INHALT

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ÜBER DIE AUTORIN

Miriam Meckel, 1967 geboren, ist Publizistin und Professorin für Kommunikationsmanagement. Viele Jahre arbeitete sie als freie Journalistin und Regierungssprecherin, heute lehrt sie als Direktorin am Institut für Medien- und Kommunikationsmanagement der Universität St. Gallen sowie in Cambridge und Singapur.

ÜBER DAS BUCH

Im Internet ist alles transparent, so glauben wir, und begreifen diese Transparenz als Fortschritt. Die neue Offenheit ist aber oft nur oberflächliche Inszenierung, während wir die Mechanismen dahinter und die Fundamente unseres Lebens immer weniger zu erkennen vermögen. Um unsere Individualität und die Freiheit der eigenen Entscheidung zu erhalten, müssen die unsichtbaren Veränderungen wieder sichtbar gemacht werden.

»We found eyes, but there were no faces left.«

NEW YORK TIMES, 5. 2. 2013

INHALTSVERZEICHNIS

1. GESPENSTER DER ERINNERUNG

2. KINDER DER SONNE 2.0

3. TOTALE TRANSPARENZ

4. ABWANDERUNG INS UNSICHTBARE

a. Sich in die Welt einschreiben

b. Das Leben der anderen

c. Die Gedanken sind frei

d. Die Mensch-Maschine

5. AUSBLICK – SEHEN WIR NOCH WAS?

6. AUFFORDERUNG ZUM SUBVERSIVEN BLICK

Zitatnachweise

1. GESPENSTER DER ERINNERUNG

Als ich ein Kind war, habe ich eines meiner Kinderbücher besonders geliebt. Ich konnte nicht genug davon bekommen, das Büchlein immer wieder zu lesen und die Bilder anzuschauen, sogar die Schallplatte hatte ich zu Hause. Es war Das kleine Gespenst von Otfried Preußler, und es hat mich durch meine Kindheit begleitet. Ich bin mit ihm durch die Stadt Eulenburg gehuscht, habe die Menschen erschreckt und mit den dreizehn Schlüsseln gerasselt, die jede Tür ohne Berührung öffnen konnten. Und dann habe ich »das kleine Gespenst« im doppelten Sinne aus den Augen verloren: Das Buch landete auf dem Stapel der Kinderbücher, die nun nicht mehr cool waren für ein heranwachsendes Mädchen. Und das kleine Gespenst selbst verschwand in den Tiefen meiner Erinnerung. Irgendwann vor einigen Monaten ist es wieder aufgetaucht und geistert seither durch meine Gedanken als Sinnbild für die Fragen, die jetzt neu gestellt werden müssen: Was ist sichtbar für uns, und was ist unsichtbar? Was sehen wir, wenn wir die Welt und uns selbst darin ansehen, und was sehen wir nicht? Und wissen wir eigentlich, was für uns sichtbar und was unsichtbar ist? Oder werden wir im Verschwimmen von Sichtbarem und Unsichtbarem zu Gespenstern unserer selbst?

Das Faszinierende an der Geschichte war für mich vor allem die Idee, unsichtbar zu sein. Durch die Welt gleiten und alles beobachten zu können, aber dabei selbst den Blicken der anderen verborgen zu bleiben. Ein wunderbarer Gedanke für die kindliche Fantasie, und durchaus auch für die erwachsene … Unsichtbar zu sein heißt ja zum Beispiel auch, nicht identifizierbar, nicht berechenbar zu sein und nicht zur Verantwortung gezogen werden zu können. Unsichtbar zu sein bedeutet zudem einen Wissensvorsprung: Während ich weiß, wie die Welt aussieht, und aufgrund dieses Wissens mit ihr umgehen kann, weiß die Welt, die mich nicht sehen kann, nichts von mir. Sie kann nicht mit mir umgehen, weil sie nicht einmal weiß, dass es mich gibt. Oder weil sie nur die körperlose, immaterielle Form meiner selbst kennt, die als freundliches, kleines Gespenst oder als bedrohlicher Totengeist durch die Welt geht, aber nicht mehr ist als ein flächiger, brüchiger Entwurf dessen, was einen Menschen ausmacht. Unsichtbar zu sein bedeutet also, einen Wissensvorsprung und -vorteil zu haben, aber auch die Chance, unbeobachtbar und damit von sozialen Bezügen und Kompromissen unabhängig zu sein. Gespenster koppeln sich vom wahren Leben und seinen sozialen Verbindungen ab. Sie sind nur noch fiktive Entwürfe von etwas, das einmal ein Mensch oder eine Person war, so als habe jemand ein Gazetuch über das geworfen, was einmal sichtbar war, um es im Blick der anderen verschwimmen zu lassen.

Nichts anderes machen die Medientechnologien mit uns Menschen. Sie werfen uns eine digitale Gaze aus Millionen von Pixeln, Bits und Bytes über, leicht oder fester verzurrt, und so sehen wir mal so und mal anders aus. Aber in jedem Fall ist das, was von uns in der Welt erscheint, nicht mehr als ein fiktiver Entwurf. Wir verschwinden aus dem Sichtbaren unserer realen Lebenswelt ins Unsichtbare der multimedialen Überwürfe. Und wir werden dann tatsächlich zu Gespenstern unserer selbst, denn Gespenster bleiben immer nur eine Repräsentation, ein Berührungspunkt des Nicht-Sichtbaren in der auf allumfassende mediale Sichtbarkeit orientierten Welt.

Das hat auch Jacques Derrida im Sinn gehabt, als er 1983 in dem Film Ghost Dance über die Gespenster philosophiert hat, die durch neue Technologien und Medien – damals vor allem Fernsehen und Film – geschaffen werden. Seine Filmpartnerin Pascale Ogier fragt ihn, ob er an Gespenster glaube. Daraufhin holt Derrida zu einer improvisierten Abhandlung aus, deren Verlauf niemand kennt und deren einzige Vorgabe ist, dass er am Ende seine Partnerin fragen muss: »Glauben Sie jetzt an Gespenster?« In den Minuten, die zwischen Beginn und Ende der Improvisation liegen, entwickelt Derrida den Gedanken, das Kino sei die Kunstform, die es den Geistern erlaube, zurückzukehren, sodass es immer mehr die Geister sein werden, die uns antworten. Moderne Technologien und Medien, so Derrida weiter, würden, anders als oft angenommen, das Reich der Gespenster nicht beschneiden, sondern ihre Macht erweitern. Sein Monolog mündet in dem Satz: »Die Zukunft gehört den Gespenstern.« Und auf die schlussendlich gestellte Frage, »Glauben Sie jetzt an Gespenster?«, antwortet Pascale Ogier wie unter Hypnose: »Ja, jetzt ja.«

Das Gespräch, das sich noch heute auf YouTube anschauen lässt,1 fasziniert in seiner Mehrschichtigkeit, die sich aus dem zeitlichen Verlauf ergibt, von der Aufnahme des Films bis zu seiner Rezeption zu verschiedenen Zeitpunkten. Derrida spielt in dem Film sich selbst, für ihn spricht nach seinen Überlegungen schon im Moment der Filmentstehung ein Gespenst, das durch den Film allgegenwärtig in Zeit und Raum, und doch immer nur ein fiktiver Entwurf seiner selbst ist. Das Gespenst bleibt uns erhalten, während der Mensch längst nicht mehr ist. Das Unkörperliche bleibt, das Körperliche vergeht. Und was sehen wir, wenn wir den Film anschauen? Den Menschen Derrida oder das Gespenst, das der Film aus ihm gemacht hat?

Die Frage hat auch Derrida selbst nicht beantworten können. In einem Seminar mit amerikanischen Studenten hat er sich den Film Jahre später noch einmal angesehen. Pascale Ogier war zu dem Zeitpunkt schon verstorben, und Derrida sah sie, ihr Gesicht im Film, nun das Antlitz einer Toten, auf seine Frage antworten, ob sie an Gespenster glaube. »Ja, jetzt ja«, sagt Ogier wieder und wieder, und wird zur gespenstischen Manifestation dessen, was die beiden mit ihrem filmischen Experiment zeigen wollten. Wenn wir heute diesen Film schauen, dann sprechen zwei Gespenster miteinander darüber, dass es die Gespenster sind, die uns künftig Antworten geben, und Derridas Satz hallt wie ein endloses Echo durch die medialen Räume, den Film, das Fernsehen und durch die Datennetze des Internets: »Die Zukunft gehört den Gespenstern.« Denn sie gehört den multimedialen Überwürfen, den changierenden Entwürfen, dem Unsichtbaren.

2. KINDER DER SONNE 2.0

Im Buch Das kleine Gespenst gibt es eine Schlüsselszene, an die ich mich sehr genau erinnere und die für mich immer den Höhepunkt der Erzählung ausgemacht hat: Das kleine Gespenst flieht hektisch vor einer lärmenden Schulklasse, auf der Flucht wird es von einem Sonnenstrahl getroffen und verfärbt sich schwarz. Und ab diesem Moment ist es für die Menschen sichtbar. Aus Verzweiflung und um der Entdeckung zu entgehen, springt das kleine Gespenst in den Burgbrunnen und gelangt von dort aus in die Kanalisation der Stadt, in der es sich dann eine Weile herumtreibt.

Ich hatte diesen Sonnenstrahl vollständig vergessen. Er hatte sich nicht als Ursache für die Verdunklung des kleinen Gespensts in meine Erinnerung eingebrannt. Stattdessen habe ich immer gedacht, das kleine Gespenst sei schmutzig geworden beim Sprung in den Brunnen. Und der Dreck aus der Kanalisation habe es endgültig schwarz gemacht, sodass es von nun an für die Welt sichtbar war.

Diese eigentliche Verwandlung des kleinen Gespensts macht die Geschichte für mich heute wieder spannend. Die Sonne hat das Gespenst schwarz und sichtbar gemacht. Der Mond mit seinem weichen, diffusen Licht hat es wieder zurückverwandelt in das weißliche, unsichtbare Wesen, das es einmal war. Wir können das heute als Metapher für das Sichtbare und Unsichtbare in unserer Welt verstehen. Die Sonne mit ihren hellen, klaren, zuweilen unerbittlichen Strahlen bringt das zum Vorschein, was wir oft nicht sehen wollen, was aber auch zu unserer Welt gehört. Der Dreck, die Unterwelt, die unschönen Erscheinungen menschlichen Lebens.

Es hilft jedoch nicht allein, dass die Sonne scheint. Wir müssen auch sehen wollen und können. Gegen Indifferenz hilft bekanntlich nicht allein die Sonne, sondern ihre transzendentale Schwester, die Aufklärung. Gegen Ignoranz hilft nichts außer dem eigenen, ganz individuellen Eingeständnis, dass man sich selbst betrogen hat in der Art, wie man die Welt betrachtet und verstanden hat. Die Sonnenstrahlen, die auf das ignorante äußere und innere Auge treffen, sind oft besonders grell und schmerzhaft. Sie erhellen zweierlei: den Missstand und die bewusste Blindheit diesem gegenüber.

Heute bestrahlt die Sonne nicht nur unsere materielle Welt, sondern auch die digitale. Sie leuchtet unser virtuelles Leben radikal aus, Klick für Klick, Bit für Bit, Pixel für Pixel, und wir lassen das zu. Multiple Sonnen sind es, allgegenwärtig und unabhängig von Tages- und Nachtzeiten, die unsere Pfade in der materiellen und digitalen Welt bestrahlen, sodass alle wissen, was wir und andere getan haben, welche Wege zurückgelegt und welche Spuren dabei zurü  öüü»ä«»ä«2ääü»«öääüöääüß