter erkannt; wollte mich den trüben Schmerz, der mich bewegt, lieber vergessen lassen, statt mich nach seiner Ursache zu fragen. Ach, der liebenswürdige Franzose! Habe ich denn das Glück gekannt, bevor ich ihn liebte?‘
Und sie gab sich mit Entzücken den Gedanken an die Vorzüge ihres Geliebten hin. Aber allmählich gingen diese ihre Gedanken auf die Reize der Gräfin Orsini über, und ihre Seele stürzte ins Dunkel. Qualen der furchtbaren Eifersucht ergriffen sie. Schon seit zwei Monaten beunruhigte sie eine unheilvolle Vorahnung. Ihre einzigen erträglichen Augenblicke waren jene, welche sie mit dem Chevalier verbrachte und doch sprach sie, wenn sie nicht in seinen Armen lag, fast immer gereizt mit ihm.
Der Abend wurde schrecklich. Ganz erschöpft und fast ein wenig durch den Schmerz beruhigt, kam ihr der 14Einfall, mit dem Chevalier zu sprechen. ‚Er hat mich wohl gereizt gesehen, aber er weiß nicht den Grund. Vielleicht liebt er die Gräfin nicht. Vielleicht geht er nur zu ihr, weil ein Fremder die Gesellschaft des Landes, in dem er sich befindet, sehen muß und besonders die Familie des Herrschers. Wenn ich mir Sénecé offiziell vorstellen lasse, und er frei und offen zu mir kommen kann, vielleicht wird er ebensogern ganze Stunden bei mir, wie bei der Orsini verbringen.‘
Aber wieder kam der wildeste Zorn über sie. ‚Nein, ich würde mich erniedrigen, wenn ich ihn spreche; er wird mich nur verachten, und das wird mein ganzer Gewinn sein. Das leichtfertige Wesen der Orsini, das ich Närrin so verachtet habe, ist ja wirklich angenehmer als mein Charakter, gar in den Augen eines Franzosen! Ich bin bestimmt nur dazu geschaffen, mich mit einem Spanier zu langweilen. Was gibt es auch Sinnloseres als immer nur schwer und ernst zu sein! Als ob, was das Leben mit sich bringt, dies nicht selber schon genügend wäre! Gott, was wird aus mir, wenn ich nicht mehr den Chevalier habe, der mir das Leben gibt, und das Feuer mir ins Herz senkt, das mir fehlt!‘
Sie hatte Befehl gegeben, niemanden vorzulassen, aber dieser Befehl galt nicht für den Monsignore Ferraterra, der ihr zu berichten kam, was man bis ein Uhr morgens bei der Orsini getrieben habe. Dieser Prälat hatte bisher aus besten Kräften den Abenteuern der Fürstin gedient; aber seit diesem Abend zweifelte er nicht daran, daß Sénecé der Geliebte der Gräfin Orsini werden würde, wenn er es nicht schon war.
‚Die fromme Fürstin wird mir mehr nützen‘, dachte er bei dieser Beobachtung, ‚als die galante. Immer wird es sonst einen geben, den sie mir vorzieht, nämlich ihren 15Liebhaber; und ist eines Tages dieser Liebhaber ein Römer, so kann er einen Onkel haben, den man zum Kardinal machen muß. Wenn ich sie bekehre, muß sie vor allem und mit dem ganzen Feuer ihres Wesens an den denken, der ihre Seele lenkt, was kann ich nicht alles durch sie von ihrem Oheim erhoffen!‘ Und der ehrgeizige Prälat verlor sich in köstliche Zukunftsträume; er sah die Fürstin, wie sie sich ihrem Oheim zu Füßen warf, um für ihn den Kardinalshut zu erbitten. Der Papst würde ihm für das, was er eben zu unternehmen im Begriff war, sehr dankbar sein müssen. Sobald die Fürstin bekehrt wäre, würde er Benedikt XIII. die unwiderleglichen Beweise ihrer Liebschaft mit dem jungen Sénecé vorlegen. Religiös, aufrichtig und die Franzosen verabscheuend, wird der Papst ewige Dankbarkeit für den tatkräftigen Prälaten haben, der einer Intrige, die Seiner Heiligkeit so mißliebig, ein Ende bereitet hat. Dieser Ferraterra gehörte dem Hochadel Ferraras an, war reich und über fünfzig Jahre alt. Durch die so deutliche Vision des Kardinalshutes angeregt, wagte er seine Rolle bei der Fürstin jäh zu ändern. Vorher, während der zwei Monate, da Sénecé sie vernachlässigte, war es dem Prälaten zu gefährlich erschienen, den Franzosen anzugreifen; denn er hielt Sénecé, den er schlecht verstand, für ehrgeizig.
Der Leser würde die genaue Wiedergabe der Zwiesprache, welche die junge Fürstin, toll vor Liebe und Eifersucht, mit dem ehrgeizigen Prälaten hatte, sehr lang finden. Ferraterra hatte mit einer vollen Eröffnung der traurigen Wahrheit begonnen; und nach solchem heftigen Anfang wurde es ihm nicht schwer, alle Gefühle der Religion und der leidenschaftlichen Frömmigkeit wiederzuerwecken, die im Herzen der jungen Römerin 16nur eingeschlummert waren; sie besaß den wahren Glauben. „Jede gottlose Leidenschaft muß mit Unglück und Schande enden“, sagte nun der Prälat.
Es war heller Tag, als er den Palast Campobasso verließ. Er hatte der neu Bekehrten das Versprechen abgefordert, an diesem Tag Sénecé nicht zu empfangen. Dieses Versprechen war der Fürstin nicht schwer gefallen: sie glaubte, daß sie fromm sei und fürchtete zugleich, in den Augen des Chevaliers durch eine Schwäche verächtlich zu erscheinen. Ihr Entschluß hielt bis vier Uhr stand: das war die Zeit der Besuche des Chevaliers. Er ging durch die Gasse hinter dem Garten des Palastes Campobasso und sah das Signal, das die Unmöglichkeit einer Zusammenkunft bekanntgab; er eilte, sehr zufrieden damit, zur Gräfin Orsini.
Die Campobasso fühlte den Wahnsinn fast über sich Herr werden. Die sonderbarsten Gedanken und Entschlüsse hetzten sie. Plötzlich lief sie die breite Treppe wie im Irrsinn hinunter, stieg in den Wagen und rief dem Kutscher zu: „Palazzo Orsini“.
Das Übermaß ihres Unglücks trieb sie wie gegen ihren Willen zu ihrer Kusine. Sie fand sie inmitten einer Gesellschaft von etwa fünfzig Personen. Was Rom an Geist und Ehrgeiz besaß und im Hause Campobasso nicht Zutritt hatte, kam im Hause Orsini zusammen. Das Erscheinen der Fürstin Campobasso wurde ein Ereignis; respektvoll zog man sich zurück; aber sie geruhte, es nicht zu bemerken; sie blickte nur auf ihre Rivalin, bewunderte sie. Jeder Reiz ihrer Kusine war ein Dolchstoß in ihr Herz. Nach den ersten Redensarten der Höflichkeiten nahm die Orsini, welche ihre Kusine schweigsam und zerstreut sah, ihre glänzende und heitere Unterhaltung wieder auf.
17‚Wie viel besser ihre Heiterkeit zu dem Chevalier paßt, als meine tolle und langweilige Leidenschaft!‘ sagte sich die Campobasso. Und in einer unerklärlichen, aus Haß und Bewunderung gemischten Verzückung fiel sie der Gräfin um den Hals. Sie sah nur die Reize ihrer Kusine; in der Nähe wie aus der Entfernung erschienen sie ihr gleich anbetungswürdig. Sie verglich ihr Haar mit dem eignen, ihre Augen, ihren Teint. Nach dieser seltsamen Prüfung faßte sie Ekel und Abscheu vor sich selbst. Alles an ihrer Rivalin schien ihr anbetungswürdig und ihr überlegen zu sein.
Unbeweglich und düster saß die Campobasso gleich einer Basaltstatue inmitten dieser gestikulierenden und lärmenden Menge. Man kam, man ging; all dieser Lärm störte und verletzte sie. Aber wie geschah ihr, als sie plötzlich Herrn von Sénecé melden hörte! Sie waren zu Anfang ihres Verhältnisses übereingekommen, daß er in Gesellschaft sehr wenig mit ihr sprechen solle, so wie es einem ausländischen Diplomaten zukommt, der nicht öfter als zwei- oder dreimal im Monat die Nichte des Souveräns trifft, bei dem er beglaubigt ist.
Sénecé begrüßte sie mit gewohntem Respekt und mit Ernst; dann nahm er, wieder zu der Orsini zurückgekehrt, den heiteren, fast intimen Ton auf, den man im Gespräch mit einer geistvollen Frau anschlägt, von der man gern und fast täglich empfangen wird. Die Campobasso war niedergeschmettert: ‚Die Gräfin zeigt mir, wie ich hätte sein sollen‘, sagte sie sich. ‚Ich sehe, wie man sein muß, und trotzdem werde ich es niemals können!‘ Sie sank auf die letzte Stufe des Unglücks, in die ein menschliches Geschöpf geworfen werden kann; sie war fast entschlossen, Gift zu nehmen. Alle Wonnen aus Sénecés Liebe kamen dem Übermaß des Schmerzes 18nicht gleich, der sie während einer langen Nacht verzehrte. Man könnte sagen, die römischen Frauen haben eine Fähigkeit und Energie zum Leiden, die andern Frauen unbekannt bleiben.
Andern Tages kam Sénecé wieder vorbei und sah fortweisende Zeichen. Er ging vergnügt weiter, trotzdem war er leicht verletzt. ‚Also hat sie mir neulich meinen Abschied gegeben? Ich muß sie weinen sehen‘, sagte sich seine Eitelkeit. Er empfand eine leichte Spur von Liebe, da er eine so schöne Frau und Nichte des Papstes für immer verlieren sollte. Er kroch durch den unsauberen Kellergang, der ihm solchen Widerwillen verursachte, und drang gewaltsam in den großen Saal des Erdgeschosses, wo die Fürstin ihn zu empfangen pflegte.
„Sie wagen es hierher zu kommen?“ rief die Fürstin erstaunt.
‚Das Erstaunen ist nicht aufrichtig‘, dachte der junge Franzose. ‚Sie hält sich in diesem Raum nur auf, wenn sie mich erwartet.‘
Der Chevalier ergriff ihre Hand; sie zitterte. In ihre Augen kamen Tränen; sie erschien dem Chevalier so schön, daß er einen Augenblick lang an Liebe dachte. Und sie vergaß alle Eide, die sie während zweier Tage dem Glauben geschworen hatte, warf sich in seine Arme. ‚Und dieses Glück soll künftig die Orsini genießen!‘… Sénecé, der wie gewöhnlich die römische Seele falsch verstand, glaubte, sie wolle sich in guter Freundschaft von ihm trennen und wünsche den Besuch in guter Form. ‚Es ziemt sich nicht für mich als Attaché der königlichen Gesandtschaft, die Nichte des Souveräns, bei dem ich akkreditiert bin, zur Todfeindin, die sie sein würde, zu haben.‘ Sehr stolz über diese glückliche Lösung begann Sénecé, ihr vernünftig zuzureden. „Sie würden in 19angenehmster Harmonie leben; warum sollten sie nicht sehr glücklich sein? Was könnte man ihm denn auch vorwerfen? Die Liebe würde einer guten und zärtlichen Freundschaft Platz machen. Er bitte inständig um das Vorrecht, von Zeit zu Zeit an diesen Ort hier zurückkommen zu dürfen; ihre Beziehungen würden immer zarte bleiben…“ Zuerst verstand ihn die Fürstin nicht. Als sie ihn endlich mit Entsetzen begriff, blieb sie unbeweglich stehen, mit starrem Blick. Da unterbrach sie ihn bei der letzten Wendung von den zarten Beziehungen mit einer Stimme, die aus der Tiefe der Brust zu kommen schien, sagte langsam Wort für Wort:
„Das heißt, Sie finden mich hübsch genug, um mich als Dirne in Ihrem Dienst zu behalten?“
„Aber teure und liebe Freundin, ist Ihre Eigenliebe denn verletzt?“ antwortete Sénecé, jetzt wirklich erstaunt. „Wie kann es Ihnen in den Sinn kommen, sich zu beklagen? Glücklicherweise ist unsere Beziehung niemals von irgend jemand geargwöhnt worden. Ich bin ein Ehrenmann; ich gebe Ihnen von neuem mein Wort, nie soll ein lebendes Wesen das Glück, das ich genossen habe, erfahren.“
„Nicht einmal die Orsini?“ fragte sie in einem so kühlen Ton, daß er den Chevalier wieder irreführte.
„Habe ich Ihnen jemals von den Frauen erzählt,“ meinte der Chevalier naiv, „die ich, bevor ich Ihr Sklave wurde, geliebt habe?“
„Trotz meiner Achtung vor Ihrem Ehrenwort will ich doch diese Gefahr nicht auf mich nehmen“, sagte die Fürstin in einer entschiedenen Art, welche nun den jungen Franzosen doch etwas in Erstaunen setzte. „Adieu, Chevalier…“ Und als er ein wenig unsicher ging: „Komm, küsse mich!“
20Sie war sichtlich gerührt. Dann wiederholte sie in einem bestimmten Ton: „Adieu Chevalier…“
Die Fürstin ließ Ferraterra holen. „Ich will mich rächen“, sagte sie ihm. Der Prälat war entzückt. ‚Sie wird sich kompromittieren; sie gehört mir für immer.‘
Zwei Tage später ging Sénecé, weil die Hitze drückend war, gegen Mitternacht auf den Corso, um Luft zu schöpfen. Ganz Rom war auf der Straße. Als er seinen Wagen wieder besteigen wollte, konnte ihm sein Bedienter kaum antworten: er war betrunken. Der Kutscher war verschwunden; der Bediente meldete stammelnd, der Kutscher sei mit einem Feind in Streit geraten.
„Ah, mein Kutscher hat Feinde!“ sagte Sénecé lachend.
Beim Heimweg merkte er, kaum zwei oder drei Straßen über den Corso hinaus, daß er verfolgt werde. Vier oder fünf Männer hielten an, wenn er stehen blieb, schritten weiter, wenn er weiterging. ‚Ich könnte einen Bogen machen und durch eine andre Straße wieder auf den Corso kommen‘, dachte Sénecé. ‚Aber dieses Gesindel lohnt nicht die Mühe, und ich bin gut bewaffnet.‘ Er nahm seinen blanken Dolch in die Hand.
In solchen Gedanken durcheilte Sénecé zwei drei abgelegene und immer einsamere Gassen. Er hörte die Männer ihre Schritte beschleunigen. In diesem Augenblick sah er auf und erblickte grade vor sich eine kleine Kirche, die den Ordensbrüdern des Heiligen Franziskus gehörte; ihre Fenster warfen einen befremdlichen Schein ins Dunkel. Er stürzte zur Türe und pochte heftig mit seinem Dolchgriff dagegen. Die Männer, die ihn verfolgten, waren fünfzig Schritt entfernt von ihm. Nun kamen sie auf ihn zugelaufen. Ein Mönch öffnete; Sénecé stürzte in die Kirche; der Mönch schloß schnell 21die Türe zu. Im gleichen Augenblick schlugen die Meuchelmörder mit den Füßen gegen die Türe. „Die Gottlosen!“ sagte der Mönch. Sénecé gab ihm eine Zechine. „Sicher wollten sie mir ans Leben“, sagte er.
In dieser Kirche brannten mindestens tausend Kerzen.
„Wie? Ein Gottesdienst zu dieser Stunde?“ fragte er den Mönch.
„Eccellenza, es ist ein Dispens von Seiner Eminenz dem Kardinal-Vikar.“
Die ganze enge Vorhalle dieser kleinen Kirche San Francesco a Ripa war in ein prächtiges Mausoleum umgewandelt; man sang die Totenmesse.
„Wer ist gestorben? Ein Fürst?“ fragte Sénecé.
„Ohne Zweifel,“ antwortete der Priester, „denn es ist mit nichts gespart worden; aber dies alles, Wachs und Silber, ist vergeudet, denn der Herr Dekan hat uns gesagt, daß der Verblichene in Unbußfertigkeit gestorben ist.“
Sénecé trat näher. Er sah ein Wappenschild in französischer Form und seine Neugier verdoppelte sich; er trat ganz dicht heran und erkannte sein eigenes Wappen mit dieser lateinischen Inschrift:
Nobilis homo Johannes Norbertus Senece eques decessit Romae.
„Der hohe und mächtige Herr Jean Norbert von Sénecé, Chevalier, gestorben zu Rom.“
‚Ich bin wohl der erste Mensch‘, dachte Sénecé, ‚der die Ehre hat, seinem eigenen Begräbnis beizuwohnen. Ich weiß nur vom Kaiser Karl V., der sich dies Vergnügen geleistet hat. Aber in dieser Kirche ist für mich nicht gut bleiben.‘
Er gab dem Sakristan noch eine Zechine. „Mein 22Vater,“ sagte er ihm, „lassen Sie mich durch eine Hintertür Ihres Klosters hinaus.“
„Sehr gern“, sagte der Mönch.
Kaum auf der Straße, begann Sénecé, in jeder Hand eine Pistole, mit äußerster Schnelligkeit zu laufen. Bald hörte er hinter sich Leute, die ihn verfolgten. An seinem Haus angelangt, sah er die Tür verschlossen und einen Mann davor. ‚Jetzt heißt es stürmen“, dachte der junge Franzose und wollte den Mann mit einem Pistolenschuß töten, als er seinen Kammerdiener erkannte.
„Mach die Tür auf!“ schrie er ihn an.
Sie war offen. Rasch traten sie ein und schlossen sie wieder.
„Ach, gnädiger Herr, ich habe Sie überall gesucht; es gibt sehr traurige Neuigkeiten. Der arme Jean, Ihr Kutscher, ist von Messerstichen durchbohrt worden. Die Leute, die ihn getötet haben, stießen Verwünschungen gegen Sie aus. Gnädiger Herr, man will Ihnen ans Leben!“
Während noch der Diener sprach, schlugen acht Feuergewehrschüsse durch ein Gartenfenster. Sénecé brach tot neben seinem Diener zusammen; sie waren von mehr als zwanzig Kugeln durchbohrt.
Zwei Jahre später wurde die Fürstin Campobasso als das Muster höchster Frömmigkeit in Rom verehrt, und seit geraumer Zeit war Monsignor Ferraterra Kardinal.
24ÜBERTRAGEN VON M. VON MUSIL
25Ich bin kein Naturforscher und Griechisch verstehe ich nur sehr mittelmäßig; Hauptzweck meiner Reise nach Sizilien war weder die Phänomene des Ätna zu beobachten, noch wollte ich für mich oder andre irgendwelche Klarheit darüber gewinnen, was die alten griechischen Autoren über Sizilien gesagt haben; ich suchte nichts als die Freude meiner Augen, die in diesem eigenartigen Land wahrhaftig nicht gering ist. Man sagt von Sizilien, daß es Afrika gleiche; für mich steht jedenfalls fest, daß es mit Italien nur durch die verzehrenden Leidenschaften Ähnlichkeit hat. Von den Sizilianern kann man wohl sagen, daß es das Wort ‚unmöglich‘ nicht für sie gibt, wenn sie von Liebe oder von Haß entbrannt sind; und in diesem schönen Land kommt der Haß niemals aus einem Geldinteresse.
Ich bemerke, daß man in England und besonders in Frankreich oft von italienischer Leidenschaft spricht, von der hemmungslosen Leidenschaft, die man im Italien des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts kannte. In unsern Tagen ist diese schöne große Leidenschaft gestorben und ganz tot, wenigstens in jenen Klassen, die sich der Nachahmung französischer Sitten und Pariser oder Londoner Moden gefallen.
Ich weiß wohl, man kann sagen, daß man seit Karl V. in Neapel, in Florenz und sogar ein wenig in Rom die spanischen Sitten nachahmte. Aber waren diese adeligen 26Sitten und Bräuche nicht auf dem unendlichen Respekt begründet, den jeder dieses Namens würdige Mensch für die natürlichen Regungen seiner Seele haben muß? Weit entfernt, die Energie auszuschalten, übertrieben sie diese vielmehr, während es erste Regel der Gecken um 1760, die den Herzog von Richelieu nachahmten, war, durch nichts bewegt zu scheinen. Ist es nicht Grundsatz des englischen Dandys, dem man jetzt in Neapel den Vorzug vor dem französischen Gecken gibt, von allem gelangweilt und allem überlegen zu scheinen?
Die italienische Leidenschaft findet man schon seit einem Jahrhundert nicht mehr in der guten Gesellschaft Italiens.
Um mir einen Begriff von dieser italienischen Leidenschaft zu bilden, von der unsre Romanciers mit solcher Sicherheit schreiben, war ich genötigt, die Geschichte zu befragen; aber gewöhnlich sagt die große Geschichte, von talentvollen Männern geschrieben und meist sehr majestätisch, fast nichts von den Einzelheiten des Geschehens und der Personen. Sie nimmt von Torheiten erst Notiz, wenn diese Dummheiten von Königen oder Fürsten begangen worden sind. Ich habe zu der Lokalgeschichte jeder Stadt Zuflucht nehmen müssen; aber da wurde ich wieder durch den Überreichtum an Material erschreckt. Jede kleine italienische Stadt zeigt dir stolz ihre Geschichte in drei oder vier gedruckten Quartbänden und in sieben oder acht handschriftlichen Codices, die kaum mehr zu entziffern, mit Abkürzungen gespickt und mit sonderbar geformten Buchstaben geschrieben sind; zudem eignen ihnen an den fesselndsten Stellen Redewendungen, die im Ort selbst gebräuchlich, aber zwanzig Meilen weiter schon unverständlich sind. Denn im ganzen schönen Italien, wo die Liebe so 27viele tragische Ereignisse gesät hat, spricht man nur in drei Städten, in Florenz, in Siena und in Rom, ungefähr so wie man schreibt; in allen andren Orten ist die Schriftsprache von der mündlichen Rede unendlich weit entfernt.
Das, was man die italienische Leidenschaft nennt, das heißt die Leidenschaft, die sich zu befriedigen und nicht nur dem Nachbar eine prachtvolle Vorstellung von sich selber zu geben sucht, beginnt mit der Entstehung der Gesellschaft also im zwölften Jahrhundert und erlischt wenigstens in der guten Gesellschaft, um 1734. Zu dieser Zeit kommen die Bourbonen in Neapel zur Regierung, und zwar in der Person des Don Carlos, Sohnes einer Farnese, die in zweiter Ehe mit dem Enkelsohn Ludwigs XIV., jenem melancholischen Philipp V. verheiratet war, der mitten im Kugelregen seinen Gleichmut nicht verlor, sich stets langweilte und die Musik so leidenschaftlich liebte. Man weiß, daß ihm vierundzwanzig Jahre hindurch der göttliche Kastrat Farinelli täglich drei Lieblingsweisen vorsang, jeden Tag die gleichen.
Ein analytischer Geist könnte aus den Einzelheiten einer Leidenschaft feststellen, ob der Fall in Rom oder in Neapel geschehen ist, und nichts ist, wie ich sagen muß, abgeschmackter als jene Romane, die ihren Personen nichts als italienische Namen geben. Sind wir denn nicht darin einer Meinung, daß die Leidenschaften sich ändern, so oft man hundert Meilen weiter nach Norden kommt? Höchstens kann man sagen, daß jene Länder, die seit langem der gleichen Regierungsform unterstehn, in den sozialen Gewohnheiten eine Art äußerer Ähnlichkeit aufweisen.
Wie die Leidenschaften, wie die Musik, wechseln auch die Landschaften, sobald man drei oder vier Breitengrade 28weiter nach Norden kommt. Eine neapolitanische Landschaft würde in Venedig absurd erscheinen, wäre es nicht, sogar in Italien ausgemacht, die Naturschönheiten Neapels zu bewundern. Wir in Paris halten es darin so, daß wir glauben, der Anblick der Wälder und der bebauten Ebenen sei ganz der gleiche in Neapel wie in Venedig, und wir möchten am liebsten, daß zum Beispiel Canaletto die gleichen Farben hätte wie Salvatore Rosa.
Ist es nicht der Gipfel der Lächerlichkeit, wenn eine englische Dame, die mit allen Vorzügen ihrer Insel ausgestattet, aber selbst auf dieser Insel dafür bekannt ist, daß sie außerstande sei, die Liebe und den Haß zu schildern, wenn, sage ich Mrs. Anne Radcliffe den Personen eines ihrer berühmten Romane italienische Namen und große Leidenschaften gibt?
Ich werde nicht versuchen, der Einfachheit und der manchesmal abstoßenden Roheit der nur zu wahren Erzählung, die ich der Nachsicht des Lesers empfehle, Anmut zu verleihen. Ich werde zum Beispiel die Antwort der Herzogin von Palliano auf die Liebeserklärung ihres Vetters Marcello Capecce ganz wörtlich übersetzen. Diese Monographie einer Familie befindet sich, ich weiß nicht warum, am Ende des zweiten Bandes einer handschriftlichen Geschichte von Palermo, über die ich keine näheren Angaben machen kann.
Diese Erzählung, die ich zu meinem Bedauern sehr kürze — ich unterdrücke eine Fülle von bezeichnenden Umständen — enthält mehr die letzten Schicksale der unglücklichen Familie Carafa, als die interessante Geschichte einer bestimmten Leidenschaft. Die literarische Eitelkeit sagt mir, daß es mir nicht unmöglich gewesen wäre, das Interesse an manchen Situationen zu steigern, 29wenn ich ausführlicher gewesen wäre, wenn ich erraten und dem Leser mit allen Einzelheiten erzählt hätte, was die Personen empfanden. Aber bin ich, ein junger Franzose, im Norden, in Paris geboren, denn wirklich sicher, zu erraten, was diese italienischen Menschen des Jahres 1559 fühlten? Ich kann ja höchstens das zu erraten hoffen, was den französischen Lesern von 1838 elegant und spannend vorkommt.
Die leidenschaftliche Art der Italiener um 1559 wollte Taten und nicht Worte. Man wird darum in der folgenden Erzählung sehr wenig Konversation finden. Das ist für diese Geschichte insofern ein Nachteil, als wir uns so sehr an die langen Gespräche unsrer Romanhelden gewöhnt haben, für die eine Konversation genau so viel ist wie eine Schlacht. Meine Erzählung oder vielmehr Übersetzung zeigt eine sonderbare, durch die Spanier in die italienischen Sitten eingeführte Eigenart. Ich bin nirgends aus der bestimmten Haltung des Übersetzers hinausgetreten. Die getreue Wiedergabe der Art des Fühlens im sechzehnten Jahrhundert und auch der Erzählungsweise des Chronisten, der allem Anschein nach ein Edelmann aus dem Gefolge der unglücklichen Herzogin von Palliano war, macht meines Erachtens nach den Hauptvorzug dieser tragischen Geschichte aus — wenn überhaupt irgendein Vorzug daran ist.
Die strengste spanische Etikette herrschte am Hofe des Herzogs von Palliano. Man muß sich erinnern, daß jeder Kardinal und jeder römische Fürst einen Hof hielt, und man kann sich einen Begriff davon machen, welches Bild Rom im Jahre 1559 bot. Nicht ist auch zu vergessen, daß es die Zeit war, wo der König Philipp II., der für seine Intrigen die Stimmen zweier Kardinäle brauchte, jedem von ihnen eine Rente von 200 000 Livres 30in geistlichen Pfründen gab. Obgleich Rom ohne nennenswerte Arme war, bildete es den Mittelpunkt der Welt. Paris war im Jahre 1559 eine Stadt freundlicher Barbaren.
Wenn auch Gianpietro Carafa aus einer der vornehmsten Familien des Königreichs Neapel stammte, hatte er rauhe, ungeschliffene und heftige Umgangsformen, die zu einem Hirten der Campagna gepaßt hätten. Er nahm schon früh das Priestergewand und kam ganz jung nach Rom, wo ihm durch die Gunst seines Vetters Oliviero Carafa, des Kardinals und Erzbischofs von Neapel, geholfen war. Alexander VI., dieser große Mann, der alles wußte und alles konnte, machte ihn zu seinem Kämmerer, ungefähr das gleiche, was man bei uns unter einem Ordonanzoffizier versteht. Julius II. ernannte ihn zum Erzbischof von Chieli; Papst Paul machte ihn zum Kardinal und endlich am 23. Mai 1555 wurde er, nach schlimmen Kabalen und vielen Disputen zwischen den zum Konklave eingeschlossenen Kardinälen unter dem Namen Paul IV. zum Papst gewählt; er war damals achtundsiebzig Jahre alt. Selbst über die, welche ihn auf den Thron von Sankt Peter berufen hatten, kam bald die Angst, wenn sie die Härte und die wilde unerbittliche Frömmigkeit des Herrn bedachten, den sie sich selbst gesetzt hatten.
Die Neuigkeit dieser unerwarteten Wahl hatte umwälzende Wirkung in Neapel und Palermo. Binnen wenigen Tagen traf eine große Anzahl von Mitgliedern der illustren Familie Carafa in Rom ein, und alle erhielten Stellen; doch zeichnete der Papst, wie ja natürlich, besonders seine drei Neffen aus, Söhne seines Bruders, des Grafen von Montorio.
31Don Juan, der Älteste, war schon verheiratet und wurde zum Herzog von Palliano gemacht. Dieses Herzogtum, dem Marc Antonio Colonna, dem es gehört hatte, abgenommen, umfaßte eine große Zahl Dörfer und kleiner Städte. Don Carlos, der zweite Neffe Seiner Heiligkeit, war Malteserritter und hatte den Krieg mitgemacht; er wurde zum Kardinallegaten von Bologna und Premierminister ernannt. Als ein entschlossener Mann und treu den Traditionen seiner Familie, wagte er es, dem mächtigsten König der Welt, Philipp II., König von Spanien und beider Indien, feind zu sein, und gab ihm auch Beweise davon. Was den dritten Neffen betraf, den Don Antonio Carafa, so machte der Papst den bereits Verheirateten zum Marchese von Montobello. Schließlich gelang es ihm, Franz, dem Dauphin von Frankreich und Sohn Heinrichs II. eine Tochter aus der zweiten Ehe seines Bruders zur Frau zu geben; Paul IV. dachte, ihr als Mitgift das Königreich Neapel zu schenken, das man Philipp II., dem König von Spanien hätte wegnehmen müssen. Die Familie Carafa verfolgte mit ihrem Hasse diesen mächtigen König, dem es aber, auch durch die Fehler dieser Familie unterstützt, endlich doch gelang, sie gänzlich auszutilgen.
Seit Paul IV. den Thron von San Pietro bestiegen hatte, der zu dieser Zeit selbst den erhabenen Herrscher von Spanien zu einem Vasallen machte, wurde er, wie man es bei den meisten seiner Nachfolger gesehen hat, Beispiel aller Tugenden. Er wurde ein großer Papst und ein großer Heiliger; er bemühte sich, die Mißbräuche in der Kirche abzustellen und dadurch auch das allgemeine Konzil abzuwenden, das man vom römischen Hofe von allen Seiten verlangte, in das aber eine kluge Politik nicht einzuwilligen riet.
32Nach der von der Gegenwart fast völlig vergessenen Sitte jener Zeit, wo ein Souverän niemals Vertrauen in Menschen setzte, die noch ein andres Interesse als das seine haben konnten, wurden die Staaten Seiner Heiligkeit in despotischer Weise von seinen drei Neffen regiert. Der Kardinal war erster Minister und verfügtet nach dem Willen seines Oheims. Der Herzog von Palliano war zum General der Truppen der heiligen Kirche gemacht worden und der Marchese von Montebello ließ als Hauptmann der Palastwache nur Personen eintreten, die ihm genehm waren. Bald begingen diese drei jungen Leute die größten Ausschreitungen; sie begannen damit, sich die Güter von Familien anzueignen, die ihrer Herrschaft abgeneigt waren. Das Volk wußte nicht, an wen es sich um Gerechtigkeit wenden sollte. Nicht nur um seinen Besitz mußte es in Sorge sein, sondern — im Vaterland der keuschen Lukrezia! — auch die Ehre der Frauen und Töchter war nicht sicher. Der Herzog von Palliano und seine Brüder entführten die schönsten Frauen; es genügte, das Unglück zu haben, ihnen zu gefallen. Betroffen sah man, daß sie auf den Adel des Bluts gar keine Rücksicht nahmen, und mehr noch: sie ließen sich nicht einmal durch die heilige Abgeschlossenheit der Klöster zurückhalten. Das zur Verzweiflung getriebene Volk wußte nicht, an wen es seine Klagen richten sollte, so groß war das Entsetzen, das die drei Brüder allen einflößten, die sich dem Papst nähern wollten; selbst gegen die fremden Botschafter traten sie unverschämt auf.
Der Herzog hatte schon vor der Machtstellung seines Oheims Violante von Cardona geheiratet, aus einer ursprünglich spanischen Familie, die in Neapel zum ersten Adel gehörte. Violante war durch ihre ungewöhnliche 33Schönheit und durch eine Anmut berühmt, welche sie gut zu zeigen verstand, wenn sie gefallen wollte, mehr aber noch durch ihren maßlosen Stolz. Doch um gerecht zu sein, muß man auch sagen, daß man nicht leicht eine größere, stärkere Seele hätte finden können als die ihre, und dies wurde auch der Welt deutlich, als sie vor ihrem Tode dem Kapuziner, der ihr die Beichte abnahm, nichts gestand. Sie konnte den bewunderungswürdigen Orlando des Messer Ariosto auswendig und trug ihn mit unendlicher Lieblichkeit vor, wie auch die meisten Sonette des göttlichen Petrarca und die Erzählungen des Pecorone. Aber noch verführerischer war sie, wenn sie sich herabließ, ihre Gesellschaft mit den sonderbaren Einfällen zu unterhalten, die ihr der eigne Geist eingab.
Sie hatte einen Sohn, den Herzog von Cavi. Ihren Bruder Don Ferrante, Grafen d'Aliffe, zog das große Glück seines Schwagers nach Rom.
Der Herzog von Palliano hielt glänzenden Hof. Die jungen Leute der ersten Familien Neapels buhlten um die Ehre, daran teilzuhaben. Rom verwöhnte zu der Zeit mit seiner Bewunderung einen seiner Lieblinge, den Marcello Capecce, einen jungen Kavalier, in Neapel durch seinen Geist und nicht minder durch die göttliche Schönheit berühmt, die ihm der Himmel geschenkt hatte.
Die Favoritin der Herzogin war Diana Brancaccio, eine nahe Verwandte ihrer Schwägerin, der Marchesa von Montebello, die damals dreißig Jahre zählte. Man erzählte sich in Rom, daß sie dieser Favoritin nicht ihren sonstigen Stolz zeige, ja ihr alle ihre Geheimnisse anvertraue. Aber diese Geheimnisse bezogen sich nur auf die Politik; denn die Herzogin erweckte wohl Leidenschaften, doch sie teilte keine.
34Auf den Rat des Kardinals Carafa führte der Papst gegen den König von Spanien Krieg und der König von Frankreich schickte dem Papst eine Armee unter dem Befehl des Herzogs von Guise zur Unterstützung.