»Was für ein langer Weg es ist von einem Leben zu einem anderen: Doch warum schreiben, wenn nicht wegen dieser Distanz.« Yiyun Li schreibt — ohne je das Wort zu verwenden — über ihren Selbstmordversuch, über das, was es bedeutet, an der Grenze zwischen Leben und Tod zu stehen. Sie kam als Immunologin von China nach Amerika und entdeckte erst dort, dass das Schreiben eine Form des Widerstands gegen die existenzielle Leere sein kann. In diesem zutiefst bewegenden Buch erzählt Yiyun Li von ihren Depressionen und von jenen Büchern von Stefan Zweig, Elizabeth Bishop und William Trevor, die sie aus ihrer Einsamkeit herausgerissen haben. Ein Buch über die lebensspendende Kraft der Literatur.
Edition Akzente
Yiyun Li
Lieber Freund,
aus meinem
Leben schreibe
ich dir in deines
Roman
Aus dem Englischen von Anette Grube
Carl Hanser Verlag
Dieses Buch ist Teil einer Konversation mit Brigid Hughes.
Es gibt keine Leiter hinaus aus irgendeiner Welt; jede Welt ist randlos.
Amy Leach, Things That Are
Sie hatte schon immer gern schlafende Menschen geweckt; und außer jemanden zu töten
oder auf die Welt zu bringen, ist es ja tatsächlich die größte Veränderung im Zustand
eines Mitmenschen, die wir herbeiführen können.
Rebecca West, This Real Night
1.
Zum ersten Mal begegnete ich Vorher und nachher in einer Modezeitschrift, die ich auf den Rat von Freundinnen hin pflichtbewusst abonniert hatte, als ich nach Amerika kam. Damals übte Amerika eine anthropologische Faszination auf mich aus. Ich hatte nie zuvor ein Hochglanzmagazin gesehen und fragte mich angesichts der Qualität von Papier und Druck, ganz zu schweigen von dem Schatz an Parfums, die darauf warteten, sich zu entfalten, wie es der Zeitschrift gelang, Profit zu machen in Anbetracht der Tatsache, dass ich nur einen Dollar je Ausgabe zahlte.
Mein Lieblingsbeitrag befand sich auf der letzten Seite und behandelte stilistische Umwandlungen von berühmten Personen — Frisur und Haarfarbe zum Beispiel —, illustriert mit jeweils einem Bild vorher und nachher. Meistens hatte ich keine Meinung zu der Veränderung selbst, doch mir gefiel die Bestimmtheit der Ausdrucksweise, vorher und nachher, bei der nichts das Dazwischen verunstaltete.
Auch nach Jahren in Amerika empfinde ich noch immer kurz so etwas wie ein Hochgefühl, wenn ich auf Anzeigen für Diäten, Zahnbleaching-Streifen, Haarausfallkuren oder sogar Schönheitsoperationen mit den Unterschieden zwischen vorher und nachher stoße. Die Entschiedenheit der Behauptung — für jede missliche oder unangenehme Situation gibt es eine Lösung, die sie zum Verschwinden bringt — fasziniert und verwirrt mich gleichermaßen. Das Leben kann neu eingerichtet werden, suggeriert sie; Zeit kann auseinanderdividiert werden. Doch um eine andere Person zu werden, erscheint mir dieses Rezept so zweifelhaft wie der Umzug an einen anderen Ort: Eine andere Gegend ist bestenfalls eine Ablenkung oder aber ein neues Umfeld für alte Gewohnheiten. Was man von einem geografischen und temporären Ort zum anderen mitnimmt, ist das eigene Selbst: Auch die widersprüchlichste Person ist durchgängig sie selbst.
2.
Vor ein paar Jahren, als ich gerade mein Büro verlassen wollte, um zu unterrichten, rief mich eine Bekannte an, die auf der anderen Seite des Landes, in New Hampshire, lebte. Sie war gerade in einer Stadt in der Nähe. Ich sprach keine zwei Minuten mit ihr, bevor ich meinen Mann bat, sie aufzusuchen. Er verbrachte zwölf Stunden mit ihr, sagte ihre Geschäftstermine ab und schickte sie zurück nach Hause. Zwei Wochen später rief ihr Mann an und teilte mit, dass sie am Sonntagabend aus dem Fenster ihres Büros gesprungen war. Er bat mich, zu ihrem Gedenkgottesdienst zu kommen; ich überlegte lange und beschloss, nicht hinzufliegen.
Unsere Erinnerungen sagen mehr über das Jetzt als über das Damals. Zweifellos ist die Vergangenheit real; dafür gibt es keinen Mangel an Beweisen: Fotos, Tagebücher, Briefe, alte Koffer. Doch wir selektieren aus der Fülle an Beweisen das, was uns im Augenblick passt. Es gibt viele Möglichkeiten, die Vergangenheit mit uns herumzutragen: sie zu romantisieren, sie für ungültig zu erklären, sie mit überarbeiteten oder vollkommen erfundenen Erinnerungen auszustatten; die Gegenwart lässt sich nicht so leicht manipulieren.
Ich möchte nicht, dass die Gegenwart ein Urteil über die Vergangenheit fällt, deswegen möchte ich auch nicht über meine Abwesenheit bei ihrer Beerdigung nachdenken. Wir waren in etwa zur gleichen Zeit in dieses Land gekommen. Als ich ihr erzählte, dass ich die Wissenschaft aufgeben wollte, um Schriftstellerin zu werden, schien sie neugierig, aber ihr Mann hielt es für einen gravierenden Fehler. »Warum willst du dir das Leben schwermachen?«, fragte er.
3.
Ich habe ein schwieriges Verhältnis zur Zeit. Der Vergangenheit kann ich nicht trauen, weil sie von meiner Erinnerung verzerrt sein könnte. Die Zukunft ist hypothetisch und muss mit Vorsicht behandelt werden. Die Gegenwart, was ist die Gegenwart wenn nicht eine beständige Prüfung: In diesem ungeordneten Dazwischen kämpft man darum zu verstehen, was man an sich selbst verändern, was man akzeptieren und was man bewahren muss; handelt man falsch, besteht man die Prüfung scheinbar nie, und das Danach bleibt unerreichbar.
4.
Nach dem zweiten meiner beiden Krankenhausaufenthalte ging ich während einer schwierigen Phase regelmäßig zu einem Treffen für Menschen, deren Leben auseinandergebrochen war. Oft sagte jemand — weinend, zitternd oder trockenen Auges —, dass er oder sie wünschte, die Zeit zurückspulen und alles richtig machen zu können.
Auch ich wünschte, dass das Leben neu eingerichtet werden könnte, aber von welchem Zeitpunkt an? Von jedem Zeitpunkt konnte ich zu einem früheren zurückgehen: Warnzeichen übersehen, Fehler angehäuft, doch es war zwecklos, das zu tun, weil es meist damit endete, dass ich mir inbrünstig wünschte, nie geboren worden zu sein.
Die meiste Zeit schwieg ich, bis man mir sagte, dass ich auswich und keine Fortschritte machte. Aber meine Leiden waren Privatsache, dachte ich; wenn ich sie verstehen und artikulieren könnte, hätte ich überhaupt nicht kommen müssen.
Möchtest du uns etwas mitteilen, wurde ich aufgefordert, als ich wenig zu bieten hatte. Da hatte ich bereits das Gefühl, jegliche Hoffnung verloren zu haben: Ich sah durch die Drehtür neue Leute hereinkommen und alte Teilnehmer in die Welt hinausgehen; ähnliche Geschichten wurden mit der gleichen Zerknirschung und Verzweiflung erzählt; ich hörte die Vorträge zum dritten Mal. Was, wenn ich für alle Zeit in diesem Kellerraum festsäße? Ich brach zusammen und spürte einen kollektiven Seufzer: Meine Tränen schienen der Beweis, dass ich endlich bereit war zu kooperieren.
Ich hatte nur unsichtbar bleiben wollen, aber Unsichtbarkeit ist überall ein Luxus.
5.
Mein ganzes Leben lang wurde ich gefragt: Was verbirgst du? Die Frage verwundert mich, weil ich nicht weiß, was ich verberge, und je mehr ich es bestreite, umso weniger vertrauen mir die Leute. Meine Mutter kommentierte Gästen gegenüber meine angeblichen Heimlichkeiten. Die Frau am Eingang des öffentlichen Badehauses stellte mich oft zur Rede und fragte, was ich ihr verheimliche; nichts, sagte ich, und sie meinte, sie sehe meinen Augen an, dass ich lügen würde.
Schweigsamkeit ist ein naturgegebener Zustand; er hat nichts mit Verheimlichen zu tun. Die Menschen zeigen sich nicht leicht und in gleichem Maße allen anderen.
Wenn man etwas verheimlicht, ist man einsamer, als wenn man zurückhaltend ist.
6.
In China gibt es fünf Zeitzonen, doch im Land gilt eine einheitliche Zeit — Peking-Zeit. Zur vollen Stunden senden alle Radiosender sechs Pieptöne, um sieben Uhr gefolgt von der feierlichen Ansage: »Beim letzten Ton war es Punkt sieben Uhr Peking-Zeit.« Diese Erinnerung ist verlässlich, denn sie gehört nicht nur mir, sondern Generationen von Chinesen, Millionen von uns: Um sieben Uhr wurden die Pieptöne und die Ansage über Lautsprecher in jede Volkskommune, Schule, Militärkaserne und in jeden Wohnblock übertragen.
Doch jenseits dieser Beständigkeit ist die Zeit sowohl aufdringlich als auch nicht zu fassen. Sie lässt uns nicht einmal in den intimsten Augenblicken in Ruhe: Bei jedem Gedanken und Gefühl fordert die Zeit ihren Platz. Wenn wir von Unschlüssigkeit sprechen, haben wir Angst davor, etwas Gegenwärtiges zu versäumen. Wenn wir davon sprechen, etwas hinter uns zu lassen — was für ein triumphaler Ausdruck —, heißt das, dass wir die Vergangenheit abschneiden. Wenn man von der Zeit Freundlichkeit erwartet, verflüchtigt sie sich höhnisch oder, schlimmer noch, gleichgültig. Wer von uns hat nicht schon einmal zu anderen oder sich selbst gesagt: Wenn ich nur ein bisschen mehr Zeit hätte …
7.
Man verheimlicht etwas aus zwei Gründen: weil man es beschützen will oder sich dafür schämt. Und diese beiden Möglichkeiten sind nicht immer zu trennen. Wenn mein Verhältnis zur Zeit schwierig ist, wenn Zeit aufdringlich und nicht zu fassen ist, könnte es dann sein, dass ich nur mich selbst vor der Zeit verstecke?
Früher schrieb ich von Mitternacht bis vier Uhr morgens. Damals hatte ich kleine Kinder, mehrere Jobs (ich arbeitete mit Mäusen, mit totem Gewebe und unterrichtete creative writing) und den Ehrgeiz, das Schreiben von meinem wirklichen Leben getrennt zu halten. Wenn die meisten Menschen vom Schlaf durch die Nacht getragen wurden, ohne sich der Zeit, des Wetters bewusst zu sein, schwelgte ich in dem luxuriösen Gefühl, an der Schwelle zur Realität zu leben.
Für die tiefen Schläfer war die Nacht ein vor der Zeit schützender Kokon; ich wollte glauben, dass sie für mich noch etwas Besseres war: Nachts war die Zeit mein Besitz, nicht umgekehrt.
8.
Als ich 2008 nach Peking zurückkam, besuchte mich eine Freundin, und wir unterhielten uns über ihre Investitionen in Immobilien und unsere früheren Mitschüler, und eine halbe Stunde, nachdem sie die Wohnung meiner Eltern verlassen hatte, rief sie an: Sie hatte es nicht persönlich erwähnen wollen, doch ein Junge, der mir nahegestanden hatte, als wir Teenager waren, hatte gemeinsam mit seiner Freundin Selbstmord begangen.
Meine erste Reaktion war Verwunderung, dass meine Freundin gewartet hatte, bis wir uns nicht mehr von Angesicht zu Angesicht gegenübersaßen, um es mir zu erzählen. Meine nächste Reaktion war ebenfalls Verwunderung, weil ich das Gefühl hatte, mein Leben lang mit dieser Nachricht gerechnet zu haben.
Unser toter Freund hatte eine Affäre gehabt, und sowohl er als auch seine Freundin hatten eine schwierige Scheidung hinter sich, waren danach jedoch als Ehebrecher gemieden worden.
»Es wäre besser gewesen, er wäre nach Amerika gegangen«, sagte meine Freundin.
Warum?, fragte ich. Auf der Universität hatte er sich als Autodidakt und Designer gut geschlagen — in seinen Briefen schickte er mir oft aus Zeitungen und Zeitschriften ausgeschnittene, von ihm gestaltete Anzeigen für Markenkleidung, importierte Minzbonbons, Artikel aus Kaschmir. Er war jemand, der in der prosperierenden Wirtschaft des Landes ein gutes Leben hätte haben können.
Meine Freundin seufzte. »Du bist die Einzige, die noch weltfremder ist als er. Du solltest eigentlich wissen, dass China kein Land für Träumer ist.«
Meine Freundschaft mit dem Jungen bestand überwiegend aus Briefen. Es war eine andere Ära, als Gedanken und Gefühle noch mit der Post reisten, Dringlichkeit mit Telegrammen übermittelt wurde. Meine Familie hatte kein Telefon, bis ich auf die Universität ging; E-Mail kam viel später, als ich schon in Amerika war. Ich erinnere mich noch an die Zeit, als das Geräusch eines Motorrads die absolute nächtliche Stille unterbrach — nur ein Telegramm mit der Nachricht eines eingetretenen oder bevorstehenden Todesfalls konnte diese Störung verursachen. Briefe, vor allem solche mit vielen Marken darauf, hatten das Gewicht der Freundschaft.
Ich kann mich nur noch an wenige Dinge in diesen Briefen erinnern: dass er in der Schule in das Mädchen, das neben ihm saß, verliebt war; dass er ein tschechowsches politisch-satirisches Stück verfasste mit Gorbatschow und einem ostdeutschen General und einer losgehenden Pistole im 3. Akt — das war 1988, als der Kommunismus Teile Europas noch fest im Griff hatte; es war dasselbe Jahr, in dem wir uns zum letzten Mal sahen.
Aber ich erinnere mich daran, dass er, bevor er mit den profitablen Anzeigen ein Ventil für seine künstlerische Obsession fand, zahllose Automodelle entwarf und mit passenden Namen versah; zudem zeichnete er ein seltsames Sortiment von Pistolen, Gewehren, Raumfahrzeugen und Haushaltsgeräten und auch abstrakte Grafik: Alle Zeichnungen waren pedantisch ausgeführt, manchmal machte er fünf oder sechs Entwürfe, und ihre Einzelheiten erfüllten mich sowohl mit Ehrfurcht als auch mit Ungeduld.
Wenn ich sage, dass ich seinen Selbstmord erwartet hatte, heißt das vielleicht nur, dass ich meine Erinnerung revidiere. Es gibt keinen Grund, warum ein künstlerisch begabter und sensibler Junge kein glücklicher Mann werden könnte. Wo und wie etwas falsch lief in seinem Leben, weiß ich nicht, doch schon als Jugendliche fiel mir seine Niedergeschlagenheit auf, als ihm das Stück nur Spott einbrachte und die Ausstellung seiner Autoentwürfe ihn den Mitschülern entfremdete. Er war ein Mensch, der die anderen brauchte, um sich selbst lebendig zu fühlen.
9.
Eine Träumerin: Es ist das Letzte, was ich genannt werden will, sowohl in China wie auch in Amerika. Zweifellos dachte meine Freundin in Peking, als sie diesen Ausdruck gebrauchte, an Eigenschaften wie Hartnäckigkeit, Zielstrebigkeit, Eigenwilligkeit und — insbesondere — Weltfremdheit, wovon sie viel in mir erkannt haben musste. Selbst wenn man die Persönlichkeit eines Träumers und Träume hat, ist das keine Garantie dafür, dass man weiß, wie man träumt.
Die Frau in New Hampshire und ich waren wie viele von uns mit dem gleichen Ziel nach Amerika gekommen — ein neues Leben zu beginnen. Ich würde es nicht einen Traum nennen, noch nicht einmal ein ehrgeiziges Vorhaben. Sie war Wissenschaftlerin gewesen und hatte eine sichere Stelle bei einer biomedizinischen Firma. Ich war von diesem Weg abgewichen und hatte mich für einen Beruf entschieden, der Verbergen weniger praktikabel macht, so ich denn tatsächlich gewohnheitsmäßig etwas verberge.
Ich frage mich nicht, wie mein Leben verlaufen wäre, wäre ich in China geblieben: nicht wegzugehen war keine Option für mich. Ein Jahrzehnt lang war allem, was ich tat, ein konkretes Nachher aufgeprägt: An dem Tag, an dem ich in Amerika ankäme, würde ich ein anderer Mensch.
Aber es gibt noch die Möglichkeit, dass ich nie mit dem Schreiben angefangen hätte. Wäre ich Wissenschaftlerin geblieben, wäre ich dann anders geworden: ruhiger, weniger besorgt, vernünftiger? Hätte ich aufgehört zu verheimlichen, oder wäre ich besser darin geworden?
10.
Ein paar Monate, bevor mein Freund sich umbrachte, hatte er mich über das Internet gefunden. In seiner E-Mail erzählte er von seiner Scheidung, und ich schrieb ihm, dass ich die Wissenschaft für das Schreiben aufgegeben hatte. Er antwortete: »Ich gratuliere dir: Du warst schon immer eine Träumerin, aber Amerika hat deinen Traum erfüllt.«
Vor kurzem nannte mich auf der Bühne jemand ein Beispiel für den amerikanischen Traum. Sicherlich habe ich auch das getan: Ich habe eine Abbildung mit vorher und nachher von mir machen lassen. Die Veränderung ist jedoch oberflächlich und trügerisch wie Werbung auf dem Heck eines Busses.
Die Zeit wird es zeigen, sagen die Leute, als hätte die Zeit immer das letzte Wort. Vielleicht wehre ich mich nur gegen diese Vorstellung, so wie ich mich gegen die wehre, die nach der Macht streben, das letzte Wort über andere zu sprechen.
11.
Ich hätte mich gern eine Träumerin nennen lassen, hätte ich gewusst, wie man träumt. Das Gefühl, ein Hochstapler zu sein, ist ein natürliches Gefühl, das viele Leute kennen, und diejenigen, die sich nicht bisweilen so vorkommen, finde ich nicht vertrauenswürdig. Es würde mir nichts ausmachen, für vieles gehalten zu werden, was ich nicht bin: schüchtern, fröhlich, kalt, aber ich möchte nicht als Träumerin bezeichnet werden, wenn ich es tatsächlich nicht bin.
12.
Was ich bei Träumern bewundere und respektiere: das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, die Unempfänglichkeit für das Unseriöse und die Zuversicht, dass das Gute und Wahre triumphieren und überdauern werden. Träumer sind keine Egoisten, Blender oder Sonderlinge; im Alltag gehen sie eher unter, als dass sie auffallen, doch das ist nicht Verstecken. Ein echter Träumer muss auf die Zeit vertrauen.
Abgesehen davon, dass ich mich nicht für eine Träumerin halte, möchte ich auch nicht als jemand angesehen werden, der sich zwar Träumerin nennt, tatsächlich aber nur ehrgeizig ist. Man begegnet ihnen oft im Leben, und ihre Ambitionen sind kleiner als Träume, gewöhnlicher, die bekannt gemacht werden müssen und abhängig sind von der Verwirklichung in dieser besonderen Zeit. Verursachen sie anderen Leid, haben sie keine Probleme, diesen Schaden als den Preis für ihre Träume abzuschreiben. Zeitgebundenheit ist vielleicht das, was Ambitionen von echten Träumen unterscheidet.
13.
Die Frau in New Hampshire war weder eine Träumerin noch ambitioniert. Sie hatte auf ein solides, unaufgeregtes Leben in einer amerikanischen Vorstadt gehofft, doch Einsamkeit musste ihr Leben in eine Wüste verwandelt haben.
Mein toter Freund in Beijing war ehrgeizig, weil er seine Talente erkannt hatte; zudem hatte er Träume. Ich musste einst Bestandteil seines Traums gewesen sein — warum sonst hätte er mir geschrieben, wenn er nicht die Nähe zu einer anderen Träumerin gesucht hätte.
14.
Ich kam als aufstrebende Immunologin in dieses Land. Ich hatte mich für dieses Gebiet entschieden — wenn man den Wunsch außer Acht lässt, China verlassen zu wollen, und einen Beruf zu haben, mit dem ich meinen Lebensunterhalt verdienen konnte —, weil mir die Funktionsweise des Immunsystems gefällt: Seine Aufgabe ist es, alles, was körperfremd ist, aufzuspüren und anzugreifen; es hat ein Gedächtnis, manche Erinnerungen bleiben lebenslang erhalten; sein Gedächtnis kann Fehler machen, selektive oder, schlimmer, unterschiedslose, und das System veranlassen, sich selbst mit etwas Fremdem zu verwechseln, als etwas, was zu eliminieren ist. Das Wort immun (aus dem Lateinischen immunis, in- + munia, Leistungen) ist eins meiner Lieblingsworte im Englischen, Immunität — gegen Krankheit, Dummheit, Liebe, Einsamkeit, quälende Gedanken und nicht zu lindernde Schmerzen — ist eine Eigenschaft, die ich mir für meine literarischen Gestalten und für mich selbst gewünscht habe, wohl wissend, dass der Wunsch vergeblich ist: Nur die Leblosen sind immun gegen das Leben.
15.
Intuitiv strebt man nach Immunität gegenüber zwei Typen von Menschen: diejenigen, die die eigenen Überzeugungen bestätigen, und diejenigen, die sie in nichts verwandeln. Letztere sind Raubtiere, die unser Herz zerreißen, erstere machen wir zu Feinden, weil wir im Gegensatz zu anderen Spezies in der Lage sind, unser unsicheres Selbst nicht nur aufzublasen, sondern auch zu verkleinern.
16.
Als ich diesen Aufsatz zu schreiben begann, hatte ich die Vorstellung, dass ich damit Gedanken über die Zeit testen, analysieren könnte. Ich hatte sogar eine Vision des Nachher, wenn sich meine Verwirrung aufgelöst hätte.
Wissenschaftliche Tests sind Teil endloser Forschung: Eine Frage führt zur nächsten; was folgt, bestätigt oder widerlegt, was zuvor kam. Die eigenen Vorstellungen zur Zeit zu analysieren, während die Zeit selbst unbeständig und unfassbar bleibt, kommt einem vergeblich vor: Wenn man glaubt, eine Facette der Zeit zu verstehen, präsentiert sie eine andere, die die Beweisführung wieder unterminiert.
Über einen Kampf zu schreiben, während man kämpft: Man kann nur hoffen, dass die Verwirrung eines Tages enden wird.
17.
»Aber was willst du denn noch? Du hast eine Familie, einen Beruf, ein Haus, ein Auto, Freunde und einen Platz in der Welt. Warum bist du nicht zufrieden? Warum bist du nicht stark?« Diese Fragen stellt unter anderen meine Mutter.
In das Krankenhaus, in dem ich lag, kam eine hoheitsvolle psychologische Betreuerin: perfekter Lippenstift, glänzendes lockiges Haar, bunte Blusen und dazu passende flache Schuhe. »Junge Frau«, sagte sie jedes Mal, wenn sie mich sah. »Verlieren Sie Ihr Lächeln nicht.«
Ich hatte sie gemocht und mochte sie noch immer, auch nachdem sie mein spirituelles Leben in Frage gestellt hatte. Ich verstand, dass ihr mein gottloser Zustand Sorgen bereitete und mein Wohlverhalten mich zu einem guten Projekt machte. »Hören Sie nicht auf sie«, sagte meine Bettnachbarin, eine schwarze Buddhistin. »Sie hat einen evangelikalen Hintergrund.«
Ich beruhigte sie. Dass man mir Predigten hielt, kümmerte mich nicht.
Dann hatte ich einen schwierigen Tag. Beim Abendessen fragte die hoheitsvolle Frau: »Junge Frau, warum haben Sie heute geweint?«
»Ich bin traurig.«
»Wir wissen, dass Sie traurig sind. Aber ich würde gern wissen, warum Sie traurig sind.«
»Kann man mich in meiner Traurigkeit nicht einfach in Ruhe lassen?«, sagte ich. Die Frauen am Tisch lächelten ihre Teller an: Das brave Mädchen hatte einen Wutanfall.
18.
Was macht uns traurig? Was macht uns zornig? Was veranlasst uns, die schönen Dinge in unserem Leben und unsere Verantwortung anderen gegenüber zu vergessen? Wir verstecken uns vor Leuten, die diese unbeantwortbaren Fragen stellen, nur um uns selbst das Gleiche wieder und wieder zu fragen.
»Ich weiß, Sie möchten nicht, dass ich Sie frage, warum Sie hier sind«, sagte meine Bettnachbarin im Krankenhaus. »Aber können Sie beschreiben, wie Sie sich fühlen? Ich habe keine Worte dafür.«
Mehrere Frauen lagen nacheinander bei mir im Zimmer — eine andere Drehtür —, aber die letzte mochte ich. Sie war in einer afroamerikanischen Mittelschichtfamilie im Staat New York aufgewachsen und das einzige adoptierte Kind unter sechs Geschwistern. Sie heiratete aus Liebe, doch an ihrem Hochzeitstag wurde ihr klar, dass sie den größten Fehler ihres Lebens begangen hatte. »Während des ganzen ersten Tanzes hat er mich nicht einmal angeschaut«, sagte sie. »Er hat jedem Gast ins Gesicht gesehen, damit nur alle wussten, dass es seine Show war.«
Als sie mir die Geschichte erzählte, war ihr Mann übergewichtig, durch Schlaganfälle gelähmt und aufgrund von Diabetes blind. Sie pflegte ihn gemeinsam mit einer Krankenschwester; sie sahen nur alte Filme im Fernsehen, weil er sich an die Wortwechsel erinnerte. Dennoch, so sagte sie, war sie wütend, weil es bei allem in ihrem Leben nur um ihn ging.
Ich fragte sie, ob sie je daran gedacht hatte, ihn zu verlassen.
Sie antwortete, dass sie während ihrer Ehe immer wieder daran gedacht hatte, aber sie würde es nicht tun. »Ich möchte nicht, dass meine Kinder mit der Vorstellung aufwachsen, dass man jemanden in diesem Zustand im Stich lassen kann.«
Und doch hatte sie versucht, sich umzubringen — sie hätte sowohl ihren Mann als auch ihre Kinder verlassen. Aber das sagte ich nicht, weil es genau das war, was viele Leute über eine Situation wie ihre sagen würden. Man muss ein starkes Selbst haben, um egoistisch zu sein.
19.
In mir ist diese Leere. Alle Dinge auf der Welt reichen nicht aus, um die Stimme dieser Leere zu übertönen, die sagt: Du bist nichts.
Diese Leere beansprucht die Vergangenheit nicht für sich, denn sie ist immer da; sie muss die Zukunft nicht für sich beanspruchen, weil sie die Zukunft versperrt. Entweder ist sie ein Diktator oder die beste Freundin, die ich je hatte. An manchen Tagen kämpfe ich dagegen, bis wir beide wie verletzte Tiere am Boden liegen. Dann frage ich mich: Was, wenn ich weniger als nichts werde, wenn ich diese Leere hinter mir lasse? Was, wenn es diese Leere ist, die mich weiterleben lässt?
20.
An einem anderen Tag sagte meine Bettnachbarin, ihr sei aufgefallen, dass ich verstumme, wenn sie über den Buddhismus spreche. »Ich meine nicht als Religion. Sie könnten zum Beispiel versuchen zu meditieren.«
Ich erzählte ihr nicht, dass ich von meinem zwölften bis zu meinem dreiundzwanzigsten Lebensjahr buddhistische Schriften gelesen hatte. Die Lehre des Nicht-Seins in diesen Texten — für eine sehr lange Zeit waren das die tröstlichsten Worte, weil sie die Intensität der Leere abschwächten.
Mein Vater hat mir beigebracht zu meditieren, als ich elf war. Stell dir einen Eimer in deinen Armen vor, sagte er zu mir und bat mich, zuzuhören, wie Wasser in den Eimer tropfte, und wenn er voll war, wie das Wasser unten wieder heraustropfte. »Von leer zu voll, und von voll zu leer.« Er unterstrich die Sätze in einem Buch für mich. »Das Leben vor der Geburt ist ein Traum, das Leben nach dem Tod ist ein Traum. Was dazwischenliegt, ist nur die Fata Morgana der Träume.«
21.
Mein Vater ist der fatalistischste Mensch, den ich kenne. Letztes Jahr gab er in einem Gespräch mit mir zu, dass er in seiner Ehe nicht einen Tag des Friedens erlebt hatte, und er bedauerte, dass er meine Schwester und mich nie vor unserer Mutter beschützt hatte, die der Familiendespot ist, unvorhersehbar sowohl in ihrer Herzlosigkeit wie auch in ihrer Verletzlichkeit.
Doch in Wahrheit hat er versucht, uns seinen Fatalismus einzuimpfen, weil nur Fatalismus uns schützen konnte. Jahrelang habe ich mich dahinter versteckt: Fatalismus, nach dem man süchtig ist, kann einen gelassen, kompetent, sogar glücklich aussehen lassen.
22.
Eine Zeitlang las ich Katherine Mansfields Tagebücher, um mich abzulenken. »Lieber Freund, aus meinem Leben schreibe ich dir in deines«, schrieb Mansfield in einem Eintrag. Ich musste weinen, als ich diese Zeile las. Sie erinnert mich an den Jungen von vor vielen Jahren, der nicht aufhören konnte, mir in seinen Briefen die Entwürfe seiner Träume zu schicken. Es erinnert mich auch daran, warum ich nicht aufhören will zu schreiben: Sagen die Bücher, die man schreibt — beendete, in Arbeit befindliche und zukünftige — nicht das Gleiche: Lieber Freund, aus meinem Leben schreibe ich dir in deines. Was für ein langer Weg es ist von einem Leben zu einem anderen: Doch warum schreiben, wenn nicht wegen dieser Distanz; wenn man Dinge auf sich beruhen lassen kann, kann jedes Vorher von einem Nachher ersetzt werden.
23.
Es ist nicht Fatalismus, der einen die Hoffnung verlieren lässt, das verstehe ich
jetzt. Es ist die Rebellion gegen diesen Fatalismus; es ist der Wunsch, die Zeit vom
Fatalismus zurückzufordern.
Ein fatalistischer Mensch kann nicht jener Träumer sein, der ich immer noch eines Tages werden will.
24.
»Der Zug hielt an. Wenn ein Zug auf dem offenen Land zwischen zwei Bahnhöfen stehen bleibt, ist es unmöglich, den Kopf nicht aus dem Fenster zu stecken und nachzusehen, was los ist«, schrieb Mansfield gegen Ende ihres Lebens. Das ist die Unvermeidlichkeit des Lebens: Der Zug bleibt aus uns unbekannten Gründen immer zwischen der Vergangenheit und der Zukunft stehen, und beide lassen das Jetzt aussehen, als wäre es nirgends. Aber es ist dieses Nirgendssein, aus dem man Nutzen ziehen muss. Man schaut zum Fenster hinaus: Die Reisfelder und die Alfalfafelder sind längst vorüber, jetzt sind dort Weinberge und Mandelbäume. Man hat es bis hierher geschafft; vielleicht ist das Grund genug, um weiterzureisen.
Als ich in County Leitrim ankam, herrschte in ganz Irland eine Hitzewelle. Jeder, mit dem ich zu tun hatte — der Mann, der die Pässe kontrollierte, die Frau, die mich von Dublin durch das Land fuhr, der Mann am Empfang des Hotels, der mir einen bronzenen Schlüssel mit Quaste reichte —, kommentierte das ungewöhnliche Wetter. Kurz nachdem ich eingecheckt hatte, traf ich einen Stadtrat und einen Fotografen in der Lobby, und auch sie sprachen über die Hitze.
Kinder unterhalten sich im Gegensatz zu älteren Menschen nicht über das Wetter. Für sie ist es eine Tatsache, die einzig und allein die Gegenwart betrifft. Wird das Wetter so oft auf Smalltalk reduziert, weil es für so viel stehen kann? Das Wetter verortet Erfahrung in der Zeit: Es färbt eine Stimmung, die mit einer Erinnerung verknüpft wird, es ist eine Variable oder eine Konstante im Vergleich von Jetzt und Damals. Zwei Tage später fand eine Hochzeit im Hotel statt. Die Braut hat Glück, sagten die Leute, da das gute Wetter noch immer andauerte, und mir war klar, dass sie sich noch Jahre später daran erinnern würden.
In einem Eckladen kaufte der Fotograf, ein Mann in den Sechzigern, einen Wettschein und drei Kugeln Eis in der Waffel. Ich versuchte abzulehnen, aber er wollte nichts davon hören — das Eis sei das Beste und koste nur einen Euro pro Kugel, sagte er. Wir kletterten über eine Backsteinmauer zu einem privaten Bootssteg. Betreten verboten, warnte ein Schild. Sie sollten aussehen, als wären Sie in Ihre Lektüre vertieft, sagte der Fotograf und wies mich an, die Beine über dem Wasser baumeln zu lassen, mir das Buch aufgeschlagen in den Schoß zu legen und das Eis zu vergessen. Jetzt wenden Sie sich mir zu und lächeln, County Leitrim soll sehen, wie zufrieden unser Gast ist. Es war Ende Mai, und das Eis schmolz schnell. Ich sah zu, wie es auf die Holzplanken tropfte. Wetter, das wir nicht vergessen, ist das Wetter, das wir aus einem bestimmten Grund oder wegen einer Anstrengung bewusst erleben.
Danach machte ich einen Spaziergang durch die Stadt, kam an ein paar Pubs, einem Blumenladen und einem blaugestrichenen Wettbüro vorbei. Es waren kaum Leute auf der Straße. Schließlich gelangte ich zu einer Sehenswürdigkeit, die mir der Stadtrat und der Fotograf ans Herz gelegt hatten. Es war die kleinste Kapelle Irlands und angeblich die zweitkleinste der Welt. Dennoch war sie der würdevolle Bau, den ich mir vorgestellt hatte: Steinfassade, bunte Glasfenster, Marmoraltar, eisernes Tor. Die Kapelle war nach ihrem Tod für eine Mary Costello von ihrem Mann erbaut worden, der später neben ihr zur Ruhe gebettet wurde. Das dicke undurchsichtige Glas, das beide Särge bedeckte, war von einem beunruhigenden Gelb, und dazwischen war genug Platz, um sich um die eigene Achse drehen zu können. Ich blieb eine Weile, weil es in der Stadt keinen anderen Ort gab, den ich anschauen wollte, und mir geraten worden war, die Einsamkeit in meinem Hotelzimmer zu meiden und auch an elementarsten menschlichen Interaktionen teilzunehmen.
Meine Psyche war in schlechter Verfassung. In der Woche zuvor hatte ich daran gedacht, mich selbst in ein Krankenhaus einzuweisen, aber die Irlandreise war mir vernünftiger erschienen. Ich verreiste oft während dieser Zeit, und wie bei jeder Reise hoffte ich, als anderer Mensch zurückzukehren. Während ich langsam zusammenbrach, war ich blind für die Gefahr einer Fehlentscheidung: In der Woche nach Irland landete ich in der Notaufnahme.
Während des Zwischenstopps im Flughafen Amsterdam hatte ich vor mir gesehen, wie ich bewusstlos auf dem Boden eines Lastenaufzugs lag, dessen Türen offen standen. Die Vorstellung war tröstlich: Man konnte auf einer Reise sterben. Ich schrieb ein Tagebuch, aber diesen Augenblick in Amsterdam trug ich nicht ein. Falls ich die Kontrolle über mich verlor, sollte es ein Prozess sein, der mit Worten zu verstehen war. Ich verstand das Bild in Amsterdam nicht und wollte es auch nicht verstehen. Das Tagebuch war — und ist — eine langwährende Auseinandersetzung mit mir selbst: Eine klare Stimme stellt vernünftige Fragen, und eine sehr laute Stimme reagiert trotzig, manchmal antwortet sie, dann wieder schweift sie ab. Es ist wie eine Konfrontation zwischen George Eliot und Dostojewski. Erstere rät zu Selbstbeschränkung durch Selbstvervollkommnung, und Letzterer unterbricht sie mit Monologen über erregte und gefangene Seelen; wenn Letzterer versucht, kohärent oder auch aufrichtig zu sprechen, erscheint die Anstrengung unter dem Blick der Ersten lächerlich. Man weiß immer am besten, wie man sein eigenes Leben sabotieren kann.