STEFAN BETSCHON

META-TAG

STREIFZÜGE DURCH
DIE COMPUTERKULTUR

NZZ LIBRO

Für Franz Betschon (1941 – 2015)

Inhaltsverzeichnis

Die Zukunft gestalten

Geleitwort von Roland Siegwart

Die Dekade der Dekadenz

2007

«Drowning in Data»

«Drowning in Data» / 09 F9 11 02 9D 74 E3 usw. / Wenn Software stirbt / Achtung! Fehlalarm! / Wo ist Greg Packer? / Eine rote Fahne im Wind / IT-Fitness / Kabale und Liebe / Warten auf den Chief

Was die Zukunft bringt

2008

Zeitgeist, Superstar

Listen, Bäume / Himmel und Hölle / Web 2.0 / Dies ist ein Blog / iHype / Was ist der Mensch? / Datenreisende / Zeitgeist, Superstar / Informatik als Exotik

2009

Google und sein Double

smsn / Google und sein Double / Der Geruch des Gefühls / Das Ende ist da! Na und? / Kartell des Schweigens / Füllsel und Füllwörter / Wie die Welt funktioniert! Ein Manifest! / Jeder Tag ist ein Geburtstag / Es geht um nichts

Die Erfindung des Rauschens

2010

Die Avantgarde des Fortschritts

Science-Fiction-Werbespot / Kirchturmpolitik hinter Schleiern / Das sexuelle Bollwerk / Die Datenkraken-Krone / Zurück zu den Anfängen / Die Avantgarde des Fortschritts / Der neue Mensch / Ein Silicon Valley an der Sihl / Der Kult um Information / Kultur als Software-Bug

Ein neues Maschinenzeitalter

2011

Irritationen an der Schnittstelle

Im Netz der Schnürsenkel / Hiybbprqag oder mbzrxpgjys? / Nachdenken, Fragen stellen / Irritationen an der Schnittstelle / Der unbekannte Unix-Zorro / Hello World! / Der Killer und die Killer-Games / Mässigung beim Mailen

2012

Informatik als Fräuleinwunder

Zurück in den Kindergarten / Businessclass-Boxershorts / Unkreative Zerstörung / Die Hydra der Internet-Piraterie / Die Dialektik des Fortschritts / Wem das Internet gehört / Im Wettlauf gegen die Zeit / Es ist ein Dschungel / Im Untergrund der Software / «Es muss etwas geschehen!» / Informatik als Fräuleinwunder / Einheit in der Vielfalt

Daten statt Worte

2013

Als Handys Hanteln waren

Leitsterne für die Unterhaltung / Wer hat Angst vor APT1? / Kaffeekultur für Innovation / Eine neue Wissenschaft / Keine Angst vor nackten Kaisern / Als Handys Hanteln waren / Grosspapi, was ist eine Diskette? / Glück ist eine warme Pistole / Stenografie der Liebe / Verschlüsselung statt Verstörung / Über die Pferdezucht

Künstliche intelligente Windeln und faschistoide Sexroboter

2014

Gefangen in Erinnerungen

Ist das Internet kaputt? / Der Rächer der Armen naht / Big-Data-Gernegross / Im Dunkeln grunzen / Wie man zu Erfolg kommt / Auf die Dauer hilft nur Power / Was ein gutes Bild ausmacht / Böser Bube Eugene / Gefangen in Erinnerungen / Balzen in der Bahn

2015

Warten auf Wunder

Goodbye, Google Glass / Achtung: grosse Kanone! / Das Kalkül der Kabinen / Die Zukunft der Menschheit / Kapo Zürich, FBI, NSA usw. / Wider die Obskuranten / Das grosse Experiment / Autoelektronik als Gefahrenherd / Im Online-Shop der Liebe / Barbaren und entblösste Brüste / Warten auf Wunder / Das Auto der Zukunft / Das iPhone im Test / Was Hänschen lernen muss / Stachelschweine im Winter

Versteckspiele im Suchbaum

2016

Von der Unwucht des Gefühls

Die Soziologie der Einsamkeit / Das Schweigen der Mutterschafe / Und jetzt alle zusammen! / Stell dir vor, es ist Kryptokrieg / Von der Unwucht des Gefühls / Die Velosaison ist eröffnet / Die Facebook-Filter-Falle / Vergesst die Passwörter! / Der Kampf um die Klinke / Eine neue Mathematik / Kein Wort zu Pokémon / Roboter in Badehosen / Die Zukunft im Rückspiegel / Der Kopf des Kartografen / Tim? Telefon! / Die himmlische Jukebox / Die Suche nach Glückseligkeit / Das Ende der Bescheidenheit

Die grosse Entschleunigung

Stichwortverzeichnis

Die Zukunft gestalten

Geleitwort von Roland Siegwart

Durch die Einführung der Personal Computer in den frühen 1980er-Jahren hat sich für uns Menschen eine neue Welt eröffnet: die Welt der Daten und Informationen. Internet und Smartphone haben unseren Alltag seither radikal verändert.

Der Mensch hat sich in seiner Entwicklung sehr früh für die Symbiose mit Werkzeugen und Technologien entschieden. So wie der Jäger in der Urzeit die Symbiose mit der Waffe fand, haben wir heute ein symbiotisches Verhältnis mit dem Smartphone, das uns jederzeit und überall in die schier unbeschränkte Datenwelt eintauchen lässt. Die Symbiose mit Technologie hat die Entwicklung der Menschheit erst ermöglicht und uns Wohlstand und Freiräume beschert.

Die Digitalisierung hat Wirtschaft und Gesellschaft grundlegend verändert. Völlig neue Geschäftsmodelle sind entstanden, Firmen wie Apple, Google, Microsoft oder Facebook fanden innert kürzester Zeit zu internationaler Grösse. Diese Firmen, allen voran Google, verdienen ihr Geld mit Dienstleistungen in der digitalen Welt, die vor 30 Jahren noch gar nicht denkbar gewesen waren.

Informationen sind Allgemeingut, und die effiziente Nutzung dieser Informationen ist zum zentralen Erfolgsfaktor geworden. Immer intelligentere Programme und Suchmaschinen bereiten Informationen individualisiert auf und lernen aus der Interaktion mit ihren Benutzern. Auch ermöglicht die kontinuierliche Vernetzung über das Internet und Smartphones eine direkte Verbindung zwischen Anbietern und Nutzern und schaltet so die Dienstleistungen der Zwischenhändler aus. Kreditsuchende Studierende werden direkt mit Geldgebern verbunden, und wir alle können über Dienste wie Uber oder Airbnb zum Taxifahrer oder Hotelier werden.

Vor lauter Begeisterung über die neuen Möglichkeiten fehlt uns aber oft eine fundierte Reflexion über die Chancen und Risiken dieser Technologien. Die Abhängigkeit von Technologie und IT-Firmen wächst ins nahezu Unermessliche, der Arbeitsmarkt wandelt sich mit sehr hoher Geschwindigkeit und die Schere zwischen versierten Nutzern («Gewinnern») und Menschen mit wenig Affinität zur digitalen Welt («Verlierern») stellt eine wachsende Gefahr für unsere Gesellschaft dar. Die sehr schnelle Verbreitung von Informationen erzeugt neue Einflussmöglichkeiten und Machtverhältnisse, und Fake News sind an der Tagesordnung.

Die Zukunft in unserer sich schnell wandelnden digitalisierten Welt lässt sich nicht vorhersagen. Aber wir können sowohl als Individuum wie auch als Gesellschaft die Zukunft mitgestalten und mehr oder weniger «weise» Entscheidungen treffen. Dies setzt jedoch eine stetige Auseinandersetzung mit den aktuellen Entwicklungen und Trends voraus.

Die in diesem Buch gesammelten Kolumnen von Stefan Betschon haben Leserinnen und Leser der Neuen Zürcher Zeitung in den letzten zehn Jahren begleitet und einen wichtigen Beitrag zur Auseinandersetzung mit der Digitalisierung geleistet. Sie sind Zeitzeuge einer sich rasant ändernden Welt und helfen uns, die Zukunft mit der nötigen «Weisheit» zu reflektieren und zu gestalten.

Roland Siegwart ist Professor an der ETH Zürich. Die von ihm geleitete Forschungsgruppe im Bereich der Robotik nimmt weltweit eine Spitzenstellung ein und hat in Zürich die Gründung mehrerer Start-up-Firmen ermöglicht. Roland Siegwart studierte Maschinenbau und promovierte an der ETH Zürich. Er ist Mitglied des Verwaltungsrats der NZZ-Mediengruppe.

Die Dekade der Dekadenz

Vorwort von Stefan Betschon

Es war der Tag vor dem Frühlingsanfang, doch der Wetterbericht weckte keine Frühlingsgefühle: Gewitter wurden angekündigt, Graupelschauer und Schnee bis in die Niederungen. Am 20. März 2007 – an einem Dienstag – berichtete die Neue Zürcher Zeitung über den «grossen Schnee am letzten Tag des Winters», über «Drogenhändler in Oerlikon», «Umweltdefizite der schweizerischen Landwirtschaft» und über «Bomben in Bagdad». Auf der Rückseite des letzten Bundes, am Rand in der vierten Spalte, schrieb ein gewisser S. B. über das Gefühl, in Datenfluten zu ertrinken: «Es gibt zu viel von allem, wir sind Ertrinkende.»

Das war die erste Kolumne. Sie erschien von nun an alle zwei Wochen, ab Ende 2008 wöchentlich. Seit September 2009 wurden diese Texte unter dem Obertitel «Meta-Tag» publiziert. Meta-Tag ist ein Fachbegriff aus der Web-Programmierung. Innerhalb der NZZ verweist «Meta-Tag» auf Texte, die sich nicht nur mit Technik befassen, sondern auch mit den Möglichkeiten, sich mit Technik zu befassen.

Wie das Neue in die Welt kommt

Wir leben in einer Informationsgesellschaft, die Computertechnik bestimmt fast alle Aspekte unseres Alltags. Doch nur wenige Medienunternehmen glauben, sich einen regelmässigen Technikjournalismus leisten zu können. In den kommerziell orientierten Online-Medien wird die Berichterstattung durch junge Freelancer geprägt, die pro Meldung bezahlt werden. Es gilt das Prinzip: möglichst schnell, möglichst viel.

Diesem Hyperventilieren setzt der «Meta-Tag» Langsamkeit und Besonnenheit entgegen.

Immer wieder zeigt sich, dass technische Neuerungen kurzfristig überschätzt, in ihrer langfristigen Bedeutung aber unterschätzt werden. Oft ist es gar nicht einfach, das Neue zu erkennen, selbst wenn man es in der Hand hält. Das iPhone beispielsweise hat die Welt verändert, aber das Neue war nicht die äussere Gestalt mit den von Apple patentierten runden Ecken, das Neue war nicht der berührungsempfindliche Bildschirm, den es seit Jahrzehnten schon gab, neu waren auch nicht die Chips im Inneren des Geräts, die Apple von Zulieferern bezog. Neu war die Art, wie Apple das Gerät vermarktete, neu war das Geschäftsmodell, das auch unabhängige Software-Anbieter einbezog, neu war die Art, wie die Menschen sich dieses Produkt zu eigen machten, neu war die Begeisterung, mit der Journalisten das Innovationspotenzial von Apple beschrieben.

2007 bedeutet in der Geschichte der Informatik eine Epochenschwelle. Es ist das Jahr des iPhone-Hype und auch das Jahr, in dem Google Android eingeführt wurde, ein Linux-basiertes Smartphone-Betriebssystem, das stärker noch als das iPhone die Mobiltelefonie und die mobile Internet-Nutzung veränderte. Mit dem iPhone setzten sich 2007 Pauschaltarife für die Internet-Nutzung durch. Das war die Stunde der Amateure, die es sich nun leisten konnten, im Internet auch als Produzenten aktiv zu werden. Ihnen widmete damals das Time Magazine eine Titelseite. Der Durchschnitts-Internet-Anwender wurde von den Redaktoren dieses amerikanischen Nachrichtenmagazins als «Persönlichkeit des Jahres» gewählt und in eine Reihe gestellt mit Präsidenten, Päpsten, Königinnen, Revolutionsführern, Wirtschaftsführern und anderen grossen Menschen, die Geschichte geschrieben hatten. Der Durchschnitts-Internet-Anwender wurde geehrt als Produzent, der im Rahmen von Web 2.0 sein Wissen und Können, seine Intelligenz und seine Kreativität allen gratis zur Verfügung stellt.

2016 schaffte es wiederum ein Internet-Anwender auf die Titelseite des Time Magazine: Es war der Internet-Troll, der mit Hasskommentaren Social-Media-Kanäle und Online-Diskussionsforen vergiftet. Der Hass von Psychopathen und politischen Eiferern sei daran, das Internet zu zerstören, lautet die zentrale Aussage dieser Titelgeschichte. Im Abstand von zehn Jahren dokumentieren diese beiden Titelseiten einen fundamentalen Wandel des Internets, die Entwicklung von Web 2.0 zu Web X, von der «Weisheit der Massen» zur «Kultur des Hasses».

2006 wurde die Internet-Adresse wikileaks.org registriert. Bald sorgten diese Organisation und ihr Oberguru Julian Assange mit der Publikation von geheimen Dokumenten weltweit für Schlagzeilen. Assange sah sich als Enthüllungsjournalist; er brüstete sich damit, dass er mehr Geheimpapiere veröffentlicht habe als alle Zeitungen der Welt zusammen. «Der Glaube an eine bessere Weltordnung» habe Wikileaks entstehen lassen, so schrieb ein Kampfgenosse in einem Buch. Man sei beseelt gewesen von der Vorstellung, dass Menschen dank der Informationen sich richtig verhielten und gute Entscheidungen träfen. Doch es zeigte sich bald, dass Wikileaks den selbstgesetzten hohen moralischen Ansprüchen nicht gerecht zu werden vermochte. Mit ihren Publikationen brachte die Organisation immer wieder Unschuldige in Gefahr, ohne je zur Beseitigung ernsthafter Missstände einen Beitrag leisten zu können. Assange, als Vergewaltiger angeklagt und auf der Flucht vor der Justiz, begann mit amerikanischen Bloggern am rechten Rand des politischen Spektrums zu sympathisieren. Er liess es zu, dass der russische Geheimdienst Wikileaks für Desinformationskampagnen instrumentalisieren konnte.

Im November 2016 kürte die Redaktion der Oxford Dictionaries «Post Truth» zum Wort des Jahres. Die Gesellschaft für deutsche Sprache entschied sich im Dezember für das Adjektiv «postfaktisch», weil es einen «tief greifenden politischen Wandel» sichtbar werden lasse: Bei politischen und gesellschaftlichen Diskussionen gehe es heute zunehmend um Emotionen statt um Fakten. «Postfaktisch» verweist auf eine Epochenschwelle: Es beginne jetzt, so die Gesellschaft für deutsche Sprache, «das Zeitalter nach der Wahrheit».

2007 beschäftigte sich die erste «Meta-Tag»-Kolumne mit dem Thema «Datenüberfluss»: «Drowning in Data» sei so etwas wie die Erkennungsmelodie des Informationszeitalters. Ende 2016, kurz vor Drucklegung des «Meta-Tag»-Buchs blickt eine andere «Meta-Tag»-Kolumne zurück auf eine «Dekade der Dekadenz»: «Es war ein kurzer Rausch. Jetzt schmerzt der Kopf, der Magen brennt. Es herrscht betretenes Schweigen: Wie sind wir da hineingeraten, wie konnten wir uns täuschen lassen?» Eine Serie von Informatikinnovationen führte zwischen 2007 und 2017 dazu, dass die Menschen über so viele Informationen verfügen, dass ihnen die Möglichkeit, sich zu informieren, abhandengekommen ist.

Die feinen Unterschiede

Anfänglich waren meine Kolumnen von den anderen Meldungen auf derselben Seite typografisch nicht unterscheidbar. Das führte immer wieder zu Missverständnissen und zu empörten Zuschriften von Lesern, die einen Text als Nachricht gelesen hatten, der aus einer persönlichen Perspektive, in kommentierender, vielleicht auch in glossierender Absicht geschrieben worden war: eine Kolumne.

Eine Kolumne ist mehr als eine Nachricht. Eine Kolumne muss einen Bezug haben zur Aktualität, aber dieser Bezug ist weit dehnbar. «News is what’s different», so sagen Journalisten. Doch der Kolumnist interessiert sich bei der Beschäftigung mit News weniger für das, was sich ändert, als vielmehr für das, was bleibt, für das Grundsätzliche, Ewigmenschliche. Es geht nicht nur darum, Informationen zusammenzutragen, es geht auch darum, sie aus subjektiver Sicht zu bewerten. Eine Kolumne ist Kommentar. Aber sie ist mehr als das. Sie kann sich nicht damit begnügen, ein bestimmtes Ereignis von einem bestimmten Standpunkt aus ins Auge zu fassen. Es geht um mehr, es geht darum, eine Haltung zu entwickeln, um mit einer gewissen Regelmässigkeit in vielen Textbeiträgen eine ganze Klasse von Ereignissen im Auge zu behalten. Eine Kolumne darf glossierend sein, sie darf die Stilmittel der Ironie und des Sarkasmus einsetzen, aber sie darf sich damit nicht begnügen. Eine Kolumne ist mehr als eine Glosse, es geht nicht um bestimmte Stilmittel, sondern um den Stilisten.

Auch Blogger beschäftigen sich bevorzugt mit sich selbst, doch die Kolumne ist mehr als ein Blog: Es geht nicht nur darum, wer der Kolumnist ist, sondern auch darum, wer er war, wer er sein wird. Der Kolumnist ist ein Ausdauersportler. Er ist lang herumgegangen, um einen Standpunkt zu finden. Er hat seinen Lesern nicht eine bestimmte, persönlich gefärbte Sichtweise zu bieten, sondern einen Standpunkt und eine Erklärung, wie man zu diesem Ort hinkommt. Die Kolumne ist Nachricht, Kommentar, Glosse, Blog – das alles und mehr. Kolumnisten sind der Meinung, dass die Kolumne die wichtigste journalistische Textsorte sei.

In zehn Jahren habe ich knapp 400 Kolumnen geschrieben. Diese Texte thematisieren die wichtigsten Ereignisse dieser technikgeschichtlich interessanten Epoche. Sie wurden für die Tagesaktualität geschrieben, aber sie bleiben nicht dem Tag verhaftet: Sie versuchen die grösseren Zusammenhänge in den Blick zu nehmen und längerfristig wirksame Trends sichtbar zu machen. Die «Meta-Tag»-Kolumnen beschäftigen sich mit den verschiedensten Aspekten der Informatik, aber sie haben nur ein einziges Anliegen: Sie sind ein Plädoyer für eine digitale Aufklärung, sie möchten die User ermuntern, informationelle Selbstbestimmung zu wagen.

 Kommunikation

 Social Media

 Smartphone/Mobiltelefonie

 Hype/Übertreibung

 Datenschutz/Computersicherheit

 Innovation

 Piraterie

 Software

 Wissenschaft

 Netzwerk

Die Meta-Tag-Kolumnen wurden für die Tagesaktualität geschrieben, aber sie bleiben nicht dem Tag verhaftet: Sie versuchen die grösseren Zusammenhänge in den Blick zu nehmen und längerfristig wirksame Trends sichtbar zu machen. Manchmal ist es für das Verständnis dieser Texte aber hilfreich, wenn die Umstände ihrer Entstehung bekannt sind. Oder man möchte wissen, wie sich ein Thema weiterentwickelt hat. Aus diesen Gründen werden einige Kolumnen in diesem Buch von einer Randspalte begleitet, die aus heutiger Sicht interessante Zusatzinformationen bereitstellt.

2007

                        

«Drowning in Data»

«Drowning in Data»

Klimawandel, Butterberge und die Feminisierung der Süsswasserfische sind Probleme, die Medienkonsumenten zu schaffen machen, vor allem aber: der Datenüberfluss. Es gibt einfach zu viel von allem. Wir sind Ertrinkende. «Drowning in Data» ist so etwas wie die Erkennungsmelodie, der Jingle, des Informationszeitalters. Google vermeldet für dieses Thema 1 200 000 Webseiten. Ein paar Dutzend davon verweisen auf eine Studie des Marktforschungsunternehmens IDC, die mit grossen Zahlen verblüfft: Es seien im vergangenen Jahr auf der Welt 1288 Trillionen Bits neu kreiert worden. Eine Trillion ist eine Eins mit 18 Nullen. Diese Datenmenge sei grösser als der Inhalt aller Bücher, die jemals geschrieben wurden. Allein die Kameras der Londoner Verkehrspolizei erzeugten täglich 64 Billionen (12 Nullen) Bits. Die IDC-Forscher zählten 2006 insgesamt 161 Exabytes auf der Welt; um das in Bits auszudrücken, wäre wiederum eine Zahl mit 18 Nullen vonnöten. Bis ins Jahr 2010 soll sich der Datenbestand auf 988 Exabytes erhöhen, die durchschnittliche jährliche Wachstumsrate schätzt IDC auf 57 Prozent.

Während die Ingenieure sich bemühen, immer mehr Bits durch die Leitungen zu pressen, deuten Experimente darauf hin, dass beim Menschen ab einer gewissen Schwelle ein Mehr an Informationen nicht zu besserer Informiertheit führt, sondern umgekehrt zu einer Schwächung der Urteilskraft. Psychologen beziffern die intellektuelle Bandbreite des Menschen mit 120 Bit pro Sekunde. Das schreibt der amerikanische Psychologieprofessor Daniel Levitin in dem Buch: The Organized Mind (2014); es will – so der Untertitel – die Leser lehren, «klar zu denken im Zeitalter der Informationsüberflutung». Um der Rede eines Menschen folgen zu können, muss das menschliche Gehirn – so schätzen Psychologen – pro Sekunde 60 Bit verarbeiten. Zwei Menschen, die gleichzeitig reden, bringen einen Zuhörer ans Limit. In der E-Mail-Kommunikation glauben täglich Hunderte von Menschen unsere Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen zu dürfen. Dass das erwähnte Buch von Levitin zu einem Bestseller der New York Times avancieren konnte, zeigt, dass sehr viele Menschen sich durch diese Entwicklung überfordert fühlen. In den 25 Jahren zwischen 1986 und 2011, so Levitin, habe sich die Informationsmenge, die ein Amerikaner täglich verarbeiten müsse, verfünffacht. Nicht erst im Informationszeitalter gibt es Menschen, die eine Informationsüberflutung beklagen. Vom griechischen Schriftsteller und Bibliothekar Callimachus ist überliefert, dass er lange Texte und dicke Bücher verabscheute, der römische Philosoph Seneca verdammte das Büchersammeln als Sucht; der mittelalterliche Gelehrte Erasmus von Rotterdam beschimpfte die Buchdrucker, die den Markt mit neuen Büchern überschwemmten, als verrückte, verkommene, gottesfeindliche, subversive Trottel; Leibnitz beklagte die Bücherschwemme, die, wie er glaubte, eine Rückkehr zur Barbarei bewirken werde; Descartes beschrieb das Bücherlesen als Zeitverschwendung, besser sei es, sich auf eigene Erfahrungen zu verlassen. (Vgl. Alex Wright: Glut – Mastering Information Through The Ages. Washington, Joseph Henry Press 2007.)

Wog die Erde weniger schwer, als es noch nicht so viele Daten gab, war das Leben leichter? Irgendwann richtete sich der erste Mensch auf, erblickte ein anderes Augenpaar. So entstand die Menschheit. Heute schaut man in ein Gesicht, versucht den Hautunreinheiten Filter-Algorithmen zuzuordnen, überlegt sich, bei welchem Kompressionsfaktor das Lächeln sich wohl im Uneindeutigen verlieren würde. Indem nun alles, was ist, betrachtet wird als das, was es wäre, wäre es digital, wird alles vergleichbar. Egalitarismus macht sich breit. Es gibt aber auch neue Ungleichgewichte, um nicht zu sagen: Ungerechtigkeiten. Würde dieser Text, anstatt auf Papier gedruckt, von einem Tagesschau-Redaktor vor laufender Kamera mit eingeblendetem Sponsoring-Hinweis vorgelesen, er gewänne datenmässig gewaltig an Gewicht, wäre um Grössenordnungen «informativer», würde auf einer Festplatte nicht mehr nur ein paar Bytes, sondern Gigabytes belegen.

Damit das nicht überbordet, gibt es bei Festplatten einen Verdrängungsmechanismus, Mean Time To Failure (MTTF) genannt. Gemäss einer Anfang März publizierten Studie der Carnegie Mellon University (CMU) ist die MTTF in der Realität sehr viel höher, als die Prospekte der Hersteller glauben machen wollen. Die Forscher, die die Funktionsweise von rund 100 000 Festplatten beobachteten, fanden, dass die tatsächliche Ausfallrate um den Faktor 2 bis 15 höher ist, als es Herstellerangaben mit MTTF-Angaben von typischerweise mehr als einer Million Stunden erwarten lassen. Die Marktforscher von IDC schätzen die durchschnittliche Lebensdauer einer Festplatte auf fünf Jahre, gemäss der CMU-Studie ist das aber eine sehr optimistische Angabe. So ist dann vielleicht nicht der Kopierschutz daran schuld, dass spätere Generationen nichts mehr anfangen können mit den auf Festplatten liebevoll angehäuften MP3-Songs, Porträtaufnahmen und mit den Videos von endlosen Autokolonnen.

20. März 2007

→ Warten auf den Chief

09 F9 11 02 9D 74 E3 usw.

Eine zufällig wirkende Aneinanderreihung von Buchstaben und Zahlen sorgte in der vergangenen Woche für Aufregung. «09 F9» lautet der Anfang dieser Zeichenkette, und gibt man diese Zeichen und Buchstaben als Suchbegriff bei Google ein, findet man mehr als eine Million Webseiten, die sich damit beschäftigen. Diese Zahlen im Hexadezimalsystem, das neben den Ziffern 0 bis 9 die Buchstaben A bis F verwendet, um 16 Basiswerte unterscheiden zu können – diese Hexdec-Zahlen scheinen derzeit sehr populär zu sein: Einer hat T-Shirts entworfen, die sich damit schmücken, ein anderer hat ein Lied komponiert, das diese abstrakten Werte zum Klingen bringt.

09 F9 usw. verweist nicht auf die Handynummer Paris Hiltons, verspricht keinen Gewinn im Zahlenlotto, repräsentiert keine neue Weltformel. 09 F9 usw. ist ein Stück Software, mit der man unter Umgehung des Advanced Access Content System (AACS) Filme im High-Definition-Format (HD) kopieren kann. AACS ist ein von Intel, Microsoft, Panasonic, Sony, Toshiba, Walt Disney und Warner entwickeltes, technisch äusserst kompliziertes, überaus aufwendiges Kopierschutzsystem für HD-DVD- oder Blu-Ray-Scheiben. Seit mehreren Monaten kursieren im Internet Berichte von Hackern, die AACS geknackt zu haben glauben. Vergangene Woche tauchte ein solcher Bericht bei der Nachrichtenbörse Digg.com auf. Um ausgehend von einem solchen Bericht und einem Hinweis auf 09 F9 usw. eine Software zu entwickeln, mit der man HD-DVD- oder Blu-Ray-Filme kopieren kann, braucht es ein fundiertes Verständnis der AACS-Architektur und gute Programmierkenntnisse.

09 F9 usw. hätte auf Digg.com vermutlich nicht die Beachtung der Weltöffentlichkeit gefunden, hätten nicht die Firmen, die als Licensing Administrator (LA) hinter AACS stehen, versucht, die Publikation dieser Zeichen mit juristischen Mitteln zu verhindern. Allerdings: Was bei Digg.com publiziert wird, bestimmen die Leser. Je fleissiger die Verantwortlichen von Digg.com – unter dem Druck des AACS-LA – versuchten, Hinweise auf 09 F9 usw. zu tilgen, desto mehr Digg.com-Leser sahen sich aufgefordert, sich für die Publikation genau dieser Hexdec-Zahl zu engagieren. 09 F9 usw. avancierte rasch zu einem der wichtigsten Themen des Internets, beschäftigte bald auch herkömmliche Medien, flimmerte über TV-Bildschirme, machte im Radio von sich reden.

Das plumpe und kontraproduktive Vorgehen der Hollywood-Anwälte muss wohl als ein Akt der Verzweiflung interpretiert werden; offenbar ist AACS schneller als ursprünglich erwartet demontiert worden. Es ist aber nicht zu befürchten, dass die Filmbranche deshalb auf Kopierschutz verzichten wird. Es wird spannend sein, den weiteren Verlauf der Auseinandersetzung zu verfolgen, vorausgesetzt, man hat noch kein entsprechendes Abspielgerät angeschafft und muss nicht befürchten, dass ein Spielzug der einen oder anderen Partei die weitere Nutzung des Geräts verunmöglicht.

8. Mai 2007

→ Eine rote Fahne im Wind

Wenn Software stirbt

Auch Computerprogramme sterben. Sie sterben, wenn sie aufhören, sich weiterzuentwickeln. Weil sie ohne mechanische Bauteile, ohne jedes materielle Substrat auskommt, ist Software eigentlich unzerstörbar. Als Teil eines grösseren Ganzen lässt sie sich aber nicht mehr nutzen, wenn die Umgebung sich stark verändert hat. Die erste Hardware, auf der eine Software eine Heimat findet, ist das Gehirn des Entwicklers, der sie sich ausgedacht hat. Wenn dieser Mensch und seine Mitarbeiter sich von der Software abwenden, ist ihr Überleben gefährdet. Haben die Programmierer ihre Arbeit gut gemacht, ist das, was sie sich dabei gedacht haben, so dokumentiert, dass Nachfolger ohne grosse Unterbrechung weiterarbeiten können. Eine genaue Dokumentation des Innenlebens von Software ist der Quelltext selber, die für Menschen lesbare Form des Codes. Deshalb bieten Open-Source-Produkte – Programme, deren Quelltext öffentlich ist – dem Anwender die Sicherheit, nicht vom plötzlichen Tod der Software überrascht zu werden. Es gibt aber auch hier Software, für deren Weiterentwicklung sich niemand mehr zuständig fühlt.

Es ist schon vorgekommen, dass bereits die Erfinder einer Software von der Komplexität ihrer eigenen Schöpfung intellektuell überfordert waren und das begonnene Werk nicht zu Ende führen konnten. Das Betriebssystem Multics ist ein frühes Beispiel dafür. Meist sind Managementfehler und nicht technische Probleme die Todesursache. Es gibt eine lange Liste von Programmen, die Wunderdinge vollbringen konnten und sich grosser Beliebtheit erfreuten, die aber doch in einer Konkursmasse verendeten. Oft heissen die Totengräber Mergers and Acquisitions, so auch bei dem Zeichenprogramm Freehand, dessen Tod vergangene Woche bekanntgegeben wurde.

Der Todeszeitpunkt lässt sich bei Computerprogrammen oft nicht präzis bestimmen; manchmal unternehmen Software-Firmen grosse Anstrengungen, um den Tod des Produkts zu verbergen. Die Software wird dann noch während ein paar Jahren weiterverkauft, bis das Interesse der Kundschaft an dem Produkt erlischt. Nicht immer geht der Tod einer Software so ruhig vor sich. Es gibt Programme, die durchleiden unter den Augen der Öffentlichkeit einen viele Jahre dauernden Todeskampf. 1994 wurde die PC-Firma Commodore liquidiert, und seither geistert das von ihr geschaffene Amiga-OS wie ein Untoter durch die Software-Welt, alle paar Monate sorgt die Ankündigung einer Wiederbelebung für Aufregung.

Viele Beispiele toter Software stammen von kleinen Firmen. Es gibt aber auch grosse Firmen mit viel Geld, die Gräber zu besorgen haben. Apple Hypercard steht auf einem dieser Grabsteine, Microsoft Foxbase auf einem anderen. Endgültig gestorben ist eine Software dann, wenn kein Mensch mehr sich ihrer erinnert. Wenn man aber noch Dateien mit wichtigem Inhalt besitzt, die sich nicht mehr öffnen lassen ohne diese Software, die es nicht mehr gibt, dann fällt es einem sehr schwer, den Verlust zu vergessen.

29. Mai 2007

→ Im Untergrund der Software

Achtung! Fehlalarm!

«In der Schweiz nehmen die gezielten Hacker-Attacken auf Konti von Privaten und Institutionen zu, die ihren Zahlungsverkehr online über den PC abwickeln», heisst es in einer Mitteilung, die die schweizerische Melde- und Analysestelle Informationssicherung (Melani) Ende Mai publiziert hat. Melani wird unter anderem von Diensten des Bundesamtes für Polizei und dem Informatikstrategieorgan Bund getragen. Die Melde- und Analysestelle profitiert auch von engen Kontakten zur Privatwirtschaft.

Die Bekämpfung der Internet-Kriminalität ist deshalb schwierig, weil sich als Folge des raschen technologischen Wandels die Bedrohungslage immer wieder ändert und weil sie die Zusammenarbeit aller Betroffenen erfordert. Endanwender, die ihre Rechner nicht zu schützen wissen, schaden nicht nur sich selbst, sondern sind, weil ihre PC als Relaisstationen für die Verbreitung von verseuchten Daten benutzt werden, eine Gefahr auch für andere. Die wichtigste Waffe im Kampf gegen Internet-Kriminalität ist Information, regelmässige, akkurate, im Bedarfsfall rasch aktualisierte Aufklärung über Bedrohungsszenarien und Abwehrmassnahmen. Es gibt im Internet nicht zu wenig, sondern eher zu viele Informationen zu diesen Themen, es gibt Versuche, Ängste zu schüren, um das Geschäft mit Abwehr-Software anzukurbeln, es gibt auch immer wieder Fehlalarme. Deshalb wäre Melani als neutraler Informationsvermittler sehr gefragt.

Es gibt eine «underground economy», in der das Wissen um Sicherheitslücken gehandelt wird; altbekannte, schon oft ausgenutzte Lücken sind bereits für wenige Hundert Dollar zu haben. Auf der Gegenseite aber fehlen solche Umschlagplätze. Es gibt zwar einen boomenden Markt für Cybersecurity-Produkte und -Dienstleistungen. Es gibt aber keine zentrale Plattform, um öffentlich über die Schwächen dieser Produkte zu diskutieren. Fast wöchentlich wird irgendwo auf der Welt eine wichtige Konferenz zum Thema Computersicherheit durchgeführt. Es gibt vermutlich zwischen vielen privaten und beamteten Sicherheitsexperten Kontakte und einen informellen Informationsaustausch. Doch das genügt nicht. Es braucht eine systematische, feinmaschige Beobachtung der Sicherheitslage, es braucht eine zeitnahe, präzise Dokumentation der Ereignisse. Zu fordern wäre eine Meldepflicht für Hacker-Attacken. So wie börsenkotierte Firmen ihre Geschäfte offenlegen müssen, so wie das Öffentlichkeitsprinzip die Verwaltung zu Transparenz zwingt, so wie es im Gesundheitswesen bei einigen ansteckenden Krankheiten eine Meldepflicht gibt, so sollten auch Gefährdungen der Computersicherheit einer zentralen Stelle gemeldet werden müssen. (Vgl. Bruce Schneier: Liars and Outliers. New York, John Wiley & Sons 2012.)

Es seien «vermehrt Meldungen eingegangen, dass Kriminelle versuchen, im Namen des registrierten Benutzers Geldüberweisungen auf Drittkonti zu veranlassen», teilt Melani im Mai mit und rät zu Wachsamkeit. Diese Warnung vor Phishing ist so inhaltsleer, dass sie schon fast gefährlich ist, weil sie den Endanwendern Sand in die Augen streut. Es ist, als ob man einem Autofahrer, der auf einen Abgrund zurast, rät, das Fenster zu schliessen, um eine Erkältung zu vermeiden. Phishing ist schon seit Jahren ein Thema, viele Betrugsfälle wurden bekannt. Mehrmals waren PostFinance-Kunden von solchen Attacken betroffen, weil ihnen mit den Streichlisten nur ein untaugliches Mittel geboten wurde, den Datenaustausch mit ihrer Bank abzusichern. Seit März offeriert Post-Finance ihren Kunden mit einem Smart-Cardbasierten System einen besseren Schutz. Doch auch dieses System ist angreifbar: Wie dem jüngsten Halbjahresbericht von Melani zu entnehmen ist, wurden Kunden der amerikanischen Citibank Opfer einer Phishing-Attacke, obwohl die Authentifizierung hier auf einem hardwaremässig generierten Code basiert.

Die Sicherheit beim E-Banking liesse sich – etwa mit digitalen Signaturen – weiter verbessern. Doch solche Verbesserungen kosten Geld – Geld, das auszugeben die Banken ungern bereit sind, solange die Sicherheitslücken beim E-Banking sie nichts kosten. Wollte Melani die E-Banking-Kunden tatsächlich vor Phishing schützen, würde sie Banken mit ungenügender Sicherheit auch dann beim Namen nennen, wenn es sich um inländische Firmen handelt.

19. Juni 2007

→ «Es muss etwas geschehen!»

Wo ist Greg Packer?

Wer war es, der als erster zahlender Kunde ein iPhone erwerben konnte? Greg Packer vielleicht? Lange bevor das Handy von Apple in die Läden kam, war es Thema von aufgeregten Medienberichten. In den USA seien zu diesem Produkt, noch bevor es in die Läden kam, in den vergangenen sechs Monaten 11 000 Zeitungsartikel publiziert worden, schrieb David Pogue in der New York Times. Pogue war neben Walter Mossberg vom Wall Street Journal und Steven Levy von der Newsweek einer der ganz wenigen Auserwählten, die bereits vor dem Verkaufsstart ein iPhone ausprobieren durften. Indem Apple sich in ihrer Medienarbeit auf ein paar wenige, der Firma und ihren Produkten stets wohlgesinnte Journalisten beschränkte, verhalf sie dem Technikjournalismus zu einer neuen Textsorte: der Metakritik. Vielen Journalisten blieb nichts anderes übrig, als die Texte von Pogue und Mossberg und Levy zu exegieren.

Neben der Kritik der Kritik ist die Warteschlange-Reportage eine weitere Möglichkeit, um über ein Produkt zu berichten, das es noch nicht zu kaufen gibt. Schon Tage vor dem Verkaufsstart der Apple-Handys begannen sich vor den Läden Warteschlangen zu bilden, Menschen mit Campingstühlen und Proviantsäcken rückten an, machten es sich auf den Trottoirs bequem. In New York auf der 5th Avenue vor dem Apple Store breitete am Dienstagmorgen, dreieinhalb Tage vor dem Verkaufsstart, als Erster Greg Packer seine Campingsachen aus. Doch als dann am Freitagabend aus New York die Bilder von den ersten iPhone-Besitzern – freudestrahlend wie unter Drogeneinfluss – um die Welt gingen, war von Packer nichts zu sehen.

Im «geheimen» Internet-Tagebuch von Steve Jobs wird angedeutet, dass Apple den dickbäuchigen Bauarbeiter habe aus der Warteschlange entfernen lassen, offenbar passt er nicht zum Image von Schlankheit und Eleganz, um das Apple sich bemüht. Doch das Steve-Jobs-Tagebuch, sosehr es sich auch mit den Eitelkeiten des Apple-CEO auskennt, ist – vermutlich – eine Fälschung. Auf jeden Fall entspricht der Bericht über die Beseitigung Packers nicht der Wahrheit; am Freitag wurde der 44-jährige Mann noch vor dem Glaskubus an der 5th Avenue gesichtet. Dann verschwand er aus der Medienwirklichkeit.

Wo immer an der amerikanischen Ostküste eine Warteschlange zum Medienereignis wird, ist Packer zur Stelle. Egal ob es ein von Bill Clinton signiertes Buch oder ein Handy zu ergattern gibt – Packer ist da, wartet geduldig während Tagen und gibt bereitwillig Interviews. Doch was er sucht, ist nicht ein Buch oder ein Handy, ihm geht es um die Aufmerksamkeit der Journalisten. Er sei in mehr als 100 Medienberichten als «Mann von der Strasse» aufgetreten, heisst es in der Wikipedia. Vergangenen Freitag in New York wurde er aber von den Medienschaffenden gemieden, denn er verkörpert für sie eine unbequeme Wahrheit: Bei der Medienhysterie um das iPhone geht es nicht um das iPhone, sondern um Medienhysterie; nicht das iPhone ist das Medienereignis, sondern das Medienereignis iPhone.

3. Juli 2007

→ Die Avantgarde des Fortschritts

Eine rote Fahne im Wind

Aus dem Nebel tauchen seltsam kostümierte Gestalten auf: Männer mit hohen Hüten, Pelzmänteln, schweren Stiefeln. Einige tragen Brillen, die wie Tauchermasken das halbe Gesicht verdecken. Es sind auch Uniformen zu sehen, Soldaten mit Federbüschen auf dem Kopf, Uniformen einer längst untergegangenen Armee. Der Lärm von vielen Motoren lässt die Stadt erzittern. Es ist sehr früh am Morgen, erst nach und nach durchdringen einzelne Sonnenstrahlen den Nebel. Dutzende von sehr alten Autos haben sich entlang der Londoner Regent Street aufgereiht. Das Gebrüll der Motoren steigert sich, die Autos setzen sich in Bewegung. Dieses seltsame Spektakel, das sich jährlich Anfang November ereignet, ist das «London to Brighton Veteran Car Run». Das Rennen wurde von begeisterten Automobilisten 1896 erstmals durchgeführt, um die Abschaffung des «Red Flag Law» zu feiern. Das Gesetz, das auf Druck der Kutscher und Pferdehalter eingeführt worden war, sah vor, dass jedem motorisierten Wagen ein Mann zu Fuss vorangehen musste, um mit einer roten Flagge Mensch und Tier zu warnen. So wurde die Höchstgeschwindigkeit der Autos auf Schritttempo «heruntergeregelt».

«Red Flag Laws», untaugliche Versuche, mit juristischen Mitteln den technischen Fortschritt aufzuhalten, gibt es nach wie vor. Im Immaterialgüterrecht etwa finden sich Bestimmungen, die Erinnerungen an längst abgelegte Trachten und sehr alte Automobile wachrufen. Auf dieser Basis verfügte vergangene Woche das Bundesgericht, dass Urheberrechtsgebühren nicht nur beim Kauf von Leerkassetten und beschreibbaren CD und DVD bezahlt werden müssen, sondern auch bei der Anschaffung von Unterhaltungselektronikprodukten: MP3-Player oder mit Festplatten bestückte Videorecorder werden deshalb ab September deutlich teurer.

Es gibt heute kaum noch ein elektronisches Gerät, das nicht über beträchtlichen Speicherplatz verfügt und das sich nicht auch zum Speichern von Musik nutzen liesse. Warum aber wird nur auf MP3-Player und Festplattenrecorder eine Gebühr erhoben, aber nicht auf Camcorder, Handys, Waschmaschinen, Roboter? Digitale Musik ist eine Abfolge von Bytes. Warum aber muss für ein Byte, das auf einem Flash-Speicherchip abgelegt wird, deutlich mehr bezahlt werden als für eines, das auf einer Festplatte lagert? Im Verlauf der letzten 10, 20 Jahre hat die Digitalisierung in der Unterhaltungselektronik dazu geführt, dass die konservierte Musik der Konserve entflohen ist, das Fluidum des Elektronischen durchströmt, bald hier einen Schattenspeicher streift, bald dort einen Schreib-/Lesekopf erzittern lässt. Im weltumspannenden Netz der Netze ist jeder Speicher nur ein Zwischenspeicher, jedes Musikstück ist in beliebig vielen Kopien überall vorhanden, verschwindet wieder spurlos. Keine rote Fahne kann diese Wolke, die das Internet ist, zerstieben und jene Zeiten wiederbeleben, als Musikliebhaber typischerweise vor dem Radio anzutreffen waren, mit dem Kassettenrecorder die Radiohitparade aufzeichnend, altmodische Kleider tragend.

18. Juli 2007

→ 09 F9 11 02 9D 74 E3 usw.

IT-Fitness

Steve Ballmer, Chef von Microsoft, kam Anfang Oktober auf «Staatsbesuch» nach Zürich. Gemeinsam mit Bundesrätin Doris Leuthard lancierte er im Sonnenberg-Convention-Center die Initiative «IT-Fitness». Diese Initiative soll die IT-Kompetenz der Schweizerinnen und Schweizer «nachhaltig fördern».

«IT-Fitness» – so lässt der entsprechende «Fitness-Test» im Internet erkennen – meint hier allerdings vor allem Kenntnisse von Microsoft-Anwendungsprogrammen. Wer gelernt hat, dass man in einer Tabellenkalkulation, um eine Zelle zu schützen, alle schützen muss, um dann die, die man nicht schützen will, wieder zu entschützen, dass man Leerschläge bei der Berechnung der Textlänge einkalkulieren muss, dass man auf Start klicken muss, um die Arbeit am Computer zu beenden, wer solche Dinge weiss, weiss etwas, das im Büroalltag hin und wieder von Nutzen ist. Wer das nicht weiss, ist vielleicht trotzdem ein Informatikgenie.

Solcherlei mit «IT-Fitness» gleichzusetzen ist so, als ob man körperliche Fitness assoziiert mit der Fähigkeit, den linken Fuss vorschnellen zu lassen oder den Kopf nach rechts zu kippen. Es kann sein, dass ein Fussballer einmal in die Situation kommt, wo er den Ball nur dank eines raschen Reflexes des linken Fusses ins Tor befördern kann; wenn dieser Reflex aber alles ist, was er kann, wenn er keine Kraft hat, keine Ausdauer, unbeweglich ist und unaufmerksam, wird er meistens versagen. Es kann passieren, dass ein Boxer einmal nur dank einer raschen Kopfbewegung einem Treffer ausweichen kann. Doch der komplette Athlet wird sich nicht lange beim Halsmuskeltraining aufhalten.

Kenntnisse von Anwendungsprogrammen haben eine Halbwertszeit von drei, vier Jahren; wenn die nächste Programmversion auf den Markt kommt, verlieren sie rasch an Wert. Wer sich hingegen mit den Grundlagen der Informatik auseinandergesetzt hat – mit der «Hidden Language of Computer Hardware and Software», um einen Buchtitel von Microsoft Press zu erwähnen –, der wird überall mitreden können, wo sich das Gespräch um Computer dreht. Dass solche Grundlagen – Binärlogik, Algorithmuskonzepte, Speicherarchitekturen, Kommunikationsprotokollebenen – schwieriger zu verstehen seien als etwa das Zellenschutzkonzept von Excel, ist ein Vorurteil, das der Autor von Hidden Language – «Windows-Programmierungs-Legende» (Verlagswerbung) Charles Petzold – widerlegt: Sein Buch richtet sich an Zehnjährige.

«IT-Fitness» ist eine PR-Aktion, mit der Microsoft ihre eigenen Produkte als Mass aller Dinge inszeniert und sich als Firma präsentiert, die ihre gesellschaftliche Verantwortung ernst nimmt. Trotz aller Kritik hat diese PR-Aktion auch ihre guten Seiten, wenn es ihr gelingt, die Erkenntnis zu verbreiten, dass Computerfachwissen nicht nur für Computerwissenschaftler, sondern für alle Mitglieder einer Informationsgesellschaft von Bedeutung ist.

16. Oktober 2007

→ Zurück in den Kindergarten

Kabale und Liebe

In den Zentren der industrialisierten Welt fühlen sich derzeit Politiker, Professoren und Wirtschaftskapitäne berufen, Christkind zu spielen und die Kinder in unterentwickelten Regionen mit Computertechnik zu beschenken. «One Laptop Per Child» (OLPC) ist Name und Ziel einer Initiative, die Nicholas Negroponte, emeritierter Professor am Massachusetts Institute of Technology (MIT), ins Leben gerufen hat. «Wenn es darum geht, Armut zu beseitigen, Frieden zu schaffen und umweltschützerisch tätig zu sein, dann ist OLPC der beste Weg, den ich mir vorstellen kann», sagte Negroponte in einem Fernsehinterview. Er hat Nachahmer und Mitbewerber gefunden; mit ihm streiten Vertreter von Intel und Microsoft um die Gunst der armen Kinder.

Als Negroponte 2005 anlässlich des World Economic Forum in Davos einen 100 Dollar teuren Mobilcomputer ankündigte, der den Ärmsten dieser Welt unter härtesten klimatischen Bedingungen zu Diensten sein soll, schien das ein utopisches Projekt zu sein. Doch es ist den MIT-Ingenieuren gelungen, die hohen technischen Hürden zu überwinden. Zwar ist der 100-Dollar-Laptop, dessen Massenfertigung Anfang November begonnen hat, teurer als geplant – er kostet 188 Dollar –, aber er vereinigt zahlreiche Innovationen. Er ist nicht einfach ein abgespeckter Laptop, er ist eine Neuentwicklung, die in vielen Bereichen mit interessanten neuen Lösungen aufwarten kann. Insbesondere verzichtet er auf Microsoft-Software und auf Prozessoren von Intel.

Laut Wikipedia konnte die OLPC-Initiative bis 2015 rund drei Millionen Computer unter die Leute bringen. Die Hardware wurde allerdings seit 2013 nicht mehr erneuert, das Projekt scheint eingeschlafen zu sein. Microsoft und Intel haben sich aus der Entwicklungshilfe zurückgezogen, als klar wurde, dass es OLPC nicht gelingen würde, ihnen Marktanteile abzunehmen.

Negroponte nannte als Ziel, bis Ende des nächsten Jahres 150 Millionen dieser Billig-Laptops zu verkaufen. Doch bis jetzt gibt es Bestellungen nur aus Uruguay (100 000 Stück), Peru (260 000) und Mexiko (50 000). In einem Interview mit der BBC sagte der Bildungsminister von Nigeria: «Es ergibt keinen Sinn, Laptops anzuschaffen, solange in den Schulen Stühle, Schuluniformen und sogar Toiletten fehlen.» Vor zwei Jahren hatte sich Nigeria noch bereit erklärt, eine Million OLPC-Laptops zu kaufen.

Der Misserfolg des OLPC-Geräts ist das Resultat auch von Störmanövern durch Microsoft und Intel. Intel hat hastig einen Billig-Laptop namens Classmate-PC konstruiert, für den Abnehmer in Nigeria, Libyen und Pakistan gefunden werden konnten. Microsoft hat auf die OLPC-Initiative mit einer 3-Dollar-Windows-Lizenz reagiert. Mit diesem Angebot konnte Microsoft laut Wall Street Journal die Verantwortlichen in Libyen und Ägypten dazu bringen, ihre OLPC-Bestellung zu stornieren. Microsoft und Intel dürften mit diesen Dumpingangeboten kein Geld verdienen; eine pädagogische, entwicklungspolitische Vision ist nicht erkennbar. Es scheint den beiden das PC-Geschäft dominierenden Firmen einzig darum zu gehen, zu verhindern, dass ein auf Linux basierender, mit AMD-Chips ausgestatteter Computer auf breiter Basis beweisen könnte, dass Informatik auch ohne Microsoft-Software und Intel-Hardware möglich ist.

4. Dezember 2007

→ IT-Fitness

Warten auf den Chief

Wer immer wieder denselben Fehler macht, ist dumm. Wer aus Fehlern lernt, ist klug. Wer auch aus Fehlern lernt, die andere machen, ist sehr, sehr klug. So werden die meisten von uns immer klüger, es geht voran, Fortschritt entfaltet sich. Wartehallen in Flughäfen sind ein guter Ort, um über Fortschritt nachzudenken. In diesen riesigen Glas-Stahl-Kathedralen, mit Blick auf silbrige Riesenvögel, gelingen weit ausholende Denkbewegungen. Es ist viel passiert, seit wir als Zellklumpen das Urmeer verlassen haben. Jetzt stehen wir aufrecht unter einer Hightechkuppel, in der Hand einen Rollkoffer, State of the Art, ausgezeichnet mit einem kleinen Schweizerkreuz. Dieser Markenartikel kostet ungefähr so viel wie ein Transatlantikflug.

Beim Einchecken verursacht das Köfferchen jeweils Diskussionen, denn es hat eine so unglückliche Form, dass es in der Flugzeugkabine oft nicht ins Gepäckfach passt. Es ist schwierig zu bepacken, denn die Reissverschlüsse sind so angebracht, dass es sich nur halb öffnen lässt. Während eine Hand den Deckel offenhält, versucht die andere Hemden und Hosen möglichst ohne Falten hineinzuschieben. Der ausziehbare Griff ist ein technisches Wunderwerk, er lässt sich drehen. In dieser Position passt er besser in die Hand, in dieser Position bricht er auch gleich ab, sobald das schlecht ausbalancierte Gepäckstück wieder einmal hinfällt. Das linke Rad macht sich manchmal selbstständig, denn es dreht sich in dieselbe Richtung, wie die Schraube, die es festhält, gedreht werden muss, um sich zu lockern.

Nachdenklich in der Kathedrale des Fortschritts meditierend, stellen wir uns vor, wie wir den Chief Technology Officer (CTO) der Kofferfabrik kennenlernten. Wir fachsimpelten mit ihm über Kofferbau. Wir redeten über die Möglichkeit, mit einem Linksgewinde auch ein linkes Rad dauerhaft zu arretieren. Zwei Gleichgesinnte in freundschaftlichem Gespräch. Doch vielleicht hat der Chief nichts mehr zu sagen. Vermutlich wurde auch dieses Produkt von einem subalternen Marketingmitarbeiter aufgrund einer E-Mail-Offerte bei einem namenlosen asiatischen Hersteller bestellt. Für die Reparatur sind verschiedene Subunternehmer zuständig, bei denen Temporärarbeiter während der Schicht von Transatlantikflügen träumen.

Kann es sein, dass es nicht immer nur vorwärtsgeht, dass auf Fortschritte manchmal Rückschritte folgen? Es sind nicht nur Koffer, die ihre Besitzer nachdenklich stimmen, es sind auch Handys, Drucker, Bildschirme, Hardware, Software. Es sind Produkte, für die sich trotz aller Labelings und Brandings kein Hersteller und kein Entwickler zuständig fühlt, die wie von Geisterhand zum Kunden gelangen, der nicht glauben kann, dass vor ihm niemand die Konstruktionsfehler bemerkt hat, und der nun davon träumt, darüber einmal mit dem grossen Chefentwickler sich unterhalten zu können. Doch vermutlich gibt es keinen Chief mehr, vermutlich gibt es nur noch Subcontractors. Der Chief ist tot, wir haben ihn umgebracht mit unserem Geiz.

18. Dezember 2007

→ Eine neue Wissenschaft

Was die Zukunft bringt

Es wird alles immer besser: Das mooresche Gesetz, das die Entwicklungsperspektiven der Halbleitertechnik beschreibt, verbreitet Zukunftsoptimismus.

Die Zukunft ist nicht mehr, was sie auch schon war. Einst zeigte sie sich als junge Braut, schön geschmückt, hoffnungsfroh ins Helle, Weite voranschreitend. Jetzt ist der Ausblick neblig, trüb.

Das Bild mit der Braut stammt aus dem Buch Eine kurze Geschichte der Zukunft (2007) von Oona Strathern. Es gibt rund ein Dutzend neuere Bücher, die im Titel «Geschichte» und «Zukunft» zusammenbringen, um durch ein Paradox anzudeuten, dass mit dem Lauf der Zeit etwas nicht mehr stimmt, dass – wie die Ägyptologin Aleida Assmann im Titel eines einschlägigen Buchs (2013) postuliert – die «Zeit aus den Fugen» geraten ist. Es verbreitet sich das Gefühl, aus der Zeit gefallen zu sein. Auf das «Ende der Geschichte» folgt das «Ende der Zukunft».