Hedwig Dohm: Werde, die Du bist!
Neuausgabe mit einer Biographie der Autorin.
Herausgegeben von Karl-Maria Guth, Berlin 2016.
Umschlaggestaltung unter Verwendung des Bildes:
Fotografie um 1870
ISBN 978-3-8430-6783-6
Dieses Buch ist auch in gedruckter Form erhältlich:
ISBN 978-3-8430-9382-8 (Broschiert)
ISBN 978-3-8430-9383-5 (Gebunden)
Die Sammlung Hofenberg erscheint im Verlag der Contumax GmbH & Co. KG, Berlin.
Erstdruck: In: Wie Frauen werden. Werde, wie du bist. Novellen, Breslau (S. Schottlaender, Schlesische Verlags-Anstalt) 1894.
Der Text dieser Ausgabe folgt:
Hedwig Dohm: Wie Frauen werden. Werde, die du bist. Novellen, Breslau: Schlesische Buchdruckerei, Kunst- und Verlags-Anstalt v. S. Schottlaender, 1894.
Die Paginierung obiger Ausgabe wird in dieser Neuausgabe wortgenau mitgeführt und macht dieses E-Book auch in wissenschaftlichem Zusammenhang zitierfähig. Das Textende der Vorlagenseite wird hier durch die Seitennummer in eckigen Klammern mit grauer Schrift markiert.
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In der Irrenanstalt des Doctor Behrend, in der Nähe Berlins, machte eine alte Frau – sie mochte nah an sechzig sein – Aufsehen. Sie hatte feine, interessante Gesichtszüge, starkes graues Haar und große grünlich graue Augen. Niemals starrten diese Augen in's Leere. Entweder schienen sie, erloschen für die Außenwelt, innerlich etwas zu schauen, oder sie waren emporgerichtet, bald mit dem Ausdruck eines leidenschaftlichen, irrenden Suchens, bald mit Entzücken sich an einen Gegenstand festsaugend. Die Augen einer Seherin. Diese wundersamen Augen gaben dem Kopf den Charakter einer jüngeren Frau.
Sie verhielt sich meist schweigsam. Zuweilen aber fing sie an zu reden, dann war es, als hielte sie Zwiesprach mit übernatürlichen Wesen. Unermeßliche Melancholie oder dithyrambische Verzückung athmeten ihre Worte. Sie sprach tiefsinnige und erhabene Gedanken aus, in einer Form, die an Nietzsches Zarathustra erinnerte.
Man hätte glauben sollen, daß diese alte Frau eine große Dichterin gewesen und daß ein Übermaß geistiger Erregung die Gehirnstörung bewirkt habe. Das Gegentheil war der Fall.[151]
Der Nervenarzt, der sich für diese merkwürdige Form von Irrsinn interessirte, zog Erkundigungen über ihr Vorleben ein. Was er erfuhr, setzte ihn in das höchste Erstaunen und war in keiner Weise angethan, das Räthsel ihres Wesens zu lösen.
Alle, die die Gattin des Geheimen Kanzleiraths Schmidt gekannt, stimmten darin überein, daß sie eine gute, brave, etwas beschränkte und philiströse Hausfrau gewesen, unwissend und völlig im Familienleben aufgehend. Sie hatte zwei Töchter, die längst verheirathet waren. Ihr Verhältniß zu den Kindern war jederzeit ein überaus herzliches gewesen. In den letzten acht Jahren hatte sie in aufopfernder Weise ihren gelähmten Mann gepflegt. Nach seinem Tode mochte sie sich etwas vereinsamt gefühlt haben. Sie war zum Besuch bei ihren verheiratheten Töchtern gewesen. Keiner der Anverwandten hatte die geringste Excentricität an ihr bemerkt, nur war sie ihnen etwas schweigsamer und in sich gekehrter als sonst vorgekommen, was in der Trauer um den Gatten und in ihrer Vereinsamung eine ausreichende Erklärung fand.
Dann hatte sie allerdings, ziemlich plötzlich, und von ihren Töchtern gemißbilligt, ganz allein größere Reisen unternommen, trotz ihrer beschränkten Mittel. Bald nach ihrer Rückkehr war der Irrsinn zum Ausbruch gekommen.
Die Kranke nahm wenig Nahrung zu sich, sie magerte zusehends ab, so daß schließlich die großen flimmernden Augen in dem bleichen Gesicht unheimlich wirkten. Es war, als wenn die Seele allmählich den Leib verzehrte, verzehren wollte.[152]
Eigenthümlich war, daß diese alte Frau mit einer gewissen Zärtlichkeit an dem Costüm hing, das sie trug, als man sie in die Anstalt brachte: Ein schwarz wollenes Kleid, das den Schnitt aus dem Zeitalter Marie Antoinettes hatte. Das volle graue Haar, an den Spitzen leicht gelockt, fiel ihr fast bis auf die Schulter. Im Laufe der zwei Jahre, die sie in der Anstalt zubrachte, war es weiß geworden. Als man ihr das Haar aufstecken wollte, litt sie es nicht. Dasselbe geschah, als man ihr für das abgetragene Kleid ein neues, von anderem Schnitt reichte. Sie war nicht zu bewegen es anzuziehen. Man mußte ihr ein Costüm genau nach dem Schnitt des alten anfertigen lassen.
Man hatte beobachtet, daß sie allsonntäglich, wenn in der kleinen Capelle die Orgel zu spielen begann, einen welken Myrtenkranz aus ihrer Commode nahm; der Arzt vermuthete, ihren Brautkranz. Sie schmückte sich mit dem Kranz und blieb, die Hände gegen die Brust gedrückt, die Augen mit einem gespannten Ausdruck auf die Thür gerichtet, mitten im Zimmer stehen, bis die Orgel verklang. Dann legte sie, den Kopf leise schüttelnd, den Kranz zurück, verhüllte ihr Gesicht mit einem schwarzen Schleier und nahm den ganzen Tag über keine Speise zu sich.
Einige Male war sie von ihren Töchtern besucht worden. Sie waren beim Anblick der Mutter ebenso verwundert wie betrübt gewesen. Sowohl im Ausdruck als in den Zügen fanden sie sie völlig verändert und vermochten kaum sich in eine kindliche Beziehung zu dieser fremdartigen Erscheinung hinein zu denken.
Die Kranke, als sie ihre Töchter sah, schien sich auf[153] etwas zu besinnen. Allmählich gerieth sie in eine Unruhe, die sich so steigerte, daß der Arzt den Besuch abkürzen mußte. Als die Töchter ein zweites Mal kamen und sich dieselbe Erregung bei ihr kund gab, bat er die jungen Frauen, ihre Besuche für einige Zeit einzustellen, entließ sie aber mit der Hoffnung für die Wiederherstellung der Mutter.
Seit zwei Jahren nun beobachtete Doctor Behrend, im Interesse der psychologischen Wissenschaft, mit intensiver Spannung dieses seltene Beispiel eines gestörten Geistes, bei dem die Störung gewissermaßen ein neues Individuum geschaffen hatte. Sie fühlte das Interesse, das er an ihr nahm, und oft heftete sie ihre Augen minutenlang auf ihn, wie mit einer forschenden Frage, einem düster schmerzlichen Erstaunen.
Eines Tages kam ein junger, süddeutscher Arzt, ein Studiengenosse des Irrenarztes, in die Anstalt, um dieselbe zu besichtigen. Doctor Behrend erzählte ihm von seinem interessanten Fall und willfahrte gern dem Collegen, als dieser den Wunsch aussprach die Patientin zu sehen.
Gerade an dem Tage – es war ein Sonntag – vollendete die Kranke ihr sechzigstes Lebensjahr. Die Töchter hatten Blumen geschickt, das ganze Zimmer duftete davon.
Als die beiden Ärzte eintraten, war sie dabei, die Blumen über den Fußboden hinzustreuen. In das weiße Haar hatte sie den verdorrten Myrtenkranz gedrückt. Mit den spitzen bräunlichen Stielen und den welken Blättchen, zwischen denen nur hie und da noch ein paar todte vergilbte Blüthen schwankten, glich er einer Dornenkrone. In der Hand hielt sie eine vertrocknete Passionsblume.[154]
Und nun geschah etwas völlig Unerwartetes. Als die Greisin den fremden Arzt erblickte, überzog eine tiefe Röthe ihr Gesicht. In ihre schattenhafte Erscheinung kam pulsirendes Leben, in ihre Augen flackerndes Licht.
»Johannes!« und sie streckte dem Fremden beide Hände entgegen. Ihre Stimme klang weich und voll.
»Ich wußte, daß Du kommen würdest. Wenn ich Deine Myrte trage, sehe ich in die Ferne.«
Sie berührte mit der Hand den welken Kranz. »An jenem Tag, als Du mir die Myrte gabst, hast Du Dich mir verlobt. Komm! Komm! Die weiße Opferflamme brennt in der güldenen Schale, Du weißt, in der Höhle auf Capri. Wir dürfen ihn nicht warten lassen, den Silberhaarigen. Hörst Du das metallne Singen aus der Tiefe? Die Sirenen! das blaue Meer, sie tragen's als Juwel an der Brust. Sie singen mit blutrothen Lippen. Sie singen das Brautlied. Und ich küsse Deine Seele.«
Die letzten Worte hatte sie halbsingend gesprochen. Sie küßte die welke Blume in ihrer Hand, und langsam, ohne ihn anzusehen, schritt sie auf ihn zu.
Doctor Behrend, peinlich von der Scene berührt, und in der Besorgniß, daß etwas Ungehöriges geschehen könne, ergriff die Irre am Arm und sagte hart und laut, wie er sonst nie zu ihr sprach:
»Besinnen Sie sich, Frau Schmidt, vergessen Sie nicht, daß Sie eine alte Dame sind.«
Die Kranke schauderte und sah erst ihn, dann den fremden Arzt an. Eine unheimliche Veränderung ging in ihrem Gesicht vor. Fluchtartig irrten die Augensterne in[155] ihren Kreisen. Allmählich schienen die Züge zu erstarren. Wie ein brennendes Scheit, das plötzlich in sich zusammen sinkt und Asche wird, so brach ihr Körper zusammen. Sie wäre zu Boden gestürzt, wenn Doctor Behrend sie nicht in seinen Armen aufgefangen hätte. Eine tiefe Ohnmacht umfing sie.
Man brachte sie zu Bett. Als die Ohnmacht in Schlaf übergegangen war, kehrte Doctor Behrend zu seinem Collegen zurück. Er versicherte ihm, daß die Kranke noch niemals einen ähnlichen Anfall gehabt. Von erotischem Wahnsinn habe sich bisher bei ihr keine Spur gezeigt. Er würde annehmen, daß sie den Collegen mit ihrem verstorbenen Gatten identificirt, aber dieser habe Eduard geheißen.
»Und ich heiße Johannes«, entgegnete der Fremde in trüber Verstimmung.
»Höchst sonderbar! Und daß sie sich einbildete, Sie zu kennen.«
»Sie kennt mich. Ich traf sie vor drei Jahren auf Capri. Mir fiel damals ihre eigenthümliche Erscheinung auf. Sie trug dasselbe Kleid, oder ein ähnliches wie heut.«
Ob er näher mit ihr bekannt geworden, forschte Doctor Behrend.
Durchaus nicht. Er erinnere sich nicht, mit ihr gesprochen zu haben. Obgleich sie im Hotel Pagano ihm gegenüber gesessen, habe sie sich nie in die Unterhaltung gemischt, doch sei es ihm vorgekommen, als ob sie aufmerksam auf Alles, was er gethan und gesprochen, geachtet habe. Wenn er ihr aber auf Spaziergängen begegnet, so sei sie ihm ausgewichen.[156]
Doctor Behrend bat ihn, Alles mitzutheilen, was er über sie in Erfahrung gebracht.
»Es ist nicht viel«, antwortete der junge Arzt etwas zögernd.
»Sie hatte ein scheues Wesen, als ob sie um Entschuldigung bäte, daß sie überhaupt da sei. Merkwürdig war, wie verschieden sie aussehen konnte, bald wie eine Greisin, und dann wieder schien sie eine kaum Vierzigjährige.
Einmal traf ich sie unten am Meer, an der kleinen Marine. Sie hatte ihren jungen Tag. Sie bückte sich hinab zum Wasser und murmelte mit lächelnden Lippen vor sich hin. Da sah sie mich und wurde roth wie vorhin. Ich habe immer ein peinliches Gefühl, wenn ich eine alte Frau erröthen sehe. Ich wollte sie ansprechen und bemerkte zu meinem Erstaunen, daß sie plötzlich ganz alt und hinfällig wurde. Fremd, fast böse, blickte sie und wandte sich mit einer zuckenden Bewegung der Arme ab. Sie wollte augenscheinlich nicht gestört werden, und so ging ich weiter.
Ein ander Mal bemerkte ich sie auf einem der Felsen, die aus dem Meer emporragen, nicht eben hoch. Sie stand hoch aufgerichtet, mit den Armen nach hinten das Felsstück umklammernd. Ihre Blicke schweiften über das Meer, mit dem Ausdruck, den Menschen haben, die mit der Welt fertig sind, und die auf dem Sprung stehen, eine andere aufzusuchen. Ich blieb stehen, in einer Art Bangigkeit, sie könne sich hinabstürzen wollen. Ich hielt sie für eine Dichterin, die incognito bleiben wollte. Mir kam der Einfall, ihr irgend eine Art Huldigung darzubringen. Sacht stieg ich[157] hinter ihr an dem Felsen empor und warf ihr einen Myrtenstrauß, den ich frisch gepflückt hatte, vor die Füße. Sie schien nicht verwundert und blickte sich nicht um, lächelte nur und drückte den Strauß an ihre Brust. Sie hatte in diesem Augenblick die Physiognomie eines jungen Mädchens, und ich bedauerte lebhaft, daß sie keins war.
Der Zufall ist zuweilen grausam. Als ich später in den Vorraum des Speisesaales trat, wo sich die Gäste zu versammeln pflegen, näherte sich mir mein Tischnachbar, ein Herr, der für witzig galt, und fragte mich, ob ich vorhin unser vis-à-vis