DIE AUTORIN
Foto: © Henry S. Dziekan III. c/o Baror Inc.
Lauren DeStefano wurde in New Haven, Connecticut geboren. Sie absolvierte ihren Bachelor-Abschluss am Albertus Magnus College im Fach Kreatives Schreiben. Land ohne Lilien – Geraubt ist der Auftakt ihrer hocherfolgreichen Jugendbuchtrilogie, die zum New-York-Times-Bestseller wurde.
Von der Autorin sind außerdem bei cbt erschienen:
Land ohne Lilien – Geraubt (Band 1)
Lauren DeStefano
Land ohne Lilien
Geflohen
Aus dem Englischen
von Catrin Frischer
Kinder- und Jugendbuchverlag
in der Verlagsgruppe Random House
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1. Auflage
Deutsche Erstausgabe August 2014
© 2012 by Lauren DeStefano
Published in agreement with the author,
c/o Baror International, Inc., Armonk, New York, U.S.A.
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
»The Last Chemical Garden Trilogy – Fever«
bei Simon & Schuster
Children’s Publishing Division, New York.
© 2014 für die deutschsprachige Ausgabe by cbt Verlag
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Aus dem Englischen von Catrin Frischer
Lektorat: Christina Neiske
Umschlaggestaltung: *zeichenpool, München
unter Verwendung eines Motivs von Ekaterina Marinenk, http://snowfall-lullaby.deviantart.com/
he · Herstellung: hr
Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
ISBN: 978-3-641-13396-2
V002
www.cbt-buecher.de
Für Amanda L.-C.,
die sich tapfer
im Regen verliert
One opal cloudlet in an oval form
Reflects the rainbow of a thunderstorm
Which in a distant valley has been staged
For we are most artistically caged
Vladimir Nabokov: Pale fire
1
WIR LAUFEN, mit Wasser in den Schuhen, der Geruch des Meeres klebt an unserer eiskalten Haut.
Ich lache, und Gabriel sieht mich an, als wäre ich verrückt. Wir sind beide außer Atem, doch über den fernen Lärm der Sirenen hinweg kann ich ihm zurufen: »Wir haben es geschafft!« Über uns ziehen Möwen gleichmütig ihre Kreise. Die Sonne verschmilzt mit dem Horizont und lässt ihn in Flammen aufgehen. Ein Mal schaue ich mich um, lange genug, um zu sehen, wie Männer unser Fluchtboot ans Ufer ziehen. Sie rechnen damit, Passagiere zu finden, werden jedoch auf nichts als leere Verpackungen stoßen – von den Süßigkeiten aus dem Vorrat des Besitzers, die wir gegessen haben. Das Schiff haben wir vor dem Ufer verlassen, im Wasser nacheinander getastet und uns mit angehaltenem Atem schleunigst von dem Chaos entfernt.
Unsere Fußspuren führen aus dem Meer heraus, so als würden Geister über den Strand streifen. Das gefällt mir. Wir sind die Geister untergegangener Länder. Wir waren Forscher, einst, als die Welt noch intakt war, in einem früheren Leben, und jetzt sind wir zurückgekehrt von den Toten.
Wir erreichen einen Steinhaufen, eine natürliche Barriere zwischen Strand und Stadt, und in seinem Schatten lassen wir uns auf den Boden fallen. Von dort können wir hören, wie die Männer einander Kommandos zubrüllen.
»Da muss ein Sensor gewesen sein, der den Alarm ausgelöst hat, als wir uns der Küste genähert haben«, sage ich. Das Boot zu stehlen war zu leicht gewesen, ich hätte es gleich wissen müssen. Nach all den vielen Fallen, die ich im Laufe der Zeit bei mir zu Hause aufgestellt habe, hätte mir klar sein sollen, dass die Leute alles daransetzen, ihr Eigentum zu schützen.
»Was passiert, wenn sie uns zu fassen kriegen?«, fragt Gabriel.
»Wir sind ihnen egal«, sage ich. »Irgendjemand bezahlt einen Haufen Geld dafür, das Boot zurückzubekommen, darauf wette ich.«
Meine Eltern haben mir immer Geschichten von Leuten in Uniformen erzählt, die früher in der Welt für Ordnung sorgten. Ich hab nie richtig daran geglaubt. Wie soll das denn gehen? Wie können ein paar Uniformierte eine ganze Welt in Ordnung halten? Jetzt gibt es nur noch die Privatdetektive, die von den Reichen angestellt werden, um gestohlenen Besitz ausfindig zu machen, und die Wachleute, die Ehefrauen auf luxuriösen Partys gefangen halten. Und natürlich die Sammler: Sie suchen die Straßen nach Mädchen ab, die sie verkaufen können.
Ich lasse mich hintenüber in den Sand fallen. Gabriel greift nach meiner zitternden Hand. »Du blutest«, sagt er.
»Sieh doch.« Ich recke den Kopf himmelwärts. »Die Sterne kommen schon heraus.«
Er sieht hoch, die untergehende Sonne scheint ihm ins Gesicht und macht seine Augen strahlender, als ich sie je gesehen habe. Trotzdem wirkt er besorgt. In der Villa aufzuwachsen hat ihm eine Last aufgebürdet, die er nicht einfach abschütteln kann.
»Alles in Ordnung«, sage ich und ziehe ihn runter. »Leg dich einfach zu mir und schau dir eine Weile den Himmel an.«
Er will sich nicht ablenken lassen. »Du blutest«, wiederholt er. Seine Unterlippe zittert.
»Ich werde es überleben.«
Er hält mit beiden Händen meine verletzte Hand hoch. Blut rinnt in seltsamen kleinen Bächen an unseren Handgelenken herunter. Ich muss mir die Handfläche an einem Stein aufgeritzt haben, als wir an Land gekrochen sind. Ich krempele meinen Ärmel auf, damit das Blut nicht den weißen Pullover mit dem Zopfmuster ruiniert, den Deidre mir gestrickt hat. Diamanten und Perlen sind darin eingestrickt – das ist alles, was mir von den Kostbarkeiten meines Hausfrauenlebens geblieben ist.
Nun ja, das und mein Ehering.
Vom Wasser weht eine Brise zu uns herüber. Plötzlich merke ich, wie klamm ich in der kalten Luft und den nassen Kleidern geworden bin. Wir sollten uns eine Unterkunft suchen – aber wo? Ich setze mich auf und schaue mich in der Gegend um. Meterweit Sand und Steine, aber dahinter kann ich die Schatten von Gebäuden ausmachen. Ein einsamer Lastwagen rumpelt in der Ferne eine Straße entlang. Bald, denke ich, ist es so dunkel, dass die Lieferwagen der Sammler mit ausgeschalteten Scheinwerfern die Straßen der Gegend abzusuchen beginnen. Dies sind ideale Jagdgründe für sie, anscheinend gibt es keinerlei Straßenbeleuchtung, und die Gassen zwischen diesen Gebäuden könnten voll von Mädchen für den scharlachroten Bezirk sein.
Das Blut beunruhigt Gabriel natürlich mehr. Er versucht, meine Handfläche mit einem Stück Seetang zu umwickeln, das Salz brennt in der Wunde. Ich brauche jetzt erst mal eine Weile, um mir einen Überblick zu verschaffen, dann kann ich mir über die Wunde Sorgen machen. Gestern um diese Zeit war ich die Braut eines Hauswalters. Ich hatte Schwesterfrauen. Am Ende meines Lebens wäre mein Körper bei den Frauen gelandet, die vor mir gestorben sind, auf einer Bahre im Keller meines Schwiegervaters, der damit machen würde, was nur er allein weiß.
Aber jetzt ist da der Geruch nach Salz, Meeresrauschen. Ein Einsiedlerkrebs, der eine Düne hochkrabbelt. Und auch noch etwas anderes. Mein Bruder Rowan ist irgendwo da draußen. Und nichts wird mich daran hindern, nach Haus zu ihm zu kommen.
Ich dachte, die Freiheit wäre aufregend für mich, und das ist sie wirklich, aber ich habe auch Angst. Ein steter Strom von Was-wäre-wenns durchkreuzt meine in herrlich greifbare Nähe gerückten Hoffnungen.
Was wäre, wenn er nicht da ist?
Was wäre, wenn etwas schiefgeht?
Was wäre, wenn Vaughn uns findet?
Was wäre, wenn …
»Was sind das für Lichter?«, fragt Gabriel. Ich schaue in die Richtung, in die er zeigt, und sehe es auch, ein riesiges Lichterrad dreht sich träge in der Ferne.
»So was habe ich noch nie gesehen«, sage ich.
»Nun ja, irgendwer muss da drüben sein. Komm.«
Er zieht mich hoch und zerrt an meiner blutenden Hand, aber ich halte ihn zurück. »Wir können nicht so einfach auf die Lichter zugehen. Du weißt doch gar nicht, was das da drüben ist.«
»Hast du einen besseren Plan?«, will er wissen.
Ein Plan? Der Plan war nur, zu entkommen. Das ist geschafft. Und jetzt ist der Plan, zu meinem Bruder zu gelangen, eine romantische Vorstellung, die ich in den trüben Monaten meiner Ehe gehegt habe. Mein Bruder ist beinahe schon zu einer Fantasiegestalt geworden, zu einem Hirngespinst, und der Gedanke, dass ich bald wieder mit ihm vereint sein werde, macht mich ganz schwindelig vor Freude.
Ich hatte gedacht, wir würden es wenigstens schaffen, trocken an Land zu kommen und bei Tageslicht, aber dann ging uns der Treibstoff aus. Und das Tageslicht schwindet mit jeder Sekunde, hier ist es also auch nicht sicherer als anderswo. Da drüben sind zumindest Lichter, so unheimlich sie auch sein mögen, wenn sie sich auf diese Weise drehen. »Okay«, sage ich. »Wir erkunden das.«
Der improvisierte Seetangverband scheint die Blutung gestillt zu haben. Er ist so sorgfältig gewickelt, dass es schon witzig ist, und im Gehen fragt Gabriel, worüber ich lächele. Er ist tropfnass und von oben bis unten voll Sand. Sein normalerweise ordentliches braunes Haar ist zerzaust. Und doch scheint er nach einer Ordnung zu suchen, nach einer logischen Vorgehensweise.
»Das wird schon, glaub mir«, sage ich.
Er drückt meine unverletzte Hand.
Die Januarluft ist in wütendem Aufruhr, sie wirbelt Sand auf und heult mir durch das klitschnasse Haar. Die Straßen sind voller Müll, in einem der Müllberge raschelt es, und eine einzelne flackernde Straßenlampe geht an. Gabriel schlingt den Arm um mich, und ich bin mir nicht ganz sicher, wen von uns beiden er schützen will, aber in meinem Bauch grummelt der erste Anflug von Angst.
Was wäre, wenn ein grauer Lieferwagen diese dunkle Straße entlangrumpeln würde?
Es sind keine Häuser in der Nähe, nur ein gemauertes Gebäude, das vielleicht vor einem halben Jahrhundert einmal eine Feuerwehrwache gewesen sein könnte, mit zerbrochenen, mit Brettern vernagelten Fenstern. Einige andere zerfallende Sachen kann ich in der Dunkelheit nicht genau erkennen. Ich könnte schwören, dass sich in den Gassen etwas bewegt.
»Das sieht alles so verlassen aus«, bemerkt Gabriel.
»Komisch, nicht?«, sage ich. »Die Wissenschaftler waren so fest entschlossen, uns zu heilen, und als wir dann alle anfingen zu sterben, haben sie uns einfach hier verrotten lassen – und die Welt um uns herum dazu.«
Gabriel macht ein Gesicht, das man für verächtlich oder mitleidig halten könnte. Den größten Teil seines Lebens hat er auf einem herrschaftlichen Anwesen zugebracht, und dort mag er zwar ein Diener gewesen sein, aber wenigstens war alles um ihn herum solide gebaut, sauber und einigermaßen sicher. Solange man sich vom Keller fernhielt natürlich. Diese verfallene Welt muss ein Schock für ihn sein.
Der Lichtkreis in der Ferne ist von seltsamer Musik umgeben, irgendwas Dumpfem, Metallischem, das sich den Anschein von Fröhlichkeit gibt. »Vielleicht sollten wir zurückgehen«, sagt Gabriel, als wir an den Maschendrahtzaun kommen, der das Gelände umgibt. Dahinter kann ich Zelte ausmachen, die von Kerzen erleuchtet sind.
»Zurückgehen? Wohin?«, frage ich. Ich zittere so sehr, dass ich die Wörter kaum über die Lippen bringe.
Gabriel macht den Mund auf, er will etwas sagen, aber die Worte gehen in meinem Schrei unter, denn jemand packt mich am Arm und zerrt mich durch eine Lücke im Zaun.
Ich kann nur noch denken: Nicht schon wieder, nicht so – und dann blutet meine Wunde erneut und meine Faust tut weh, weil ich gerade jemanden geschlagen habe. Ich schlage immer noch um mich, als Gabriel mich wegzieht, und wir versuchen wegzurennen, aber wir werden überwältigt. Weitere Gestalten kommen aus den Zelten und packen unsere Arme, unsere Taillen, Beine, sogar meine Kehle. Ich spüre Hautfetzen unter meinen Nägeln und einen Schädel, der mit meinem zusammenkracht, und dann ist mir schwindelig, aber irgendetwas, das nicht von dieser Welt ist, treibt mich an, mich weiter gewaltsam zu verteidigen. Gabriel brüllt meinen Namen, ich soll kämpfen, ruft er mir zu, aber es bringt nichts. Wir werden auf das kreisende Lichtrad zugeschleift, dort lacht eine alte Frau, und die Musik hört nicht auf.
2
DAS WIDERLICHE GERÄUSCH von Knochen, der auf Haut trifft. Gabriel gelingt ein perfekter Treffer, der einen der Männer hintenüber zu Boden gehen lässt, aber es sind noch andere da, die seine Arme packen und ihn von allen Seiten mit den Knien stoßen.
»Für wen arbeitet ihr?« Die Stimme der alten Frau klingt ruhig. Rauch steigt in Wolken aus ihrem Mund auf und von einem Stäbchen, das sie in den Fingern hält. »Wer hat euch geschickt, um mich auszuspionieren?« Sie ist eine Erstgenerationerin, klein und untersetzt. Ihr graues Haar ist zu einem Knoten frisiert, der mit grellen Rubinen und Smaragden aus Glas geschmückt ist. Rose, die im Laufe der Jahre von unserem Ehemann Linden mit Schmuckstücken und Edelsteinen überhäuft worden ist, hätte über dieses billige Zeug gelacht: die übergroßen Perlen, die der Alten um den faltigen Hühnerhals hängen, diese beinahe ihren ganzen Unterarm bedeckenden silbernen Reifen, die rosten und abblättern, den Rubinring von der Größe eines Hühnereis.
Die Männer halten Gabriel an den Armen, und er hat Mühe, auf den Beinen zu bleiben, während ein anderer Mann auf ihn einschlägt. Eigentlich ist es ein Junge, er kann nicht älter sein als Cecily.
»Niemand schickt uns«, sagt Gabriel. An seinen Augen kann ich sehen, dass er im Moment nicht ganz bei sich ist. Er hat am meisten abgekriegt von unseren Angreifern, und ich befürchte, er könnte eine Gehirnerschütterung haben. Er steckt einen weiteren Hieb ein, diesmal in die Rippen, und der zwingt ihn in die Knie. Mein Magen zieht sich zusammen.
Einer der Männer hat mich an der Gurgel gepackt, zwei andere an den Armen, und alle sind kleiner als ich. Es ist schwierig, die Angreifer als kleine Jungen zu sehen, obwohl sie genau das sind.
Gabriels Augen fallen zu, dann klappen sie ruckartig wieder auf. Zitternd atmet er aus, mit einem erstaunten Keuchen. Mein Herzschlag dröhnt mir in den Ohren, ich will zu ihm gehen, aber nichts als mein hilfloses Gewimmer dringt zu ihm durch. Alles nur meine Schuld. Ich hätte ihn beschützen müssen, das ist meine Welt. Ich hätte einen Plan haben sollen. Empört stammele ich etwas und blaffe dann: »Er sagt die Wahrheit, wir sind keine Spione.« Wer spioniert denn schon einen Ort wie diesen aus?
Dreckverschmutzte Mädchen spähen aus einem Schlitz in dem Zelt mit den Regenbogenstreifen, sie blinzeln wie die Bettwanzen. Und sofort ist mir klar, dass dies hier ein scharlachroter Bezirk sein muss – ein Prostitutionslager voller ungewollter Mädchen, die von den Sammlern nicht an Hauswalter verkauft werden konnten – oder einfach nicht die Möglichkeit hatten, irgendwo anders hinzugehen.
»Du hältst den Mund«, sagt einer der Männer – der Jungs – mir ins Ohr. Die alte Frau lacht gackernd und klappert mit den falschen Juwelen, die wie große Käfer und eitrige Geschwüre auf ihren Fingern und Handgelenken sitzen.
»Schaff sie ins Licht«, sagt die alte Frau. Sie zerren mich in das Zelt mit den Regenbogenstreifen unter von der Decke hängende schaukelnde Laternen und die Bettwanzen-Mädchen huschen in alle Richtungen davon. Die alte Frau packt meinen Kiefer und biegt meinen Kopf zurück, damit sie mich besser angucken kann. Dann spuckt sie mir ins Gesicht, verteilt die Spucke auf meiner Wange und reibt damit etwas von dem Blut und dem Sand weg. Ihre schrecklichen schwarzen Augen leuchten vor Freude auf, und sie sagt: »Goldraute. Ja, so werde ich dich nennen.« Meine Augen tränen vom Rauch. Am liebsten würde ich sie auch anspucken.
Die Mädchen im Zelt stöhnen widerwillig und eine von ihnen hebt den Kopf. »Madame«, sagt sie. Ihre Augen sind trübe, ihr Blick gelangweilt. »Die Sonne ist untergegangen. Es wird Zeit.«
Die Alte versetzt ihr mit dem Handrücken einen Schlag ins Gesicht, und während sie ihre beringten Finger mustert, sagt sie im gleichen ruhigen Ton: »Du sagst nicht mir, was zu tun ist. Ich sage es dir.«
Das Mädchen verschwindet.
Gabriel spuckt einen Mundvoll Blut aus. Die Jungs zerren ihn auf die Beine.
»Bringt sie ins rote Zelt«, sagt sie alte Frau. Dass ich mich fallen gelassen habe und mich weigere, meine Beine zu benutzen, spielt keine Rolle, zwei der Jungs können mich ohne Mühe davonschleifen.
Das war’s, denke ich. Gabriel wird sterben und diese alte Frau will mich zu einer ihrer Prostituierten machen. Ich kann nur vermuten, dass es das ist, was die Mädchen im Regenbogenzelt sind. All die Mühen zu fliehen, alle Anstrengungen, die Jenna auf sich genommen hat, um mir zu helfen – für nicht mal einen Tag Freiheit, bevor sich eine neue Hölle auftut.
Das rote Zelt wird mit Laternen beleuchtet, die von einem niedrigen Himmel hängen. Eine trifft mich am Kopf, und als die Jungs mich loslassen, falle ich auf die kalte Erde. »Geh ja nirgendwo hin«, sagt einer der Jungs, der einen Kopf kleiner ist als ich. Er hält seinen mottenzerfressenen Mantel auf und zeigt mir eine Pistole, die in seinem Hosenbund steckt. Der andere Junge lacht und sie gehen weg. Ich kann ihre Umrisse hinter der mit einem Reißverschluss verschlossenen Türöffnung erkennen und höre sie höhnisch lachen.
Ich suche das Zelt nach einer anderen Öffnung ab, durch die ich mich winden könnte, aber es ist fest am Boden verankert und ringsherum mit Möbeln beschwert. Polierte, uralt anmutende Schreibtische und Kommoden, deren Schubladen mit Dingen wie Feuer speienden Drachen bemalt sind, mit Kirschblüten, Pavillons und schwarzhaarigen Frauen, die verdrießlich ins Wasser schauen.
Das sind Antiquitäten aus irgendeinem östlichen Land, das es schon lange nicht mehr gibt. Rose hätten diese Sachen gefallen. Sie hätte erzählen können, was die schwarzhaarigen Frauen traurig macht, sie hätte einen Weg durch die Kirschblüten aufzeichnen können, der sie dorthin gebracht hätte, wo sie hingehen wollte. Einen Moment lang glaube ich zu sehen, was sie sehen würde – eine endlose Welt.
»Also«, sagt die alte Frau. Sie ist aus dem Nichts aufgetaucht und zieht mich auf einen der beiden Stühle, die einander gegenüber an einem Tisch stehen. »Dann wollen wir dich mal anschauen.«
Rauch kräuselt sich über einer langen Zigarette in den runzligen Fingern der Alten. Sie führt sie zu einem Zug an ihre Lippen und Rauch quillt ihr bei ihren nächsten Worten aus Mund und Nasenlöchern. »Du bist nicht von hier. Du wärst mir aufgefallen.« Die passend zu ihren Juwelen geschminkten Augen sind auf mich gerichtet. Ich schaue weg.
»Diese Augen«, sagt sie und lehnt sich weiter zu mir herüber. »Bist du missgebildet?«
»Nein«, sage ich, wobei ich mich zwinge, meine Wut nicht durchklingen zu lassen, denn draußen steht ein Junge mit einer Pistole, und Gabriel ist immer noch von der Gnade dieser Frau abhängig. »Und wir sind keine Spione. Wie oft soll ich das denn noch sagen? Wir haben uns nur verirrt.«
»Dieser ganze Ort ist eine Verirrung, Goldraute«, sagt sie. »Aber du hast Glück heute Nacht. Falls du nach einem vornehmeren Bezirk für deine Geschäfte suchen solltest«, sie macht eine dramatische Geste und lässt Asche fliegen, »du wirst meilenweit nichts finden. Ich werde mich gut um dich kümmern.«
Mir dreht sich der Magen um. Ich sage kein Wort, denn wenn ich jetzt den Mund aufmache, dann kotze ich ganz bestimmt quer über diesen wunderschönen antiken Tisch.
»Ich bin Madame Soleski«, sagt die Frau. »Aber du nennst mich Madame. Zeig mir mal die Hand da.« Sie greift über den Tisch nach meinem Handgelenk, dann knallt sie meine blutende linke Hand auf den Tisch. Der Seetangverband hält immer noch, obwohl er zerdrückt ist und das Blut heraustropft.
Sie hält meine Hand unter die Laterne und schnappt nach Luft, als sie meinen Ehering sieht. Wahrscheinlich hat sie noch nie echten Schmuck gesehen. Sie legt ihre Zigarette auf der Tischkante ab, nimmt meine Hand mit ihren beiden Händen und sieht sich das Rankenmuster genau an, das in meinen Ring eingraviert ist, diese Blüten, die Linden so oft an den Rand seiner Bauentwürfe gemalt hat, wenn er an mich gedacht hat. Fantasieblumen, hat er gesagt. Auf dieser Welt gab es keine Blumen mit solchen Blüten.
Ich balle meine Faust wieder, denn ich fürchte, dass sie versuchen wird, den Ring zu stehlen. Diese Ehe mag ja Schwindel gewesen sein, aber dieser kleine Teil davon gehört mir.
Madame Soleski bewundert ihn noch eine Weile, dann lässt sie meine Hand los. Sie kramt in einer ihrer Schubladen und kommt mit einer Flasche voll klarer Flüssigkeit und einer Mullbinde wieder, die aussieht, als sei sie schon mal benutzt worden. Sie nimmt den Seetang ab und träufelt die Flüssigkeit auf die Wunde. Das Zeug brennt, es blubbert und zischt wütend. Die Alte beobachtet, wie ich darauf reagiere, aber ich lasse mir nichts anmerken. Dann verbindet sie meine Handfläche fachmännisch mit der Mullbinde.
»Du hast einen meiner Jungs übel zugerichtet«, sagt sie. »Morgen wird er ein blaues Auge haben.«
Das hat nicht gereicht, ich habe den Kampf trotzdem verloren.
Madame Soleski befingert den Ärmel meines Pullovers, und ich wehre mich nicht dagegen, aber dann krallt sie ihre Finger in meine verbundene Wunde. Ich will nicht, dass sie mich berührt. Meinen Ehering nicht und diesen Pullover auch nicht. Ich denke daran, wie Deidres kleine, tüchtige Hände ihn für mich gemacht haben, sie waren blau geädert, ihre weiche Haut war das einzige Zeichen ihrer Jugend. Diese Hände konnten Badewasser verzaubern oder Diamanten in Strickzeug einarbeiten. In allem, was Deidre schuf, war Präzision. Ich denke an ihre großen hellbraunen Augen, den sanften Ton ihrer Stimme. Ich denke daran, dass ich sie nie wiedersehen werde.
»Behalte den Verband um«, sagt die Alte, nimmt ihre Zigarette und streift Asche ab. »Du willst ja wohl keine Entzündung bekommen und die Hand verlieren. Du hast so ausgesucht schöne Finger.«
Ich kann die Umrisse der Jungs nicht mehr sehen, die draußen Wache stehen, aber ich kann sie reden hören. Die Waffe des einen war viel kleiner als das Gewehr, das mein Bruder und ich im Keller hatten, aber wenn ich sie in die Finger kriegen könnte, käme ich schon damit zurecht. Doch wie schnell wäre ich? Einige von den anderen könnten auch bewaffnet sein. Und ohne Gabriel kann ich nicht weg. Es ist meine Schuld, dass er überhaupt hier ist.
»Du redest nicht, wenn du nicht angesprochen wirst, was, Goldraute? Das gefällt mir. Reden ist ja nicht gerade unser Geschäft.«
»Ich habe mit Ihrem Geschäft nichts zu tun«, sage ich.
»Nicht?« Die alte Frau zieht ihre aufgemalten Augenbrauen hoch. »Du siehst tatsächlich aus, als wärst du aus einem ganz anderen Unternehmen weggelaufen. Ich kann dir Schutz anbieten. Das hier ist mein Territorium.«
Schutz? Ich könnte loslachen. Doch die schmerzenden Rippen und das Hämmern in den Schläfen hindern mich gerade daran. Stattdessen sage ich: »Wir haben uns ein wenig verirrt, aber wir kommen schon zurecht, wenn Sie uns gehen lassen. Unsere Angehörigen in North Carolina erwarten uns.«
Die Frau lacht, nimmt lässig einen Atemzug durch ihre Zigarette und lässt mich keine Sekunde aus ihren blutunterlaufenen Augen.
»Keiner mit einer Familie findet je den Weg hierher. Komm, ich zeig dir das pièce de résistance.« Diese letzten Worte spricht sie mit einem künstlichen Akzent aus. Ihre Zigarette ist heruntergebrannt, sie tritt sie mit ihrem hochhackigen Schuh aus, der eine Nummer zu klein zu sein scheint.
Sie führt mich nach draußen. Die Jungs, die Wache stehen, hören sofort auf zu lachen, als sie vorbeigeht. Einer der beiden versucht mir ein Bein zu stellen, ich weiche ihm aus.
»Das ist mein Königreich, Goldraute«, sagt Madame. »Meine Fête d’amour. Aber du wirst natürlich nicht wissen, was amour ist.«
»Liebe«, antworte ich und fühle mich belohnt, als ihre Augenbrauen überrascht hochschnellen. Fremdsprachen sind so was wie eine verloren gegangene Fertigkeit, aber mein Bruder und ich hatten das seltene Privileg, Eltern zu haben, denen Bildung wichtig war. Auch wenn wir nie Verwendung dafür haben würden, nie Sprachwissenschaftler oder Forscher werden würden, bereicherte uns das Wissen und ließ unsere Tagträume heller strahlen. Manchmal sind wir durchs Haus gelaufen und haben so getan, als würden wir mit dem Gleitschirm hoch über den Aleuten schweben, dann unter den Pflaumenblüten in Kyoto grünen Tee trinken … und nachts blinzelten wir in die sternenglänzende Dunkelheit und stellten uns vor, wir könnten unsere Nachbarplaneten sehen. »Siehst du die Venus?«, fragte mein Bruder. »Sie hat das Gesicht einer Frau und ihre Haare stehen in Flammen.« Wir drängelten uns am offenen Fenster, und ich antwortete: »Ja, ja, das sehe ich! Und der Mars wimmelt von Würmern.«
Madame legt mir den Arm um die Schultern und drückt mich. Sie riecht nach Verfall und Rauch. »Ach, die Liebe. Das ist es, was die Welt verloren hat. Es gibt keine Liebe mehr, nur noch die Illusion davon. Und das zieht die Männer zu meinen Mädchen. Alles dreht sich nur darum.«
»Um was?«, frage ich. »Liebe oder Illusion?«
Madame lacht in sich hinein und drückt mich wieder. Das erinnert mich an den langen Spaziergang über den Golfplatz, den ich mit Vaughn an jenem kühlen Nachmittag gemacht habe, daran, wie seine Gegenwart alles Gute in der Welt auszulöschen schien. Es hatte sich angefühlt, als würde sich eine Anakonda um meine Brust schlingen. Mittlerweile hat Madame mich zu ihrem drehenden Lichtrad gebracht. Was ist das nur mit den Erstgenerationern und ihren Sammlungen von atemberaubenden Dingen? Ich bin fasziniert und ich hasse mich dafür.
»Du hast dein français gelernt«, sagt Madame neckisch. »Aber hier hab ich ein Wort für dich, das du bestimmt noch nicht gehört hast.« Sie reißt ihre Augen weit auf: »Kirmes.«
Ich kenne das Wort. Mein Vater hat versucht, meinem Bruder und mir zu beschreiben, was eine Kirmes war. Feste, hat er gesagt, die gefeiert wurden, wenn es nichts zu feiern gab. Ich konnte das verstehen, aber Rowan nicht, deshalb waren am Tag darauf, als wir aufwachten, überall in unserem Zimmer Girlanden. Auf unserer Kommode wartete ein Kuchen auf uns mit Gabeln und Cranberrysprudel, meinem Lieblingsgetränk, das wir nur ganz selten bekamen, weil es so schwer zu beschaffen war. Und wir gingen an diesem Tag auch nicht zur Schule. Mein Vater spielte fremdartige Musik auf dem Klavier und wir verbrachten den Tag damit, rein gar nichts zu feiern, außer vielleicht, dass wir am Leben waren.
»Darum drehte sich alles bei einer Kirmes«, sagt Madame. »Man nannte es Riesenrad.«
Das Riesenrad. Das einzige Ding in diesem ganzen Ödland voller ausgedienter Karussells, das nicht verrottet oder verrostet ist.
Nun, wo ich nah genug herangekommen bin, um es mir richtig ansehen zu können, bemerke ich, dass es überall im Rad Sitze gibt. Eine kleine Treppe führt zu seinem niedrigsten Punkt hinauf. In verwitterter Farbe ist zu lesen: HIER EINSTEIGEN.
»Als ich es gefunden habe, hat es natürlich nicht funktioniert«, fährt Madame fort. »Aber mein Jared ist eine Art Genie, wenn es um elektrische Maschinen geht.«
Ich sage nichts, lege aber den Kopf zurück, um die vor dem Nachthimmel baumelnden Sitze zu betrachten. Das Rad gibt beim Laufen ein rostig knirschendes Ächzen von sich und nur für einen Augenblick ertönt Lachen in dieser unheimlichen Blasmusik.
Meine Eltern haben früher zu Riesenrädern hochgeschaut. Sie waren ein Teil dieser verlorenen Welt.
Einer der Jungs lehnt an dem Geländer, das dieses Ding umgibt, und beäugt mich misstrauisch. »Madame?«, sagt er.
»Bring es zum Halten«, befiehlt sie.
Eine kalte Brise umwirbelt mich, schwer von alten Melodien, Rostgeruch und all den seltsamen unbekannten Düften von Madame.
Vor der Treppe, wo ich stehe, kommt ein leerer Sitz zum Halten. Madames Armreifen klappern und klimpern, als sie mir die Hand ans Rückgrat legt und mich nach vorn schiebt. Dabei sagt sie: »Geh schon, geh.«
Ich glaube nicht, dass ich mich zurückhalten kann. Ich steige die Stufen hoch, das Metall erzittert unter meinen Füßen, und Schauer laufen meine Beine hoch. Der Sitz schaukelt ein bisschen, als ich mich darauf niederlasse. Madame setzt sich neben mich und zieht eine Stange von oben herunter, die uns einschließt. Wir setzen uns in Bewegung und einen Moment lang bleibt mir die Luft weg, während wir zum Himmel aufsteigen.
Immer weiter entfernt sich die Erde. Die Zelte sehen aus wie glänzende runde Bonbons. Die Mädchen bewegen sich darum herum wie Schatten.
Ich kann nicht anders, ich beuge mich vor, staune. Dieses Rad ist fünf, zehn, fünfzehn Mal höher als der Leuchtturm, auf den ich während des Hurrikans geklettert bin. Höher sogar als der Zaun, der mich als Lindens Braut gefangen gehalten hat.
»Das ist der höchste Platz der Welt«, sagt Madame. »Höher als Ausspähtürme.«
Von Ausspähtürmen hab ich noch nie gehört, aber ich glaube kaum, dass sie höher sind als die Fabriken und Wolkenkratzer in Manhattan. Nicht mal von diesem Rad könnte man das behaupten. Doch vielleicht ist das der höchste Platz in Madames Welt. Das könnte ich durchaus glauben.
Und während wir uns auf Sterne zubewegen, die beängstigend nah herangerückt sind, spüre ich, wie sehr ich meinen Zwillingsbruder vermisse. Seit dem Tod unserer Eltern hat er aufgehört an Dinge zu glauben, die fantastischer sind als Ziegel und Zement, oder weniger grauenhaft als unheimliche Gassen, in denen Mädchen seelenlos werden und Männer Geld bezahlen für fünf Minuten mit ihren Körpern. Bei ihm wird jeder Augenblick vom Überleben verzehrt, seinem und meinem. Aber sogar meinem Bruder, der bis ins Innerste praktisch veranlagt ist, hätte es den Atem verschlagen bei dieser Höhe, diesen Lichtern und der Klarheit dieses Nachthimmels.
Rowan. Ich hab das Gefühl, sogar sein Name ist jetzt ganz weit von mir entfernt.
»Sieh nur, sieh.« Madame streckt begeistert den Finger aus. Ihre Mädchen wimmeln unten in ihren flatterigen, exotischen Kleidern herum. Eine dreht sich im Kreis, ihr Rock füllt sich mit Luft und ihr Lachen klingt wie ein Schluckauf. Ein Mann packt ihren blassen Oberarm, und sie lacht immer noch, stolpernd und fuchtelnd, als er sie in ein Zelt schleift.
»Du hast noch nie so schöne Mädchen gesehen wie meine«, sagt Madame. Doch sie irrt sich, das habe ich. Da war Jenna mit ihren grauen Augen, in denen sich das Licht spiegelte, und mit ihrer Anmut. Summend tanzte sie durch die Flure, immer mit der Nase in einem Liebesroman. Die Diener wurden rot und wandten die Blicke ab, so sehr schüchterte Jenna sie mit ihrem Selbstbewusstsein und ihrem koketten Lächeln ein. An einem Ort wie diesem wäre sie die Königin gewesen.
»Sie wünschen sich ein besseres Leben. Sie laufen weg und kommen hierher zu mir. Ich bringe ihre Babys zur Welt. Ich kümmere mich um ihre laufenden Nasen, ich gebe ihnen zu essen, halte sie sauber, schenke ihnen hübsche Sachen für ihre Haare. Sie kommen an diesen Ort und verlangen nach mir.« Sie grinst. »Vielleicht hast du auch schon von mir gehört und bist hierhergekommen, damit ich dir helfe.« Sie nimmt meine Hand mit einer Wucht, die unsere Kabine zum Schwingen bringt. Ich verkrampfe mich, denke, wir kippen um, aber das tun wir nicht. Wir steigen jetzt nicht mehr weiter auf, wir haben den höchsten Punkt erreicht. Ich schaue über die Seite hinaus. Es gibt keinen Weg nach unten und die Angst setzt ein. Madame hat die Kontrolle über dieses Ding. Wenn ich vorher nicht schon vollständig ihrer Gnade ausgeliefert war, dann bin ich es jetzt.
Ich zwinge mich, ruhig zu bleiben. Die Genugtuung, mich in Panik verfallen zu sehen, will ich ihr nicht geben, das würde ihr nur noch mehr Macht verleihen.
Mein Herzschlag dröhnt in meinen Ohren.
»Dieser Junge, mit dem du gekommen bist … ist doch nicht derjenige, der dir diesen schönen Ehering geschenkt hat, oder?« Das ist keine Frage. Sie versucht mir den Ring vom Finger zu ziehen, aber ich balle eine Faust und ziehe die Hand weg.
»Ihr beiden seid hier aufgetaucht wie nasse Ratten«, sagt sie. Ihr Lachen knirscht wie die rostigen Seile, die unsere Kabine halten. »Aber unter dem nassen Fell bist du ganz Glitter und Perlen. Echte Perlen.« Sie schaut meinen Pullover an. »Und er ist ausstaffiert wie ein kleiner Diener.«
Nichts davon kann ich abstreiten. Es ist ihr gelungen, die letzten Monate meines Lebens perfekt zusammenzufassen.
»Bist du etwa mit deinem Diener weggelaufen, Goldraute? Hinter dem Rücken des Mannes, der dich zu seiner Frau gemacht hat? Hat dein Ehemann sich dir aufgedrängt? Oder vielleicht konnte er dich ja nicht befriedigen, und da hast du dich mit deinem Jungen da getroffen, heimlich, spätnachts habt ihr in deinem Kleiderschrank zwischen den Seidenkleidern herumgeraschelt wie die Wilden.«
Meine Wangen brennen, aber das hier ist nicht zu vergleichen mit der Verlegenheit, die ich empfunden habe, als meine Schwesterfrauen mich wegen meiner fehlenden Intimität mit Linden aufgezogen haben. Das hier ist eklig und zudringlich. Falsch. Und Madames Rauchausdünstungen machen mir das Atmen schwer. Von der Höhe wird mir schwindelig.
»So ist das nicht«, sage ich mit zusammengebissenen Zähnen.
»Dafür muss man sich doch nicht schämen«, sagt Madame und schlingt den Arm um meine Schultern. Ich unterdrücke das Wimmern, bevor es aus der Kehle herauskann. »Immerhin bist du eine Frau. Frauen sind das schwächere Geschlecht. Und bei einer, die so schön ist wie du, muss der Ehemann ja zum Tier geworden sein. Kein Wunder, dass du dir einen süßeren Jungen gesucht hast. Und süß ist er doch, was? Das seh ich doch in seinen Augen.«
»In seinen Augen?«, platzt es aus mir heraus. Als ich meine Augen aufmache, richte ich den Blick auf Madames grellen Haarschmuck, damit ich weder sie noch den Boden unter uns anschauen muss. »Ehe Ihre Schergen ihn halb tot geschlagen haben?«
»Das ist etwas ganz anderes.« Zärtlich streicht Madame mir das Haar aus dem Gesicht. Ich zucke zurück, aber ihr scheint das egal zu sein. »Meine Männer wissen, wie meine Mädchen zu beschützen sind. Es geht rau zu in der Welt, Goldraute. Du brauchst Schutz.«
Sie packt mein Kinn, und ihre Finger drücken meinen Kiefer, bis es wehtut. Sie starrt meine Augen an. »Oder vielleicht«, säuselt sie, »wollte dein Ehemann diesen Makel hier nicht an seine Kinder weitergeben. Vielleicht hat er dich zusammen mit dem Müll rausgeworfen.«
Madame ist eine Frau, die gern redet. Und je mehr sie sagt, desto unpräziser wird sie. Mir wird klar, dass sie mich nicht so leicht durchschauen kann, wie sie gedacht hat. Sie stochert nur in den verschiedenen Wahlmöglichkeiten herum und hofft, dass ich auf etwas reagiere. Ich könnte sie anlügen und sie würde nichts merken.
»Ich bin nicht missgebildet«, sage ich. Das bisschen Macht, das ich über sie habe, berauscht mich. »Aber mein Ehemann.«
Da strahlt Madame. Sie lässt mein Gesicht los und lehnt sich weit zu mir hinüber. »Aha?«
»Vielleicht wäre er in meiner Gegenwart zum Tier geworden, doch das spielte keine Rolle. In neun von zehn Fällen konnte er nichts daraus machen. Und wie Sie schon sagten, Frauen haben Bedürfnisse.«
Madame hüpft ein bisschen, wiegt sich und bringt unsere Kabine zum Knirschen. Der Gedanke an jugendliche Lust macht sie eindeutig an. Ich muss meine Lüge gar nicht weiter ausspinnen, den Rest der Geschichte schreibt sie ganz allein.
»Und du bist in die Arme deines Dieners gedrängt worden.«
»In meinem Wandschrank, wie Sie schon sagten.«
»Vor den Augen deines Ehemanns?«
»Im Zimmer nebenan.«
Ganz gleich, welche abartige Lüge sie sich wünscht, sie kann sie haben. Aber die Wahrheit, ebenso wie mein Ehering, gehört mir, und sie bekommt sie nicht.
Die Mädchen, meterweit unter uns, sind ein kichernder Chor. Sie tanzen eine Weile mit den Männern, ehe sie in den Zelten verschwinden. Und manchmal ziehen Madames Schergen die Zeltwand vor den Eingängen zurück, um einen Blick hineinzuwerfen.
»Oh, Goldraute, du bist ein Schatz.« Sie nimmt mein Gesicht in ihre Hände und küsst zwischen den einzelnen Worten mein Gesicht. »Ein Schatz, ein Schatz, ein absoluter Schatz! Du und ich, wir werden großen Spaß haben.«
Na toll.
Eine Sekunde später drehen wir uns in die andere Richtung. Die Musik wird lauter, je weiter wir uns dem Boden nähern, und die Mädchen werden trauriger.