Mörderisches
vom
Rothaarsteig

Kriminalstorys

Inhalt

Brilon - Roger M. Fiedler: Herren im Rahmen

Olsberg-Gevelinghausen - Norbert Horst: Um ein Haar

Olsberg-Bruchhausen - Sabine Deitmer: Tod an den Steinen

Medebach-Medelon – Jürgen Kehrer: Von Schleim bis Hammerhart

Winterberg-Altastenberg - Ilka Stitz: Einmal eine gute Tat

Winterberg-Astenrose - Gunter Gerlach: Das verlorene Gesicht

Schmallenberg-Oberkirchen - Niklaus Schmid: Hier bleibe ich!

Schmallenberg-Winkhausen - Jürgen Ehlers: Mord und Wellness

Schmallenberg-Grafschaft - Gisa Pauly: Die Rache der Felicitas

Schmallenberg-Jagdhaus - Marcel Feige: Schöner Gruß

Bad Berleburg - Thomas Hoeps: Bring mir die Asche der dänischen Königin

Kirchhundem - Edgar Franzmann: Sheriff Driessen in der Hundemfalle

Bad Laasphe-Glashütte - Krystyna Kuhn: Tyrannosaurus Rex

Burbach - Ella Theiss: Bernwards Nachricht an die Nachwelt (O-Ton)

Die Wandersleut - Autorinnen und Autoren

BRILON

Herren im Rahmen

Roger M. Fiedler

Der Rothaarsteig beginnt an einem behauenen Granitblock vor dem Rathaus von Brilon. Alle Ereignisse, die rein räumlich gesehen, aus einem Umkreis von zehn Kilometern um diesen Granitblock herausfielen, hatten nach Ansicht des zuständigen Untersuchungsrichters für die ganze Sache keine Relevanz. Auch sei insgesamt im Hinblick auf eine gewisse Übersichtlichkeit der zeitliche Rahmen auf die vierundzwanzig Stunden des fraglichen Wochenendes von Sonntag null Uhr bis Mitternacht zu begrenzen, »… sonst haben wir hinterher noch den Sorgerechtsstreit von Adam und Eva auf dem Schreibtisch«.

Klare Vorgaben also.

Der Poppenberg, 564 m über null, ist komplett entwaldet. Kyrill hat die Bäume von der Kuppe gewischt. Am höchsten Punkt hat man eine Liegebank mit speziellem Design und eigenem Namen angebracht, das Waldsofa, von dem aus durch einen kolossalen Rahmen der freie Blick nach Gudenhagen fällt.

Katharina Weise saß auf dem Waldsofa und betrachtete das Rahmenkunstwerk, etwa zwei mal fünf Meter Massivholz, in dem die Vertreter der zwei größten Kreditinstitute am Ort einträchtig nebeneinander an ihren Hälsen hingen. Zumindest in dem Bild, das ihr inneres Auge ihr zeigte, war das so – in dem Vierundzwanzig-Stunden-zehn-Kilometer-Rahmen des Untersuchungsrichters. Dessen Rede war noch in ihrem Kopf, und beides passte nicht ins Gesamtkonzept. Das Gesamtkonzept war eine finale Pressekonferenz über die Ereignisse, die in jenen vierundzwanzig Stunden, zehn Kilometern, zwei mal fünf Metern vorgefallen waren. Wenn ihr dieses Kunststück gelang, konnte sie nach Meinung des Richters ihren neuen Job als Sprungbrett nach ganz oben verstehen. So weit, so gut. 564 Meter über null.

Der Schlüssel zu allen Ereignissen des besagten Septemberwochenendes, vor dem Adam und Eva lagen, darunter das friedliche Gudenhagen und dahinter ein wüster Aktenberg, war eine Kamera. Diese hatte man in der Hiebammenhütte gefunden; jedes Mal, wenn die Sprache darauf kam, gingen der gerade frisch ernannten Pressesprecherin der Polizei Formulierungen durch den Kopf wie »ans Licht kommen«, »zu Tage fördern«, »das Licht der Welt erblicken«. Hing wohl mit dem Namen der Hütte zusammen, der wiederum auf den Besitzer zurückging, den Spross einer Dynastie von Hebammen. Jedenfalls hatte die Kamera am Sonntag des besagten Wochenendes dort herrenlos auf einer Biergartenbank gelegen. Das war Fakt. Dieser Fund und die nachfolgenden Ermittlungen seien von Bedeutung, sonst nichts. Punktum!

Mit beiden Händen formte in ihrer Erinnerung des instruktiven Gespräches zur Einführung in das neue Tätigkeitsfeld der Richter in der Luft drei Säulen für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, damit seine Anweisungen in der Sache plastisch würden: Egal, was vorher oder nachher gewesen sei oder nicht, er wolle es nicht wissen. Die Sporttouristen interessierten ihn auch nicht. Und alles, was zu den Motiven der beiden hängenden Herren spekulativ im Gespräch sei, sei auch nicht weiter relevant. »Reduzieren Sie die Aktenlage!«

Tja, mein lieber Herr Gesangsverein, und die war konfus! Daran waren die Wanderer schuld, Radfahrer, Reiter, Nordic Walker und eine Gruppe von Jugendlichen, kurzum die Besucher des Rothaarsteigs, die nacheinander die verlorene Kamera auf dieser Biergartenbank der Hiebammenhütte für sich und die Welt entdeckt hatten. Und damit auch eine gewisse personelle Streuung in der Schuldverteilung.

»Überhaupt: Schuld! Die Schuldfrage müssen wir in diesem Falle komplett vergessen.«

Was macht ein Mensch, der an einem schönen Sonntagnachmittag auf einer Bank eine einsame Kamera liegen sieht? Man blickt sich um. Hat hier eben jemand gesessen? Man fragt die Kellnerin. Die erinnert sich an … ja, Moment mal, hm … siebzehn Fragesteller mindestens. Und man guckt die Fotos durch. Nein, nicht Neugierde und Voyeurismus sind es, es ist Hilfsbereitschaft, die dazu treibt. »Wir müssen aufhören, die Beteiligten in der Geschichte zu kriminalisieren«, soweit die Anweisung. Außerdem müsse die behördliche Kompetenz endlich aus dem Kreuzfeuer der Kritik gezogen werden. Ob sie sich das zutraue, die neue Pressesprecherin?

Ein Sprungbrett nach ganz oben, ist doch eigentlich Schwachsinn, dachte Katharina Weise: Gewöhnlich fällt man von Sprungbrettern nicht in hohe Positionen, sondern in die Tiefe. Und dort, wo man hinfällt, ist es kalt und nass. Und still. Und sie wird statt der Behörde im Kreuzfeuer stehen. »Jessas Maria!«, spricht der imaginäre Chef zu seiner neuen Sprecherin: »Und, ehm, die Diskretion! Heikel, ganz heikel! Am besten, Sie nennen keine Namen! Sagen Sie irgendwas wie: örtlicher Vertreter der Blaubank, Rotbank, Grünbank! So was in der Art. Sie wissen schon. Nur nicht konkret werden vor der Presse!«

Somit in jeder Hinsicht umfassend instruiert, versuchte Katharina Weise nun da oben in der Abgeschiedenheit des sonnigen Waldsofas, ihrem Namen gerecht zu werden. Mit Rücksicht auf die Befindlichkeiten von Adam und Eva und den enormen Zeitrahmen vor der Säule am Markt – circa 380 Fotos von Ilse und Sepp vor deren Aufenthalt am Rothaarsteig – entfernte die designierte Pressesprecherin gedanklich erst mal alle Sporttouristen aus der Geschichte, das waren um die siebzehn nachweisliche Spurenverleger, mindestens, die jene letzten etwa zehn Bilder des aufgefundenen Fotoapparates durchgeguckt und danach entschieden hatten, dass das, was darauf zu sehen war, nicht ihre Sache sei. Ausgerechnet ein Vertreter der Grünbank – wohlmeinender Mitbewerber – war zur Polizei gegangen. Hinterher, also nach seiner persönlichen Tatortbegehung, also auch nach der Besichtigungstour aller anderen Touristen, die vor ihm die Kamera in Händen hatten, und schließlich – um nicht aus dem zeitlich vom Richter gesetzten Rahmen zu fallen – lange vor dem Beginn der polizeilichen Ermittlungen. Die Polizisten waren sicher die Letzten, die den Tatort hier oben an jenem Sonntag begingen. Es muss angenommen werden, dass buchstäblich alle, die in der Hiebammenhütte die Bilder auf der Kamera angesehen hatten, hier oben gewesen waren, um sich selbst über die Sachlage zu informieren, die fotografisch auf der Chipkarte der Kamera festgehalten war. Auch zum Thema Spurensicherung braucht man also auf der Pressekonferenz keine großen Worte zu verlieren.

Die letzten dieser Fotografien kann man nicht unerwähnt lassen: eine Trulla mit Hut, ein Seppl ohne, eine Pizza im Ristaurante von Brilon, das Glockenspiel am Rathaus, Propsteiturm, der Stein am Markt, Möhnequelle, ein verwackelter Baum, das Waldsofa, auf dem die Pressesprecherin gerade saß, ein Foto vom Baumtipi, der Rahmen mit den beiden Leichen drin und wilder Rhabarber um einen schmalen Wasserlauf.

Die Urlaubsbilder zeigten ein Durchschnittsehepaar Mitte sechzig, einschließlich einer kleinen Filmsequenz, in der man die Trulla mit Hut auf dem Waldsofa sah, darunter die Grabung eines Fuchses oder Dachses und die Stimme des Filmemachers aus dem Off: »Ilse, der macht es nicht mehr lang.«

Man meinte, unter der Bank im Schatten einen Hund keuchen zu sehen.

Jetzt fassen Sie das alles mal für die Presse zusammen, ohne Namen zu nennen, die siebzehn Verfahren wegen unterlassener Hilfeleistung zu erwähnen und die nebensächliche Frage aufzuwerfen, wen oder was der Seppl mit seiner Bemerkung an Ilse gemeint haben könnte: die Batterie in seiner Kamera (sinngemäß: der Apparat macht es nicht mehr lang), den Hund unter der Bank oder einen der zu diesem Zeitpunkt an diesem Ort im Rahmen am Seil baumelnden Herren! Die Hobbyfilmer beteuerten, die baumelnden Herren seien zu diesem Zeitpunkt schon »nicht mehr richtig lebendig« gewesen. Eigentlich sei man davon ausgegangen, sie seien aus Wachs.

Zumindest der letzte Teil war dem Anschein entsprechend plausibel. Die Herren sahen wirklich wächsern aus – an jenem Sonntag, als sie dort in der Abendsonne hingen. Allerdings waren die Aufgehängten real gewesen und nicht aus Wachs und ganz sicher nicht, wie die der unterlassenen Hilfeleistung dringend verdächtigten Sepp und Ilse ins Feld führten, integrale Bestandteile eines Gesamtkunstwerks, vielmehr, rein rechtlich gesehen, zweckentfremdende Schädiger desselben, soweit zugunsten der in Ermittlungspannen verstrickten Polizeikollegen von einem Doppelselbstmord auszugehen war, also einer minderschweren Straftat. Die ja nach mittlerweile angepasster Sachlage als unbeabsichtigt eingestuft werden musste. Für einen solchen Vorgang gab es Katharinas Wissens keinen Präzedenzfall. Andererseits hatte es auch noch nie eine Sprecherin in der Behörde gegeben. Frischer Wind, meinte der Richter, täte in der Sache gut. Der frische Wind blies gerade durch den leeren Rahmen.

Bei dieser Gelegenheit, dachte sich die Sprecherin der Polizei mit Rücksicht auf ihre eigene Dienstzeit (in Vergangenheit und Zukunft, also vor und nach der Sache mit den Herren am Seil), lässt sich ganz nebenbei auch gleich ein Sprachführer Deutsch–Amtsdeutsch verfassen, der dann gefördert von der Blau-, Rot- und Grünbank im Gelbverlag erscheinen kann:

Berechtigter Spurenverleger – eine Person, die am Tatort rechtmäßig oder nicht Spuren setzt, die mit dem → Tathergang nicht in Verbindung stehen.

Gutgläubige Hilfsdienstunterlassung – das Handeln einer Person, die keine Hilfe leistet und die Polizei nicht verständigt, weil sie aus → vertretbaren Gründen ehrlich der Meinung ist, die beiden Herren am Seil kämen schon ganz gut allein zurecht. (Der Geisteszustand des Rentnerehepaares hätte eigentlich untersucht werden müssen.)

Ermittlungspanne – behördliches Versäumnis im Verlauf polizeilicher Nachforschungsarbeit.

Glaubwürdigkeitsdefizit – selbsterklärend.

Soweit die Protokolle der Aussagen stimmten, waren einige Kunstfreunde vom Waldsofa aus in dem Glauben weiterspaziert, die Herren hätten hier oben einen Kletterunfall erlitten. Zwei Funsportler in Anzug und Krawatte, die sich eben nur falsch angeseilt hatten! Selbstredend hatten nicht wenige die mutmaßlich toten Extremsportler fotografiert und die Fotos später ins Netz gestellt. Ilse und Sepp waren allerdings die Einzigen, die sich selbst gefilmt hatten, während sie die beiden hängenden Herren besichtigt hatten, deren Ableben möglicherweise vor, möglicherweise während oder nach ihrer Fotodokumentation stattgefunden haben musste, die genauen Zeitpunkte sind Gegenstand der laufenden Ermittlung.

Laufende Ermittlungen auf dem Rothaarsteig. Anspielungen dieser Art vermeiden! Schwebendes Verfahren – auch besser nicht in den Zusammenhang bringen, genauso wie: Anknüpfungspunkte. Aufpassen vor freudschen Fehlleistungen wie → Touristischer Anschlag.

Der Grund, weshalb sich die Ermittlungen bei der Vielzahl der Schaulustigen auf das Ehepaar konzentriert hatten, bevor der Untersuchungsrichter ein Machtwort gesprochen und die beiden de facto amnestiert hatte, solle nicht auf die konfuse Geschichte mit der gefundenen Kamera zurückgeführt werden. Die Sache sei hinreichend dadurch erklärt, dass die beiden eben in einer langen Kette von Gaffern die ersten waren. Gedankliche Notiz: ein sympathischeres Wort für Gaffer finden, unbeteiligte Beobachter vielleicht. Unbeteiligte Beobachter eines unbeabsichtigten Doppelselbstmords, quasi stillschweigend unterlassende Unfallhelfer, Reservezeugen eines doppelt gescheiterten bilateralen Rettungsversuchs. Bankenrettungsversuchs. Hm.

Die Sache mit dem Messer war ja auch drollig. Die Pressesprecherin blinzelte wieder zu dem Rahmen hin, an dem immer noch in den Bildern in ihrem Kopf die beiden Leichen hingen, und hörte in Gedanken, wie am Abend der Auffindung das Handy aus der Anzugtasche des rechten Hängers Miss Marples Song intonierte.

HK Ferdi Hogel hatte an jenem Sonntagabend in einem Pulk aus zehn weiteren Kripoleuten auf dem mittlerweile weiträumig abgesperrten Hügel neben ihr gestanden und wie alle anderen in die Runde geglotzt, vermutlich, um sich nach Agatha Christies Unterstützung umzugucken, doch das Liedchen war tatsächlich aus der Tasche Gernot Hondts gequollen, dessen Hals allmählich zu reißen drohte. Zu diesem Zeitpunkt hatte Katharina nicht geahnt, dass man sie zur Pressesprecherin ernennen würde, die ungeschickte Vorgehensweise der Kollegen hatte sie zu diesem Zeitpunkt noch milde amüsiert, der ziellose Pragmatismus einerseits …

… und die heillose Warterei andererseits. Die Kollegen hatten da oben nämlich auf den richterlichen Beschluss gewartet, Hondt und seinen Freund Rudi Gabinther abzuschneiden, weil irgendein Vollidiot aus dem Dezernat der Meinung gewesen war – Ferdi Hogel besser nicht namentlich erwähnen! – man müsse sich gegen eventuelle Schadenersatzansprüche des Künstlers absichern. Das Versäumnis des laufenden Ermittlers – Hogel war in Trekkingschuhen und mit Walkingstöcken angerückt – gehörte im Zuge behutsamer Berichterstattung nicht in die Öffentlichkeit getragen, es handelte sich ganz eindeutig um einen jener → bedauerlichen Einzelfälle ungeschickter Behördenvorgänge, die in Stresslage schon mal vorkommen. Stresslage, Steißlage, Hiebammenhütte.

Geistige Notiz: Das Wort Vollidiot vermeiden!

Hogel hatte sich einen Handschuh übergestülpt, in Hondts klingelnde Tasche hineingegriffen und ein Handy hervorgeholt. Ausgerechnet der Vertreter der Grünbank war in der Leitung gewesen, um sich zu erkundigen, ob sein Verdacht bezüglich der Fotos auf der Kamera von der Biergartenbank der Hütte zutreffend sei. Er hatte ja die Anzeige erstattet und somit die Sache auf den Weg gebracht. Ja, der Verdacht träfe zu, Information aus erster Hand. Hondt war tot. Sein Freund ebenso. Die Hilfen der Subsidiärbank hatten mal wieder zu kurz gegriffen.

Rudi Gabinthers Messer, ein weltbekanntes Qualitätsprodukt aus der Region, zuverlässig, scharf und dekorativ in der Ausführung, hatte während des Telefonats zerbrochen unter der Leiche seines Besitzers gelegen. Die Schnittspuren am Seil, das Gernot Hondts Hals in die Länge zog, bestätigten die Annahme, dass der hängende Freund den anderen hängenden Freund selbstlos aus dessen misslicher Lage zu befreien versucht haben musste und dabei wegen erwähnten Klingenbruchs gescheitert war. Das kommt einmal in tausend Jahren vor, konnte der Hersteller plausibel belegen, und das sei vermutlich auf unsachgemäße Behandlung zurückzuführen.

Eselsohr in die Gedanken knicken: keine Markennamen nennen!

Rudi Gabinther hatte das Stück schon mal im Steinbruch als Meißel benutzt. Die Klinge ist aus gesintertem Stahl, die verträgt kein Torsionsmoment, was immer das ist. Jedenfalls erklärte es, warum die Blaubank mit ihrem Befreiungsversuch kläglich scheitern musste. Ein zweiter Hinweis zur Klärung der schnitttechnischen Sachlage wurde später erst gegenständlich, nämlich das intakte Messer des Herrn Hondt, Rotbank, ein Sparkassen-Giveaway mit S-Logo im Griff, wo gewöhnlich ein weißes Kreuz eingeprägt ist, Schweizermesser mit etwas über zwanzig Funktionen, Korkenzieher, Lupe, Pinzette, Flaschenöffner, Dosenöffner, Säge … und eben auch einer intakten Klinge, die jedoch wie die des Kollegen nicht zum Einsatz kam, weil das Dingens dem Rotbankchef bei der komplizierten Handhabung wohl entglitten war, was das Schicksal beider Freunde besiegelte.

Das Schweizermesser war unter den baumelnden Bänkern auf den Bildern zu sehen. Darauf konnte man eine Fahndung ausschreiben, von der allerdings keine Ergebnisse zu erwarten waren. Achttausend Stück hatte die Bank unter die Leute gebracht, machte 7.999 rechtmäßige Besitzer. Einer der Gaffer musste das achttausendste wohl am besagten Sonntag als Souvenir eingesteckt haben. Mit etwas Glück würde es bald bei eBay auftauchen. Gebote ab soundso – echtes Asservat. Aus der Hand eines Toten.

Sachdienlich zur Klärung der Todesursache der beiden einsam im Rahmen hängenden Herren war letztlich die Befragung einer Kellnerin der Wochenendschicht auf der Hiebammenhütte, die sich an die Vertreter der Banken Blau und Rot erinnern konnte, nicht weil sie sie kannte – »so viel Geld hab ich nicht, dass ich mit den Sparkassenchefs per Du bin« –, sondern weil die Herren untereinander so wirres Zeug geredet hätten, als sie noch lebten. Nicht das übliche wirre Zeug, das Bänker gewöhnlich so reden, wenn sie noch leben, sondern das andere.

Damit war der Fall, soweit es die Toten im Holzrahmen betrifft, so gut wie geklärt: Herren im Bad von Loriot. »Aber ich kann länger als Sie!«

Die beiden Jugendfreunde hatten in der Hiebammenhütte sechs Weißbier lang und zwei Schinkenschnitzel Loriots Badewannensketch aufgesagt, den Astronaut, Kosakenzipfel und Hallmackenreuthers Bett, dabei den Plan erörtert, in den Rahmen zu klettern – besagtes Kunstwerk am entwaldeten Hügel – und auszuprobieren, wer von beiden länger konnte. Nicht nur Pointen aufsagen, sondern auch Luft anhalten. Am Strick. Ein fataler Dummejungenstreich.

Ob das erwähnt werden muss, sei Ermessensfrage. Als Todesursache könne auch Ersticken angegeben werden, Mangel an frischem Wind. Nach Ansicht des Richters. Der Tod, meint er, sei in jedem Einzelfall schrecklich, man müsse pietätvoll damit umgehen, wenngleich die näheren Umstände nachgerade grotesk erscheinen: »Nil nisi bene – Sie wissen schon! Erwähnen Sie auf keinen Fall, dass es ein Versehen war!« Ein geplantes, um genau zu sein.

Das Seil jedenfalls hatten die Herren Bankvorstände gemeinsam in einem der Nebengebäude der Hütte entwendet und hernach brüderlich geteilt, mutmaßlich mithilfe eines der bereits erwähnten Messer. In Sachen Kultur zogen die nunmehr herrenlosen Konkurrenzgeldinstitute nach eigener Auskunft seit Jahren an einem Strang. Einträchtig nebeneinander. Die Seilschaft bestand seit der Schulzeit und war wohl nie anders gewesen. Zwei Prahlhanse, die ihre Hälse gern in selbst geknüpfte Schlingen hängen und dort – »Aber ich kann länger als Sie!« – ausharren, bis ihnen die Luft auszugehen droht, erst der eine sein Messer zerbricht, dann der andere seins verliert, oder in umgekehrter Reihenfolge, rot-blau, blau-rot, mal hat der eine die Nase vorn und mal der andere, gesunder Wettbewerb. Und der könnte verzerrt werden (auch ein schlechtes Wort im Gesamtzusammenhang), wenn erwähnt werde, dass ausgerechnet, wie der Zufall es wollte, ein Vertreter vom Geldinstitut Grün das Missgeschick der Mitbewerber zur Anzeige bringt. Raiffeisen sollte als historische Person und Namensgeber ungenannt bleiben. Denn auch Bank Grün war einiges vorzuwerfen, da der Herr, nennen wir ihn: Grün, das Beweismaterial unterschlagen hatte. Der minderjährige Sohn des Grünbänkers hatte mit dem Fundstück von der Hüttenbank – »Ja, wo laufen Sie denn?« – zwischendurch noch die knackigen Kellnerinnen in ihren Lederhosen abgelichtet. Man hatte versucht, die Bilder von der Karte zu löschen, allerdings dilettantisch. Einzig unschuldige Bank in diesem Zusammenhang: die Hüttenbank, allerdings kein Geldinstitut. Die Hütte selbst ist idyllisch gelegen. Endlich einmal eine Info, die man unbesorgt in einer PK verbreiten kann.

Katharina Weise rekelte sich auf ihrem Waldsofa in eine bequemere Stellung, betrachtete das Kunstwerk, in dem immer noch vor ihrem inneren Auge die beiden Bänker hingen, Freunde fürs Leben, Freunde im Tod, kompetente Partner im Zahlungsverkehr, und dachte, dass ihr neuer Job nichts anderes als ein Schleudersitz sei. Noch immer schwebte das Verfahren und somit die Frage, ob die beiden noch gelebt hatten, als man sie filmte.

Zwei Herren, die in jeder Hinsicht aus dem Rahmen fielen. Als Täter wie als Opfer völlig unbrauchbar. Allseits beliebte Bänker – ein Widerspruch in sich. Showdown im wahrsten Sinne: siebzehn Schaulustige, eine Kamera, zwei Messer. Um glauben zu können, dass die beiden schon tot waren, als der Sepp seine Ilse filmte, hätte das gerichtsmedizinische Attest im Todeszeitpunkt eindeutiger sein müssen. Auf dem Foto sah es nicht so aus.

Mordwaffe Digicam? Alibi Dummheit? Das ist eine Frage der Bewertung. Es war auch eine Frage der Bewirtung. Zwei Glas weniger, und das Messer wäre vielleicht nicht auf dem Boden gelandet. Das Rätsel, wie die beiden Bankleute da raufgekommen waren, hatte man mit ihren Fußabdrücken auf einem den Hang hinabgerollten Rundholz lösen können. Kyrillschrott.

Also gibt es nach dem Ausschlussprinzip über die ganze Sache wie in jeder wirklich guten Presseerklärung überhaupt gar nichts zu berichten. Trotzdem quälte Katharina Weise auf ihrem Waldsofa in der Sonne ganz privat doch noch eine Frage: Wer von beiden hatte denn nun länger gekonnt?

OLSBERG-GEVELINGHAUSEN

Um ein Haar

Norbert Horst

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POLIZEIWACHE BRILON

Montag, 20. Juni 2011

 

BERICHT

Am heutigen Tage um 07:12 Uhr bekam der Sorpe 12/21 (Grote, Schrader) von der Leitstelle einen Einsatz nach Gevelinghausen. Dort sei in der Marienkappelle im Wald oberhalb des Ortes eine Leiche gefunden worden. Die Leiche sei männlich und weise Verletzungen auf. Anrufer sei ein Anton Gerber (phon.), der vor Ort auf das Eintreffen der Polizei warte. Der Notarztwagen sei bestellt.

Um 07:28 Uhr trafen wir am Einsatzort ein und wurden vom Anrufer, Herrn

Anton Gerber, geb. 17.03.33 in Brilon,

erwartet.

Die Marienkapelle liegt etwa 100 Meter abseits der Straße ›Lange Trift‹ in einem Waldstück. Durch die unverschlossene Tür gelangt man in den Innenraum. Zwischen der vom Altar aus gesehen zweiten und dritten Bank lag in Bauchlage eine männliche, leblose Person. Im Bereich des Kopfes war auf dem Boden eine bereits schwarzrötliche Blutlache erkennbar.

Ohne die Ankunft des Notarztwagens abzuwarten, wurde über die Leitstelle das Kriminalkommissariat Brilon alarmiert.

Gegen …

 

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KRIMINALKOMMISSARIAT BRILON

Montag, 20. Juni 2011

 

BERICHT

Auffinden einer männlichen Leiche

Heute um 07:55 Uhr erhielt das KK Brilon die Meldung über das Auffinden einer männlichen Leiche in der Marienkapelle nahe Gevelinghausen.

Um 08:44 Uhr trafen wir, der Sorpe 42/01 (Hagemeier/Meinhold) am Fundort ein. Dort anwesend waren der Sorpe 12/20 (Golz) und der 12/21 (Grote, Schrader) von der Polizeiinspektion Brilon sowie der Finder der Leiche, Herr Gerber. Ebenfalls anwesend war der Notarzt, Dr. Yeboah, der bereits den Tod der Person festgestellt hatte.

Die Kapelle liegt in einem Waldstück südlich von Gevelinghausen. Man erreicht sie über einen etwa 100 m langen, unbefestigten Weg von der Straße ›Lange Trift‹ in nordwestlicher Richtung. Sie ist unverschlossen und besteht aus einem Raum der etwaigen Größe von 6 x 4 Metern. Gegenüber der Eingangstür befindet sich ein kleiner Altar, davor stehen vier Holzbänke.

Die männliche Leiche liegt vom Altar aus gesehen zwischen der zweiten und dritten Holzbank in Bauchlage. Die Person hat ein geschätztes Alter deutlich über 50 Jahre. Die Kleidung ist auf den ersten Blick geordnet, die Augen sind geschlossen. Im Bereich der Auflagefläche des Kopfes zieht sich eine schwärzliche Blutlache bis in den Bereich des Halses und der Auflagefläche der oberen Brust. Die Leichenstarre ist voll ausgeprägt. Bei einer genaueren Nachschau wird der Kopf des Toten ein wenig angehoben und es ist eine etwa 5 cm tiefe und ca. 10 cm lange Einkerbung im linken Scheitelbereich des kahlen Schädels zu erkennen.

Nach Rücksprache mit der Leitstelle Sorpe wurde die Mordkommission der Kriminalhauptstelle Dortmund alarmiert. Nach Angaben …

 

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KRIMINALKOMMISSARIAT BRILON

Montag, 20. Juni 2011

 

VERMERK

Mit Wirkung vom heutigen Tage wird aufgrund des Tötungsdeliktes in Gevelinghausen beim Landrat Hochsauerlandkreis die Mordkommission ›Kapelle‹ unter der Leitung von Kriminalhauptkommissar Schulze vom PP Dortmund als Kriminalhauptstelle eingerichtet. Die Kommission bezieht Räume in der Polizei Brilon Am Rothaarsteig 3, weil …

 

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Montag, 20. Juni 2011

 

SPUR 1

Bei dem Mordopfer handelt es sich um den ehemaligen Unternehmer

Erwin Lesch, geb. 03.12.1932 in Soest.

Der Tote bewohnte ein Anwesen, das zwischen den Orten Olsberg und Gevelinghausen liegt. Nach ersten Ermittlungen lebte er dort allein mit seiner Haushälterin, Frau

Gisela Burmester, geb. 14.09.1948 in Olsberg,

die dort auch angetroffen werden konnte. Frau Burmester hat den Toten heute, um 15:00 Uhr, in den Räumen der Gerichtsmedizin eindeutig identifiziert.

Das Opfer wohnt seit über dreißig Jahren im Ort und verfügte nach ersten Ermittlungen über ein beträchtliches Vermögen, welches vermutlich aus dem Verkauf seines Unternehmens im Jahre 1992 stammt. Sowohl das Anwesen als auch sein Fuhrpark von fünf teuren Sportwagen unterstreichen diese Annahme. Für konkretere Angaben in der Beziehung müssen weitere Ermittlungen in den nächsten Tagen abgewartet werden.

Der Tote galt im Ort als Sonderling und hatte nur vereinzelte Kontakte zu wenigen Menschen. Sein soziales Engagement …

 

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Dienstag, 21. Juni 2011

 

VERNEHMUNG

Name: Burmester

Geb.-Name: Walterscheidt

Vorname: Gisela Waltraud

geb. 14.09.1948

Geburtsort: Olsberg

Familienstand: verwitwet

 

Zur Person:

Ich bin seit 15 Jahren verwitwet. Vor 24 Jahren habe ich meine Stelle im Hause Lesch angetreten und bin damals noch von Frau Lesch eingestellt worden. Als sie 1998 gestorben ist, gab es noch einen Gärtner, einen Pferdepfleger und den Fahrer, aber Herr Lesch hat die anderen festen Mitarbeiter nach und nach entlassen. Mich hat er behalten, weil ja irgendwer für ihn sorgen musste. Im Jahre 2001 bin ich in die Wohnung im Nebengebäude gezogen. Damals …

 

Unwichtig.

 

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Zur Sache:

 

Herr Lesch ist ein angenehmer Arbeitgeber … gewesen, muss man ja jetzt sagen. Unser Verhältnis war sehr professionell, was nicht heißt, dass er mich nicht gut behandelt hätte. Er war freundlich, aber von einer gewissen Distanz.

Ich kümmere mich um den Haushalt und koche für ihn. Er lässt mir bei meiner Arbeit sehr freie Hand. Ich kann z. B. dreimal die Woche auf eine junge Putzhilfe zurückgreifen, weil das große Haus sonst nicht zu schaffen ist. Ich bewohne eine geräumige Wohnung in einem Nebengebäude.

 

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Seite 27

…