Wir zogen sofort an Bord der Ghost, nahmen unsere alte Kajüte in Besitz und kochten in der Kombüse. Die Gefangennahme Wolf Larsens war zu einem äußerst günstigen Zeitpunkt erfolgt, denn der Nachsommer war vorbei, und es hatte regnerisches und stürmisches Wetter eingesetzt.
Wir fühlten uns sehr behaglich auf dem Schoner, dem der Scherenkran und der an ihm hängende Fockmast ein gewisses geschäftiges Aussehen verliehen, das baldige Abreise zu verkünden schien.
Wir hatten Wolf Larsen in Eisen, aber wie unnötig war es jetzt! Wie dem ersten, so war auch dem zweiten Anfall eine ernste Lähmung gefolgt. Maud machte diese Entdeckung, als sie am Nachmittag versuchte, ihm etwas zu essen zu geben. Er schien noch bewußtlos zu sein, und als wir ihn ansprachen, antwortete er nicht. Er lag diesmal auf der linken Seite und litt offenbar starke Schmerzen. In ewiger Unruhe warf er den Kopf hin und her. Dabei hob er das Ohr von dem Kissen, gegen das es gepreßt gewesen war, und sofort hörte er, was sie sagte, und antwortete. Maud wandte sich zu mir. Ich preßte ihm wieder das Kissen gegen das linke Ohr und fragte ihn, ob er mich höre, aber er regte sich nicht. Dann nahm ich das Kissen fort, wiederholte die Frage, und sofort erwiderte er, daß er mich verstehe.
„Wissen Sie, daß Sie auf dem rechten Ohr taub sind?" fragte ich.
„Ja", antwortete er mit leiser, aber fester Stimme, „und schlimmer als das: Meine ganze rechte Seite ist wie gelähmt. Ich kann weder Arm noch Bein bewegen."
„Verstellen Sie sich nun wieder?" fragte ich ärgerlich. Er schüttelte den Kopf, und sein trotziger Mund verzog sich zu einem seltsamen, verzerrten Lächeln, wirklich verzerrt, denn nur die Muskeln der linken Gesichtshälfte bewegten sich, während die rechte Seite starr blieb.
„Das war das letzte Spiel des Wolfes", sagte er. „Ich bin gelähmt. Ich werde nie wieder gehen. Oh, nur die andere Seite", fügte er hinzu, als erriete er den mißtrauischen Blick, den ich auf sein linkes Bein warf, dessen Knie sich soeben unter der Bettdecke gekrümmt hatte. „Es ist auch wirklich Pech", fuhr er fort. „Ich würde mich gefreut haben, wenn ich Ihnen wenigstens den Garaus gemacht hätte. Dazu, dachte ich, würden meine Kräfte noch reichen."
„Aber warum denn?" fragte ich entsetzt.
Wieder verzog sich sein trotziger Mund zu dem verzerrten Lächeln, und er sagte: „Ach, nur um lebendig zu sein, zu leben und zu handeln, um das größere Stück Gärstoff zu sein, um Sie zu fressen. Aber auf diese Weise zu sterben..." Er zuckte die Achseln oder versuchte es vielmehr, denn nur die linke Schulter bewegte sich. Sein Achselzucken war ebenso verzerrt wie sein Lächeln.
„Aber haben Sie eine Erklärung für Ihre Krankheit?" fragte ich. „Wo sitzt sie?"
„Im Gehirn", erwiderte er sofort. „Die verfluchten Kopfschmerzen sind die Ursache."
„Symptome", meinte ich.
Er nickte. „Es gibt keine Erklärung. Ich bin nie in meinem Leben krank gewesen. Irgend etwas ist mit meinem Gehirn los. Ein Geschwür, ein Tumor oder etwas Derartiges - etwas, das frißt und zerstört. Es greift mein Nervenzentrum an, frißt es Stück auf Stück, Zelle auf Zelle. Ich kann nicht mehr sehen. Gehör und Gefühl verlassen mich, und bald werde ich auch nicht mehr sprechen können. Und doch werde ich hier sein, lebendig und ohnmächtig."
„Und wie denken Sie nun über die Unsterblichkeit der Seele?" fragte ich ihn.
„Quatsch!" lautete die Antwort. „Die Sache ist einfach die, daß meine höheren physischen Zentren unberührt sind. Ich besitze noch mein Gedächtnis, ich kann denken und Schlüsse ziehen. Wenn das vorbei ist, bin ich fertig. Bin nicht mehr. Die Seele-?"
Er lachte höhnisch. Dann drehte er sein linkes Ohr wieder gegen das Kissen, zum Zeichen, daß er die Unterhaltung nicht fortzusetzen wünsche. Maud und ich machten uns an unsere Arbeit, bedrückt durch den Gedanken an das furchtbare Geschick, das ihn betroffen hatte - wie furchtbar es war, sollten wir erst später ganz erfahren. Es lag etwas von dem Schrecken der Vergeltung darin.
Unsere Gedanken waren ernst und feierlich, und wir sprachen anfangs nur flüsternd miteinander.
„Sie könnten mir gern die Handeisen abnehmen", sagte er abends, als wir neben ihm standen und über seinen Zustand sprachen. „Ganz sicher, ich bin unheilbar. Ich habe mich schon auf das Wundliegen gefaßt gemacht."
Er lächelte sein verzerrtes Lächeln. Mauds Augen waren starr vor Entsetzen, und sie mußte sich abwenden.
Innerlich war er ganz unverändert. Er war immer noch der alte, unbezwingliche, furchtbare Wolf Larsen, nur jetzt gefangen in diesem Fleisch, das einst so unbesiegbar und prachtvoll gewesen. Jetzt band es ihn mit unsichtbaren Fesseln, hüllte seine Seele in Finsternis und Schweigen und schloß ihn aus von der Welt, die für ihn der Inbegriff aufrührerischer Tatkraft gewesen war.
Wir nahmen ihm die Handeisen ab, konnten uns aber doch nicht mit seinem Zustand vertraut machen. Unser Gefühl lehnte sich dagegen auf. Was hatten wir noch von ihm zu erwarten? Wir wußten es nicht; aber vielleicht Furchtbares! Sein Geist konnte sich gegen das Fleisch erheben, konnte ausbrechen, wer wußte es? Unsere Erfahrung machte uns unsicher, und nur mit einem Gefühl von Angst gingen wir wieder an unsere Arbeit.
Mit dem Scherenkran hievte ich den Großbaum an Bord. Seine vierzehn Meter mußten genügen, um den Mast hereinzubringen. Mit einer an dem Scherenkran festgemachten Leine schwang ich den Baum hoch, so daß er im Gleichgewicht pendelte, dann ließ ich das Ende auf das Deck herab, wo ich, um ihn vor dem Rutschen zu bewahren, große Klampen befestigt hatte.
Den Einzelblock meines Scherenkrans hatte ich am Ende des Baumes festgemacht. Mit dem Spill konnte ich nun die Spitze des Baumes nach Belieben heben und senken, während das Ende seinen festen Halt behielt. Dazu konnte ich ihn mit Hilfe von Fallen seitwärts schwingen. An der Spitze befestigte ich einen Flaschenzug, und als die ganze Einrichtung fertig war, hatte ich meine helle Freude an der Kraft und Leichtigkeit, mit der sie arbeitete.
Natürlich nahm mich dieser Teil der Arbeit zwei volle Tage in Anspruch, und erst am Morgen des dritten waren wir fertig. Ich hatte mich besonders ungeschickt dabei angestellt. Ich hatte gesägt, gehackt und gestemmt, bis das verwitterte Holz aussah, als wäre es von Mäusen angeknabbert. Aber schließlich ging es.
Ein neuer Schlag hatte Wolf Larsen getroffen. Er hatte die Stimme verloren oder war jedenfalls daran, sie zu verlieren. Nur hin und wieder konnte er noch Gebrauch von ihr machen. Aber plötzlich konnte die Stimme mitten im Satz versagen, und dann mußten wir zuweilen stundenlang warten, bis die Verbindung wiederhergestellt war. Er klagte über starke Kopfschmerzen. In dieser Periode dachte er sich ein System aus, um sich mit uns verständigen zu können, wenn er überhaupt nicht mehr sprechen konnte: ein einfacher Händedruck bedeutete ja, ein doppelter nein. Es war gut, daß wir diese Vereinbarung trafen, denn schon am Abend versagte die Sprache ganz. Jetzt beantwortete er unsere Fragen durch Händedrücken, und wenn er zu sprechen wünschte, kritzelte er seine Gedanken mit der Linken, kaum lesbar, auf ein Blatt Papier.
Der strenge Winter war im Anmarsch. Ein Sturm folgte dem andern mit Schnee, Hagel und Regen. Die Robben hatten ihre große Wanderung nach dem Süden angetreten, und die Robbeninsel war so gut wie verlassen. Ich arbeitete fieberhaft. Trotz Wind und Wetter war ich vom frühen Morgen bis zum späten Abend an Deck und machte tüchtige Fortschritte.
Meine Erfahrungen beim Einrichten des Scherenkrans und des Fockmastes kamen mir jetzt zugute. Ich brachte Takelung, Stagen und Falle an. Wie gewöhnlich, hatte ich die Arbeit unterschätzt: Ich brauchte zwei Tage dazu. Und dabei war noch so vieles zu tun, wie zum Beispiel das Einrichten der Segel, die gänzlich umgearbeitet werden mußten.
Während ich am Fockmast arbeitete, nähte Maud an den Segeln, immer bereit, ihre Arbeit aus der Hand zu legen, wenn es galt, mir zu helfen, wo meine beiden Hände nicht ausreichten. Das Segelleinen war hart und schwer, und sie nähte nach Matrosenart mit der ganzen Handfläche und einer dreikantigen Segelnadel. Ihre armen Hände waren bald von Blasen bedeckt, aber sie kämpfte tapfer weiter, und dazu kochte sie und pflegte den Kranken.
„Nun, was sagen Sie dazu?" sagte ich am Freitagmorgen. „Heute kommt der Großmast an die Reihe!"
Alles war bereit. Mit Hilfe des Ankerspills holte ich den Mast beinahe klar über die Reling. Kurz darauf pendelte er frei über Deck.
Maud klatschte in die Hände, als sie einen Augenblick nicht den Törn zu halten brauchte. Dann aber wurde ihr Gesicht plötzlich traurig. „Er ist nicht über dem Loch", sagte sie. „Müssen Sie nun wieder ganz von vorn anfangen?"
Ich lächelte überlegen, dann ließ ich eine Talje nach, zog die andere an, und der Mast schwang sich mitten über das Deck.
Gerade zu der viereckigen Öffnung der Staffel senkte sich das Ende herab, aber da drehte sich der Mast, so daß das eine Viereck nicht in das andere paßte. Doch ich war mir nicht eine Sekunde lang unklar, was ich zu tun hatte. Beim Schein der Lampe sah ich, wie sich das Mastende langsam drehte, bis seine Ränder parallel zu denen der Staffel standen. Maud kehrte wieder zum Ankerspill zurück. Langsam senkte sich der Mast Zoll für Zoll, drehte sich aber wieder leicht dabei. Wieder richtete Maud die Lage mit der Taschentalje, und wieder ließ sie den Mast herab, bis Viereck in Viereck paßte. Der Mast war eingesetzt.
Ich rief, und sie kam schnell herunter, um zu sehen. Im gelben Schein der Laterne betrachteten wir unser Werk. Dann sahen wir uns an und klatschten in die Hände. Ich glaube, wir hatten beide feuchte Augen vor Freude über unsern Erfolg.
„Schließlich ging es doch ganz leicht", meinte ich.
„Und doch ist es das reine Wunder, daß es vollbracht ist", sagte Maud. „Ich vermag es kaum zu glauben, daß der große Mast wirklich steht; daß Sie ihn aus dem Wasser gehoben, durch die Luft geschwungen und an seinen Platz gebracht haben. Es war eine Titanenarbeit."
„Wir sind wahre Erfinder!" rief ich fröhlich, hielt aber inne und sog die Luft ein. Ich warf einen hastigen Blick auf die Laterne. Sie rauchte nicht. Wieder sog ich die Luft ein.
„Es brennt!" sagte Maud plötzlich in überzeugtem Ton.
Wir sprangen zur Treppe, aber ich kam ihr zuvor und war zuerst an Deck. Aus dem Zwischendeck stieg eine dichte Rauchwolke empor. „Der Wolf ist noch nicht tot", murmelte ich, als ich durch den Rauch hindurchsprang.
Der Rauch war so dicht in dem engen Raum, daß ich mich vorwärts tasten mußte; und solche Macht hatte die Persönlichkeit Wolf Larsens über meine Einbildungskraft, daß ich darauf vorbereitet war, den würgenden Griff des hilflosen Riesen um meinen Hals zu fühlen. Ich zauderte; da dachte ich an Maud und wußte, daß ich nicht umkehren konnte.
Keuchend und fast erstickend, erreichte ich Wolf Larsens Koje. Ich streckte die Hand aus und tastete nach der seinen. Er lag regungslos da, bewegte sich aber leicht bei meiner Berührung. Ich fühlte über und unter seine Decken. Hier war keine
Wärme, kein Anzeichen von Feuer zu spüren. Aber der Rauch, der mich blendete, husten und nach Luft schnappen ließ, mußte doch seine Ursache haben! Ich verlor einen Augenblick den Kopf und rannte verwirrt im Zwischendeck herum. Ein heftiger Aufprall auf den Tisch brachte mich wieder zu mir. Ich überlegte mir, daß ein hilfloser Mann das Feuer nur dort, wo er lag, hatte anzünden können. So lief ich denn wieder zu Wolf Larsens Koje. Dort stieß ich auf Maud. Wie lange sie sich schon in dieser erstickenden Luft befand, wußte ich nicht.
„Schnell an Deck!" befahl ich entschieden.
Die reine Luft wirkte wie Nektar. Maud war nur schwach und benommen, und ich ließ sie an Deck liegen, während ich zum zweiten Male nach unten ging.
Die Rauchwolke mußte ganz dicht bei Wolf Larsen sein -diesen Gedanken hielt ich fest, als ich gerade auf seine Koje zuging. Während ich unter seinen Decken herumtastete, fiel mir etwas Heißes auf den Handrücken. Es brannte, und ich zog die Hand schnell zurück.
Jetzt begriff ich: Durch die Öffnung hindurch hatte er die Matratze der Oberkoje in Brand gesteckt. Seine Linke war noch imstande gewesen, es zu tun. Bei dem Mangel an Luftzug hatte das feuchte Stroh der Matratze nur schwelen können.
Als ich sie aus der Koje riß, schlugen sofort die hellen Flammen heraus. Ich löschte die brennenden Strohreste und stürzte dann an Deck, um Luft zu schöpfen. Einige Eimer Wasser genügten, um den Brand zu löschen. Zehn Minuten später hatte sich der Rauch genügend verzogen. Wolf Larsen war bewußtlos, aber die frische Luft brachte ihn bald wieder zu sich. Während wir noch mit ihm beschäftigt waren, machte er uns durch Zeichen verständlich, daß er Papier und Bleistift wünschte.
„Bitte, stören Sie mich nicht", schrieb er, „ich lächle." -„Sie sehen, daß ich immer noch ein Stückchen Hefe bin", schrieb er kurz darauf. „Aber nur ein sehr kleines Stückchen, Gott sei Dank!" sagte ich.
„Danke", schrieb er. „Und doch bin ich noch voll und ganz hier, Hump. Ich vermag schärfer zu denken als je zuvor in meinem Leben. Nichts stört mich mehr. Die Konzentration ist vollkommen. Ich bin voll und ganz hier, ja mehr als das!"
Es war wie eine Botschaft aus der Nacht des Grabes, denn der Körper dieses Mannes war sein Mausoleum geworden. Und hier, in diesem seltsamen Grabe, flatterte sein Geist und lebte. Er sollte flattern und leben, bis die letzte Verbindung abgebrochen war, und dann - wer wußte, wieviel länger sie noch flattern und leben konnte?
„Ich glaube, meine linke Seite wird auch lahm", schrieb Wolf Larsen am Morgen nach seinem Versuch, das Schiff in Brand zu stecken. „Die Gefühllosigkeit nimmt zu. Ich kann kaum die Hand bewegen. Sie müssen lauter sprechen. Die letzten Leinen sind bald gekappt."
„Haben Sie Schmerzen?" fragte ich.
Ich mußte meine Frage laut wiederholen, ehe er antwortete: „Nicht immer."
Seine Linke tastete langsam und mühevoll über das Papier, und mit größter Schwierigkeit entzifferten wir das Gekritzel. Es war wie eine Geisterschrift.
„Aber ich bin noch hier, voll und ganz hier", kritzelte die Hand langsamer und mühseliger als je.
Der Bleistift entfiel ihr, und wir mußten ihn wieder zwischen seine Finger stecken.
„Wenn ich keine Schmerzen spüre, habe ich ganz Ruhe und Frieden. Ich habe nie so klar gedacht. Ich kann über das Leben nachdenken wie ein weiser Hindu."
„Und die Unsterblichkeit?" rief ihm Maud ins Ohr.
Dreimal versuchte die Hand zu schreiben, tappte verzweifelt. Der Bleistift fiel. Vergebens wollten wir ihn ihm wieder reichen. Die Finger vermochten sich nicht mehr zu schließen. Da umschloß Maud seine Hand mit der ihren und drückte sie zusammen, und er schrieb mit großen Buchstaben und so langsam, daß zwischen jedem einzelnen Minuten vergingen:
„U - ns - inn."
Dies war Wolf Larsens letztes Wort: Unsinn, eisern und unbezwinglich bis zuletzt. Arm und Hand sanken nieder. Ein leichtes Zucken durchfuhr seinen Körper. Dann regte er sich nicht mehr. Maud ließ seine Hände los. Die Finger öffneten sich durch ihr eigenes Gewicht, und der Bleistift fiel zu Boden.
„Können Sie noch hören?" rief ich, indem ich seine Hand faßte und auf den einmaligen Druck wartete, der „ja" bedeutete. Es erfolgte keine Antwort. Die Hand war tot.
„Ich habe bemerkt, daß die Lippen sich leicht bewegten", sagte Maud.
Ich wiederholte die Frage.
Die Lippen bewegten sich wirklich.
Maud legte die Fingerspitzen darauf. Nochmals wiederholte ich die Frage. „Ja", verkündete Maud. Wir blickten uns erwartungsvoll an.
„Was nun?" fragte ich. „Was sollen wir ihn fragen?"
„Ach, fragen Sie ihn -" Sie zögerte.
„Fragen Sie ihn etwas, das ein Nein als Antwort erfordert", schlug ich vor. „Dann werden wir Gewißheit haben."
„Sind Sie hungrig?" rief sie.
Seine Lippen bewegten sich unter ihrem Finger, und sie meldete: „Ja."
„Wollen Sie etwas Fleisch haben?" So lautete die nächste Frage.
„Nein", verkündete sie.
„Brühe?"
„Ja, er möchte etwas Brühe haben", sagte sie und blickte zu mir auf. „Bis sein Gehör völlig versagt, werden wir uns mit ihm verständigen können. Dann -" Sie sah mich mit einem seltsamen Blick an.
Ich sah, wie ihre Lippen zitterten und ihr die Tränen in die Augen stiegen. Sie wankte, und ich fing sie in meinen Armen auf.„Ach, Humphrey", schluchzte sie, „wann wird dies alles ein Ende haben? Ich bin so müde, so müde."
Sie barg ihren Kopf an meiner Schulter, ihre zarte Gestalt wurde von heftigem Weinen erschüttert. Wie eine Feder lag sie mir im Arm, so leicht und ätherisch.
Jetzt ist sie doch zusammengebrochen! dachte ich. Was kann ich ohne ihre Hilfe tun?
Aber ich beruhigte und tröstete sie, bis sie sich zusammenriß und ihr Gleichgewicht ebenso schnell wiedergewann, wie sie sich körperlich zu erholen pflegte.
Als der Fockmast stand, machte die Arbeit sichtliche Fortschritte. Fast ehe ich es wußte, und ohne daß ich mich besonders angestrengt hätte, war der Großmast eingesetzt. Dann wurde die Piek am Fockmast angebracht, und einige Tage später befanden sich alle Stagen und Wanten an ihren Plätzen. Toppsegel wären für eine nur aus zwei Köpfen bestehende Mannschaft nur gefährlich gewesen, und so heißte ich die Marsstengen an Deck und machte sie fest.
Noch einige Tage brauchten wir, um die Segel fertigzustellen und festzumachen. Wir hatten nur drei: Klüver-, Fock-und Großsegel, und geflickt, verkleinert und formlos, wie sie waren, paßten sie nur schlecht zu einem so schön gebauten Fahrzeug wie die Ghost. Von meinen vielen neuen Berufen eignete ich mich sicher am wenigsten zu dem eines Segelmachers. Ich wußte besser mit den Segeln umzugehen, als sie zu verfertigen, und ich zweifelte nicht, daß es mir gelingen würde, den Schoner in irgendeinen japanischen Hafen zu bringen. Ich hatte wirklich ein gut Teil Navigation aus den an Bord befindlichen Büchern gelernt, und zudem hatte ich Wolf Larsens Sternenskala, nach der ein Kind sich hätte orientieren können.
Was ihren Erfinder betraf, so hatte sich sein Befinden wenig geändert, außer der Tatsache, daß seine Taubheit zunahm und die Bewegungen seiner Lippen immer schwächer wurden. An dem Tag aber, als wir mit den Segeln fertig wurden, vernahm ich das letzte Wort, und die letzte Bewegung seiner Lippen hörte auf - aber nicht, ehe er auf meine Frage: „Sind Sie voll und ganz da?" noch einmal „ja" geantwortet hatte. Die letzte Leine war gekappt. Irgendwo in der Grabkammer des Fleisches weilte noch die Seele des Mannes. Umschlossen vom lebendigen Lehm, brannte diese starke Intelligenz, die wir gekannt hatten, aber sie brannte in Schweigen und Finsternis. Und sie war körperlos geworden. Sie wußte nichts mehr von ihrem Körper. Sie kannte keinen Körper. Sie kannte nur sich selbst und die Weite und Tiefe von Ruhe und Dunkelheit.
Der Tag unserer Abreise kam. Es gab nichts mehr, was uns auf der Mühsalinsel zurückgehalten hätte. Die verkürzten Masten der Ghost waren an ihrem Platze und die Segel festgemacht. Alles, was ich geschaffen, war stark, nichts davon war schön, aber ich wußte, daß es leisten würde, was es sollte, und wenn ich es anblickte, fühlte ich mich stark.
Das habe ich gemacht! Mit meinen eigenen Händen!
Das hätte ich am liebsten hinausgeschrien.
Aber Maud und ich hatten die wundersame Fähigkeit, einer die Gedanken des andern auszusprechen, und als wir nun darangingen, das Großsegel zu setzen, sagte sie: „Und daß Sie das alles mit Ihren eigenen Händen gemacht haben, Humphrey!"
„Aber es waren noch zwei Hände da", antwortete ich, und sie hielt mir lachend ihre Hände entgegen.
„Ich werde sie nie wieder sauber bekommen", klagte sie, „und sonnenverbrannt werden sie wohl mein ganzes Leben bleiben."
„Dann werden der Schmutz und die sonnenverbrannte Haut Ihr Ehrenzeichen sein", sagte ich und nahm ihre Hände in die meinen, und trotz allen, selbst guten Vorsätzen würde ich die beiden teuren Hände geküßt haben, hätte sie sie nicht schnell zurückgezogen.
Unsere Kameradschaft stand auf schwachen Füßen. Ich hatte meine Liebe lange und gut beherrscht, aber jetzt drohte sie mich zu überwältigen. Gegen meinen Willen hatte sie eigenmächtig meine Augen zum Sprechen gebracht. Ich war in diesem Augenblick wie von Sinnen. In meinem Innern tönte es, als riefen mich Jagdhörner zu ihr. Und mich wehte ein Wind an, dem ich nicht widerstehen konnte, der meinen ganzen Körper ins Schwanken brachte, bis ich mich, ganz unbewußt, niederbeugte, ihre Hände zu küssen. Und sie wußte es. Sie mußte es wissen, als sie schnell ihre Hände fortzog und es doch nicht lassen konnte, mir einen hastig forschenden Blick zu senden, ehe sie die Augen senkte.
Mit Hilfe der Deckstaljen hatte ich die Falle nach vorn zum Spill geschafft, und jetzt setzte ich gleichzeitig Großsegel und Piek. Es war nicht leicht, aber es ging, und bald war die Fock oben und flatterte im Winde. „Wir bekommen den Anker hier nie herauf, es ist zu eng", sagte ich. „Wir müssen erst aus den Schären heraus sein."
„Was machen wir da?" fragte sie.
„Wir kappen ihn", lautete meine Antwort, „und während ich es tue, müssen Sie Ihre erste Arbeit am Spill verrichten. Ich muß sofort ans Rad, und gleichzeitig müssen Sie den Klüver setzen."
Dies Manöver hatte ich mindestens zwanzigmal durchdacht, und ich wußte, daß Maud imstande war, das unentbehrliche Segel zu setzen. Ein frischer Wind wehte gerade in die Bucht herein, und wenn auch das Wasser ruhig war, so mußten wir doch mit äußerster Schnelligkeit arbeiten, um sicher herauszukommen.
Sobald ich den Schäkelbolzen herausgeschlagen hatte, rasselte die Kette durch das Klüsgatt ins Meer. Ich stürzte nach achtern und legte das Ruder um. Die Ghost schien lebendig zu werden, als ihre Segel sich zum erstenmal blähten. Der Klüver ging hoch. Als er in den Wind kam, schwang der Bug der Ghost herum, und ich mußte das Rad einige Spaken zurückdrehen, um das Schiff wieder in den Kurs zu bringen. Ich hatte mir eine automatische Klüverschot erdacht, die den Klüver von selbst herüberbrachte, so daß Maud ihn nicht zu bedienen brauchte; sie hatte aber kaum den Klüver hoch, als ich das
Ruder hart umlegte. Es war ein gefährlicher Augenblick, denn die Ghost lief bis auf Steinwurfweite geradenwegs auf den Strand zu. Aber gehorsam drehte sie sich in den Wind. Die Segel schlugen heftig - ein Geräusch, das meine Ohren mit Entzücken hörten -, und dann standen sie wieder prall auf der andern Seite. Maud hatte ihre Aufgabe vollbracht und kam nach achtern, wo sie neben mir stehenblieb, eine kleine Mütze auf dem vom Winde zerzausten Haar, die Wangen von der Anstrengung gerötet, die Augen weit und hell vor Erregung, die Nasenflügel zitternd in der frischen salzigen Luft. Ihre braunen Augen glichen denen eines aufgescheuchten Rehs. Ihr Blick war wach und unruhig, wie ich ihn nie gesehen, ihre Lippen öffneten sich, und ihr Atem stockte, als die Ghost gegen das Felsenriff an der Ausfahrt der inneren Bucht anstürmte, dann in den Wind ging und unter vollen Segeln in das sichere Fahrwasser hinausfuhr.
Meine Dienstzeit als Steuermann in den Robbengründen kam mir jetzt ausgezeichnet zustatten. Ich brachte das Schiff gut aus der inneren Bucht heraus und ging in einem weiten Bogen in die äußere hinein. Noch ein Schlag, und die Ghost hatte die offene See erreicht. Nun hatte sie den Hauch des Ozeans gespürt und atmete selbst im gleichen Rhythmus, indem sie die breitrückigen Wogen sanft hinauf- und hinabglitt.
Es war trübe und wolkig gewesen, jetzt aber brach die Sonne hindurch - ein verheißungsvolles Vorzeichen - und schien über die geschweifte Küste. Die ganze Mühsalinsel erstrahlte im Sonnenschein. Selbst das unheimliche südwestliche Vorgebirge sah weniger unheimlich aus, und hier und da, wo der Gischt hoch emporsprang, glänzte und funkelte es in der blendenden Sonne.
„Ich werde mit Stolz daran denken", sagte ich zu Maud.
Sie warf mit einer königlichen Gebärde den Kopf zurück und sagte: „Du liebe Mühsalinsel! Ich werde dich immer lieben."
„Und ich auch", sagte ich rasch. Unsere Blicke wollten sich treffen, und doch zwangen wir sie aneinander vorbei.
Einen Augenblick schwiegen wir fast unbeholfen, dann aber sagte ich: „Sehen Sie die schwarzen Wolken in Luv? Sie werden sich erinnern, daß ich Ihnen gestern abend sagte, das Barometer fiele."
„Und die Sonne ist verschwunden", sagte sie, den Blick immer noch auf unsere Insel gerichtet.
„Die Fahrt geht nach Japan!" rief ich heiter. „Ein günstiger Wind und volle Segel, was wollen wir mehr?"
Ich verließ das Rad und lief nach vom, warf Fock- und Großschot los und machte alles zum Empfang des Windes bereit. Es war Sturm, ein tüchtiger Sturm, aber ich entschloß mich, so lange wie möglich die Segel oben zu behalten. Leider war es unter diesen Umständen nicht möglich, das Ruder festzumachen, und so mußte ich darauf gefaßt sein, die ganze Nacht am Rade zu stehen. Maud bestand darauf, mich abzulösen, es zeigte sich aber doch, daß sie nicht Kraft genug hatte, in schwerer See zu steuern. Sie war ganz niedergeschlagen, fand aber bald genug zu tun: Falle und Leinen mußten gestrafft, das Essen in der Kombüse gekocht, Betten gemacht und Wolf Larsen gepflegt werden, und sie beendete ihr Tagewerk, indem sie in der Kajüte und im Zwischendeck gründlich aufräumte.
Ich steuerte die ganze Nacht ohne Ablösung, der Wind wuchs langsam und beständig, und die See mit ihm. Um fünf Uhr morgens brachte Maud mir heißen Kaffee und Kuchen, den sie gebacken hatte, und um sieben flößte mir ein tüchtiges, kochendheißes Frühstück neues Leben ein.
Den ganzen Tag wuchs der Wind. Und immer noch schäumte die Ghost dahin, raste Meile auf Meile mit einer Geschwindigkeit, die ich auf mindestens elf Knoten die Stunde schätzte. Ich mußte die Gelegenheit wahrnehmen, aber bei Einbruch der Nacht war ich völlig erschöpft. Obgleich ich in glänzender körperlicher Verfassung war, hatte ich jetzt doch die Grenze meiner Kraft erreicht. Dazu flehte Maud mich an beizudrehen, und ich wußte, daß das, wenn Wind und See weiter so wuchsen, bald nicht mehr möglich war. So traf ich denn bei Dunkelwerden meine Vorbereitungen.
Aber ich hatte nicht mit den ungeheuren Schwierigkeiten gerechnet, die das Reffen dreier Segel für einen einzigen Mann bedeutete. Immer wieder machte der Sturm meine Anstrengungen zunichte, riß mir die Leinwand aus den Händen und zerstörte in einem Augenblick, was ich in zehn Minuten schwersten Kampfes erreicht hatte. Um acht Uhr hatte ich erst das zweite Reff in die Fock geschlagen. Um elf war ich noch nicht viel weitergekommen. Meine Fingerspitzen bluteten, und alle Nägel waren abgebrochen. Vor Schmerz und Erschöpfung weinte ich heimlich im Dunkeln, wenn Maud es nicht sah.
Verzweifelt gab ich es auf, das Großsegel zu reffen, und entschloß mich, unter gereffter Fock beizudrehen. Noch drei Stunden brauchte ich, um Großsegel und Klüver zu beschlagen, und um zwei Uhr morgens konnte ich, mehr tot als lebendig, feststellen, daß mein Versuch geglückt war. Die gereffte Fock tat ihren Dienst. Die Ghost hielt sich am Winde, sie zeigte keine Neigung, sich quer in den Seegang zu legen. Ich war ganz ausgehungert, aber Maud versuchte vergebens, mir etwas einzuflößen. Mit vollem Munde schlief ich auf dem Stuhl ein.
Wie ich aus der Kombüse in die Kajüte kam, weiß ich nicht. Ich wurde von Maud geführt und gestützt. Als ich lange darauf erwachte, lag ich in meiner Koje. Maud hatte mich hingelegt und mir die Schuhe ausgezogen. Ich war ganz steif und zerschlagen und schrie vor Schmerz auf, als ich mit meinen wunden Fingerspitzen das Bettzeug berührte. Es war offenbar noch nicht Morgen, und so schloß ich die Augen und schlief wieder ein.
Wieder erwachte ich, verwirrt, daß ich nicht besser schlief. Ich zündete ein Streichholz an und sah auf die Uhr. Sie zeigte Mitternacht. Und ich hatte das Deck um drei Uhr nachtsverlassen! Nach einigem Nachdenken fand ich die Lösung: Ich hatte einundzwanzig Stunden geschlafen. Ich lauschte eine Weile auf das Stampfen der Ghost, das Rauschen der See und das gedämpfte Tosen des Windes, dann drehte ich mich auf die andere Seite und schlief friedlich weiter bis zum Morgen.
Als ich um sieben Uhr aufstand, sah ich nichts von Maud und schloß daher, daß sie in der Kombüse sei, um das Frühstück zu bereiten. Ich begab mich an Deck und fand, daß die Ghost sich prächtig hielt. In der Kombüse brannte zwar das Feuer, und das Wasser kochte, aber ich fand keine Maud.
Ich entdeckte sie schließlich im Zwischendeck neben Wolf Larsens Koje. Ich betrachtete ihn, den Mann, der von der höchsten Zinne des Lebens herabgeschleudert war in dies furchtbare Lebendigbegrabensein. Sein stilles, ruhiges Gesicht zeigte eine Milde, die ich nie zuvor gesehen. Maud blickte mich an, und ich verstand. „Sein Leben ist im Sturm erloschen", sagte ich.
„Aber er lebt noch", antwortete sie mit unendlicher Zuversicht in ihrer Stimme.
„Er hatte zuviel Kräfte."
„Ja", sagte sie. „Aber jetzt binden sie ihn nicht mehr. Er ist ein freier Geist."
„Ja, er ist jetzt frei", entgegnete ich; dann faßte ich ihre Hand und führte sie an Deck.
Die Gewalt des Sturmes brach sich in dieser Nacht, das heißt: Er legte sich ebenso langsam und allmählich, wie er aufgekommen war. Als ich am nächsten Morgen nach dem Frühstück Wolf Larsens Leiche zur Bestattung an Deck schaffte, wehte es noch stark, und die See ging hoch. Das Wasser spülte immer wieder über das Deck hinweg und lief durch die Speigatten ab. Eine heftige Bö traf plötzlich den Schoner, der sich überlegte, daß die Leereling völlig begraben war, und das Pfeifen in der Takelung wuchs zu einem wilden Kreischen. Wir standen bis zu den Knien im Wasser.
Ich entblößte den Kopf.
„Ich erinnere mich nur an eine Stelle des Gottesdienstes", sagte ich, „nämlich:, Und dein Leib soll in die See geworfen werden.'"
Maud sah mich an, überrascht und entsetzt. Aber die Erinnerung an etwas, das ich einst gesehen, wurde lebendig in mir und ließ mich Wolf Larsen bestatten, wie Wolf Larsen einen anderen bestattet hatte. Ich hob das Ende des Lukendeckels, und der in Segelleinen eingenähte Körper glitt, die Füße voran, ins Meer. Das eiserne Gewicht zog ihn nieder. Er war verschwunden.
„Leb wohl, Luzifer, du stolzer Geist", flüsterte Maud, so leise, daß ihre Worte vom Heulen des Windes übertönt wurden; aber ich sah ihre Lippen sich bewegen und verstand.
Uns an der Reling haltend, arbeiteten wir uns nach achtern durch. Da blickte ich aufs Meer hinaus. Die Ghost hob sich in diesem Augenblick auf einer Woge, und ich sah deutlich, zwei bis drei Meilen entfernt, einen kleinen Dampfer, der, rollend und stampfend, gerade auf uns zukam. Er war schwarz gestrichen, und nach der Beschreibung der Jäger erkannte ich ihn als einen Zollkutter der Vereinigten Staaten. Ich zeigte ihn Maud und führte sie schnell aufs Hüttendeck. Dann stürzte ich nach vorn an die Flaggenkiste, aber in diesem Augenblick fiel mir ein, daß ich vergessen hatte, für ein Flaggenfall zu sorgen.
„Wir brauchen kein Notsignal", meinte Maud, „wenn sie uns nur sehen."
„Wir sind gerettet", sagte ich ernst und feierlich. Und dann in überströmendem Glück: „Ich weiß kaum, ob ich mich freuen soll oder nicht."
Ich sah sie an, unsere Blicke begegneten sich. Wir lehnten uns aneinander, und ehe ich es wußte, hatte ich sie in meine Arme geschlossen, und unsere Lippen trafen sich.
„Meine Frau!" sagte ich und streichelte mit der freien Hand ihre Schulter, wie alle Liebenden es tun, obwohl sie es in keiner Schule gelernt haben.
„Mein Mann!" sagte sie, und ihre Lider zitterten, und ihreAugen verschleierten sich, als sie mich anblickte und ihren Kopf mit einem glücklichen kleinen Seufzer an meine Brust schmiegte.
Ich sah nach dem Kutter. Er war ganz nahe. Ein Boot wurde gerade herabgelassen.
„Einen Kuß, Liebste", flüsterte ich. „Noch einen Kuß, ehe sie kommen -"
„Und uns vor uns selbst retten", vollendete sie mit einem bezaubernden Lächeln, so rätselhaft, wie ich es noch nie gesehen, denn es barg alle Rätsel der Liebe.
jack london
Das elementare Drama allen Daseins, der Kampf ums Überleben, bei dem Mensch und Tier auf Instinkt, Tapferkeit und rohe Gewalt angewiesen sind - kein anderer Schriftsteller hat dieses Thema mit größerer Sprachkraft, mit reicherer Vorstellungsgabe zu gestalten gewußt als Jack London in seinen unvergeßlichen Klassikern „Wenn die Natur ruft", „Wolfsblut" und „Der Seewolf". Alles, was Jack London schrieb, hat er auch erlebt, und was er erlebte, das empfand er spontan und heftig. Darum sind seine Bücher so ungewöhnlich wie sein kurzes, hartes und abenteuerliches Leben.
Am 12. Januar 1876 in San Franzisko geboren, wächst London in ärmlichen Verhältnissen auf und lernt schon bald, sich mit Gelegenheitsarbeiten durchzuschlagen. Als Zehnjähriger schleppt er Zeitungen durch die Stadt, mit fünfzehn Jahren räubert er mit seinem eigenen Boot private Austernbänke aus, und ein Jahr später heuert er auf einem Robbenfänger an, auf dem er jene Eindrücke sammelt, die er zwölf Jahre später in „Der Seewolf", dem wohl berühmtesten seiner über fünfzig Bücher, verarbeitet. Er holt das Abitur nach, studiert und geht dann als Goldsucher nach Alaska. Die Erlebnisse am Klondike liefern ihm Stoff für zahlreiche Kurzgeschichten und mehrere Romane, dennoch muß er Zeiten voller Hunger und Krankheit überstehen, ehe ihm 1903 mit „Wenn die Natur ruft" der Durchbruch gelingt. Er bereist fortan die ganze Welt, ist als Schriftsteller ungemein produktiv, erlebt aber dennoch immer wieder Phasen voller Selbstzweifel und Depressionen. Erschöpft von der eigenen Rastlosigkeit, zermürbt vom Alkohol und von der Unfähigkeit, mit dem inzwischen reichlich vorhandenen Geld umzugehen, scheidet Jack London im November 1916 auf seiner Farm in Kalifornien freiwillig aus dem Leben.