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Zoran Drvenkar wurde in Kroatien geboren und zog als Dreijähriger mit seinen Eltern nach Berlin. Seit dreißig Jahren arbeitet er als freier Schriftsteller und schreibt Romane, Gedichte, Theaterstücke und Drehbücher über Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Er wurde für seine Bücher mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet und lebt in der Nähe von Berlin in einer ehemaligen Kornmühle. Bei Beltz & Gelberg erschien von ihm bisher der Jugendroman »Licht und Schatten« sowie das Kinderbuch »Oh je, schon wieder Ferien« in der Reihe »Lust auf Lesen«.

für Corinna,
meine große Liebe,
mein bester Freund

DIE MISSLUNGENE ERZIEHUNG DER PANDEKRASKA PAMPERNELLA

Pandekraska Pampernella stand nur auf ihrem linken Zeh und versuchte das Gleichgewicht zu halten. Dabei war sie so clever, nicht nach unten zu schauen. Unter ihr lag in einer Tiefe von zweihundert Metern das Florinische Tal ausgebreitet wie ein gewaltiger Teppich aus Wäldern und Flüssen. Es war durchzogen von Schluchten und Wiesen und mittendrin hockte ein Kaninchen unter einem Gebüsch und wollte nicht gesehen werden. Da war auch ein See, der nur darauf wartete, dass man sich auszog und hineinsprang. Doch Pandekraska Pampernella verschwendete keinen Blick auf die prächtige Landschaft oder das Kaninchen. Auch dachte sie nicht daran, sich auszuziehen und in den See zu springen.

Sie hatte ein ganz anderes Problem.

Unsere Heldin balancierte im vierten Stockwerk des Schlosses Florin auf der schmalen Balustrade eines Balkons und hatte den rechten Arm hochgestreckt, als wollte sie der Sonne den Bauch kraulen. Und wie sie da so stand, erinnerte sie ein klein wenig an die Freiheitsstatue in New York. Ein großer Unterschied war, dass die Freiheitsstatue auf ihrem Kopf einen Victorian Bouffant hatte, während das Haar von Pandekraska Pampernella zu einem stilvollen Donut Bun frisiert war. Aber ein noch viel größerer Unterschied zwischen der Statue und unserer Heldin bestand darin, dass Pandekraska Pampernella keine Fackel hochhielt – auf ihrer Fingerspitze saß ein Buntfalke.

Der Falke hatte schon vor einer Weile aufgehört, darüber nachzudenken, was er hier eigentlich verloren hatte. Man konnte ihm ansehen, dass er am liebsten woanders gewesen wäre, denn es war nicht das erste Mal, dass er auf dieser Fingerspitze landen musste. Er schwankte leicht, weil seine Krallen kaum Halt auf der Fingerspitze fanden. Sie war recht klein, wie nun mal jeder Zeigefinger einer Elfjährigen klein ist, wenn sie nicht gerade eine Basketballspielerin ist.

»Fall bloß nicht runter!«, rief die Königin von Florin, die es nicht mochte, einfach nur Mutter genannt zu werden. Sie klang immer so, als hätte sie eben den Zug verpasst.

»Fall bloß nicht auf unseren Tisch!«, rief der König von Florin hinterher, der es nicht mochte, einfach nur Vater genannt zu werden. Im Gegensatz zu seiner Frau klang er immer etwas pikiert, als wäre seine Kaffeetasse leer und kein Diener in der Nähe, um sie aufzufüllen.

»Dieser blöde Falke wird immer fetter«, murmelte Pandekraska Pampernella, die zwar eine Prinzessin war, es aber überhaupt nicht mochte, wenn man Prinzessin zu ihr sagte. Sosehr aber unsere Heldin auch vor sich hinmurmelte, der Falke hatte sie gehört und schaute beleidigt zu ihr runter. Er spürte schon seit einer Weile, dass er nicht mehr geliebt wurde. Und es gibt kaum etwas Schlimmeres, als wenn sich die Liebe von einem abwendet und in die andere Richtung schaut.

Zur Verteidigung unserer Heldin muss gesagt sein, dass der Falke wirklich fett geworden ist, wie ein Tier eben fett wird, wenn es nicht selbst jagen muss. Seit Monaten versuchte Pandekraska Pampernella ihn zu dressieren, dabei wollte der Falke bloß in seinem Käfig hocken und ab und zu nach einer Maus picken, die ihm einer der Diener vor den Schnabel setzte. Stattdessen musste der arme Vogel jetzt jeden Morgen auf Pandekraska Pampernellas kleinem Finger landen und sich anhören, was für Kunststücke er ausführen sollte.

»Jetzt heb den linken Flügel!«

»Jetzt leg den Kopf nach hinten und schrei mal!«

»Jetzt reib deinen Schnabel an meiner Hand!«

Bis zu diesem Tag hatte der Falke geduldig mitgespielt – er hob den Flügel, er schrie und rieb seinen Schnabel an der Hand seiner Herrin, als wäre er ein zufriedenes Kätzchen. Doch nachdem er eben so offen beleidigt worden war, sträubten sich seine Nackenfedern und er beschloss, dass es an der Zeit war, zu meutern.

Er pickte einmal in die Fingerspitze unserer Heldin.

Es klingt zwar harmlos, es war aber kein harmloses Picken. Es war die typische Rache eines Buntfalken, der zu fett geworden ist. Pandekraska Pampernella gab einen zischenden Laut von sich. Im selben Moment löste sich ein Blutstropfen aus ihrer Fingerkuppe, floss den Finger hinunter und rollte als eine rote Perle in die Innenfläche ihrer Hand. Der Falke wartete nicht die Reaktion seiner Herrin ab, sondern breitete die Flügel aus und verschwand in Richtung seines Käfigs.

Und so kam es zu einem außergewöhnlichen Moment, in dem unsere Heldin an einen Grashalm erinnerte, der vom Wind bewegt wurde. Kaum war der Falke von ihrer Fingerspitze verschwunden, begann Pandekraska Pampernella das Gleichgewicht zu verlieren, und es geschah, was eben geschieht, wenn jemand auf einer schmalen Balustrade balanciert und sein gesamtes Gewicht auf den linken Zeh verlagert. Erst kippte Pandekraska Pampernella ein wenig nach hinten, dann kippte sie ein wenig nach vorne, wo die Schwerkraft hungrig nach ihr schnappte und sie zu sich herabzog, sodass unsere Heldin nachgeben musste und dem Tal mit einem lautlosen Schrei entgegenfiel.

In jeder anderen Geschichte wäre der König aufgesprungen und hätte seine Tochter gerettet. So was erwarten wir von mutigen Vätern, die ihre Kinder lieben und alles für sie tun.

Dummerweise saß der König ein Stockwerk tiefer an einem prachtvoll gedeckten Frühstückstisch und aß eines von zwei Croissants, die jeden Morgen aus der hundert Kilometer entfernten Konditorei Chez André eingeflogen wurden. Der König hätte sich eher selbst vom Balkon gestürzt, als eines seiner Croissants unbeachtet auf dem Teller liegen zu lassen.

Nein, mit seiner Hilfe konnten wir nicht rechnen.

Da war aber noch die Königin.

In jeder anderen Geschichte wäre die Königin aufgesprungen und ihrer Tochter zu Hilfe geeilt. So was erwarten wir von liebevollen Müttern, die nur ein Kind haben und kein zweites wollen.

Die Croissants waren in diesem Fall weniger das Problem, da die Königin nichts zum Frühstück oder zum Mittag aß. Selbst zum Abend hin rührte sie kein Salatblatt an, denn ihre einzige Nahrung war die Sonne, der sie sich jede Minute des Tages wie eine Blume entgegenstreckte. Manch einer von euch mag jetzt denken: Mensch, die Mutter ist doch meschugge und bestimmt so klapperdürr wie ein abgebranntes Streichholz. Ihr dürft das denken, aber dem ist nicht so. Seit der Geburt unserer Heldin lebte die Königin ausschließlich von eisgekühltem Zitronenwasser und strahlendem Sonnenlicht. Und seit elf Jahren sah sie jeden Tag besser aus.

Daraus sollte mal jemand schlau werden.

Dennoch war die Königin an diesem Morgen keine große Hilfe, denn sie saß neben dem König auf der Terrasse, nippte von ihrem Zitronenwasser und konnte nur staunend beobachten, was für akrobatische Verrenkungen ihre Tochter ein Stockwerk über ihnen mal wieder vollführte. Und so tat sie, was viele liebevolle Mütter sehr gut können – sie setzte ihr Glas ab, hielt sich schockiert eine Hand über die Augen und rief:

»Auweh!«

Und unsere Heldin fiel und fiel.

Hier also endet unsere Geschichte über das kurze, aber dramatische Leben eines elfjährigen Mädchens, das seit seiner Geburt jeden Tag eine neue Frisur hatte, reiten, fechten und einhändig jonglieren konnte, beim Segeln keine Rettungsweste trug und sich beim Schachspiel die Augen verbinden ließ, damit der Gegner auch mal eine Chance hatte. Es gab kaum etwas, was Pandekraska Pampernella nicht erlebt hatte. Sie war dreimal zu Gast bei der Oscar-Verleihung gewesen, der Modedesigner Galliano hatte eine Kollektion in ihrem Namen kreiert und es gab ein Handy auf dem Markt, das sich nur einschalten ließ, wenn man viermal hintereinander Pandekraska Pampernella sagte. Und zwar mit französischem Akzent, bitte schön.

All diese kleinen Wunder des Lebens beeindruckten unsere Heldin wenig. Es gab kaum etwas, was sie wirklich beeindruckte. Außer einem guten Espresso vielleicht.

Espresso war ihr Lieblingsgetränk, sie trank ihn heiß und schwarz und ohne Zucker. Mit normalem Kaffee durfte man ihr nicht kommen. Sie aß kein Fleisch und auch bei Fisch rümpfte sie die Nase. Sie hatte eine große Leidenschaft für Süßkartoffeln und an einem Schokopudding wäre sie nie vorbeigegangen, ohne den Finger zum Kosten einzutunken. Sie hatte noch nie eine Freundin – nicht im Leben und auch nicht im Internet –, denn dafür war sie zu wählerisch. Sie hatte aber eine lebenslange Erzfeindin, über die wir nicht reden durften. An ihrer Seite befand sich immer ein Leibwächter, der auf den klangvollen Namen Xien Xien Yu hörte und dem Treppensteigen so sehr verhasst war, dass sich jede Treppe duckte, sobald er in ihre Nähe kam. In diesem Moment stand der Leibwächter auf dem Vorhof des Palastes, hatte den Kopf in den Nacken gelegt und sah seine Herrin hinabstürzen.

Auch er konnte ihr nicht helfen.

Alles in allem hatte Pandekraska Pampernella seit ihrer Geburt mehr Glück gehabt, als so manch einer. Aus diesem Grund dachte sie auch keine Sekunde daran, so plötzlich zu sterben. Dennoch endet unsere Geschichte hier, weil jede normale Geschichte hier enden würde.

Nein, das tut sie nicht, dachte Pandekraska Pampernella und stürzte an dem Königspaar und den Bediensteten vorbei, die in einer ordentlichen Reihe neben dem Frühstückstisch standen und immer bereit waren, alle Wünsche der Herrschaften zu erfüllen. Auch wenn diese Wünsche manchmal nicht erfüllbar waren.

»Fangt sie auf!«, rief der König ihnen zu.

»Tut was!«, rief die Königin.

Die Bediensteten sprangen mit ausgestreckten Armen vor, aber natürlich war es längst zu spät – Pandekraska Pampernella segelte auch an ihnen vorbei dem Tal entgegen, das bis eben noch ihr bester Freund gewesen war und sich jetzt in ihren ärgsten Feind verwandelt hatte, denn so ein Tal besteht zwar aus gemütlichen Wiesen und einem kleinen See, aber gleichermaßen aus Geröll, scharfen Felsen und Baumstümpfen, die einen in Fetzen reißen, wenn man aus einer Höhe von zweihundert Metern auf sie hinabstürzt.

Auch wenn unser Heldin nicht wusste, wie dieser Sturz ausgehen würde, so wusste sie, dass sie nicht so plötzlich sterben wollte.

Nicht jetzt und nicht später, dachte sie.

Da die Geschichte von Pandekraska Pampernella hier und jetzt doch nicht enden darf, schauen wir uns mal an, was unserer Heldin in ihrem freien Fall alles widerfährt.

Sie fiel und fiel.

Sie fiel und fiel.

Hier traf Pandekraska Pampernella ein Ast, da traf sie ein Ast, dort flatterte sie zwischen Tannen hindurch, da schubberte ihre Nasenspitze so heftig gegen einen Felsen, dass sie ein wenig zu schielen begann. Ein Baumstamm stieß sie nach links, einer nach rechts und dann erschreckte sie unser anfangs erwähntes Kaninchen, das die Augen weit aufriss und ein paar Kötel fallen ließ, ehe es zur Seite kippte und so tat, als wäre es tot.

Nach weiteren achtzig Metern war es plötzlich vorbei mit dem Fallen. Pandekraska Pampernella landete auf einem Heuteppich, den die Dienerschaft jeden Tag zusammenschob, damit ihre Herrin eine sichere Landung hatte. Sie federte mit einem Juchzen ab und wurde in die Luft geworfen, um zwanzig Meter enfernt auf der nächsten Lage Heu zu landen, von der sie dann den restlichen Weg zum See auf ihrem Hintern hinabschlidderte, um direkt vor einem Holzhaus zu landen.

Genau dort lag sie jetzt etwas verbeult und prüfte, ob ihre Frisur noch richtig saß, dann erst stand sie auf und wischte sich das Heu von ihrer Jeans.

»Langsam reicht es mir«, sagte sie laut und schaute zum Himmel auf, als könnte sie den Falken dort oben fliegen sehen. Der Falke war nicht dumm. Er saß natürlich längst schon wieder in seinem Käfig und tat, als wäre nichts passiert. Pandekraska Pampernella ballte eine Faust und hielt sie den Wolken entgegen, daraufhin wanderte ein Donnern über den Himmel und unsere Heldin senkte zufrieden die Faust.

Sie war aber noch nicht fertig mit ihrer Empörung.

Mit aufgeregten Schritten lief sie auf den Steg raus, an dessen Ende ein Mann saß und von seinem Schreibblock aufschaute, als er sie kommen hörte. Dieser Mann hatte die Beine im Wasser baumeln und war niemand anderes als meine Wenigkeit, und meine Wenigkeit rückte seine Brille zurecht und wunderte sich, wann Pandekraska Pampernella endlich davon müde werden würde, diesen dämlichen Falken zu dressieren.

»Wie oft hast du es jetzt versucht?«, fragte ich.

Pandekraska Pampernella zählte die Versuche an ihren Fingern ab. Es dauerte eine Weile.

»Dreiundachtzig Mal«, antwortete sie schließlich und warf einen Blick auf den Schreibblock, auf dem ich alles notierte, was unserer Heldin widerfuhr, denn ich war ihr offizieller Chronist, der sie seit ihrem zweiten Lebensjahr begleitete.

Ihr ruft jetzt bestimmt: Nee, das ist nicht möglich, niemand hat mit zwei Jahren seinen eigenen Chronisten!

Ihr dürft das rufen, denn ihr kennt Pandekraska Pampernella nicht. Alles ist möglich, denn sobald dieses Mädchen et‚was will, wird es möglich gemacht. Der Wunsch nach einem Chronisten war der dritte Satz, den sie formuliert hatte, als sie mit zwei Jahren zu sprechen begann.

Ihr erster Satz war: »Das hat aber lange gedauert.«

Ihr zweiter Satz lautete: »Wieso habe ich noch kein Pferd?«

Und schließlich sagte sie: »Und jetzt will ich einen, der alles aufschreibt, was ich denke und tue. Und er muss nicht nett zu mir sein, aber er sollte sich lieber Mühe geben. Ich will …«

Hier zögerte Pandekraska Pampernella einen Moment, weil ihr das Wort nicht einfiel, dann aber hatte sie es.

» … einen Chronisten, und zwar flott!«

Und so kam ich ins Spiel.

Mein Name ist Domingo Yglesias De Sacramento, aber Pandekraska Pampernella nennt mich Don Pluto, also bin ich für die ganze Welt Don Pluto, der offizielle Chronist Ihrer Hoheit, die jetzt über meine Schulter schaute und las, was ich eben geschrieben hatte. Sie tippte auf eine Zeile und sagte:

»Das ist falsch.«

Ich schaute auf die Zeile.

Pandekraska Pampernella gab einen zischenden Laut von sich.

»Was ist daran falsch?«

»Niemals konntest du das hören.«

»Ich konnte es sehen«, sagte ich und tätschelte das Fernglas, das neben mir auf dem Steg lag und ohne das ich am Morgen das Haus nicht verließ. Seit vier Monaten versuchte Pandekraska Pampernella ihren Falken zu bändigen, seit vier Monaten saß ich hier jeden Morgen und beobachtete die Abstürze der Hoheit, wie man ein Kleinkind beobachtet, das gerade laufen lernt. Ohne das Fernglas wäre es nur der halbe Spaß.

»Es war kein zischendes Geräusch«, sagte Pandekraska Pampernella.

»Was war es dann?«

»Es war ein empörtes Geräusch.«

»Mach mal ein empörtes Geräusch.«

Pandekraska Pampernella empörte sich.

»Das klingt wie ein Zischen«, sagte ich.

»Iwo, soll ich mal ein zischendes Geräusch machen?«

Ich nickte.

Pandekraska Pampernella machte ein zischendes Geräusch.

»Das«, sagte sie, »war ein zischendes Geräusch.«

»Mach noch mal ein empörtes Geräusch«, bat ich sie.

Pandekraska Pampernella empörte sich.

Es klang genau wie ihr Zischen.

Ich war Chronist und Diplomat zugleich. Ich war kein Dummkopf.

»Aha, ich verstehe«, sagte ich.

»Du lügst«, sagte sie.

»Ich bin dein Chronist«, erinnerte ich sie. »Ich kann nicht lügen.«

Damit gab sich Pandekraska Pampernella zufrieden und blätterte in meinen Notizen.

»Wolltest du nicht aufschreiben, wie mich die Professorin fand?«, fragte sie.

Ich nickte, das war der Plan, aber es gab da ein kleines Problem.

»Ich war nicht bei deiner Taufe«, sagte ich.

»Und?«

»Vielleicht solltest du diese Geschichte erzählen«, schlug ich vor.

Pandekraska Pampernella hielt nichts davon.

»Ich bin doch die Heldin«, sagte sie. »Ich erzähle doch nicht meine eigene Geschichte, das wäre doch dämlich.«

»Es gibt für alles ein erstes Mal«, sagte ich. »Denk darüber nach.«

Sie legte den Kopf schräg und dachte eine Minute lang darüber nach.

»Niemals«, sagte sie und damit war das Thema für sie abgeschlossen.

AUS DEN PRIVATEN CHRONIKEN VON PANDEKRASKA PAMPERNELLA

Endlich. Es wurde aber auch Zeit, dass ich über mich selbst schreibe. Es gibt ja nichts Schlimmeres als eine Heldin, die immer nur die Klappe hält. Vielleicht gibt es doch etwas Schlimmeres. Zum Beispiel eine Heldin, die Pandekraska Pampernella heißt und gar nicht mehr aufhört zu reden.

Aber so eine Heldin bin ich nicht.

Da ich in letzter Zeit viele E-Mails von euch erhalten habe, die mir alle dieselbe Frage stellten, beantworte ich diese Frage jetzt mal flott, damit ihr eure Ruhe habt: Ich habe keine Ahnung, woher mein Name kommt. Die Königin sagte, sie hätte ihn geträumt. Der König sagte, er hätte den Namen in einem Buch gelesen und eine Woche gebraucht, ehe er ihn richtig aussprechen konnte.

Manche Leute sind ein Peter oder eine Lucy, andere sind eine Ursula oder ein Hermann. Mein Name ist, was ich bin: ein Mädchen, das weiß, was es will.

Und manchmal stolpere ich.

Und manchmal komme ich ins Taumeln.

Den Rest der Zeit über laufe ich aufrecht durchs Leben.

Das bin ich.

Und falls ihr euch wundert, warum ich hier weitererzähle, obwohl ich nicht erzählen wollte: Ich schreibe das alles auf, weil seit Kurzem ein großes Unglück mein Leben bestimmt.

Auch genannt das grand malheur.

Seitdem laufe ich nicht mehr ganz aufrecht, ich taumel mehr oder weniger durch die Gegend. Meine Patentante sagt, jedes Unglück löst sich am besten auf, wenn man es in Worte fasst. Deswegen schreibe ich auf, was mir widerfahren ist, und suche einen Weg, um dieses Unglück aufzuhalten. Mein Leben soll kein grand malheur sein. Damit das nicht passiert, brauche ich eure Hilfe. Bitte, steht mir zur Seite. Wenn ihr dieses Buch gelesen habt und eine Lösung wisst, ruft sie mir zu oder schreibt mir eine Nachricht und lasst mich wissen, was ihr tun würdet. Denn ich muss bald eine Entscheidung treffen und bin vollkommen ratlos, wie ich das anstellen soll.

Aber erst mal erfahrt ihr, wie mich meine Patentante fand.

Bei meiner Taufe im Petersdom saß Professorin Zaza Moss in der siebten Reihe und bekam kaum Luft. Der Petersdom war an diesem Donnerstag bis auf den letzten Platz besetzt. Mehr als 60 000 Menschen hatten seit dem Morgengrauen vor der Kirche angestanden und drängten sich jetzt auf Bänken und Hockern. Sie quetschten sich an die Mauern und Säulen und fächelten sich Luft zu, während sie darauf warteten, dass sich das Königspaar zeigte. Überall waren Bildschirme aufgestellt, Fernsehkameras filmten und Lautsprecher beschallten jeden Winkel mit einem engelsgleichen Gesang. Die Professorin ertrug den Lärm kaum. Sie hatte sich Taschentuchfetzen in die Ohren gesteckt und erinnerte an jemanden, der beim Zahnarzt darauf wartet, dass die Spritze endlich wirkt.

Ich wusste noch nicht, wer sie war.

Endlich betrat das Königspaar den Dom und wurden mit Applaus und lautem Rufen begrüßt. Der König strahlte, die Königin hatte ein breites Lächeln auf den Lippen und ich lag in ihrem Arm und wusste nicht, was die ganze Aufregung sollte. Niemand hatte mir die Taufe erklärt, ich musste sie mir selbst zusammenreimen und fand die Idee allgemein blöde. Aber was wusste ich schon. Ich war zwei Jahre alt, trug noch Windeln und hatte noch kein einziges Wort gesagt. Ich war wie eine Flasche, die sich nicht öffnen lässt. Dennoch brach die Hälfte der Besucher in Tränen aus, als sie mich sahen. Die andere Hälfte machte Oh und Ah.

Ich schaute mich um.

Außer der Professorin gab es niemanden, der sich nicht bekreuzigte. Deswegen fiel sie mir auch sofort auf. Sie saß in der siebten Reihe und tat, als wäre sie woanders. Ihre Stirn war gerunzelt und die Taschentuchfetzen ragten aus ihren Ohren wie Unkraut. Sie verrenkte sich als Einzige nicht den Hals, während der Papst das Königspaar begrüßte und vor den Altar trat. Die Leute kamen zur Ruhe. Die Musik verstummte, eine samtige Stille legte sich über das Innere des Petersdoms und der Papst tat seine Arbeit.

Ich wurde getauft.

Als mich der Papst danach unter den Achseln packte und wie eine Trophäe in die Luft hielt, kam wieder Bewegung in die Menge. Sie trampelten mit den Füßen und winkten mit den Armen. Im selben Moment wurden in allen Ecken weiße Tauben freigelassen, die der hohen Decken engegenflogen. Das Geflatter klang wie Meeresrauschen und der Papst lachte dazu laut und erinnerte an einen Seemann, der ein Kleid trägt und sich freut, endlich wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Zumindest sah er genau so aus, als ich von oben auf ihn runterschaute. Anscheinend dachte er überhaupt nicht daran, mich wieder runterzulassen. Langsam hatte ich genug davon. Ich strampelte ein wenig mit den Beinen, jammerte einmal laut und sah mich nach Hilfe um.

Genau da geschah es.

Die Professorin schaute mir direkt in die Augen.

»Halt!«

Das Wort hallte wie ein Kanonenschuss durch den Petersdom. Die Leute schraken zusammen und auch der Papst bekam einen Schreck und hätte mich beinahe fallen gelassen. Einige der Tauben flatterten panisch gegen die Fenster und regneten auf die Menge herab, doch das störte die Besucher nicht. Sie hatten sich alle der Professorin zugewandt, die von der Kirchbank aufgestanden war. Auch die Kameras schwenkten in ihre Richtung, sodass das Bild von Zaza Moss flackernd auf allen Bildschirmen zu sehen war – eine Professorin, die sich Taschentuchfetzen aus den Ohren zupfte.

Und so müsst ihr euch die Professorin vorstellen: Sie war einen Meter neunundachtzig groß und wie eine Liane, der keine Machete was konnte. Ihr Haar war kurz geschnitten und berührte gerade ihren Nacken. Ihre Kleidung kam von einer Schneiderin aus Nizza, die Schuhe wurden von einem Schuster in Bremen hergestellt und das Parfüm mischte sie selbst. Vom Kopf bis zum Fuß war alles an der Professorin originell und sie selbst so imposant, dass manche Männer um Zentimeter schrumpften, wenn sie ihr gegenüberstanden.

Und all das hat die Professorin schon erreicht: Mit Mitte zwanzig erhielt sie den Nobelpreis für Astrophysik, mit Mitte dreißig hatte sie Flüchtlingsdörfer aufgebaut und eine Revolution organisiert. Lange bevor sie vierzig war, schrieb sie Bücher über die Klimakrise, exotische Nachtfalter und die Seidenstraße. Sie stürzte sich ohne Fallschirm aus Hubschraubern und hatte schon zweimal auf dem Gipfel des Mount Everest gefrühstückt. Sie war wie ein Kolibri, der nicht zur Ruhe kommt und unentwegt vom Leben naschen muss. Und niemand sagte Nein zu ihr, so wie ihr auch niemand sagte, was sie zu tun hatte.

Natürlich gab es Ausnahmen.

So wäre die Professorin zum Beispiel am liebsten nicht zu meiner Taufe nach Rom gereist. Aber die Königin von Florin war eine sehr gute Freundin von ihr und hatte darauf bestanden, dass sie sich blicken ließ.

Hätte die Professorin nicht eingelenkt, wer weiß, wo ich heute wäre.

Während der Taufe saß Zaza Moss also schlecht gelaunt in der siebten Reihe, obwohl vorne ein Platz für sie freigehalten wurde. Sie wollte die Taufe abwarten und sofort nach Hause zurückreisen, ohne großes Aufsehen zu erregen. Dann aber hob mich der Papst in die Luft, die Tauben flogen auf und die Professorin sah mir in die Augen.

»Halt!«, rief sie erneut.

»Zaza, meine Freundin«, rief die Königin zurück, »was geschieht?!«

»Ich tue es!«

Mit diesen Worten schob sich die Professorin aus der Kirchenreihe und marschierte nach vorne zum Altar, wobei sie sich durch die Menschenmenge quetschen musste.

»Ich tue es allein!«, sagte sie.

»Du tust was allein?«, fragte daraufhin der König und klang ein wenig nervös, denn er mochte es überhaupt nicht, wenn die Dinge nicht nach Plan verliefen.

»Ich alleine übernehme die Patenschaft für das Kind«, erklärte Zaza Moss.

Ein Raunen ging durch die Menge. Alle Blicke wandten sich der Fürstin von Monaco zu, die plötzlich wie ein Schluck Wasser neben dem Königspaar stand und an ihrer Perlenkette zupfte. Die Fürstin sah die Professorin auf sich zukommen und wäre am liebsten weggerannt. Da aber Wegrennen unter ihrer Würde war, stammelte sie nur:

»Aber … aber ich soll doch die Patin …«

Neben ihr stand Prinz Mikael von Schweden, auch er konnte nur stammeln:

»Ja … und ich sollte doch …«

»Papperlapapp«, unterbrach sie die Professorin und brachte die beiden zum Verstummen. »Setzt euch auf eure Plätze. Ich übernehme das jetzt.«

Auch wenn es sich so anhörte, war die Professorin noch nicht zufrieden mit ihrem Auftritt.

»Gib sie mir«, sagte sie und trat auf den Papst zu, der mich zwar nicht mehr in die Luft streckte, aber noch immer fest in seinen Händen hielt. Der Papst dachte nicht daran, mich wegzugeben. Er drehte sich weg, damit die Professorin nicht an mich herankam.

»Wagen Sie es nicht, Zaza Moss!«, warnte er sie laut. »Ich bin der Papst!«

Darauf schrie ich los. Nicht aus Not, sondern weil ich fand, dass es an der Zeit war, dass ich auch mal was tat. Außerdem wollte ich zur Professorin. Dieser eine Blick hatte mir genügt. Ich wusste, wir gehörten zusammen.

Zaza Moss reagierte blitzschnell auf den Schrei, denn sie war wirklich ein Genie, und so tat sie, was eben nur Genies erlaubt ist – sie sprang vor und rammte den Papst von der Seite, als wäre sie ein Rugbyspieler, der an den Ball kommen will. Der Papst hatte mit einer Menge gerechnet, damit aber nicht. Er verlor das Gleichgewicht und ließ mich fallen. Die Professorin war darauf vorbereitet. Sie berechnete in Sekundenschnelle meinen Fallwinkel, sank auf ein Knie runter und streckte die Arme vor, sodass ich sicher in ihren Händen landete.

Mein Schrei verstummte und wurde zu einem Schluckauf.

Alle Besucher schnappten nach Luft.

Die Professorin richtete sich wieder auf.

Wir sahen einander an und dabei stieg ein Funkeln in meine Augen und ich bewegte meine kleinen Lippen und sprach klar und deutlich meine ersten fünf Worte:

»Das hat aber lange gedauert.«

Die Menge brach in Jubeln aus.

Und so wurde Professorin Zaza Moss meine Patin,

Und so wurde ich das Patenkind der Professorin.

Danach gab es ein Festessen, an dem zweitausend ausgewählte Gäste teilnahmen. Sie gratulierten dem Königspaar, ließen sich mit dem Papst fotografieren und verschickten so viele Fotos von mir, dass das Internet für eine Weile einfror.

Ich bekam davon kaum was mit. Seitdem ich von der Professorin aufgefangen worden war, lehnte ich an ihrer Brust und war so zufrieden wie noch nie zuvor.

Die Professorin spazierte mit mir von Tisch zu Tisch. Sie flüsterte mir zu, wer wo saß, wer was redete und wer wer war. Es war meine erste Lehrstunde und ich sollte keines ihrer Worte vergessen. Auf diesem Rundgang beschloss ich auch, meinen zweiten Satz zu sprechen. Ein Pferdezüchter aus Brasilien unterhielt sich mit einem Pferdezüchter aus Niedersachsen und mitten in ihr Gespräch hinein, hob ich meinen Kopf und fragte:

»Warum habe ich noch kein Pferd?«

Als wäre ich müde vom vielen Reden, schloss ich die Augen, lehnte den Kopf wieder an die Schulter der Professorin und schlief ein.

Am nächsten Morgen standen zwei Pferde auf dem Hof des Königshauses.

Das eine Pferd war eine weiße Lusitano-Stute, die den Namen Schneeflocke bekam, das andere Pferd war ein schwarzer Hengst aus der Arabischen Vollblutrasse, der wie eine Ölpfütze aussah, also nannte ich ihn Ölpfütze.

Nachdem ich meine morgendliche Wäsche hinter mich gebracht hatte und frisiert worden war, flitzte ich nach draußen, schob einen Hocker zwischen meine zwei Pferde und stellte mich drauf. Ich tätschelte Schneeflocke und Ölpfütze gleichzeitig den Kopf, danach ging ich zum Königspaar. Sie saßen wie jeden Morgen auf der Terrasse im ersten Stockwerk des Schlosses und frühstückten – der König bestrich sich sein Croissant mit Butter, während die Königin von ihrem Zitronenwasser nippte und in einer Zeitschrift blätterte. Und dort, im schönsten Sonnenschein mit Ausblick auf das Florinische Tal und dem Wiehern meiner Pferde im Hintergrund, beschloss ich das dritte Mal in meinem Leben zu sprechen.

»Und jetzt will ich einen, der alles aufschreibt, was ich denke und tue«, sagte ich. »Und er muss nicht nett zu mir sein, aber er sollte sich lieber Mühe geben. Ich will …«

Weiter kam ich nicht. Ich verstummte und runzelte meine winzige Stirn, denn mir fiel das passende Wort nicht ein. Vergesst nicht, ich war erst zwei Jahre alt. Ich konnte noch nicht jedes Wort wissen. Also hat es ein wenig gedauert. Das Königspaar blieb geduldig. Der König ließ sich von seinem Diener einen Espresso bringen, während die Königin einen Zitronenkern aus ihrem Glas fischte und in eine Serviette einwickelte. Genau da fand ich das richtige Wort.

»… einen Chronisten«, sagte ich, »und zwar flott!«

WIE DIE PROFESSORIN DEN RICHTIGEN CHRONISTEN FÜR PANDEKRASKA PAMPERNELLA FAND

Pandekraska Pampernellas dritter Satz sorgte für ein wenig Aufregung. Das Königspaar hatte keine Ahnung, wo es so flott einen Chronisten auftreiben sollte. Sie wandten sich an die neue Patentante, die keinen Moment zögerte und die Aufgabe übernahm.

»Wozu sind Patentanten sonst da«, stellte sie fest.

Zwei Wochen lang dauerte die Suche nach dem Chronisten. Zaza Moss stürzte sich in dieses Unterfangen, als wollte sie sich den nächsten Nobelpreis verdienen. Um ihrem Patenkind den richtigen Chronisten an die Seite zu stellen, studierte die Professorin alle Geschichtsschreiber und Historiker unserer Zeit. Sie las ihre Veröffentlichungen, sie sah sich ihre Vorträge auf YouTube an.

Dann erst traf sie ihre Wahl.

Das Telegramm erreichte mich, als ich gerade in der Oxford- Universität vor zweihundert Studenten stand und einen Vortrag über das Byzantinische Reich hielt. Der Bote klopfte nicht, sondern marschierte direkt in den Vorlesungssaal, als würde er das jeden Tag tun. Er überreichte mir das Telegramm mit einer leichten Verbeugung. Danach verschränkte er die Hände hinter seinem Rücken und betrachtete mich abwartend. Ich sah das königliche Emblem auf seiner Brust und den Namen, der unter das Emblem gestickt war. Bobby B. Seine aufrechte Haltung sagte mir, dass hier etwas sehr Ernsthaftes geschah.

In dem Telegramm stand, dass meine Dienste als Chronist für die Tochter des Königshauses Florin gebraucht wurden. Ich sollte meine Arbeit an der Universität bitte sofort niederlegen und mein altes Leben Goodbye küssen.

Da stand wirklich Goodbye.

Normalerweise hätte ich darüber gelacht, aber in der nächsten Zeile wurde mir eine Summe angeboten, die für zwanzig Leben gereicht hätte. Ich lachte also nicht und wurde stattdessen vor Ehrfurcht ein wenig blass, als ich sah, dass das Telegramm von Professorin Zaza Moss unterschrieben worden war.

Sie ließ mich im PS wissen, dass ich eine Bedenkzeit von sechzig Sekunden hatte.

Bobby B fischte eine Stoppuhr aus seiner Jacke und startete sie. Das Ticken füllte den Saal, als würde jeden Moment eine Bombe hochgehen.

Obwohl keiner wissen konnte, was vorne am Pult geschah, hielten meine Studenten die Luft an.

Ich brauchte keine Minute, ich nickte schon nach fünf Sekunden, worauf Bobby B sagte, ich müsse es laut aussprechen, sonst wäre es nicht gültig. Also sprach ich es laut und deutlich aus, sodass sich die Spannung auflöste und einige meiner Studenten loskicherten.

»Ich will der Chronist Eurer Hoheit Pandekraska Pampernella sein«, sagte ich klar und deutlich.

Bobby B nickte anerkennend.

Zehn Minuten später saß ich in einem Privatflugzeug, nippte an einem Glas Champagner und mein Leben war nicht mehr mein Leben.

AUS DEN PRIVATEN CHRONIKEN VON PANDEKRASKA PAMPERNELLA

Jetzt erzähle ich euch, wie ich meine ersten drei großen Entscheidungen traf. Es begann alles mit der Nummer eins: Ich weigerte mich, eine Krone zu tragen.

»Ich trage doch keine Krone«, sagte ich.

Seit vier Tagen waren wir zurück aus Rom, seit vier Tagen sprach ich und konnte endlich meine Meinung sagen.

Wir aßen zu Mittag und ich war empört.

Für das Königspaar wurde Lammkeule mit Spargel serviert, für mich gab es Pakoras mit Erdnusssoße. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich nichts anderes gegessen außer Teigtaschen, Nudeln und ab und zu einem Risotto. Neben meinem Teller hatte einer der Diener die Prinzessinnenkrone abgelegt. Die Königin dachte, ich würde mich freuen, auch mal eine Krone zu tragen. Ich freute mich überhaupt nicht. Ich saß mit verschränkten Armen auf zwei Samtkissen und war eine Prinzessin, die keine Krone brauchte. Der König bat mich, die Arme nicht so zu verschränken, denn ich würde ihn an eine Brezel erinnern. Also versuchte ich noch ein wenig mehr wie eine Brezel auszusehen.

»Kleines, warum willst du keine Krone tragen?«, fragte die Königin.

Ich hätte sie beinahe ausgelacht.

»Mensch, wegen meiner Frisur!«, sagte ich.

Das Königspaar betrachtete mich, als hätten sie eben erst bemerkt, dass ich Haare hatte.

»Du bist gerade mal zwei Jahre alt«, erinnerte mich der König, »und du bist noch keinen Meter groß.«

»Was hat denn das eine mit dem anderen zu tun?«, wollte ich wissen.

»Der König will damit sagen, dass du dir in deinem Alter keine Gedanken über Frisuren machen solltest«, erklärte die Königin. »Außerdem hast du nicht bedacht, dass eine Krone die Frisur hervorhebt.«

»Und sie macht dich größer«, schob der König hinterher.

Ich schüttelte den Kopf. Das Königspaar verstand mich nicht.

»Ich bin groß genug«, sagte ich, »und meine Frisur muss nicht vorgehoben werden. Sie ist, was sie ist.«

Bevor ihr euch wundert, was hier geschieht, solltet ihr wissen, dass ich seit meiner Geburt einige Angewohnheiten entwickelt hatte, die dem Königspaar gar nicht gefielen.

Da war meine Art, Spaghetti zu essen.

Da waren die Geräusche, die ich von mir gab, wenn ich ein Marmeladenglas öffnete.

Oder meine Zungenspitze, die neugierig aus dem Mundwinkel schaute, wenn ich mich konzentrierte.

Oder meine Frisur.

Es begann mit meiner Geburt, zumindest hat man es mir so erzählt. Ich kam zur Welt, wurde gebadet und gewickelt. Bis dahin war alles gut. Ich bekam die Brust und rülpste das erste Mal. Auch kein Problem. Dann aber schlief ich meinen ersten Schlaf, und als ich erwachte, kreischte ich plötzlich so laut, dass sich das halbe Krankenhaus die Ohren zuhalten musste.

Alle waren ratlos.

Die Königin versuchte, mir erneut die Brust zu geben, ich schob sie weg und schrie weiter. Der König zog Fratzen, klatschte in die Hände und schlug in dem Zimmer ein Rad. Nichts half. Ich kreischte und kreischte. Erst als eine der Krankenschwestern an das Bett trat und mir über meine wenigen Haar strich, um sie zu einer Frisur zu ordnen, verstummte ich mit einem Schlag und entblößte meinen damals noch recht zahnlosen Mund zu einem Grinsen.

Von diesem Tag an wurde es ein allmorgendliches Ritual, an das nicht nur das Königspaar dachte, auch die Bediensteten versäumten es nicht – kaum war ich erwacht, kaum war ich gebadet und gewickelt worden, bekam ich eine neue Frisur und vergoss nie wieder eine Träne.

»Warum sind dir deine Haare nur so wichtig?«, rutschte es dem König heraus.

Ich bin mir sicher, dass er diese Frage schon seit dem Tag meiner Geburt stellen wollte.

»Wie können mir meine Haare nicht wichtig sein?«, fragte ich verwundert zurück.

Der König zuckte mit den Schultern.

»Mir sind meine Haar nicht wichtig«, sagte er.

»Haare sind doch Haare«, sagte die Königin.

Manchmal war ich mir nicht sicher, ob sie wirklich meine Eltern waren.

»Eure Haare sind eure Haare«, sagte ich, »aber das hier …«

Ich zupfte an einer Locke. Meine Frisur war an dem Tag ein Curly Side Swept, der aussah, als wäre ich einem eisigen Nordwind eine Minute zu lang ausgesetzt gewesen – aber nur von der linken Seite.

»… sind meine Haare«, sprach ich zu Ende, »und meine Haare wollen jeden Tag eine andere Frisur haben. So ist das nun mal, wenn man Haare hat, die einem selbst gehören.«

Das Königspaar wechselte einen Blick, der König sprach es aus.

»Woher hast du nur diese Gedanken?«

»Ich habe das gelesen.«

Das Königspaar lachte.

»Liebes Kind, du kannst nicht lesen«, erinnerte mich der König.

»Natürlich kann ich lesen!«, rief ich.

Die Königin strich mir über den Arm.

»Kleines, auch wenn du willst, du kannst noch nicht lesen.«

Mehr musste ich nicht hören. Ich kletterte von meinem Stuhl, rannte zu der Kommode, auf der immer die Tageszeitungen lagen, schnappte mir wahllos eine und kehrte mit ihr an den Tisch zurück. Und da stand ich dann bebend und entrüstet, hielt die Zeitung verkehrt herum und las selbstbewusst vor:

»Auf mehreren Bahnstrecken in der Region war kein Zugverkehr möglich, wie die Bahn meldete. Vom Stromausfall betroffen war vor allem das Zentrum des Landes, von welchem aus das Unwetter Richtung Süden weiterzog. Techniker versuchten, die Stromversorgung so schnell wie möglich wiederherzustellen.«

Zufrieden ließ ich die Zeitung sinken.

»Ich weiß, dass das nicht in der Zeitung steht«, sagte der König.

»Natürlich steht das da!«, kreischte ich erbost.

»Kleines«, sagte die Königin, »du sollst nicht lügen.«

Ich bekam vor Aufregung einen Schluckauf und schwieg.

»Wir wissen alle, dass du ein gutes Gedächtnis hast«, sprach die Königin weiter.

»So, wie wir wissen, dass dieses Unwetter vor einem halben Jahr stattfand«, sagte der König und nahm mir die Zeitung aus den Händen. Schon damals hasste ich es, angezweifelt zu werden. Ich wünschte mir so sehr, ich könnte schon lesen.

»Was machen die Japaner, wenn sie sich entschuldigen?«, fragte mich die Königin.

Ich drückte die Arme an meine Seite.

Das Königspaar hatte mir ein paar Benimmregeln beigebracht. Wie man zum Beispiel einen Knicks machte, wie man eine Gabel hielt oder sich unauffällig schneuzte. Besonders gefallen hatte mir, wie sich die Japaner verbeugen. Ich war aber noch nicht so gut darin. Ich verbeugte mich viel zu tief und landete komischerweise nicht auf der Nase, sondern auf meinem Hintern. Der Sturz wurde knisternd durch meine Windel abgefangen.

»Ich hasse Windeln«, sagte ich, »und ich hasse kurze Beine noch viel mehr.«

»Dann wachs doch schneller«, schlug die Königin vor und hob mich in ihre Arme.

Ich seufzte erneut, aber dieses Mal war es vor Erleichterung.

»Das Leben kann so schwer sein«, sagte ich.

Die Königin strich mir über den Kopf.

»Achtung!«, rief ich. »Meine Frisur!«

»Ich pass schon auf«, sagte die Königin und tätschelte mir den Rücken. Nach einer kleinen Pause fügte sie hinzu: »Keine Krone also?«

»Keine Krone«, sagte ich bestimmt.

»Vielleicht ein kleines Diadem?«

»Kein Diadem und keine Krone.«

»Ach, Kleines.«

Ich überlegte kurz, ehe ich zur Königin aufschaute.

»Was ist ein Diadem?«, fragte ich leise.

Meine zweite große Entscheidung folgte kurz darauf und war etwas komplizierter: Ich weigerte mich, Windeln zu tragen.

»Ich trage doch keine Windeln mehr«, sagte ich zu meinem Reitlehrer, nachdem ich das sechste Mal vom Pferd gefallen war. Er hatte schon Rückenschmerzen, weil er mich andauernd auffangen musste.

Es war eine Woche nachdem mir Ölpfütze und Schneeflocke geschenkt worden waren, und es gelang mir einfach nicht, mit einer Windel sicher im Sattel zu sitzen.

»Es ist nicht an mir, etwas über die Windeln Eurer Hoheit zu sagen«, stellte der Reitlehrer fest und setzte mich wieder auf Schneeflockes Rücken.

»Und wenn es an dir wäre, etwas zu sagen?«, fragte ich zurück. »Was würdest du dann sagen?«

Der Reitlehrer rieb sich das Kreuz.

»Ganz ehrlich?«, fragte er.

»Ganz ehrlich«, bat ich.

»Ich würde sagen, dass eine Zweijährige nun mal Windeln tragen sollte, solange sie ihren Körper nicht unter Kontrolle hat. Ein Fohlen kann auch nicht rennen, solange es nicht sicher auf seinen Beinen steht.«

Als ich das hörte, begannen meine Augen zu funkeln. Es gefiel mir zwar, mit einem Fohlen verglichen zu werden, ich fand es aber furchtbar, nicht sicher auf den Beinen stehen zu können. In dem Augenblick traf ich meine zweite große Entscheidung – ich würde von nun an ohne Windeln auskommen und lernen, auf meinen eigenen Beinen zu stehen.

»Das wäre doch gelacht«, sagte ich.

Leider hatte ich in den folgenden Tagen nichts zu lachen, denn die windellose Woche vor der Ankunft meines Chronisten sah mehr als trübe aus. Jede Nacht pinkelte ich ins Bett, jeden Morgen erwachte ich mit einem Schrecken und betrachtete den Fleck auf meiner Matratze.

»Ich habe Windeln unterschätzt«, knurrte ich und zog die nasse Bettwäsche ab und schleppte sie die zwei Stockwerke hinunter in die Waschküche, wo ich alles in die Waschmaschine stopfte. Da ich nicht wusste, wie die Maschine funktionierte, schloss ich den Deckel, trat einmal dagegen und kehrte in mein Zimmer zurück.

Morgen für Morgen für Morgen.

Und dann waren da noch die Unfälle tagsüber.

Mal saß ich auf der Wiese und beobachtete einen Schmetterling, da rumorte es in meinem Darm, und ehe ich auch nur einen Warnlaut von mir geben konnte, war es geschehen. Ein anderes Mal nahm ich an einem Teekränzchen der Königin teil. Zu Besuch waren eine Dame und ihre zwei Kinder, die älter waren als ich. Es gab Cremeschnitten und Kakao für die Kinder, es gab Tee und Canapés für die Erwachsenen. Ich aß natürlich die Cremeschnitten und die Canapés.

»Die Prinzessin trägt keine Windel mehr«, stellte die Königin irgendwann stolz fest.

»Oh!«, rief die Dame entzückt aus. »Wie ist dir das nur gelungen? Mein Sohn ist vier und fragt noch immer nach diesen Dingern. Meine Liebe, sag nur, wie hast du das geschafft?«

Ehe die Königin antworten konnte, ging ich dazwischen.

»Die Königin hat gar nichts geschafft«, sagte ich, »ich habe das ganz alleine …«

Und pinkelte mich ein.

Mal geschah es nach dem Frühstück, mal während der Reitstunde, mal wenn ich ein Nickerchen machte oder gerade einen Ball in die Luft warf. Selbst wenn ich einfach nur herumstand, konnte es geschehen. Ich hatte meinen Körper überhaupt nicht im Griff, es war zum Verzweifeln.

Schließlich holte ich mir Rat bei meiner Patentante.

»Warum hast du mich nicht früher angerufen?«, fragte sie.

»Weil ich nicht wusste, dass es so was gibt wie Anrufen«, antwortete ich.

Mit meinen zwei Jahren hatte ich natürlich noch nie einen Computer bedient. Als ich am Nachmittag zum König sagte, dass ich meine Patentante dringend treffen müsste, überließ er mir kurzerhand sein Tablet. So saß ich also im Garten vor dem Bildschirm und sah meine Patentante an, die sich siebentausend Kilometer entfernt in einem tibetischen Kloster befand, das sie zweimal im Jahr aufsuchte, um ihrer Seele ein wenig Luft zu verschaffen.

»Ich habe deine grünen Augen vermisst«, sagte die Professorin zur Begrüßung.

»Und ich will ohne Windeln leben«, sagte ich geradeheraus.

»Das ist sehr direkt von dir.«

»Ich weiß, es ist aber auch wirklich furchtbar.«

Meine Patentante ließ sich das Problem genauer beschreiben. Danach überlegte sie kurz und bat mich, einen Moment zu warten.