Deutschland, gefühlte Heimat
Hier zu Hause und trotzdem fremd?!
12 Schicksale junger Migranten
Mit Fotos von
Doris Katharina Künster
Das Exil, wie immer es auch geartet sein möge, ist die Brutstätte für schöpferische Taten, für das Neue, der Migrant ein Vorbote der Zukunft, seine Wurzellosigkeit ist seine Würde.
Vilém Flusser, Medienphilosoph
Stefan aus Kasachstan brauchte fünf Tage in einem alten Reisebus für die Reise nach Deutschland. Er erwartete Sicherheit und eine Zukunft – und landete mitten in der Katastrophe. Die Flutwelle, die in Sachsen das Aussiedlerheim überschwemmte, brachte ihn und seine Familie in Lebensgefahr. Heute arbeitet Stefan bei BMW in Leipzig, als erster ausländischer Azubi und fest entschlossen, das Beste aus dieser Chance zu machen.
Rami aus Palästina ließ für ein Studium im Frieden die geliebte Heimat zurück. Doch die Spätfolgen des Bombenterrors, unter dem er jahrelang gelitten hatte, holten ihn auch in Deutschland wieder ein – er wurde schwer krank. Inzwischen lebt Rami in Köln, er hat seinen jüngeren Bruder in das neue »Zuhause« geholt, gemeinsam bauen sie sich eine Zukunft auf.
Mable aus Ghana, Tochter eines politisch Verfolgten, lebte zehn Jahre in einem Hamburger Asylantenheim, in einem Gespinst voller Furcht und Lügen. Dass auch ihre Familie ein Geheimnis hatte, entdeckte sie erst, als sie in das Land ihrer Väter zurückkehrte.
Isabella aus Bolivien ist illegal in München untergekommen und hofft auf die Liebe eines deutschen Mannes.
Shan Shihan aus China studiert im Harz – er will mit ganz viel Wissen zu seinem Volk zurückkehren und beim Wettlauf seines Heimatlandes mit dem Westen helfen.
Marla und Pinar, beide aus der Türkei, wohnen in Berlin Tür an Tür und führen doch ganz unterschiedliche Leben.
Noor aus Afghanistan verzweifelte fast am Asyl in Schleswig-Holstein, bevor er den Weg aus der Hoffnungslosigkeit fand.
Ingesamt zwölf Schicksale junger Migranten sind in diesem Buch aufgezeichnet. Zwölf Mal habe ich ihnen auf meiner Reise durch die Republik die Frage nach der Heimat gestellt. Die Antworten sind nüchtern, emotional, traurig, fröhlich, desillusioniert oder hoffnungsvoll – so vielfältig wie die Geschichten selbst.
Jeder vierte Jugendliche in Deutschland hat inzwischen einen Migrationshintergrund – das heißt: Diese jungen Menschen oder ihre Eltern sind irgendwann einmal aus unterschiedlichen Gründen aus anderen Ländern oder Kontinenten zu uns gekommen und geblieben. Es sind die »Ausländer«, die jahrzehntelang nur als Masse und nicht als Einzelpersonen wahrgenommen wurden, die oft Furcht erweckten und nur geduldet wurden, wenn sie angepasst, möglichst unsichtbar neben uns existierten. Bei Konflikten hieß – und heißt – die Lösung oft brutale Abschiebung.
Können zwölf Interviews mehr sein als nur oberflächliche Schlaglichter auf die Situation im Land? Ja, davon bin ich überzeugt. Denn die Auswahl der Protagonisten für dieses Buch erfolgte nicht nach dem Klischee »geglückte/missglückte Integration«, ich habe nicht nach Opfern gesucht und nicht nach den spektakulären Gewinnern unter den Migranten. Mich hat viel mehr interessiert, warum diese jungen Menschen oder ihre Eltern die alte Heimat verlassen haben, wie sie bei uns empfangen wurden, welche Entwicklung sie genommen haben, und schließlich, ob Deutschland ihre gefühlte Heimat geworden ist. Das Spektrum der Migration wird deutlich – Flucht aus Krisengebieten, Flucht vor Armut, Flucht aufgrund politischer Verfolgung und vieles mehr. Zwölf Geschichten, die für Deutschlands junge Migranten stehen.
Es war die interessanteste Recherchereise, die ich in meinem Journalistenleben bisher gemacht habe. Sie hat meine Wahrnehmung verändert, meinen Blick auf Deutschland geschärft und auf die Welt »unserer« Migranten. Ich bin sehr froh darüber.
Kofi Annan, Friedensnobelpreisträger und ehemaliger UN-Generalsekretär, sagt: »Es ist nicht einfach, seine Sachen zu packen und zu gehen. Man braucht viel Mut, um sein Land zu verlassen. Wir müssen diesen Menschen helfen.«
Elke Reichart
Türkei
Deutschland
Marla Kayacik und Pinar Cetin
• Zwei Türkinnen in Deutschland
• Zwei unterschiedliche Leben
• Zwei Interviews
Marla Kayacik ist 16 Jahre alt, Pinar Cetin zehn Jahre älter. Sie sind in Berlin zur Welt gekommen und gehören zur zweiten Generation der über 1,8 Millionen Türken, die in Deutschland leben – der größten Migrantengruppe der Republik. Die beiden leben in Berlin-Charlottenburg, nur zwei Straßen voneinander getrennt, aber sie kennen sich nicht. Daran ist nicht nur der Altersunterschied schuld. Die Gymnasiastin Marla lebt ein westlich orientiertes Leben und vereint ganz unbeschwert das Beste beider Welten in ihrem Alltag. Die Studentin Pinar dagegen hat die traditionellen Werte aus dem Herkunftsland ihrer Eltern übernommen, was das Leben in der neuen Heimat sehr viel komplizierter macht.
… Heimat ist kein Ort,
Heimat ist ein Gefühl …
HERBERT GRÖNEMEYER, MUSIKER
Mit ihrem Vater, dem Kino- und TV-Schauspieler und Regisseur Aykut Kayacik, und dessen Lebensgefährtin wohnt Marla in einer großen Altbau-Wohnung, dritter Stock, Hinterhof. Die Eltern sind geschieden, die Mutter lebt gleich gegenüber – Marla hat auch bei ihr ein Zimmer.
Charlottenburg ist hier sehr schön und sehr bunt: Bänke und Grünanlage um die Ecke, jede Menge Bars und Restaurants, Kinos und Kneipen drumherum. Gleich gegenüber die ägyptische Galerie, an der Ecke der türkische Obstladen, der chinesische Möbelhändler neben dem fernöstlichen Akupunkteur, schräg gegenüber die Filiale einer griechischen Bank, unten im Haus der italienische Pasta-Koch. Alt-Berliner Häuser mit imposanten Eingangstüren und internationalen Namen auf endlosen Klingelleisten.
An diesem Sommernachmittag scheinen die Probleme anderer Berliner Multikultibezirke wie Kreuzberg, Neukölln oder Wedding plötzlich weit weg. Neukölln zum Beispiel: Dort war 2006 die Rütlischule mit dem Hilferuf ihrer Rektorin in die bundesweiten Schlagzeilen geraten. An der Hauptschule, an der nur ein Fünftel der Schüler deutscher Herkunft ist, hatten sich die Gewalttaten gehäuft, man brauchte dringend Hilfe. Der Berliner »Tagesspiegel« schrieb damals besorgt: »Deutsche Kinder werden als Schweinefleisch-Fresser verspottet, versuchen, sich den Gewohnheiten der Mehrheit anzupassen, und sprechen bewusst auch gebrochenes Deutsch, um weniger aufzufallen.« Inzwischen ist dort Ruhe eingekehrt. Doch die Diskussionen um eine gelungene Integration der Berliner mit Migrationshintergrund, deren Anteil nahezu ein Viertel der Bevölkerung der Hauptstadt beträgt, halten an.
Marlas Zimmer zum Hof ist hell und offenbar gerade gründlich aufgeräumt. Stuckdecke, Holzboden, hohe Fenster mit Chiffongardinen, davor ein Notenständer, am Schrank eine Geige, im Regal CDs und DVDs, deutsche und türkische.
Marla, bist du Deutsche oder Türkin?
»In Deutschland bin ich Deutsch-Türkin, in der Türkei bin ich Deutsche. Ich bin in Berlin geboren, habe einen deutschen Pass, mein Vater ist aus der Türkei, aus einer Kleinstadt 80 Kilometer nordöstlich von Izmir. Er kam mit seinen Eltern nach Deutschland, als er sechs Jahre alt war. Nach dem Abitur fing er mit einem Architekturstudium an, dann bekam er die ersten Rollenangebote und wechselte zur Schauspielerei und zur Regie. In Izmir, das an der Ägäisküste liegt, haben wir noch Familie. Ich bin oft in der Türkei – oft und gern! Irgendwann hatte ich mir sogar mal überlegt, die türkische Staatsangehörigkeit anzunehmen – aber dann sagte man mir, ich müsse dafür die deutsche aufgeben. Das wollte ich nicht. Eigentlich ist ja Berlin meine Heimat.«
Warum wolltest du plötzlich nicht mehr Deutsche sein?
»Ach, es gab keinen besonderen Anlass … Mehr aus einer Stimmung heraus. In der Schule ändert sich momentan so viel, alte Freundschaften brechen auseinander – ich dachte plötzlich, ich hätte eine Alternative. Aber nun bin ich stolz, beides zu sein: Deutsche und Türkin. Und was das Beste ist: Man sieht es mir nicht an.«
Das stimmt, Marla sieht aus wie eine typische junge Berlinerin. Sie ist mittelgroß, hübsch, hat ausdrucksvolle Augen, dunkles Haar. Marla wirkt älter, als sie ist, was auch an ihrer klaren, sehr bestimmten Art des Sprechens liegt und an ihrer aufmerksamen Art des Zuhörens. Irgendwie wirkt sie immer ein wenig wie auf dem Sprung.
Marla: »Meine Freunde und Freundinnen in der Türkei sind alle älter als ich, 18 oder 19. Wir passen aber sehr gut zusammen – die Gleichaltrigen in der Türkei kommen mir fast noch wie Kinder vor. Sie werden ganz anders erzogen, sind nicht so selbstständig.«
Hast du auch türkische Freundinnen in Berlin?
»Eigentlich nicht. Keine engen Freundinnen zumindest. In meiner Klasse bin ich die einzige Türkin. Aber ich kenne zwei türkische Mädchen aus einer anderen Klasse, mit denen rede ich manchmal in der Pause. Meine beste Freundin ist aber auch keine Deutsche, sie ist Polin, wir verstehen uns super. Sie hat nach ihrer Ankunft in Deutschland eine Zeit in einem Asylantenheim gelebt, manchmal erzählt sie mir davon.«
Marlas Gymnasium liegt in Grunewald, einem der besten Berliner Wohnviertel. Auch an ihrer Schule gibt es viele Jugendliche mit Migrationshintergrund, allerdings sind hier mehr die Kinder aus reichen russischen als aus türkischen Familien vertreten.
Habt ihr damals von den Gewalttaten an der Rütlischule und den nachfolgenden Diskussionen etwas mitbekommen? Gab es Informationen von Seiten der Lehrer?
»Nein, kein bisschen … Wir haben erst später angefangen, über Jugendkriminalität und Fragen wie ›Was sind eigentlich Ausländer?‹ zu diskutieren. Nicht im Sozialkundeunterricht oder in Geschichte, sondern in Französisch. Wir sind auf das Thema gekommen, weil wir Frankreich und Deutschland verglichen haben – die Unruhen in den ›banlieues‹, den französischen Vorstädten, haben dan Anstoß gegeben. Nicht die Rütlischule.«
Hat es einen Grund, dass du keine deutschen Freundinnen hast? Wirst du abgelehnt, weil du türkischer Herkunft bist?
»Ach was, überhaupt nicht. Die meisten in der Klasse mögen mich – ich bin sogar zur Klassensprecherin gewählt worden! Und meine polnische Freundin ist ja auch keine typische Migrantin – ihre Familie hat deutsche Wurzeln.
Nein, mit Diskriminierungen hatte ich nie Probleme. Einmal, auf einer Klassenfahrt, ist ein jüdischer Junge aus meiner Klasse blöd angeredet worden von ein paar radikalen Typen – da habe ich zum ersten Mal gemerkt, wie schlimm das sein kann. Ich habe sofort die Lehrerin informiert und wir haben uns alle an seine Seite gestellt und uns gemeinsam gewehrt. Aber selbst erlebt – nein. Im Gegenteil …« Marla lacht: »Also, ich spreche ja Türkisch, aber darauf kommt man ja nicht so ohne Weiteres, wenn man mich nicht kennt. In der S-Bahn standen mir ein paar türkische Jungs gegenüber und sprachen über mich: Dass ich so tolle Augen hätte, und einer sagte, er sei total in mich verliebt … Und auf ein Kommando hin drehten sich alle zu mir um und versuchten, mir in die Augen zu schauen und mich unsicher zu machen. Da konnte ich nicht mehr still sein und habe auf Türkisch was Freches gesagt. Die waren vielleicht verlegen!!! Bei der nächsten Haltestelle sind sie ganz schnell ausgestiegen.«
In Berlin gibt es eine große türkische Gemeinde, eine der größten überhaupt in Deutschland. Hast du gar keinen Kontakt dorthin – zu den Jugendgruppen zum Beispiel? Gehst du nicht zu deren Treffpunkten?
»Nein. Für die Discos bin ich noch zu jung. Und in der Gemeinde kenne ich mich gar nicht aus. Aber mein Vater hat eine türkische Clique, mit der wir oft zusammen sind. Seine Freunde haben auch Kinder in meinem Alter, die ich dann automatisch immer wieder treffe.«
Bist du Muslima, Marla?
»Nein. Ich bin Atheistin, wie mein Vater. Nicht von Anfang an – in der ersten Klasse hatte ich zunächst evangelischen Religionsunterricht und war ganz gespannt, was ich dort wohl lernen würde. Aber wir haben nur gebastelt, stundenlang, wie schrecklich langweilig! Danach war für mich Schluss mit Religion und Anfang mit Ethik.«
Ist das kein Problem, wenn du in der Türkei mit deinen moslemischen Freundinnen und Freunden zusammen bist? »Na ja, es könnte ein Problem sein. Aber wir haben beschlossen, nicht darüber zu reden, wenn wir zusammen sind. Das ist ein Thema, bei dem es keine Übereinstimmung gibt, also lassen wir das.«
Was stört dich am Islam?
»So direkt kann ich die Frage nicht beantworten. Ich habe eher mit der Einstellung vieler Türkinnen Probleme, die sich von ihren eifersüchtigen Freunden vieles verbieten lassen. Es gibt einige Punkte, die in den türkischen Familien für wichtig gehalten werden, die ich aber einfach nicht verstehen kann. Aber vielleicht muss ich mich dafür noch genauer mit der Religion beschäftigen.«
Wie oft bist du in der Türkei?
»Immer in den Ferien. Es ist so schön dort, so entspannend und fröhlich … Die Schule ist weit weg, kein Stress … Und meine Omi ist sehr lieb. Sie hat eine Wohnung in Izmir, sehr altmodisch eingerichtet, aber gemütlich. Und dann gibt es noch eine Sommerwohnung am Strand, modern. Und dann noch ein ganz einfaches Haus mit Plumpsklo, in einem kleinen Dorf. Dort war ich oft als Kind, aber jetzt nicht mehr. Dort lebte der Vater meiner Omi, mein Urgroßvater. Seitdem er gestorben ist, finde ich es dort traurig.«
Wie verbringst du denn deine Tage in der Türkei?
»Wir machen alles Mögliche. Was man in den Ferien halt so macht. Wir sind vor allem viel am Strand.«
Kleidest du dich dort wie in Deutschland?
»Klar. Zum Strand gehen wir alle in Shorts. Und zum Einkaufen – eigentlich ziehe ich dort auch nichts anderes an als in Berlin. Manchmal sagen meine Verwandten zu mir: Marla, also wirklich, so kannst du jetzt nicht losgehen! Wegen eines T-Shirts oder so. Aber das kümmert mich nicht. Ärger habe ich deswegen noch nie bekommen.«
Und deine türkischen Freundinnen?
»Das ist ganz unterschiedlich. Die aus Istanbul kleiden sich ganz westlich und sind auch allem Neuen gegenüber sehr offen. In Istanbul habe ich zum Beispiel die kürzesten Schulröcke der Welt gesehen, ganz unglaublich!! Auf den Dörfern aber müssen die Schulröcke bis über das Knie gehen.«
Tragen deine Freundinnen in der Türkei Kopftücher?
»Nein. Der türkische Staatsgründer Atatürk hat Kopftücher verboten, zumindest in öffentlichen Räumen. Neulich hat mein Berliner Lehrer gesagt: In der Türkei müssen alle Frauen Kopftücher tragen. Da war ich erst ganz verunsichert und habe daheim bei meinem Vater nachgefragt. Am nächsten Tag habe ich mich dann gemeldet und die Sache richtiggestellt: kein Kopftuchzwang in der Türkei.
Die Nachfolger Atatürks heben das Verbot des Kopftuches jetzt wieder auf. An den Universitäten werden künftig Studentinnen mit und ohne Kopfbedeckung nebeneinander studieren. Was hältst du davon, Marla?
»Ich kenne die Argumente dieser Politiker. Auf den ersten Blick scheinen sie ganz liberal. Eine Demokratie muss solch eine Verschiedenheit aushalten, sagen sie. Aber ich bin dagegen. Ich finde, dass in einer Demokratie Staat und Religion getrennt bleiben müssen. Kann ja sein, dass das in Istanbul kein Problem ist. Aber was passiert an den Universitäten im Osten des Landes? Dort könnte auf die Studentinnen Druck ausgeübt werden, wenn sie kein Kopftuch tragen. Meine Cousine aus der Türkei hat mich deswegen angerufen – sie hat Angst, dass das Erlauben des Kopftuchs der erste Schritt in Richtung kompletter Schleier sein könnte. ›Plötzlich sind wir alle in Schwarz getaucht, Marla.‹, hat sie gesagt, ›dann könntest du uns gar nicht mehr besuchen kommen.‹«
Wenn du nach den Ferien zurück nach Berlin kamst – hattest du dann Heimweh nach Izmir?
»Manchmal. Aber Berlin ist auch eine tolle Stadt! So was von vielfältig – man kann alles machen: Ich weiß, wo ich Spaß habe, wo ich Stress bekomme, an welchem See es am schönsten ist, ich kenne die Leute, es gibt alle Nationalitäten. Mit meinen türkischen Freunden chatte ich am Abend über das Internet. Und dann habe ich noch einen türkischen Freund, der DJ ist und mir immer gleich die neuesten türkischen Hits schickt. In der Türkei ist das Downloaden von Songs nämlich nicht verboten. Der Kontakt reißt also nicht ab.«
Hast du Pläne für die Zukunft?
»Ja, ganz konkrete sogar. Während eines Praktikums für die Schule habe ich bei einem Rechtsanwalt gejobbt, der sich auf türkische Klienten spezialisiert hat. Solche Kanzleien gibt es nicht viele in Berlin. Dort bin ich immer noch ab und zu nach der Schule. Der Anwalt hat oft etwas für mich zu tun, vor allem, weil ich Türkisch verstehe. Einmal hat er – im Spaß vielleicht – gesagt, ich solle mich beeilen mit der Schule, weil er mich einstellen will. Das wäre mein Traum: eine Anwaltskanzlei, in der ich meine Kenntnisse über die Türkei einbringen könnte.«
Also willst du eines Tages mal Jura studieren?
»Ja, aber das allein wird nicht ausreichen. Mein Türkisch ist zwar gut, aber nicht gut genug, um später zum Beispiel einmal Schriftsätze fehlerfrei schreiben zu können. Vor dem Studium würde ich ganz gern in Istanbul einen Intensiv-Sprachkurs machen, am besten gleich nach dem Abitur.«
Und dann verliebst du dich in einen Türken und kommst nie wieder nach Berlin zurück …
»Die türkischen Männer sind ganz anders als die deutschen, viel mehr Macho. Oft wollen sie nicht, dass ihre Frauen arbeiten … Also, das wäre nichts für mich. Ich könnte mir zwar vorstellen, mich in einen Türken zu verlieben und in der Türkei zu leben – aber die Kinder dort großziehen? Nein, das eher nicht. Ich bin nicht begeistert von unserem deutschen Schulsystem, aber von dem in der Türkei noch weniger. Und dann finde ich, dass man sich in Deutschland besser um die Kinder kümmert. Irgendwie stört es mich, dass die Einrichtungen der Kinderzimmer in der Türkei nur aus Plastik bestehen und die Spielplätze alle vor sich hin rosten.«
Hast du ein Vorbild, Marla?
»Meinen Vater. Er ist zwar Türke, aber kein Macho. Ich finde, er lebt mir ganz wundervoll vor, wie man das Beste an Deutschland und der Türkei in sich vereinen kann.«
… Heimat sind für mich die Menschen, für die
ich Verantwortung übernehme …
VILÉM FLUSSER, MEDIENTHEORETIKER
Am Tag des Interviews mit Pinar Cetin herrscht Gluthitze in Berlin. Es ist so heiß, dass jeder, der kann, in den Schatten oder in klimatisierte Räume flüchtet. Überall sind kurze Hosen über Stachelbeerbeinen zu sehen, viel zu enge Kleidchen und bauchfreie Tops an XL-Figuren, verschwitzte Haare und hochrote Köpfe, alles nicht sehr schön. Dann betritt Pinar den Raum. Die 25-Jährige wirkt in der Mittagshitze wie ein Himbeereis: kühl, weißer knöchellanger Rock, weiße langärmelige Kreppbluse, rosa Kopftuch, eng gebunden, braune Augen, klarer freundlicher Blick.
Pinar ist in Eile, auch wenn man es ihr nicht ansieht. Sie kommt aus der Universität, wo sie Politik und Turkologie studiert (die Wissenschaft von der Kultur der Turkvölker, eine in Eurasien lebende Bevölkerungsgruppe). Und in drei Stunden spätestens will sie schon wieder in Berlin-Neukölln sein, in der Sehitlik-Moschee. Dort warten erst eine Frauengruppe und dann die 8. Klasse eines Gymnasiums auf ihre Führung. Wir bestellen Mineralwasser und Käsesandwichs, die anderen Gäste beobachten uns interessiert. Pinar lächelt, sie ist neugierige Blicke gewohnt. Sie trägt das Kopftuch, seitdem sie 16 Jahre alt ist – so alt wie Marla heute.
Pinar, bist du Türkin oder Deutsche?
»Ich bin Berlinerin mit deutschem Pass und starken Bindungen zur Türkei. Meine Eltern sind als Gastarbeiter nach Deutschland gekommen, aus Usak. Das liegt in der Westtürkei, im Landesinnern, an der Grenze zu Zentralanatolien. Meine beiden jüngeren Schwestern und ich sind hier in Berlin geboren und aufgewachsen. Irgendwann hat mein Vater begriffen, dass seine Vorstellung von einer Rückkehr in die Türkei nicht mehr realistisch war. Dass wir Kinder nicht wieder zurück in die Türkei gehen würden. Da hat er für die gesamte Familie deutsche Pässe beantragt und bekommen. Er wollte uns diese demütigende Unterteilung in Ausländer/ Deutsche auf den Ämtern und Behörden ersparen, unter der er immer gelitten hatte. ›Das mache ich für euch‹, hat er gesagt. Er wollte uns eine deutsche Identität geben.«
Wolltest du immer Deutsche sein?
»Ich habe gut Deutsch gesprochen, bin aber dennoch in meiner Schulzeit immer in die türkisch-muslimische Ecke gedrängt worden. Lange bevor ich das Kopftuch getragen habe. Das ging eher harmlos schon in der Grundschule los. Oft rief mich die Schulsekretärin über den Lautsprecher aus der Stunde heraus: ›Pinar! Bitte ins Sekretariat kommen! Übersetzen!‹ Dann saß ich da und musste für türkische Familien, deren Kinder Probleme in der Schule hatten, dolmetschen.