Das Buch
Als Hebamme hat es Maja Böhler täglich mit einem Kaleidoskop an Menschen in Extremsituationen zu tun: mit Müttern, die unter Presswehen noch WhatsApps schreiben; mit Vätern, die beherzt und splitternackt zu ihrer Frau in die Wanne steigen; mit rasenden Taxifahrern und campierenden Großfamilien. Sie ist Zeugin endloser Vornamensdiskussionen, die in kuriosen Fünf-Wort-Gebilden enden, und hautnah dabei, wenn Paare und Alleinstehende das Wunder der Geburt erleben. Sie erzählt auch von den schwierigen Seiten ihres Berufs, von todtraurigen Schicksalen genauso wie von Bürokratie, Zeitmangel und Erschöpfung. Ein einzigartiger Blick hinter die Kulissen: unverblümt, emotional, mitfühlend und komisch. Das Buch zur Kolumne des SZ-Magazins – mit vielen unveröffentlichten Folgen.
MAJA BÖHLER
MIT ANNABEL DILLIG
DIE WEHEN-
SCHREIBERIN
Geschichten aus dem
Kreißsaal
EINLEITUNG – Maria und Josef 2018
AUF UROMAS SPUREN – Eine Geschichte vom Anfang
WAS HEISST PRESSEN AUF RUMÄNISCH? – Über Sprachbarrieren im Kreißsaal
»SCHATZ, MACH DICH DOCH SCHON MAL UNTENRUM FREI« – Über ambitionierte Väter
IMMER NUR BRÜTEN – Über das Nase-voll-Syndrom
BLUT, SCHWEISS UND KÄSESCHMIERE – Über Körperflüssigkeiten
ARTHUR LEBT – Über eine extreme Frühgeburt
DAMM RIGHT! – Über Geburtsverletzungen
»ER SOLL INTERNATIONAL KLINGEN« – Über die Wahl des Vornamens
BAUCHGEFÜHL – Über meine Berufswahl
»ER WIRD NICHT SCHREIEN, ODER?« – Über eine Totgeburt
NO MILK TODAY – Über Schwierigkeiten beim Stillen
»MAMA SCHAFFT DAS SCHON« – Über rasante Geburten im Auto
KINDERÜBERRASCHUNG – Über eine 13-jährige Mutter
»ICH MÜSSTE MICH MEHR FREUEN, ABER ICH KANN NICHT« – Über Wochenbettdepression
TO PDA OR NOT TO PDA, DAS IST HIER DIE FRAGE – Über Schmerzen
»ICH HABE GESAGT, ICH WILL ES ALLEINE SCHAFFEN« – Über eine Schwangere ohne Partner
EIN FALL FÜR DIE COUCH – Über eine Hausgeburt
»WAS WIR DEN ELTERN SAGEN, WIRD EINE ZÄSUR SEIN« – Über eine unentdeckte Trisomie 21
AM LIMIT – Über die Gefahr von Burn-out in meinem Beruf
BESSER SPÄT ALS NIE – Über Muttersein mit 55
ANDERE LÄNDER, ANDEREN WEHEN – Über meine Zeit in Madagaskar
FRUCHTWASSER MARSCH – Über einen Blasensprung vor Publikum
»FLASCHEGEBEN IST DOCH VIEL MODERNER« – Über eine Frau, die nicht stillen wollte
»HILFE, DAS KIND KOMMT, ACH NEE, DOCH BLÄHUNGEN« – Über Fehlalarme
»MERCIII, DASS ES DICH GIBT« – Über Dankbarkeit
BITTE HIER ENTLANG ZUR P.U.S.S.Y. – Über Schamhaarfrisuren und Tattoos
»DAS KIND MUSS RAUS« – Über Sprache in der Geburtshilfe
»SCHWANGERE DÜRFEN KEINE KETTEN TRAGEN. WHAT?« – Über Aberglauben im Kreißsaal
»WIR HABEN DEN TERMIN DOCH EXTRA SO GELEGT« – Über Wunsch-Kaiserschnitte
VON STREBERN UND ABSITZERN – Über Geburtsvorbereitungskurse
IHR KINDERLEIN KOMMET ALLE AUF EINMAL – Über eine verrückte Nachtschicht
»CHEMOTHERAPIE, JETZT?« – Über eine Schwangere mit Brustkrebs
»MEIN MANN BESTEHT AUF SEINEM MITTAGSSCHLAF« – Über ungleiche Arbeitsverteilung
»DIE ARME KANN NUR NOCH IM SITZEN SCHLAFEN« – Über eine Vierlingsmutter
»ICH WOLLTE DAS KIND NICHT SEHEN, SONST HÄTTE ICH ES NICHT GESCHAFFT« – Über Adoption
»ICH WILL MEINEN KÖRPER ZURÜCK!« – Über die Rückbildung
WALGESÄNGE UND »APOCALYPSE NOW« – Über Musik im Kreißsaal
BÜHNE FREI FÜR DIE PLAZENTA – Über ein Superorgan
UNWIRKLICH SCHÖN – Über das Wunder der Geburt
ZUM SCHLUSS – Guter Hoffnung
Eigentlich ist es meine Zunft – dieses jahrhundertealte, in vielerlei Hinsicht altmodische Metier – nicht gewohnt, groß in den Medien aufzutauchen. Seit einiger Zeit ist das anders. Spätestens 2017 kamen die Begriffe Hebammenmangel, Kreißsaalschließungen und Haftpflichtproblematik auch Menschen im nicht gebär- und zeugungsfähigen Alter immer öfter unter. Da waren die vielen Zeitungsartikel, die Petitionen im Bundestag, die Demonstrationen und all die Leidensberichte werdender Eltern auf der Suche nach einer Hebamme, sogar die »Lindenstraße« griff das Thema auf. Ich entdeckte Hebammengesuche am Schwarzen Brett im Supermarkt, in sozialen Netzwerken – und immer wieder auch auf meiner Mailbox. Die Bestechungsversuche häuften sich: »Können Sie uns nicht doch betreuen? Bitte, bitte! Wir zahlen Ihnen auch schwarz den Privatsatz, wir holen Sie auch für jeden Besuch mit dem Auto und fahren Sie danach zurück.«
Der Grund für die Verzweiflung: Es ist immer schwieriger für werdende Eltern, eine Hebamme zur Nachsorge zu finden. Und obwohl in Deutschland immer mehr Kinder geboren werden – die Geburtenziffer ist so hoch wie seit 1973 nicht –, gibt es auch immer weniger Orte, wo diese Kinder zur Welt kommen können. Seit 1991 wurden knapp vierzig Prozent der Geburtseinrichtungen geschlossen, allein zwischen 2011 und 2016 waren es 785, ein Rückgang um zehn Prozent.
Im Frühjahr 2017 sorgte Christine Niersmann, eine in Fachkreisen bekannte Hebamme, mit einem Posting bei Facebook für Aufsehen: Sie riet Paaren mit Kinderwunsch davon ab, über Ostern zu versuchen, schwanger zu werden, und empfahl, stattdessen zu verhüten: Ein zu diesem Zeitpunkt gezeugtes Kind käme nämlich genau in der heiklen Weihnachts- und Silvesterzeit zur Welt, wo es wegen der vielen Feiertage noch schwerer als sonst sei, eine Hebamme zu finden. Der Beitrag wurde tausendfach gelesen und geteilt. Die Kollegin mit dem Galgenhumor ging sogar noch einen Schritt weiter und schenkte der Welt den Zeug-o-mat, einen Entbindungstermin-Rechner, mit dem sich die Kinderplanung so timen lässt, dass man möglichst keinen Versorgungsengpass erwischt. Letzter Ausweg: Sarkasmus.
Durchaus ernst gemeint war auch die Reisewarnung, die die Elterninitiative Mother Hood im Sommer 2017 für Schwangere aussprach: Wer ein Kind erwarte, solle bestimmte Landstriche in Bayern, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Berlin und Hamburg meiden. Tatsächlich gibt es auf Inseln wie Sylt und Föhr keine einzige geburtshilfliche Einrichtung mehr. Auch im Rest der Bundesrepublik hörte man fast wöchentlich von Kreißsälen, die Öffnungszeiten einführten oder wegen Unrentabilität ganz geschlossen wurden.
Der Versorgungsengpass ist letztlich ein Verteilungsproblem. Und Resultat eines Strukturwandels in der Medizin generell: Die medizinische Versorgung zentralisiert sich zunehmend, die Versorgung wird mehr und mehr durch große Klinikzentren sichergestellt. Während diese ausgebaut und noch mehr spezialisiert werden, wird die Versorgung in der Breite, sprich: in den ländlichen Regionen, schlechter.
Der deutsche Hebammenverband dokumentiert das Ganze auf einer »Landkarte der Unterversorgung«: Ende 2018 ist diese Karte von 22800 virtuellen Stecknadeln perforiert, der Großteil verweist auf eklatante Engpässe in der Wochenbettbetreuung, gefolgt von fehlender Schwangerschaftsvorsorge. Die Stecknadeln bündeln sich zu bunten Clustern um die großen Städte und Metropolregionen herum. Das erscheint zunächst paradox: Eben war doch noch vom unterversorgten Land die Rede. Die Erklärung ist der Babyboom. Allein Berlin verzeichnet seit 2006 einen Geburtenanstieg von 25 Prozent, in Hamburg und München ist es ähnlich. Und so ist es zwangsläufig so, dass der Hebammenmangel in den Städten, wo es eigentlich weit mehr Kliniken und Hebammen als auf dem Land gibt, dennoch am deutlichsten spürbar ist. Der Zulauf ist schlicht höher, weil zu den Schwangeren hier auch noch diejenigen kommen, die in den Kleinstädten und Dörfern nichts finden.
Diese Entwicklung bekomme ich in meiner Arbeit fast täglich zu spüren. Nicht nur, dass Nachtschichten, in denen ich bis zu sieben Geburten betreue, keine Seltenheit mehr sind. Nicht nur, dass sich die dramatischen, odysseeartigen Fahrten zu uns mit dem Rettungswagen häufen, weil Schwangere von überlasteten Kliniken abgewiesen werden. Nicht nur, dass wegen der längeren Anfahrtswege die Zahl der Kinder, die auf Landstraßen, im Taxi oder vor unserem Krankenhaus zur Welt kamen, stetig steigt. Ich erlebe auch immer wieder Szenen wie diese:
»Bitte, bitte, können wir vorbeikommen?« Der Mann am Telefon klang verzweifelt. Das Krankenhaus, in dem sie sich ursprünglich angemeldet hatten, sei akut überlastet und hätte sie weitergeschickt. Seitdem hätte er bei drei Kreißsälen angerufen: alle voll. Eigentlich kämen sie aus der Nachbarstadt. Ich überschlug die Entfernung, vierzig Kilometer! Im Hintergrund hörte ich den spitzen Schrei seiner Frau. »Verdammt, können wir uns jetzt ins Auto setzen und losfahren?« – »Natürlich, aber fahren Sie bitte vorsichtig«, sagte ich. Als die beiden bei uns ankamen, war mein erster Gedanke: Das sind Maria und Josef. Genau so muss es gewesen sein, damals in Bethlehem. Die Frau gebeugt, stumm schluchzend, der Mann sorgenzerfurcht. Und wütend. »Wie kann das sein, dass wir kein Krankenhaus finden, das uns aufnimmt? Im 21. Jahrhundert? In einer Industrienation?«, brüllte er mich an.
Ich war überfordert in dieser Situation. Der Mann hatte ja Recht. Er prangerte das an, was die Hebammenverbände, was meine Kolleginnen und ich seit Jahren predigten.
Und wie oft hatte ich dabei den Eindruck gewonnen, unser Einsatz für mehr Anerkennung unseres Fachs, unser Wunsch nach einem 1:1-Betreuungsschlüssel werde als Wohlfühlfirlefanz abgetan, als weltfremdes Plädoyer für gechillte Geburten, bei denen die Hebamme nebenher ein Deckchen häkeln kann. So falsch, auf so vielen Ebenen.
Es war wie immer beim Thema Pflege: Erst wenn die Menschen politische Fehlentwicklungen individuell erfahren, wenn sie den Sparkurs der Krankenkassen und Kliniken am eigenen Leib spüren, empfinden sie die Umstände als skandalös. Ich stelle es mir verdammt schrecklich vor, ängstlich und überwältigt von den Vorgängen der Geburt zu sein und dann festzustellen, dass ich mir die Hebamme, die mir zugeteilt wird, mit fünf anderen Schwangeren teilen muss. Genau das ist aber längst keine Ausnahme mehr, das zeigt auch der internationale Vergleich: Eine Vollzeit arbeitende Hebamme betreut hierzulande nach Angaben des Hebammenverbands pro Jahr rund 100 Geburten. In Großbritannien und Norwegen sind es nur rund 30.
Frauen, die gerade ein Kind bekommen haben, unterschreiben schnell eine Onlinepetition gegen diesen Missstand, und manche Eltern gehen vielleicht auch mal auf eine Demo. Weil sie wissen, wie entscheidend eine gute Betreuung unter der Geburt ist. Allein dass Schwangere nachweislich weniger Schmerzmittel benötigen, wenn medizinisches Personal im Raum ist, dass auch Abweichungen zeitiger erkannt und Komplikationen vermieden werden können … Aber das Thema rutscht recht schnell wieder von ihrer Agenda. Denn die jungen Eltern sind ja längst mit der nächsten Jagd beschäftigt: nach einer Kita, einer größeren Wohnung, einem Kindergartenplatz.
Vielleicht ist das noch mal wichtig zu sagen: Jede schwangere Frau in Deutschland hat das Recht auf Hebammenhilfe – und zwar von der Feststellung der Schwangerschaft bis zum Ende der Stillzeit. Schwangere müssen außerdem selbst entscheiden können, wo und wie sie ihr Kind zur Welt bringen möchten. In einem Perinatalzentrum, einem kleinen Krankenhaus, einem hebammengeleiteten Geburtshaus oder in den eigenen vier Wänden. Eine wichtige Form der körperlichen Selbstbestimmung.
Doch diese Wahlfreiheit ist vielerorts in Gefahr, denn zu sinkenden Zahlen geburtshilflicher Einrichtungen kommt auch noch: Immer weniger Hebammen können sich diesen Beruf leisten. Die Zahl der jungen Menschen, die sich zur Hebamme oder zum Entbindungspfleger ausbilden lassen, geht seit Jahren zurück.* Das liegt auch an der Bezahlung: Laut Tarif erhält eine Hebamme für eine Vollzeitstelle im Krankenhaus 2700 Euro brutto (zzgl. Wochenend- und Schichtzuschläge) – in Städten wie München, wo die Mieten horrend sind, nicht allzu viel.
Hinzu kommt der teure Versicherungsschutz: Es gibt nur noch einen Anbieter, und der verlangt für die Berufshaftpflicht einer freien oder Beleghebamme, die selbstständig Geburten begleitet, über 8000 Euro pro Jahr, zehnmal so viel wie noch vor zehn Jahren. Seit einer Weile gleicht der Gesetzgeber immerhin mit einem Sicherstellungszuschlag einen Teil der Summe aus.
Als Beleghebamme oder freiberufliche Hebamme zu arbeiten ist auch wegen der festen Abrechnungssätze der Krankenkassen wenig lukrativ: Denn diese sind in den letzten Jahren nicht annähernd proportional zur Versicherungsprämie gestiegen. Hebammen können, anders als Elektriker oder Fliesenleger, nicht einfach ihren Stundensatz erhöhen, um in der Selbstständigkeit zu bestehen. Teilzeitmodelle sind für sie kaum rentabel, der Versicherungsbeitrag bleibt nämlich immer der gleiche. Und selbst in Vollzeit ist es finanziell oft ein Verlustgeschäft, denn Hebammen können durch die länger gewordenen Anfahrtswege immer weniger Frauen betreuen. Die Beschäftigung in einem Krankenhaus wiederum bedeutet andere Zwänge: Neben der mäßigen Bezahlung ist das Hebammendasein dort oft ein stressiger Knochenjob aus Schichtdienst, Non-stop-auf-den-Beinen-Sein und hohem Verantwortungsdruck. Die Arbeitszeiten schränken das Sozialleben zudem massiv ein. Die meisten Hebammen, die ich kenne, können über den Begriff Work-Life-Balance jedenfalls nur lachen.
***
Es gab neben dem Hebammenmangel aber, wie ich glaube, noch einen zweiten Grund, warum Geburten und die Art und Weise, wie diese ablaufen, zuletzt so sehr Thema waren. Und der hat mit Harvey Weinstein zu tun.
Als eine Konsequenz des Skandals um seine sexuellen Übergriffe und der daraus entstehenden #MeToo-Bewegung verhandelten Frauen plötzlich ein lange tabuisiertes Thema auf breiter gesellschaftlicher Ebene: Gewalt in der Geburtshilfe, oder weniger kämpferisch ausgedrückt: belastende, negative Erfahrungen, die Frauen unter der Geburt gemacht haben. Darunter fallen als brutal wahrgenommene Interventionen bei der Entbindung, etwa der Dammschnitt oder das Kristeller-Manöver, bei dem mit großem Druck auf den Bauch versucht wird, das Baby »anzuschieben«, aber auch Gewalt in der Sprache zählt dazu: abfällige Bemerkungen des medizinischen Personals (»Stellen Sie sich doch nicht so an«) bis hin zu psychischer Erpressung (»Sie wollen doch auch, dass es Ihrem Kind gut geht«).
Seit 2014 gibt es auch in Deutschland den »Roses Revolution Day«, der auf eine Idee der amerikanischen Geburtsaktivistin Jesusa Ricoy zurückgeht und am 25. November zelebriert wird. Betroffene teilen an diesem Tag ihre negativen Erlebnisse per Erfahrungsbericht in den sozialen Medien und / oder legen eine pinke Rose vor dem Kreißsaal nieder, in dem sie die betreffende Erfahrung gemacht haben.
Infolge des Skandals um Harvey Weinstein gewann dieser Tag noch mehr an Bedeutung und die Debatte um Gewalt in der Geburtshilfe an Fahrt. In der Süddeutschen Zeitung schrieb Meredith Haaf: »MeToo hat dazu geführt, dass die kleinen und großen Grenzüberschreitungen, die Frauen aufgrund ihres Frauseins erleben, derzeit so dringlich diskutiert werden wie lange nicht. Dabei verschiebt sich zum einen die Grenze dessen, was Frauen glauben, widerspruchslos über sich ergehen lassen zu müssen. Und zum anderen ändert sich das Konzept von Grenzen an sich: Eine unangekündigte Untersuchung mag für die eine Frau eine ertragbare Unannehmlichkeit sein, wenn man am Ende ein gesundes Baby auf dem Arm hält – doch das mindert nicht das Recht der anderen Frau, sie als gewaltvollen Überfall zu erleben, das zu benennen und sich dagegen zu wehren. Das Phänomen ist also kein Debattengespenst oder eines, das nur besonders aufgeklärte Mütter umtreibt: Gewalt in der Geburtshilfe wird von der Weltgesundheitsorganisation als internationales Problem anerkannt und beschrieben.«
Die Soziologin Christina Mundlos, die im selben Artikel zitiert wird, geht davon aus, dass fast die Hälfte aller Frauen im Kreißsaal Erfahrungen mit verbalen oder körperlichen Übergriffen macht. Ich empfinde es jedenfalls als längst überfällig und begrüße es sehr, dass darüber endlich gesprochen wird!
Vor diesen Folien – dem Babyboom, dem Hebammenmangel und der Debatte um Gewalt in der Geburtshilfe – schrieb ich jede Woche meine Kolumne »Die Wehenschreiberin« für das Magazin der Süddeutschen Zeitung, und vielleicht hat die neue Sensibilität für all diese Themen auch ein wenig zur Popularität dieser Kolumne beigetragen.
Alles begann im Winter 2016/2017, als mich – mehr oder weniger per Zufall – die Redaktion kontaktierte. Man gehe mit der Idee schwanger, eine Reihe über den Alltag einer Hebamme zu starten – ob ich mir vorstellen könnte, aus meinem Beruf zu berichten. Tatsächlich hatte ich immer vor, das, was ich Freunden und Bekannten regelmäßig auf ihre Fragen erzähle, mal »richtig« in Form und zu Papier (aka Word-Dokument) zu bringen. Ich sagte Ja, man taufte das Baby »Wehenschreiberin«, und ein Abenteuer begann, von dem ich zunächst dachte, es dauere vielleicht acht Wochen, maximal ein Vierteljahr. Doch die Tatsache, dass die Kolumne von Beginn an gemocht wurde, dass der Kreis der Leser von Woche zu Woche wuchs, ließ mich weiterschreiben und immer weiter.
Für mich war der Kreißsaal schon immer ein Kaleidoskop von Menschen in Extremsituationen gewesen, und ich war froh, als »Wehenschreiberin« die Gelegenheit zu haben, aus der Schlüssellochperspektive zu berichten: Ich erzählte vom alltäglichen Handywahnsinn und WhatsApp-Schreiben unter Presswehen; von Sprachbarrieren und Pantomime-Anleitungen; von ambitionierten Vätern, die beherzt (und splitternackt) zu ihrer Frau in die Wanne steigen, und von solchen, die von ihrem Kind nichts wissen wollen und einfach verschwunden sind.
Die Rückmeldung beflügelte mich, sie war so groß, dass nun ein Buch daraus geworden ist. In einer Zeit, in der das Private immer noch politisch ist, in der Begriffe wie PDA, Stillen und Kaiserschnitt Glaubenskriege auslösen und Zerwürfnisse hervorrufen können, möchte ich vor allem aufklären – aus meiner professionellen und doch subjektiven Sicht. Dabei ist mir natürlich klar, dass ein Arzt oder eine Ärztin, eine Pflegekraft, andere Hebammen oder die Betroffenen selbst jeweils ihren ganz eigenen Blick auf all diese Dinge haben.
Mein Eindruck ist, dass die Themen, die da so für erbitterte Diskussionen zwischen Frauen (und manchen Männern) sorgen, in Wahrheit oft um eine ganz andere Frage kreisen, nämlich: Wie kann ich eine gute Mutter sein? So vermeintlich gleichberechtigt heute Beziehungen geführt werden, die Familiengründung bringt so manche fest geglaubte Überzeugung ins Wanken. Wenn aus zwei Personen drei werden, stellt sich die Frage nach dem eigenen Rollenbild, nach der Wichtigkeit des Berufslebens, der finanziellen Unabhängigkeit und dem Wert des gemeinsamen Familienlebens neu und ganz konkret.
Mit dem Buch will ich mit Mythen und Bewertungen aufräumen, Tabuthemen ansprechen und Eltern Mut machen, ihren ganz eigenen Weg zu finden. Denn wer wie ich so viele unterschiedliche Menschen in der Extremsituation einer Geburt erlebt, lernt vor allem viel über unsere Gesellschaft. Vorurteile verschwinden im Kreißsaal ganz schnell, das stelle ich immer wieder fest: Vermeintliche Schluffi-Männer werden zu Super-Vätern, Mauerblümchen, die erst denken, »sie sterben«, entwickeln unter der Geburt Herkuleskräfte; Ärzte, die arrogant wirken, wissen insgeheim sehr wohl um den Wert der intensiven Betreuung durch die Hebammen.
Wie sollen Kinder in diese Welt starten? Welches Bild haben wir von den Frauen, die sie zur Welt bringen? Wie effizient und reibungslos kann Geburtshilfe sein? Kann sie jemals »rentabel« sein? Ja, das kann sie: Wenn wir als Maß nicht Geld heranziehen, sondern Gesundheit.
Im Zuge der Diskussion um Frauenquoten, um Kinderbetreuungsplätze, um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, die seit einigen Jahren in Deutschland geführt wird, geht es letztlich um die Frage, was moderne Elternschaft bedeutet. Es geht um das Muttersein. Wir müssen noch mehr über das Mutterwerden sprechen. Und einen kleinen Beitrag dazu möchte ich mit diesem Buch leisten.
* Die Zahl meiner männlichen Kollegen mag sehr niedrig sein – in Deutschland stehen 24 000 Hebammen weit unter 100 Männer in diesem Beruf gegenüber –, dennoch möchte ich sie natürlich nicht übergehen. Der Einfachheit halber und wegen des Leseflusses spreche ich jedoch fortan nur von Hebammen, meine aber alle, die diese Tätigkeit ausüben.
Es war 2008, ich hatte gerade meinen Abschluss in Jura gemacht, als ich meiner Oma eine wichtige Neuigkeit überbringen wollte. Ich würde nicht an der Uni weitermachen, obwohl ein Dozent sogar eine Promotion angeregt hatte, und würde mich nirgends bewerben, obwohl das Praktikum, das ich in den vorletzten Semesterferien bei der Unternehmensberatung gemacht hatte, gut verlaufen war. Ich war entschlossen, mein Leben in eine andere Richtung zu schubsen.
Ich wollte Hebamme werden. Bei Kaffee, Kuchen und Geschirr mit Goldrand verkündete ich meiner Oma die News. Ich erwartete ein: »Wie schön, was für ein toller Beruf« und hörte stattdessen: »Willst du das wirklich machen?« Es war, ich übertreibe nicht, in ihren Augen der schlimmste Beruf, den ich hätte ergreifen können. Als hätte ich ihr gerade unterbreitet, ab sofort mit Lämmerschlachten mein Geld zu verdienen.
Meine Oma war die Tochter einer Hebamme. Ihre Mutter, also meine Uroma – Kreszentia Böhler (auf sie geht mein Pseudonym zurück), von allen nur Sensi genannt –, hat zeit ihres Lebens auf der schwäbischen Alb Kinder zur Welt gebracht, angeblich waren es am Ende 4900. Ich bin heute, nach etwa zehn Berufsjahren, bei 850. Zu Uroma Sensis Zeiten waren Hausgeburten üblich. Gab es keine schwerwiegenden Komplikationen, gebaren die Frauen eigentlich immer in den eigenen vier Wänden.
Bevor Oma mit ihren Gegenargumenten loslegen konnte, bettelte ich: »Hast du noch den Koffer?« Sie wusste sofort, was ich meinte. Oft schon war bei Familienfeiern die Rede auf dieses sagenumwobene Erbstück gekommen. Sie stieg grummelnd vor mir die Treppe in den Keller hinunter und zeigte mir, welche Kisten und Kästen ich verschieben und wegräumen musste. Kurze Zeit später hatten wir den Schatz gehoben: den Koffer mit Uroma Sensis Gerätschaften.
Mein Gesicht hellte sich auf, ich begann zu stöbern. Ein paar Sachen wusste ich ja bereits über meine Vorfahrin, aber ich bat Oma, noch ein bisschen genauer zu erzählen, meine Wissenslücken zu schließen. Wie war das damals? Was hast du über das Hebammendasein mitbekommen? Oma begann, erst widerwillig, aber dann immer gesprächiger.
Kreszentia, Jahrgang 1894, hatte einen Mann und bekam mit ihm ein Kind – den großen Bruder meiner Oma. Der Mann fiel im Ersten Weltkrieg. Meine Uroma war nun alleinerziehend. Und musste mit ihrem Beruf als Hebamme ihr Überleben sichern. Sie lernte einen neuen Mann kennen, bekam ein zweites Kind, meine Oma. Doch der Mann wollte sie nicht heiraten. Meine Oma war also ein uneheliches Kind – zur damaligen Zeit skandalös –, ihr Leben lang habe sie diesen Makel gespürt.
Sensi Böhler war die einzige Hebamme für ein ziemlich großes Gebiet von mehreren Ortschaften – sie hatte keine Vertretung. Wurde sie zu einer Geburt gerufen, musste sie ran. Egal, an welchem Tag, egal, zu welcher Uhrzeit. Oma ging zu ihrer Schrankwand und holte einen Zeitungsartikel aus einer Schublade: Er war 1976, zum Tod meiner Uroma, in der Lokalzeitung erschienen. Es heißt darin: »Sie war im Sommer und Winter unterwegs anfangs mit ihrem Fahrrad (…) bald folgte ein laut knatterndes Mofa.«
Nach dem Krieg sei sie die Erste im ganzen Ort gewesen, die ein Auto besessen habe, sie musste ja den ganzen Bezirk abfahren. »Sie war so modern, eine voll berufstätige Frau mit Auto«, sagte ich bewundernd. Meine Oma blickte skeptisch drein.
Es gibt in meiner Familie zwei Lesarten über meine Uroma: Die eine schildert sie als selbstständige, emanzipierte Frau, die ihren Beruf über alles liebte und ihn – entgegen dem Wunsch ihres zweiten Partners – nicht aufgeben wollte, um dann »nur noch« Mutter und Frau am Herd zu sein. Dass sie ein so ungewöhnliches Frauenbild verkörpert habe, sei der Grund gewesen, weswegen der Vater meiner Oma sich zu ihr nie bekannt habe, so Theorie 1 – die natürlich mein Favorit war.
Die andere Geschichte ist weniger schmeichelhaft: Die Uroma sei eine ziemliche »Bissgurkn« gewesen. Zäh, pflichtbewusst und tough bis an die Schmerzgrenze. Ihrem Beruf immer den Vorrang gebend. Männer habe so viel Eigensinnigkeit abgeschreckt.
»Und was glaubst du?«, fragte ich Oma, während ich das Hörrohr inspizierte, das ich gerade aus dem Koffer gezogen hatte. Das Lindenholz war ganz glatt und glänzend und auch nach den vielen Jahren Gebrauch ohne Macken. Ich roch kurz daran, auf wie vielen Bäuchen es wohl angesetzt worden war …
»Ihr Beruf ging immer vor. Immer! Weil sie dauernd im Einsatz war, waren wir Kinder fast jedes Weihnachten und jeden Geburtstag allein. Wir haben uns selbst einen Kuchen backen müssen! Hebamme ist ein schlimmer Beruf. Unvereinbar mit dem Familienleben.« Ich versuchte, sie zu beschwichtigen. »Oma, die Zeiten haben sich doch geändert. Man hat Schichtdienst und abgesteckte Arbeitszeiten, arbeitet meist im Team und nicht als Einzelgänger. Ich werde schon darauf achten, mich für den Beruf nicht zu sehr aufzuopfern und mein Privatleben zu schützen.«
Diesen Satz hätte ich in einen Rahmen sticken und als stetige Mahnung über mein Bett hängen sollen. Denn natürlich ist der Beruf auch heute noch einnehmend, das ahnte ich auch damals, aber ich sollte es erst viel später, als ich an den Rand eines Burn-outs geriet, so richtig verstehen. 2008 war da nur: Idealismus. Die Sehnsucht, etwas Handfestes, etwas wirklich Sinnvolles zu tun. Schon als Kleinkind hatte ich diese leicht absurde Faszination für Babybäuche gehabt. »Weißt du nicht mehr, Oma: Mama sagte immer, ich hätte Schwangere jedes Mal wie verzaubert angesehen.«
Oma lächelte, jetzt schienen ein paar wärmere Farben auch ihre Erinnerung zu erhellen. »Deine Uroma hat Menschen aller Schichten betreut.« Die armen Bauernfamilien hätten sie oft nur in Naturalien bezahlen können – »so hatten wir immer mal ein gutes Stück Fleisch«. Aber sie hat auch die Frau des Bürgermeisters entbunden. Man musste sich mit ihr gut stellen, es gab ja keine Alternative. Und gab es mal Streit im Ort, war es oft die Uroma, die vermittelt hat. »Sie kannte ja alle, ging in den Häusern ein und aus. Und hat sich so einen generationsübergreifenden Respekt erarbeitet.«
Ich nahm weitere Instrumente aus dem Koffer, eine Glasspritze und eine Stahlkanüle, alte Klemmen und Scheren und, oh mein Gott, war das etwa Teil eines Irrigators? Mit dieser Einlaufkanne war es früher üblich, den Darm von Schwangeren komplett zu entleeren, erklärte ich Oma. Sie verzog das Gesicht. Leibbinden kamen zum Vorschein, mit denen man den Bauch der Schwangeren gestützt hat; ein Maßband und ein Beckenzirkel, mit dem man die Stellung und die Symmetrie des Beckens ermitteln konnte. Frauen hatten damals noch viel öfter durch Mangelernährung und die schwere Arbeit Fehlstellungen und Deformitäten.
»Was Uroma alles erlebt hat«, sagte ich nach einer Weile nachdenklich. Zwei Weltkriege. Den Rassen- und Mutterverherrlichungswahnsinn der Nazis. Die Armut nach dem Krieg. Die Einführung von Penicillin. Das Wirtschaftswunder. Die Neuerungen durch die Krankenhaus-Geburtshilfe. Den Contergan-Skandal.
»Sag mal, war sie eigentlich auch bei deinen Geburten dabei?«, fragte ich Oma nach einer Weile. Sie verdrehte die Augen. »Ja, und das war schrecklich. Wenn deine Mutter die Hebamme ist, fehlt dir der tröstende Beistand. Mit mir war sie viel strenger als mit anderen Frauen. Sie hat immer gesagt, ich solle mich nicht so anstellen.« Auweia.
Beim vierten Kind, meinem Onkel, konnte Sensi nicht zu ihrer hochschwangeren Tochter fahren, weil sie parallel noch andere Frauen betreute. So musste schließlich meine Oma, mit drei kleinen Kindern und dem dicken Bauch, extra anreisen und ein paar Tage später mit dem Neugeborenen die beschwerliche Reise zurück auf sich nehmen.
Auch wenn sie zeitlebens mit ihrer Mutter gehadert hat, ihr lange vorgeworfen hat, sich nicht angemessen um ihre Kinder gekümmert zu haben: Letztlich wählte meine Oma ein ähnliches Lebensmodell, auch sie war für ihre Generation eine moderne Frau. Sie wurde Lehrerin und hat immer gearbeitet, auch als meine Onkel und Tanten auf der Welt waren.
Wir gingen an diesem Nachmittag versöhnlich auseinander: Ich versprach ihr, genau hinzusehen, was der Beruf mit mir machen würde. Und sie sagte, sie werde sich bemühen, nicht nur das Negative zu sehen. Immer wenn wir uns seitdem getroffen haben, sogar bis kurz vor ihrem Tod vor vier Jahren, fragte sie mich: Macht’s dir denn noch Freude? Und ich sagte immer und tue es noch heute mit Blick nach oben zum Himmel: Ja, Oma.